Oktober

Sonntag 1ten
R. und ich, wir fahren über Castellamare nach Sorrent, um uns dort Wohnung zu suchen, schöner Tag, voller merkwürdiger Blicke. Abends in Neapel zurück.
Montag 2ten
Am Morgen im Museum; nachmittags Fahrt über den Posilipo sehr schön! R. gefällt das tolle Leben hier sehr, und es ist wirklich die lebendigste Stadt, welche man sich vorstellen kann; volkstümlich im üppigsten Sinne des Wortes. Vom Museum habe ich heute nur die antiken Statuen und Wandmalereien angesehen; ernster erhabener Eindruck, wie Unsterblichkeitsruhe über dem Krampf des Daseins. Draußen wieder die lebendigste Wirklichkeit; ich gedenke viel Venedig der schweigsamen, armen, wo ich zu Hause wäre.
Dienstag 3ter
Wiederum in das Museum gegangen, bis zur Mittagzeit darin geblieben. Nach Tisch Fahrt nach Capo di Monte und über Via Vit-tor. Emanuele heim. Abends in San Carlino, Pulcinella als Cri-Cri-Ver-käufer, sehr drastisch gespieltes, aber wenig gutes Stück.
Mittwoch 4ten
Wiederum das Museum, diesmal mit Boni, um sie einiges kennen lernen zu lassen. R. holt mich ein, ich zeige ihm den Herkules Farnese,[1] darauf Fahrt nach dem Mercato Vecchio; abends Spaziergang auf der Chiaja. Heimgekehrt macht ein Violinspieler auf der Straße mir viel Vergnügen durch seinen schönen Vortrag.
Donnerstag 5ten
Aufbruch nach Sorrento, bei der Abfahrt schwimmende Bettler, worunter ein Junge durch seine braune Farbe, seine Schönheit und Lebhaftigkeit und Behendigkeit sich auszeichnet, »wie direkt aus der Werkstatt der Natur«, sagt R., er fängt im Meere die Sous mit dem Munde auf. Auf dem Schiff Sänger und Guitarristen und Fiedler, volkstümliche heitre und klagende Lieder, dazu Strohgeflechte und Austern angeboten, alle Sprachen gesprochen; während dunkelblau [das] Meer [sein]* (* Für:  »ihr«  (überschrieben)  »Meer«  eingefügt.) ewiges Wiegenlied dazu gibt und die blauen Linien der Berge dies alles begrenzen - ein Traum, seltsam! Ist es das Fremd- oder Heimischsein darin, das uns wehmütig stimmt, sanftes Sehnen möchte ich es nennen, aber wonach? Nach Lebendem nicht! - Ein Herr aus Magdeburg redet R. an, er hat den Spielen beigewohnt und spricht sehr hübsch darüber. Sorrent, Hotel Vittoria, das Häuschen neben dem Hotel bezogen, schönste Ruhe. - In den Siesta-Stunden lesen wir, R. und ich, jedes für sich »Les republiques d'Italie«[2] von Sismondi.
Freitag 6ten
Unterricht der Kinder wieder aufgenommen; sie haben einiges vergessen! Nachmittags schönster Spazierritt auf Eseln nach dem Deserto, wir gestehen uns, R. und ich, daß die ganze Freude in der Freude der Kinder besteht; oben ein guter Franziskaner, herrliche Terrasse, in der kleinen Kirche aber zwei Zöglinge eine unerhörteste Tanzmusik spielend. Heitrer Heimritt, mein Esel Fantasia! Welchem der Treiber Maca-ron tutto formaggio verspricht, um ihn zu befeuern.**( ** Am Rand:   »Spaziergang zu den Schluchten.« (Siehe Sonnabend, 7. Okt., berichtigt.)) - Zu Hause die Notiz, daß Herr Tribert die 40 000 Franken für mich beim Notar niedergelegt hat.
Sonnabend 7ten
Immer schönes Wetter, Arbeit mit den Kindern, Seebäder, Lektüre in Sismondi und ach! manche manche sorgenvollen Gedanken. Spazierritt nach dem Deserto irrtümlich auf gestern aufgeschrieben.
Sonntag 8ten
An Ciaire geschrieben, nachmittags nach Massa lubrenze gefahren, nicht ganz geglückte Partie.
Montag 9ten
Um 8 Uhr Abfahrt nach Capri, Frühstück im Hotel du Louvre, dessen lächerliche Bezeichnung uns sehr erheitert; Ritt zu der Villa Tiberio; Halt bei dem Sprung; unsere Eselstreiberinnen tanzen uns die Tarantella; die älteste mit großer Leidenschaft, die eine darf nicht tanzen, ihr Mann sei eifersüchtig. Unser Heimritt durch enge Straßen gleicht einem arabischen Hochzeitszug, alles herrlich! Die Armut der Menschen, nur im Vergleich mit der Üppigkeit der Natur, erstaunt; aber diese Armut würde nicht da sein, wenigstens die Wut des Gewinnes, wären die Fremden nicht, welche anzubetteln sind. Ich schämte mich mit, die Tarantella vortanzen zu lassen. Heimfahrt bei Sternenregen und Meeresleuchten! Unvergeßlicher Eindruck; die weißen Häuser inmitten des Grün, die herrlichen Blumen, später das sanfte Meer, eine völlige Sommernacht. Leider aber daheim der Schatten der schweren Gedanken. R. fragt sich, ob er die Aufführungen wieder aufnehmen soll! Nicht eine von den Fürstlichkeiten, nachdem sie Orden an alle Ausübende verteilt, hat R. gefragt, was für ihn zu tun sei, wie ihn zu unterstützen oder [ihm] beizustehen!...
Dienstag 10ten
Vor 23 Jahren sah ich R. zum ersten Mal, vom Vater eingeführt, zu uns Kindern tretend; alles beinahe dahin, was damals mich umgab!... Den Kindern Unterricht gegeben, während R. seine Ansprache an die Patrone[3] aufsetzt. Den Nachmittag still auf der herrlichen Terrasse zugebracht, von wo aus man auf den Olivenhain und auf das Meer blickt. Abends an den Vater und an Herrn Tribert, um ihnen zu danken (es sollen die 40 000 francs mir ausbezahlt werden).
Mittwoch 11ten
Unterricht, Seebad, Lektüre, eine Erneuerung des Tribschner Lebens, leider mit vielen Gedanken hin und wider; wie für R.
die Aufführungen wieder anknüpfen? Eine Broschüre von Hans Wolzogen[4] macht uns zuerst Vergnügen, bei weiterem Lesen aber erregt sie bei mir großes Mißfallen; R. Wagner und Jordan!!
Donnerstag 12ten
R. nicht wohl; ob die weiche Luft ihm nicht bekommt? Er schläft aber nicht gut. - Heute Lulu's Geburtstag, wir lassen sie leben. - Nachmittags sitzend auf der kleinen Terrasse zugebracht, von der einen Seite den Olivenhain, von der andren das Meer. Wir lesen gemeinschaftlich mit großem Vergnügen in Sismondi. Hübscher Brief von Herrn Hill, R. anratend, keine Veränderung im Personal vorzunehmen.
Freitag 13ten
R. beginnt eine Art Brunnenkur (Eau de Vichy), und es scheinen ihm die hübschen Morgen-Spaziergänge zu bekommen. Er schreibt an Herrn von Schi., ein wenig seine Lage mitteilend und sagend, daß das einzige wirklich Gelungene des Festspieles das war, was Schlei-nitzens zu Stande gebracht! Nachmittag Spaziergang - abends Tarantella von den Sorrentinern in ihrer Tracht im Hotel-Saal getanzt; dazu einige ihrer Spiele. Die eine von den Frauen höchst anmutig in einer gewissen ungeschickten Natürlichkeit. Am Schluß die Wacht am Rhein! Unser Kellner verrät uns, daß er in Berlin war und es von da den Leuten mitgebracht und gelernt hat!
Sonnabend 14ten
Fidi ein wenig unwohl. Unterricht der Kinder. R. schreibt an Herrn v. Radowitz, um seine Ansicht, was zu tun, fragend. Ich gebe den Kindern Unterricht; nachmittags Spaziergang; immer lieber wird mir der Punkt hier; die Wege zwischen zwei Mauern mit den Baumgewächsen darüber, die Schluchten und Felsen, die Olivenbäume, alles alles ist mir heimisch, auch höre ich hier nichts Widriges mehr. Nur die Sorgen R.'s sind kaum auf Augenblicke selbst zu bannen, und damit ist der Horizont getrübt.
Sonntag 15ten
Spieltag für die Kinder, für mich Brieftag und Lesetag (Sismondi und die Schrift Nietzsche's wieder). Scirocco.
Montag 16ten
Umzug; wir verlassen das hübsche Häuschen, wo es ein wenig feucht ist, und wir ziehen in [den] 3ten Stock des großen Hotels. Mir fällt jede Raumveränderung etwas schwer, mir erwirkt sie Melancholie.
Dienstag 17ten
Kinderunterricht, Wiederaufnahme des Musikunterrichtes. Scirocco, stürmisches Meer. R. etwas angegriffen immer, doch heitrer Laune. Viel über Goethe gesprochen; der »Faust« einem viel wertvoller als die »Divina Commedia«, doch weniger Gestaltungsvermögen darin. - Mit tiefster Empörung die Geschichte Heinrich IV.[5] von Deutschland gelesen.
Mittwoch 18ten
Die Barke, welche die Post von Sorrent nach Capri bringt, ist gestern umgeschlagen, sieben Menschen gerettet, aber einer ertrunken. Mit Gleichmut wird derlei gemeldet und gehört, und wie gleichgültig das ganze Draußen, welches im Sonnenschein heute weiter tobt!... An den Sekretär der k. Akademie in Stockholm für R. geschrieben, um für dessen Ernennung zu danken. R. beginnt einen großen Brief an den König, noch einmal ihm die ganze Lage vorstellend und ihm vorschlagend, das Ganze zu übernehmen. Den Sonnenuntergang mit R. auf der Terrasse betrachtet; an Odysseus schwimmend gedacht. Schon ganz heimisches Gefühl in diesem Land. Abends mit R. die rührende Geschichte von Papst Coelestin V.[6] gelesen. - Vielfache Gedanken an vollständiges Aufgeben der Festspiele und Verschwinden - ob gut für die Kinder?
Donnerstag 19ten
Um fünf Uhr Läuten der Hora, gar häßliches Gebimmel, unsere deutschen Glocken wohl andere Stimmen! - R. nicht wohl, muß sich zu Bett begeben, wo er einen Teil des Tages verbleibt. Ich gebe den Kindern ihre Stunden, lese Dante's Leben, zwei Gesänge des Purgatorio und in den »Republiques italiennes«.
Freitag 20ten
R. immer unwohl, was mich einer gar wehmütigen Stimmung hingibt. Einzige Rettung dagegen Arbeit mit den Kindern; Seebad sehr merkwürdig, weil die Wellen schon sehr mächtig. Am Nachmittag steht R. auf, er ist etwas besser, doch noch immer sehr schwach; das Wetter erhellt sich, ich nehme einen Kahn und fahre auf ein Stündchen auf dem Meer, im steten Wechsel, beständig wandernd sich wandelnd, empfängt keine Welle noch Wolke die Klage, und unbeweglich der Berg schickt sie zurück; Bewegung und Starre, taub und unempfänglich; vernimmt das menschliche Wesen den Ton? Vielleicht ein Mutterherz! Wir sprechen mit R. von der Schönheit des Punktes hier, »ja«, meint er, »wenn man die Gedanken nicht mit sich brächte«.
Sonnabend 21ten
Stürmische Nacht, Hagel, Donner und weiß Gott was alles. R. träumt von meiner Hinrichtung, ich hätte mit meinem Vater abgemacht, daß, um meine Verheiratung mit R. zu büßen, ich mich hinrichten lassen müsse, nur Lulu sollte mich begleiten; er hatte anfangs nicht daran geglaubt, wie er mich aber auf einer Bahre habe tragen sehen, weil ich nicht gehen konnte, habe er laut geschrien und sei von seinem Schrei aufgewacht. Vorher hatte er geträumt, daß Siegfried aufgeführt würde und daß etwas Unrichtiges auf der Bühne, »Brandt, die Beleuchtung geht ein«, mit diesen Worten sei er aufgewacht! - Unterricht den Kindern, R. beschließt seinen Brief an den König, worin er ihm den Vorschlag [macht], durch einen Vertreter an den Bundesrat unsere Festspiele dem Reich zu empfehlen oder die Sache ganz zu übernehmen. - In Sismondi gelesen. Abends viel gesonnen, fester Entschluß, gegen die Schwermut anzukämpfen, die mich zu umnachten droht.
Sonntag 22ten
»Es ist ein Ziel auf's innigste zu wünschen«,[7] diese Worte kommen mir in den Sinn, indem ich an des Vaters Geburtstag denke und mich frage, wie er wohl auf das Leben zurückblickt!  - Heute ist für mich Brieftag (11!), R. schreibt an Frau Lucca, sich entschuldigend, ihr die Striche für den Rienzi in Bologna nicht, wie sie es wünscht, angeben zu können. Nachmittags schöner Spaziergang nach Capo di Sorrente zu - ein furchtbares Gewitter diese Nacht hat Himmel befreit und Erde erfrischt, R. bekommt der Spaziergang gut, wir ergehen uns in einem jener endlosen Gespräche, welche von je zwischen uns stattfanden; dieses-mal über Normannen, fesselnd in ihrer Erscheinung im Süden, antipa-thisch im Norden gegen die Sachsen.
Montag 23ten
R. klagt über eine unruhige Nacht; doch beschließt er die Partie nach Pompeji mit der Kinderschar. Sie glückt sehr, und wenn wir auch etwas müde sind, R. und ich, so kehren wir doch in sehr heitrer Stimmung heim. Abends blättre ich durch angekommene Bücher (zur Ansicht), alles über die Festspiele absurd, und überhaupt über R. - Ganz abseits dieser Öffentlichkeit, meint R., gäbe es gewiß Menschen, welche von den Spielen tief bewegt worden seien.
Dienstag 24ten
R. hatte eine gute Nacht und erzählt uns am Frühstückstisch viel von seinen Kinderjahren; Eisleben,[8] Possendorf, der Vetter Fredi, unentgeltlichen Unterricht gebend etc. Darauf Unterricht den Kindern meinerseits, während R. dem Berliner Hornisten zu erwidern hat. Der König hat nämlich drei Verdienstmedaillen (dem Kmeister*(* Hier: Konzertmeister.) Grützmacher, Oboisten Wieprecht und Fleischhauer) verteilt. Diese haben sich nicht bedankt, die andren aber fallen R. an! - Besuch von Mal-wida, welche für Freund Nietzsche Wohnung machen will, Umschau nach verschiedenen Häusern. Sie fährt abends nach Neapel zurück. Plauderei mit R.
Mittwoch 25ten
R. wohl, in Folge einer guten Nacht. Heiteres Frühstück, darauf Kinderunterricht und Seebad für mich, R. liest in seiner Vorrede an Villot,[9] weil er eine Antwort auf den Brief von Herrn Monod [vorbereitet. Auch in den »Republiques italiennes« liest er mit großer Teilnahme für die Stadt Pisa und den Helden Castruccione. - Schöner Spaziergang am Nachmittag mit den Kindern und R., zwei Stunden lang wandern wir an den Ufern, die mir schon ganz heimisch geworden sind. Heimkehr mit Gewitter. Abends in einige zugesendete Bücher noch geblickt; das Anerkennende über R. unbedeutend, das übrige unbegreiflich durch Dummheit und Perfidie. Ein Herr Schletterer schreibt in der Augsburger Zeitung, förmlich um die Orchestermitglieder aufzuhetzen, nicht wieder in den Orchesterraum zu steigen und R. im Stich zu lassen! Alle bösen Triebe im Menschen wühlen sie auf, dazu reicht die Klugheit hin, welche sie so kläglich im Stich läßt, wenn [sie] die ideale Welt betreten! - Ein anderes Büchelchen von einem Herrn Dunkl, beinahe zur Verherrlichung meines Vaters geschrieben, wirft vorübergehend die Bemerkung hin, daß mein Bruder Daniel gar nicht begabt gewesen wäre!...
Donnerstag 26ten
Arbeit mit den Kindern, während der Olivenernte mit dem dazu gehörenden Olivengejodel; die Leute hier haben nur einen Schlag wie die Vögel. - Gestern weckte mich R. mit einer schönen Improvisation; ich möchte ihn bewegen, die ganze Nibelungen-Not zu vergessen und an ein neues Werk zu gehen. Er dachte neulich wieder an die Trauersymphonie für die im Krieg Gefallenen, er würde sein Thema zu Romeo und Julie dazu gebrauchen. Er sah in eine Halle die Särge gebracht, immer mehr und mehr, so daß der Schmerz des einzelnen im allgemeinen Leiden sich immer mehr verlöre. Darauf erst der Triumphgesang. Wer aber empfindet so mit ihm? Wundervolle Spazierfahrt am Nachmittag, alle Grotten zwischen Meta und Sorrent besichtigt, an Dante und Dore dabei gedacht; herrlicher Himmel, die Insel in goldenem Licht selig daliegend, der Vesuv mit den Dörfern davor rötlich grau und braungold, düster drohend. Von Meta zu Fuß nach Haus, ein langer Spaziergang bei Mondschein; alles wundervoll, die Häuser, wie die Gärten mit den hohen Pinien, diese Aristokraten unter den Bäumen. Abends sind wir wohl etwas müde, doch herrlich gestimmt. Mir ist es, als ob das Leben mir hier eine Frist gegnadet hätte!
Freitag 27ten
Über Barbarossa und Arnold von Brescia[10] gesprochen, dessen Auslieferung die große Schuld des ersteren, welche sich an seinem ganzen Geschlecht gerächt, der Ring des Nibelungen, Wotan's Schuld. -Ich sage R., daß ich nicht begreife, daß unsere heutigen Dichter nicht diese Stoffe, die uns noch so nahe angehen, behandeln, anstatt Nero und Gott weiß was hervorzusuchen. - Schöner Tag, Seebad mit den Kindern. Nachmittag mit R. und den Kindern einen kleinen Spaziergang [gemacht], dann mit R. auf unsrer Terrasse lange gesessen und auf das Meer geblickt. Darauf Besuch von Malwida, Dr. Ree und unserm Freund Nietzsche, letzterer sehr angegriffen und mit seiner Gesundheit sehr beschäftigt. Sie haben sich in Sorrento niedergelassen. -  Abends liest mir R. einen schönen eingehenden Brief, welchen er an Herrn Monod in Antwort auf ein enthusiastisches Schreiben desselben geschrieben hat und worin er sein Verhältnis zu den Franzosen bespricht. - Mondschein auf dem Olivengarten, an Christus gedacht, »wenn dieser Kelch an mir vorbei gehen kann, doch Dein Wille geschehe« - der Inbegriff alles Leidens und aller Erlösung; wie oft fleht die Seele um Umgehung des Kelches, wie schwer wird ihr die Ergebung, wie selten gelingt sie ihr, wenn sie ihr aber gelingt, wie breiten sich da die Schwingen aus, wie schwebt sie in den reinsten Höhen, wie erreicht nichts mehr sie!...
Sonnabend 28ten
Kinderunterricht, Verkehr mit Malwida, deren Geburtstag heute ist. In Sismondi viel gelesen, immer mit großem Interesse.
Sonntag 29ten
Spiel- und Brief tag; dazu Seebad und Sismondi. Ich bitte R., an die Biographie zu gehen, allein er hat nicht große Lust, sein »Qualhall« kommt ihm nicht aus dem Sinn.
Montag 30ten
Besuch bei Malwida mit den Kindern, bei herrlichem Wetter. R. liest anhaltend in Sismondi mit vielem Vergnügen. Nachmittags gehen wir spazieren. Er ist, wie er mir sagt, dankbar für alles, was ihn von dem Gedanken-Kreis abzieht, der ihn so bedrückt. Wir gestehen uns, daß wir des öfteren schweigen, nur um uns gegenseitig nicht unsere trüben Ideen über die Lage und die Erfahrungen mitzuteilen. In den Heften von Herrn Hagen[11] abends gelesen. - R. hat sich der Namen wegen im »Parzival« von San-Marte umgesehen; sagt aber, daß es abstruses Zeug sei und einem gar nichts helfen könne. Depesche von Judith*,(* Judith Mendes-Gautier, s. Anm.) meldend: »Toller Erfolg von Siegfried's Todesmarsch bei Pasdeloup, mit Kämpfen und zwei Duellen.« Herr Unger schreibt auch, eine Mahnung an das Widerliche!
Dienstag 31ten
R. liest und schreibt an Hofrat Düfflipp wegen Orden für Architekten Brückwald, welcher ungerechter Weise übergangen worden ist, während Herr Brandt mit Orden überschüttet worden ist. - Wir feiern heute Malwiden's Geburtstag mit einer Partie zu Esel zum Deserto, zum Jubel der Kinder. Die Vegetation hat bedeutend verloren seit unserem ersten Ritt, doch ist es immer [noch] schön, und der Himmel entsendet den schönsten Sonnenuntergangs-Gruß. Abends mit R. Sismondi's Parallele zwischen Griechenland und Italien gelesen und dann geplaudert.