Sonntag 1ten
Die Kinder in der Kirche, R. bei der Partitur, ich Korrespondenz führend. Nachmittag von vier Uhr an große Geschäftsdebatte mit den zwei Agenten Voltz und Batz; Freund Feustel bittet mich, zugegen zu bleiben; es handelt sich darum, anstatt sie als Rechtsnachfolger (was Fidi einstens sehr beschränken würde), sie als Mandatare einzusetzen. Die Sache bleibt unerledigt, da sie sich sehr sträuben, Mitte nächster Woche kommen sie wieder. - Abends spielen die Kinder uns Komödie, wofür sie sich allerliebst kostümiert haben... Ernste Wahrnehmungen über den Charakter der Kinder.
Montag 2ten
Allerseelen-Tag! Meinen befreiten Seelen sei er geweiht, an Marie vor allen gedacht, welche diesen Tag in der Stille immer feierte. Heute auch will ich an die Oberin des Stiftes schreiben, der Geist der Seligen beschirme meine Entscheidung, daß ich das Rechte tue und vornehme - o segnet alle mein armes Tagewerk, segnet das Opfer, segnet den Entschluß, ihr von der Täuschung Erlösten, denn unsere Weisheit ist Einfalt und unser bestes Ermessen töricht. — So wähle ich diesen Tag, um die erste harte Entscheidung für mich bezüglich der Kinder vorzunehmen, härtere werden folgen, und immer unvertrauender in die eigene Vorsicht werde ich. Vernehmt ihr meinen Gruß, so erwidert ihn mit Segen, des Daseins Last drückt den Schwachen, wenn die unsichtbaren inneren Mächte ihm nicht beistehen!... R. arbeitet. Wie er mir am Nachmittag erzählt, daß er auch diese Nacht unten gewandert ist, sagt er: »Ich könnte mir gut vorstellen, daß nach meinem Tode mein Geist in diesen Räumen wandeln würde - eine rechte Torheit!« Ich schreibe an die Oberin, Frau v. Meyen-dorff schickt mir einen Zettel von Marie Much., ich danke ihr innig dafür, ich habe meine Briefe alle verbrannt. - Spaziergang mit R. schön, trotz trübem November. Wetter - wir streiten über Shakespeare, >welcher tiefer als alle geblickt habe, weil er eine größere Macht der Darstellung hatte<. - Abends mit Lusch gearbeitet. Beim Abendbrot sprechen die zwei Ältesten heiter von ihrem Eintritt in das Stift, was der Mutter, welche so bang den Entschluß faßt, das Herz durchbohrt, doch ist es gut so, und schließlich wünscht man doch, daß Kinder gern hinnehmen, was man für sie beschließt. - Wir lesen abends im neu angekommenen Buch von Pr. Overbeck (Brief an Diognet[1] - Über die Christenverfolgung).
Dienstag 3ten
Diese Nacht stand R. wiederum auf, las in dem Generalstabswerk, dessen Großartigkeit in der Einfachheit der Darstellung ihn sehr anzieht. Völlig übermenschlich, findet er, erscheinen einem die Menschen, welche einen solchen Krieg lenken, und gewiß kann keine Aufregung [mit] der erhöhten Geistestätigkeit, welche in solcher Zeit bei Moltke z. B. stattfindet, verglichen werden, es ist wie ein Spiel, wie ein Rechenexempel, aber mit welchem Material wird gerechnet, mit Heldenmut und Menschenleben; dem kann nichts gleichkommen. - Besprechung unserer Finanzen, Entschluß gefaßt, aus meiner Rente die Pension der Kinder zu bezahlen und Hans' Fonds unberührt [zu] lassen. Herr Feustel hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß wir würden zu schwim men und waten haben, bis wir in Ordnung seien, und mein kleiner Fonus ist verzehrt! — Der Kalender von Schiller,[2] welchen R. mir zu lesen gegeben, rührt durch seine Genauigkeit - mir ist es, als ob er den Tod jeden Tag erwartet habe und nun Frau und Kindern die Lage deutlich machen wollte. Großartig darin das Ignorieren jedes äußerlichen Erfolges. - Nachmittags Kaffeegesellschaft bei Bomn Bibra. Heimgekehrt finde ich Frau Vitzthum angekommen, welche uns insofern eine kleine Enttäuschung bereitet, als wir sie uns groß und schlank vorgestellt hatten und sie klein und soubrettenartig ist, also nicht nur keine Sieglinde, sondern selbst keine Walküre! - Friedel verursacht mir einen ziemlichen Schrek-ken durch den plötzlichen Ausbruch eines Ohrenkatarrhs, welchen glücklicherweise der Dr. für unschädlich erachtet. - Abends wird musiziert, aus den Meistersingern, ich gedenke dabei herzinnigst Marie Mu-chanoff's, welche so schön hier mit empfand! Der Abend wird sehr durch die Rückkehr unseres Macedoniers erheitert, welcher R. ein Nargileh, mir eine türkische Decke, den Kindern türkisches Konfekt mitbringt. - Spät abends meldet mir R. die eben erhaltene Nachricht vom Tode seines Bruders, Betrachtungen über die Nichtigkeit gewisser Familienbeziehungen; letztes Wiedersehen mit dem Bruder so nichtssagend —
Mittwoch 4ten
R. hatte wiederum eine üble Nacht, von lauter schlimmen Träumen beunruhigt,, ich bin sehr ernstlich besorgt. Frau Vitzthum kommt am Morgen und bleibt zu Mittag, was ihn sehr anstrengt. Ich wandere am Nachmittag zum Theater, es mit Ernst, ja Kummer zu betrachten! - Nachmittags ein Brief von Constantin Frantz, nach langen Jahren, er wirft R. Untreue vor, sagt, der Kaisermarsch sei ihm ein Stich durch's Herz gewesen!... Dabei sendet er zwei Broschüren, »Die preußische Intelligenz und ihre Grenzen«, und »Das Judentum und die Reichsverfassung« . Abends aus den Meistersingern einen guten Teil des dritten Aktes vorgenommen; herrliches Werk, noch gar nicht gewürdigt.
Donnerstag 5ten
Wiederum eine üble Nacht f ür R. - dabei die furchtbare Arbeit, welche er noch zu vollenden hat, und die furchtbare Unternehmung mit allem, was sie mit sich führt! Es ist mir zuweilen, als ob wir unterliegen müßten - zu den Sorgen um sein Wohl gesellt sich bei mir die Sorge um die Kinder, die Sorge um die materiellen Verhältnisse. - Der Ärger (wie er ihn neulich bei der Unterredung mit Voltz und Batz gehabt) ist nun R. durchaus schädlich, und wie ist dieser zu vermeiden. Beim Frühstück spricht R. von den Schriften Constantin Frantz'; gegen diese Kritik läßt sich nicht viel sagen, nur daß er dabei die Größe der Persönlichkeiten übersieht und den Ultramontanen in die Hände arbeitet. Gewiß ist die frivole Art, mit welcher alles preußischerseits betrachtet wird, schlimm, auch die burschikose Furchtlosigkeit vor dem allgemeinen Stimmrecht, vor den Juden u.s.w. vom Übel, allein wer hat Deutschland schließlich geholfen? - Brief von Herrn Feustel, welcher mir auf meinen Wunsch unsere finanzielle Lage darstellt; dieselbe ergibt sich als eine ziemlich schlimme, er rät mir dazu, mir von Hans die Mittel zur Pensionsbestimmung für die zwei ältesten Kinder geben zu lassen, was mir so schwerfällt, daß ich lieber an eine Verzögerung dieses Besuches denke!... R. holt mich ein, wir gehen einen Besuch abzustatten in die Innenstadt, bei schönem Herbstwetter prangt unsere kleine Stadt. Abends Dilettantenkonzert, ich gehe hin mit den zwei Ältesten. Frau Grün singt und kommt dann zu uns; die Fricka ist mit ihr abgemacht.
Freitag 6ten
Am Morgen Unterredung mit R., welcher durchaus die Notwendigkeit der Vorsicht in Bezug auf unsere finanziellen Verhältnisse nicht zugeben will. Vormittag mit Loldi viel gearbeitet (dabei ein Paar Gamaschen beendet). Nachmittag mit Lusch deutsche Geschichte und Geographie, abends R. die Broschüre von C. Frantz bis zum Schluß vorgelesen. Ein wenig müde zur Ruhe. R. geht noch um elf Uhr hinunter, um eine Stelle seiner Partitur zu verändern. - Wir sind wenig von der Broschüre C. Frantz' erbaut; er hat keine Empfindung für die Großartigkeit der Persönlichkeit Bismarck's, und das ist schlimm. - (Loldi rettete gestern ein Hühnchen, welches ins Wasser gefallen war, und Fidi sang dabei das eigens erdachte Lied: »Es stirbt sich nicht so leicht.«)
Sonnabend 7ten
R. hatte nun, wie es scheint, dank dem Pepsin, zwei bessere Nächte. Er arbeitet; streicht das Blatt aus, welches er in der Nacht geschrieben. Ich arbeitete mit Lusch und Isolde. Nachmittags Gesellschaft bei Frau Raila, wo [ich] die Witwe des Direktors des germanischen Museums,[3] ehemaliger Freund des Vaters, kennengelernt, abends die Kinder im Saal Frosch gespielt, die großen zweistimmig dabei gesungen. - Ich bitte R., mir das Blatt zu schenken, welches er ausgestrichen, er tut es auch, aber da ich es unten vergesse, wirft er es in [den] Papierkorb, was mich sehr kränkt. Vorwürfe, Versöhnung!
Sonntag 8ten
Große Kinder in der Kirche, kleine um mich spielend, dann Besuch empfangen, während R. arbeitet. Spaziergang am Nachmittag mit den Kindern. Abends gewährt uns Herr Rubinstein eine große Freude durch den Vortrag der Sonate op. 111.[4] Für den ersten Satz fehlt ihm Sicherheit und Kühnheit der Persönlichkeit, den zweiten aber spielt er sehr schön und zart. Für den ersten gehört »Liszt in seiner wildesten Zeit« - sagt R. - Unglaublich schönes Werk, welches einem den heiligen Born des Segens erschließt.
Montag 9ten
Am Morgen mit den Kleinen, am Nachmittag mit Lusch gearbeitet, nach Tisch einige Geschäftsbriefe geschrieben. Vor der Arbeit mit den Kinderchen bei herrlichem Wetter im Garten. Sorgende Gedanken, ob ich das Rechte tue, indem ich die beiden älteren in das Stift gebe. Die Gedanken drücken mich so, daß ich mich abends unfähig fühle, R. aus der etwas trockenen Schrift von Pr. Overbeck vorzulesen. Fidi singt schön vor, eine Ballade!...
Dienstag 10ten
Luther- und Schillertag. - Ich las gestern in einer Zeitung, daß Hans eine sehr besuchte Matinee in London gegeben hat, ich
danke es dem Schicksal, daß seine Laufbahn als Virtuose sich so gut gestaltet hat; wie viel anders hätte es kommen können, wie trostlos dann. Der Monat November für mich der inhaltsschwerste meines Lebens - soll wirklich in diesem auch die Götterdämmerung vollendet werden, so ver stehe ich schweigend und schüchtern dich, erhabene Macht, die mich geführt! - An Dr. Pringsheim[5] geschrieben, welcher den Zusammenhang des Darwinianismus und des Wagnerianismus durch den singenden Urmenschen gefunden haben will. R. geht nachmittags spazieren, während ich Hausangelegenheiten und Kinder-Unterricht übernehme, unterwegs begegnen ihm, gerade wie er Rus streichelt und neckt, zwei arme Frauen, hohe Holzkörbe auf den Rücken tragend, sie rufen ihn an: »Ach! Herr Richard Wagner, haben Sie doch Mitleid mit uns; zu Haus ist der Mann, hat 8 Gulden Miete zu bezahlen, weiß nicht, woher er es nehmen soll.« R. gibt jeder von ihnen einen Gulden; wir besprechen den Fall, ob mehr zu geben gewesen wäre; R. sagt: »Hätte ich ihnen die ganze Miete gegeben, was wäre das noch gewesen? Gründlich kann man nicht abhelfen, doch sollte die Begegnung ein freundliches Zeichen für sie bleiben, und dazu reichten die zwei Gulden gerade hin.« - Ich wanderte ein wenig bei der Dämmerung einsam im Garten, sorgenvollen Sinns. Wie es auch kommen möge, tröstete ich mich, frei und freundlich hat sich die Jugend der Kinder gestaltet, das übrige bleibe den Himmlischen oder Irdischen anheim gegeben. - Abends Versuch, in Pr. Overbecks Schrift zu lesen. Sie verdrießt aber R. bald so, daß er sie aus der Hand gibt. Er liest mir dafür aus dem Werk des Generalstabes, und wenn man bei der Schlacht von Colombey wiederum zu schaudern hat darüber, was die Eigenmächtigkeit eines beschränkten Kopfes für entsetzlichen Schaden anrichten kann, so ist wiederum die Darstellung dieses Schlimmen durch denjenigen, welcher gewiß am meisten darunter gelitten hat, so großartig ruhig, einfach, daß es ganz erhebend wirkt.
Mittwoch 11ten
Die arme Boni mit Zahnschmerzen heimgesucht. Ich arbeite mit Loldi. - Vor- und Nachmittag ist R. emsig mit seiner Partitur beschäftigt - er scheint zu viel daran gearbeitet zu haben, denn abends ist er furchtbar aufgeregt, was mich in Sorge bringt. - (Ich mache einige Besuche). An Frau W.*(*Wesendonck) geschrieben. Brief von Malwida, sie hat den Vater in Rom gesehen. Abends unsere Musiker, R. nimmt mit dem einen die Ouvertüre zu »Iphigenie in Aulis« vor, Herrn Rubinstein läßt er den 2ten Satz von 111 wieder vorspielen, unsägliche Freude daran. - R. sagt vom Thema zum alten Kirchenrat, welcher uns besucht hat: »Es ist wie das einfachste Dogma, an welches sich alles anschmiegt und anwächst.« —
Donnerstag 12ter
Ich hatte in der Frühe beängstigende Träume; ich wandelte im Garten des Luisenstifts, und es war mir, als ob alle Schülerinnen Schatten wären, besonders wehmütig erschien mir Boni, sehr traurig und das Herz schwer wachte ich auf. Ich werde wohl keinen freien Augenblick mehr haben bis zur Zeit des Abgangs der Kinder, und nachher??... - R. arbeitet, er erhält einen Brief des Verlegers vom Kaisermarsch, Herrn Friedländer, welcher ihm 9000 Mark für eine Ouvertüre anbietet, lediglich um Schott den Rang des Verlegers von Wagner abstreitig zu machen. - R. entsendet an C. Frantz eine Anzahl Broschüren (Nietzsche etc.), um ihm zu zeigen, daß er nicht zu den Nationalliberalen gehört! Je mehr wir die Schriften des gewiß nicht unbedeutenden Mannes besprechen, um so mehr empören sie uns, durchaus unpatriotisch erschweren sie das Gute; der arme Rechnungslehrer Vogler hier, welcher Lusch Rechenunterricht gibt, freut sich der neuen Münze, sie sei schön, nobel, der Deutsche könne sich damit sehen lassen, trotzdem er sehr gut weiß, daß sie seine Ausgaben und nicht seine Einnahmen vermehren wird. - Solche Gefühle zu verkümmern ist eine Sünde, wenn man keine Macht hat, Besseres zu schaffen als das, was man tadelt. Der Ohnmächtige, Mißvergnügte hat zu schweigen. Dabei kennt er Süddeutschland und Bayern insbesondere ebensowenig, als die Angreifer und heutigen Verteidiger des Christentums das Christentum. - Der Kirchenrat bringt mir »Die Selbstzersetzung des Christentums«[6] - ein sehr erbärmliches Ding. Abends lese ich R. die Rede von Tyndall in der Gesellschaft der Wissenschaft in England vor. Er ist sehr müde.
Freitag 13ten
R. an seiner Arbeit, ich an der meinigen; um die elfte Stunde ruft er mich hinunter, um mir zu zeigen, wie die Sonne auf mein Bild von Lenbach fällt und es verklärt! R. zitiert aus »Ritter Toggenburg«,[7] wie er wartet, bis die Liebliche sich zeige. Er geht heute nicht aus. Abends finde ich [ihn] völlig schwermütig - solange die Kinder da sind, spricht er nicht, wie sie sich entfernt haben, bricht er aus: »Wozu die schwere Arbeit, welche ich mir da aufgebürdet habe und welche ich nur der Schändungpreisgeben kann; wer achtet es, die Besten, Liszt und Bülow, die suchen möglichst rasch damit fertig zu werden. Was könnte mich zu einer so mühsamen Ausarbeitung ermutigen außer der Gedanke, daß es genossen wird. Es ist ein Wahnsinn, woher soll ich die Lebenskraft hernehmen?« Ich suche ihn zu erheitern, so gut meine armen Fähigkeiten es können. Die Lektüre (Schluß der Rede) zieht ihn allmählich davon ab. Mich interessiert die englische Rede sehr; R. empört es immer auf das neue, daß Schopenhauer so wenig gekannt sei, sonst findet er auch, daß es ein interessantes Exemplar von englischer Kultur ist.
Sonnabend 14ten
Wir lachten noch gestern sehr über eine kleine Schrift, welche Prof. Overbeck, anknüpfend an ein Gespräch mit mir, mir gesendet hat: »Goethe in Dornburg«. - Mit Lusch und Loldi gearbeitet; R. an seiner Partitur, gestern ist Brünnhilde in das Feuer gesprungen, heute hat er etwas zu verändern gehabt und hat soviel darüber nachgedacht, daß er seine Seite nicht fertiggemacht hat. Wir gehen zusammen nachmittags aus, die Sonne scheint schön, aber der Wind ist kalt und der Spaziergang unerquicklich. Vor- und nachmittags mit Lusch gearbeitet. Abends lesen wir die »Selbstzersetzung des Christentums« und staunen darüber, daß eine solche Armseligkeit, ja Dummheit, Aufsehen erregen kann.
Sonntag 15ten
Schöner kalter Morgen im Garten mit den Kindern -R. arbeitet seufzend an seinem Ungeheuer. Abends einige Gäste, es wird musiziert, die D dur Symphonie von Mozart, wobei R. zeigt, welch Unterschied zwischen dem Genie M. 's und dem Haydn's - wie viel idealer Mozart war. Herr Rubinstein spielt uns die A dur Sonate[8] von Beethoven. Der erste Satz fließend, leicht wandelnd und dabei von höchster Sensitivität, ist unmöglich zu lehren.
Montag 16ten
Beim Frühstück sprechen wir von der gestrigen Musik; ich sage zu R., wie bei [mir] das Eigentümliche es von je gewesen sei, daß von dem Moment, wo Musik begonnen hätte, Bilder, Begriffe, die ganze Welt des Scheines und des Verstandes versunken sei; er sagt mir: Er habe immer die mystische Bedeutung der Sachen gesucht, z. B. bei der Introduktion der A dur Symphonie habe er an die Stelle im »Faust« gedacht, »wie Himmelskräfte auf und nieder steigen und sich die goldnen Eimer reichen -«, am Ende könne es dies bedeuten! - Wie ich um die elfte Stunde zu ihm hinunterkomme, sagt er: »Gerade schreibe ich: Hagen gewahrt mit höchstem Schrecken die Rheintöchter.« Viel Schnee, behagliche Stimmung im Inneren. Abends im Generalstabswerk gelesen.
Dienstag 17ten
R. träumte von einer Vorstellung beim König von Hannover, wobei einer der Hunde des Königs ihm immer zwischen die Füße kam und nach ihm schnappte, wenn er ihn entfernen wollte, wobei der König immer versicherte, »er tut nichts«. Er schreibt heute die 399te Seite und hofft, in dieser Woche fertig zu sein. Ich bin völlig traurig, keine Gabe ihm dafür machen zu können - allein ich darf nicht. - Die Kinder fahren mich im Schlitten umher. Vormittag Loldi, Nachmittag mit Lusch gearbeitet. Abends gerät R. in Zorn über den Vater, welcher wirklich gemeint hat, daß den Zeitungen gemäß wir ihn zum Klavierspielen in diesem Konzert wünschten. Wenigstens teilt mir Fr. v. M.[9] dies mit. - Besuch von Herrn und Frau v. Künsberg.
Mittwoch 18ten
R. arbeitet und vergleicht sich mit Moltke, wie er seine Bataillone anmarschieren läßt, sich immer Reserve vorbehalten muß, und sagt: Ich bin überzeugt, ich könnte Mars la Tour auch dirigieren. Bei Tisch erzählt er mir ergreifend von einem General, welcher in einer dieser Schlachten sterbend die Fahne dem Rittmeister übergibt, das Auge schließt, noch den Ruf von sich gibt: »Hoch lebe der König.« - Diese Heeresorganisation gefällt ihm, ja tröstet ihn, er erzählt mir von der Begrüßung der Offiziere durch die Gemeinen, so straff und steif bei Angermann, wobei gleich darauf aber der Offizier bei den Gemeinen sich setzt. Auch von der Unterredung der zwei Offiziere:» Guten Tag Landsmann«, »Von wo kommst - gewiß vom Dienst.« Zucht und Freiheit werden da geübt. - Nachdem R. gearbeitet hat, treffe ich ihn abends »Oedipus« lesend, die Übersetzung mit dem Text vergleichend; »das paßt zu den persischen Decken«, sagt er, »das ist ein Schwall der Schönheit - auf ewig verschwunden - wir sind Barbaren«. Wir kommen dann auf die Scene der Oresteia zu sprechen! Kassandra mit dem Chor, und R. erklärt es als das Vollendetste, was die Menschheit in der Kunst hervorgebracht. Abends die zweite Symphonie von Beethoven und 106 erster Satz[10] vorgenommen; von letzterem sagt er, er wisse keinen Symphonie-Satz, mit Ausnahme vielleicht des ersten der Eroica, welcher jedoch viel effektvoller durchgearbeitet sei; hier schien es, als ob es ein Spiel der ungeheuersten Phantasie sei mit allem, Sehnsucht, Schmerz, Freude, allem. ( (In Paris Kampf um Tristan's Vorspiel bei Pasdeloup, Sieg der Wagnerianer.) )*(* ( ) Später eingefügt.)
Donnerstag 19ten
Wir sprechen noch viel über die Musik am Morgen - R. geht an die Arbeit, ich befasse mich mit den Kindern, bin jedoch ein
wenig durch häusliche Nöte darin gestört. Abends bringt Herr Rubinstein seine Kopiebogen von der Partitur, und R. kommt mit mir darüber ein, daß das Benehmen dieses merkwürdigen Menschen R. gegenüber geradesweges außerordentlich sei, da er durchaus nicht ermutigt worden ist, sich hier niederzulassen. - Abends lesen wir Mars la Tour, mit Schaudern, da es scheint, daß hier auch unnötiger Weise sehr viel Blut geflossen ist. Gal Alvensleben,[11] Marsch bei Toul, sehr interessant; auch das seltsamste Mißverständnis zwischen Bazaine und dem deutschen Generalstab. Er wollte bloß auf Metz sich konzentrieren, die Deutschen sich verbluten lassen, während diese vermeinten, er wolle durch...
Freitag 20ten
Von einem wehmütigen Traum wache ich heute völlig erschüttert und leidend auf. - Ich träumte, mit R. der zwei kleinen Mädchen wegen abgemacht zu haben, Hans wieder zu heiraten; Schreiben an diesen, Trauung, mit weißem Kleid, bunte Blumen an dem Rand, vollzog sich unter Klängen des Riedel'schen Gesangvereins, endlich öffneten sich die Flügeltüren, und R., bleich, stumm, eigentümlich strahlend, sollte sich entfernen, krampfhaft hielt ich ihn fest, laut schreiend, bis ich erwachte! - R. sagt, er habe öfters so geträumt, wie ich von ihm ging, mich nach ihm umwendete, er mit der Brille sich sagend, »sie hat ein kurzes Gesicht, sie sieht dich nicht mehr«. Hausnöte - R. aber arbeitet. Abends in Moltke's Buch gelesen.
Sonnabend 21ten
Dreifach heiliger, denkwürdiger Tag! Gegen die Mittagsstunde ruft mir R. hinauf, ich möchte ihm die Zeitungen hinabreichen; da er mir gestern geklagt, wie angestrengt er sei, und noch versichert, er würde erst Sonntag fertig, vermeinte ich, er könne vor Müdigkeit nicht mehr arbeiten, scheu wich ich der Frage aus; um ihn zu zerstreuen, warf ich ihm den eben erhaltenen Brief des Vaters hin, vermeinend - da er freundlich in Bezug auf unsere Reise nach Pest war - ihn zu zerstreuen. Es läutet zu Mittag, ich treffe ihn, den Brief lesend, er verlangt Erklärungen von mir, ich sage ihm, was ich hierüber zu antworten gedenke, vermeide mit Absicht, auf das Partiturblatt zu blicken, um ihn nicht zu kränken. Gekränkt zeigt er mir, es sei vollendet, und sagt bitter zu mir: Wenn ein Brief des Vaters käme, sei alle Teilnahme für ihn, alles weggewischt - ich unterdrücke den Schmerz des Mittags, doch wie R. nachher die bittre Klage wiederholt, so muß ich in Tränen ausbrechen und weine noch jetzt, indem ich dies schreibe. So ist mir denn diese höchste Freude geraubt worden, und gewiß nicht durch die schlimmsten Regungen in mir! »Daß wissend würde ein Weib.« Daß ich unter Schmerzen mein Leben diesem Werke geweiht habe, erwarb mir nicht das Recht, seine Vollendung in Freude zu feiern. So feiere ich sie im Schmerze, segne das hehre, wundervolle Werk mit meinen Tränen und danke es dem argen Gott, welcher mir auferlegte, diese Vollendung zuerst durch meinen Schmerz zu sühnen. Wem ihn sagen, wem ihn klagen diesen Schmerz, gegen R. kann ich nur schweigen, diesen Blättern vertraue ich es an, meinem Siegfried, sie mögen ihn lehren: keinen Groll, keinen Haß, grenzenloses Mitleid mit dem armseligsten Geschöpf, dem Menschen. Und so freue ich mich meines Schmerzes und falte dankbar die Hände. — Was mir ihn verhängte, war nichts Übles, ihn von ganzer Seele hinzunehmen ohne Groll gegen das Los, ohne Vorwurf gegen irgendeinen, bleibt meine Stütze. - Mögen andere Schmerzen durch diesen einen, so unaussprechlichen gesühnt sein. Die Kinder sehen mich weinen, weinen mit, sind bald getröstet. R. geht zur Ruhe mit einem letzten bittren Wort, ich suche nach Tristanischen Klängen auf dem Klavier; jedes Thema ist aber zu herb für meine Stimmung, ich kann nur in mich versinken, beten, anbeten! Wie könnte ich weihevoller diesen Tag begehen! Wie könnte ich anders danken als durch Vernichtung einer jeden Regung zum persönlichen Sein: Sei mir gegrüßt, Tag des Ereignisses, sei mir gegrüßt, Tag der Erfüllung, sollte der Genius so hoch seinen Flug vollenden, was durfte das arme Weib? In Liebe und Begeisterung leiden.