November

Mittwoch 1ten
Allerheiligen: Sehr arges Wetter, so daß R. sagt, er glaube eher, daß es Allerteufel sei, welcher losgelassen sei. Abends besucht uns Dr. Ree, welcher uns durch sein kaltes pointiertes Wesen nicht anspricht, bei näherer Betrachtung finden wir heraus, daß er Israelit sein muß.*(* Über der neuen Seite: »Sorrent«.)
Donnerstag 2ten
Allerseelen, wieder schönes Wetter, wir machen einen schönen Spaziergang, und den Abend verbringen wir mit unseren Freunden Malwida und Pr. Nietzsche.[1]
Freitag 3ten
Brief vom Vater, auch von Herrn v. Schleinitz sehr freundlich, von Herrn v. Radowitz nichts; nur Freund Heckel schreibt und meint, es sei nicht Sache R.'s, sich an die Patrone zu wenden zur Deckung des Defizits, die Patrone sollten dies übernehmen, unter sich abmachen. Er ist der einzige, der bis jetzt eine Empfindung davon hat. Sonst ist nur Hohn und Hämisches zu vernehmen. In einer Zeitung wird berichtet, daß Richter vier Orden in Bayreuth erhalten, mit »saurem Schweiß« erworben. Dann in der Augsburger Zeitung ein Reisebericht nach Todi, worin der Berichterstatter plötzlich, ohne jeden Grund, die Bayreuther Festspiele vornimmt, die große Macht R.'s durch den Mormonismus erklärt, kurz das Empörendste, was man sich denken kann. R. tief verstimmt, ich bitte ihn herzlich, keinerlei Notiz von alledem zu nehmen und nur Schweigen entgegen zu halten.
Sonnabend 4ten
Heute und gestern noch Badetage für mich und die Kinder; wir bereiten unsere Abreise nach Rom [vor]. R. liest emsig in Sismondi, um nicht an das, was ihn grämt, zu denken. Heckel hatte den Vorschlag einer vierten Aufführung zur Deckung des Defizits. Wir besprechen die Nötigung, die Plätze bezahlen zu lassen, welche von vornherein alles kompromittierte, dann die ärgerliche Stimmung der Sänger, wenn sie nicht nach dem Schluß wiedererscheinen dürfen. R. sagt, es soll das Werk einiger sein, die an derlei Freude finden, gut, es soll eine Sekte sein, allein werden sich diese finden, in ungenügender Anzahl, wenn die Neugierde nicht hilft. Vielen Kummer, bittren Kummer. Einzige Erheiterung die Kinder...
Sonntag 5ten
Winter ist da; das Meer treibt seine Schäfchen und der Wind bläst kalt; wir denken an Fortgang. Malwida speist mit uns, wir versuchen einen Ausgang, doch treibt uns der Wind heimwärts.*(* Über der Seite am Rand: »Sorrento«.) Ich schreibe mehrere Briefe, R. liest in Sismondi, die Kinder spielen, baden noch ein Mal und machen einen langen Spaziergang bis Massa. Wir erleben im Haus und auf dem Platz Jubel über eine Deputiertenwahl! Abends Plauderei mit R., wobei ich suche, allerlei Fremdartiges zu erzählen, das Gespräch immer auf den so traurigen Gegenstand zurückkömmt. R. erzählt, seine Hauptempfindung während der Aufführungen sei »nie wieder, nie wieder« gewesen. Er habe so gezuckt, daß der König ihn gefragt, was er habe, worauf er sich denn mit Gewalt zurückgehalten.
Montag 6ten
Festsetzung, daß wir morgen den schönen Ort verlassen, mit Wehmut alles noch ein Mal betrachtet, mit Malwida den Abend zugebracht.
Dienstag 7ten
Eingepackt und um elf Uhr fort; in Neapel gegen 3 Uhr; Hotel Vittoria abgestiegen, Kommissionen besorgt, abends mit Malwida zugebracht.
Mittwoch 8ten
Viele viele Laufereien bei bösem Wetter für Kinder-Anzüge; abends in ein französisches Theater gegangen, Les Danicheff[2] gesehen; die Trockenheit der französischen Sprache wirkt in den pathetischen Scenen des Stückes bis in das Lächerliche. Bei schöner Nacht zu Fuß heim.
Donnerstag 9ten
Um 2 Uhr fort, gestern noch bei einer Fahrt Castel Sant' Elmo die köstlichsten Eindrücke von Volksleben gehabt. Um 10 Uhr schlafend in Rom angekommen; Hotel Constanzi abgestiegen.
Freitag 10ten
Gar bald den Spaziergang begonnen, zunächst um Unterkommen zu suchen, weil Constanzi zu teuer. Hotel d'Amerique, Via del Babuino 79, gleich gefunden. Umzug in Angriff genommen; dann mit R. eine Fahrt bis Sankt Peter und dann zum Forum begonnen. Grauenhafter Eindruck in St. Peter, alles, was Unmusik ist, drückt sich darin aus. In der Seele von Dr. Luther mitempfunden. Wir lassen ihn zu Hause leben, ihn und Schiller zu ihrem Geburtstag. - Nachmittag auf den Monte Pincio spazieren gegangen*,(* Über der Seite: »Rom!«) wunderbarer Eindruck; während in der Stadt nirgends Volkstümlichkeit sich ausdrückt, nicht auf den Gesichtern, nicht auf den Häusern. Abends bei Gräfin Voß.
Sonnabend 11ten
Nach dem Palatin, bei herrlichem Wetter mit den Kindern das ganze Forum besichtigt, seliger Morgen; nachmittags Villa Borghese wie in Traum und Rausch durchwandert. Darauf Besuche; Fürstin Wittgenstein seit 16 Jahren ungefähr wiedergesehen; Helbigs getroffen etc.
Sonntag 12ten
Gottesdienst in der protestantischen Kapelle der Botschaft, darauf Capitol und nachmittags wieder Sl Peter, »ein verfehlter Cäsarenpalast«, sagt R. - Abends bei Pr. Heibig zugebracht, wo Pr. Curtius'[3] Bekanntschaft gemacht, welcher die Ausgrabungen in Olympia jetzt zu leiten hat. Der inspirierte Professor, auch eine besondere Gattung.
Montag 13ten
Um [die] Mittagszeit hübsches Frühstück bei dem deutschen Botschafter, Herrn von Keudell. Darauf Spazierfahrt nach der Villa Pamphili bei ganz lauem Wetter. Abends Besuch des Schülers meines Vaters, eines Herrn Sgambati.[4]
Dienstag 14ten
Mildes schönes Wetter; Besuch des Palazzo Doria mit den Kindern; nachmittags Antiken im Vatikan, mit Pr. Heibig, sehr dozierend. Darauf Monte Pincio, wiederum bei herrlichem Wetter. Abends im Teatro Valle, ein französisches Stück »Le doucin rose«, [5]so gemein, daß wir beinahe in Mitte des Aktes fortgegangen wären.
Mittwoch 15ten
Die Sibyllen von Raphael und die Farnesina, alles bei Frühlingsluft und -duft, auch den herrlichen Palazzo Farnese. Nachmittags Thermen des Caracalla, Via Appia Abends Besuch bei Gräfin Voß.
Donnerstag 16ten
Die Sistina!!!... Nachmittags Villa Ludovisi. Abends zu Hause zugebracht. Wie glücklich wäre man hier, wenn nicht die trüben Gedanken uns umschwärmten. R. erhält keinerlei Antwort von Herrn v. Radowitz, alles schweigt außer Feustel, welcher mahnend von Defizit spricht, als ob es vergessen sei. »Diese Menschen«, sagt R., von den Journalisten sprechend, »fühlen, daß sie recht haben, daß wir keine Kunst haben noch haben können, daß ich ein Tor bin.« In dieser Empfindung erfüllt es ihn bitter, Kunstschätze ansehen zu müssen, und ich betrachte sie auch mit der tiefsten Wehmut.
Freitag 17ten
Eine Woche hin, wie reich, wie groß, wie glücklich und wie arm, wie gering, wie trostlos; arm, klein, trostlos in allem, was unsere Sache betrifft, unbeschreiblich durch die fremden Eindrücke!... Heute die Stanzen & Loggien Vor- und Nachmittag, dabei R. den Palazzo Doria gezeigt; dazu Gewitter, Blitz, Donner und Regen wie im Sommer.
Sonnabend 18ten
Ein wenig Zeitverlust durch Toilettenbesorgungen für morgen abend. Am Nachmittag aber Besuch der Villa Borghese mit R.
Sonntag 19ten
Nach Aracoeli gegangen, schönster Morgen, und schönster Nachmittag, auf dem Palatin zugebracht. Abends größere Gesellschaft bei dem deutschen Botschafter; Herr Sgambati spielt ein Quintett seiner Komposition, welches R. wahrhaft interessiert und sehr merkwürdig ist; ganz verloren und unermuntert ist hier der tüchtige Musiker.
Montag 20ten
In Folge gestriger Vorstellungen manche Besuche zu machen, zum Glück sehr schlechtes Wetter, wobei denn nichts versäumt wird. Auf eine Depesche hat Herr v. R. erwidert, daß er am 8ten November nach Sorrento geschrieben.
Dienstag 21ten
Herr Feustel mahnte abermals, es sei Zeit zur Heimkehr; R. sehr tief verstimmt. In der Frühe besuchten wir aber doch den Vatikan; beim Eintritt in die Sistina sagte er: »Das ist wie in meinem Theater, hier merkt man, daß nicht gescherzt wird.« Nachmittags Villa Albani, »und Marmorbilder stehen und sehen mich an!«[6] Diese Villa gefällt R. am besten von den bisher gesehenen Villen. Heimgekommen spät erfährt R., daß die Post den lang erwarteten Brief von H. von R. dem Diener nicht übergeben wollte. Allerlei Unglücksfälle (der Diener geht fort, ohne die nötige Paßkarte zu übergeben, R. nimmt Briefe mit, welche ihn nicht legitimieren, zerbricht in Eile und Wut den Wagenschlag), endlich eine Minute noch vor Schluß erhält er den Brief, welcher meldet, daß man nichts für ihn tun kann. Langes Gespräch in Folge dessen zwischen R. und mir. Große Wehmut.    
Mittwoch 22ten
Palazzo Borghese besucht; ganz herrlich! Nachmittags zu Kardinal Hohenlohe[7] gefahren und sonst noch einige Besuche abgestattet. Abends musikalischer Abend bei H. v. Keudell, wiederum Sgambati, zwei Quintette. R. verspricht ihm, sie in Deutschland publizieren zu lassen.
Donnerstag 23ten
Der 2te Brief von Herrn v. R. bestätigte den erste-ren, R. schreibt nun Herrn Feustel seine Ansicht, daß er nämlich nichts tun kann, bis das Defizit gedeckt sei; denn er könne nicht die Herrn Niemann und Betz wieder engagieren, ohne ihnen große Anerbietungen zu machen. Nachmittags nach San Pietro Montorio und abends zu Hause.
Freitag 24ten
Ich des Morgens in die Sistina und die Stanzen, dann bei herrlichem Wetter in Sant' Onofrio mit den Kindern. - Nachmittags San Giovanni in Lateran, Freude an dem Klostergang und der Aussicht, wenig an der Kirche.
Sonnabend 25ten
R. wird abends von der deutschen Künstlerschaft, und wie es scheint sehr hübsch, gefeiert, er selbst soll sehr schön auf die Rede, die ihm gehalten wurde, erwidert haben. Am Morgen war ich nach San Pietro in Vinculo gegangen, um Moses zu sehen, beständig mit Nervschmerz-empörtem Antlitz im Sinn bin ich den Tag über gewandelt. Wir fuhren auf den Monte Mario und verblieben lange Zeit bei herrlichem Wetter in der Villa Mellini.
Sonntag 26ten
Besuch des Capitolinischen Museums. Nachmittags große Müdigkeit in Folge des Scirocco. Abends Musik bei Herrn von Keudell. Das Quintett von Sgambati interessiert uns sehr, und seine ganze Persönlichkeit macht den vortrefflichsten Eindruck.
Montag 27ten
Besuch des Vatikans; ich zeige R. die Pinakothek, bei dem Bilde von Michelangelo sagt er: »Seltsam, daß der Tod der Gegenstand der Kunst werden konnte, das macht die ganze Sache zum völligen Spuk.« Palazzo Borghese mit R. Nachmittags Besuch bei Fürstin Wittgenstein, eingehendes Gespräch über vieles aus der Vergangenheit. Abends bei Gräfin Voß.
Dienstag 28ten
Den Lateran besucht am Morgen, am Nachmittag die Kirche S. Paoli fuor le Mure. Scirocco-Luft, R. leidet darunter sehr. Er fühlt sich nicht wohl hier und behauptet, die Stadt sei ein Karneval, alles unerwartet, unzusammenhängend und eigentlich unerfreulich.
Mittwoch 29ten
Das Museum des Vatikans besucht, allein mit den Kindern. Große Freude daran, wenn auch der Geist durch Gedanken getrübt. Ich habe gestern abend den Brief von Herrn Feustel an R. gelesen, welcher mich zu dem Gedanken bringt, daß das einzige, unsrer würdig, wäre, das Defizit aus unseren Mitteln zu zahlen und dann arm schweigsam gegen alles und alle zu leben. R., der den Brief erst heute nachmittag liest, empfindet nicht ganz so heftig wie ich diese Notwendigkeit, doch schreibt er an Herrn Feustel in diesem Sinne. Ich weiß, daß mit dem Eintritt dieser Phase unseres Lebens meine eigentliche Befriedigung begänne.
Vom 29ten bis 31ten Dezember
noch in Rom bei beharrlich schönem Wetter und unter für mich steten Eindrücken (Eintritt in Palazzo Colonna und Spaziergang in den Garten). R. nur auf Augenblicke erheitert. Er verschafft dem Komponisten Sgambati seinen Verleger in Mainz, was ihm große Freude verursacht. Am 30ten abends Soiree der italienischen Künstler, schöne Lieder von Sgambati, Mandolinen-Orchester; Bekanntschaft des Dichters des originellen Stückes »Nerone«, Herrn Cossa,[8] welcher sehr merkwürdig ist, seine Adresse selbst seinen besten Freunden nicht sagt. R. empfiehlt ihm und Sgambati, etwas zusammen zu machen und besonders dazu das Sieneser Sujet aus Sismondi. - Angenehme Bekanntschaft des Grafen Gobineau gemacht, französischer Gesandter in Schweden; sonst, meint die Fürstin W., würden wir die Franzosen überall sehr feindselig gegen uns wirkend finden, in Folge der Broschüre.