September

Dienstag 1ten
Arbeit mit den Kindern, nachmittags langer Spaziergang, zuerst mit den Kindern nach Rollwenzel, dann im Studentenwäldchen. Abends den Aufsatz von Karl Hillebrand in der Neuen Presse über die Nietzsche'sche Schrift gelesen. Einiges Gute kurz, vieles Dumme ganz breit ausgeführt. »Es gehört etwas dazu, um an den Deutschen zu glauben«, - sagt R. (Fidi unwohl). Brief von Mimi Schleinitz, ihren Besuch für Montag ankündigend.
Mittwoch 2ten
Sedan mit Schüssen und Fahnen gefeiert, auch durch einen großen Zug. Ein wenig mit den Kindern gewandert. Fidi aber immer leidend. - Gestern bei Tisch erzählte R. die große Aufregung in Österreich, weil ihre Kanonen nichts taugen, eine schöne Welt, wo dies das Hauptaugenmerk bleiben muß! Ich mache mich auf mit den Kindern, das sogenannte Volksfest zu sehen, kehre dann aber bald wieder heim. Wir lesen abends »Die Geburt des Merlin«[1] mit höchstem Interesse und Staunen.
Donnerstag 3ten
R. nicht viel schlafend, dachte diese Nacht viel an seinen Tod, wünscht in dem Saal, den Blick gewendet gegen mein Bild, sein letztes Krankenbett aufgeschlagen. - Tropischste Hitze, vielleicht der heißeste Tag des Jahres. - Ich erzähle R. einen Ausspruch der Fürstin Taxis, welche gesagt: »Zuerst muß eine Revolution kommen, dann geschieht der Sieg der Kirche.« - Ja, sagt er, Rom hat sich immer am besten nach den Revolutionen befunden. Weiter zurückkehrend auf die römische Do-mination sagt er: »Es ist unbegreiflich, daß sich die deutsche Sprache erhalten hat.« - Ein Parfümeriehändler bietet sich an (aus Nürnberg), für das Unternehmen etwas tun zu wollen, wenn man ihn zum Hoflieferanten des Königs machen will! - Abends lesen wir »Merlin's Geburt« aus, der Schluß fällt etwas ab, es sieht aus wie ein Jugendwerk Shakespeare's, der anderen nicht unwürdig, allein nicht ebenbürtig. Nach der Lektüre im Garten gewandert (vorher nach Rollwenzel mit den Kindern), melancholischer abnehmender Mond, wie über ein »Schotte's Loch«, »über die Macbethische Heide«. Ich selbst durch übles Benehmen Lusch's sehr melancholisch gestimmt. - R. sprach vom »Faust« und sagte: »Das und die Beethoven'sche Symphonie, darauf einzig kann Deutschland stolz sein; denn das ist ganz deutsch, populär deutsch und umfaßt die ganze Welt, es ist das größte Meisterwerk.« Ich: »Doch nicht über Shakespeare.« R.: »Shakespeare ist das wahrhaftigste Bild der Welt, der >Faust< ist der Kommentar zu dem Bild, der Kommentar zu Shakespeare.«
Freitag 4ten
Immer kein Regen, höchste Dürre. Arbeit mit den Kindern, R. bei der Partitur. Nach Tisch erzählt er ganz aufgeregt von (beigelegter Erzählung)*(*Undatierter Zeitungsausschnitt: »Die Erschießung der 87 Carabineros durch die Carlisten.« Bericht über die von Saballs befohlene Hinrichtung von 87 gefangenen, zur Zollwache gehörigen Gendarmen in Llayers bei Olot.) der Greueltat der Carlisten. Er möchte an Bucher nach Varzin das schicken mit der Beifügung der Worte: Wozu ist der deutsche Kaiser da. Den Tag über bleibt er erregt durch diese Schändlichkeit und möchte, daß Meetings durch Liberale ausgerufen würden, um eine Pression auf die Regierungen auszuüben und ein Ende diesen Schandtaten zu machen. »Das wäre Sache des Königs von Bayern, den deutschen Kaiser in dieser Sache anzurufen«, sagt er mit Trauer! - In den Wald mit den Kindern gegangen. - Abends schlägt mir R. vor entweder »Luther« von Werner,[2] oder »Venus und Adonis« von Shakespeare; zuerst lesen wir aus dem Vorwort von Simrock, und das Geschwätz über die Moralität oder Nicht-Moralität Shakespeare's widert mich an, nicht minder »Luther«, und leider bleibt mir »Venus und Adonis« unfaßlich. Kein Glück mit der Lektüre. R. lacht darüber, daß nur das Allerhöchste mir gefallen will. »Was hat den Deutschen Goethe genutzt«, Ausruf Feuerbach's, welcher R. gefallen hat.
Sonnabend 5ten
R. arbeitet, jedoch er findet sich zerstreut und muß ein Blatt zweimal instrumentieren, ich habe verschiedene Briefe zu schreiben, nachdem ich den Kindern den Unterricht gegeben habe. Nach Tisch, zum Kaffee, singt R. das »spinne Margarethe« aus der »Weißen Dame«,[3] sagt mir, welchen Eindruck dies in seiner Jugend auf ihn gemacht, und kommt dann auf den Gedanken, wie rührend es sei, sich Fidi vorzustellen, nach langer Abwesenheit wieder in Wahnfried heimkehrend! Man müßte dafür sorgen, daß es ihm, während dem unausbleiblichen Umhertreiben in der Welt, gepflegt würde, vielleicht [durch] eine seiner Schwestern, wenn sie sich nicht verheiratete. R. habe diese Nacht, während er nicht schlief, an sein Testament gedacht, einzelnes festgestellt. »Ich glaube nicht, daß mir das geschadet haben würde, in einem solchen Besitz auferzogen worden zu sein«, sagt R., ich meine, er würde ihn zur Verwirklichung seiner Ideen verkauft haben! Auf die »Weiße Dame« zurückkommend, sagt R.: »Das war der schönste Zug der Franzosen, welcher sich in dieser Oper ausspricht, ein gewisser wehmütiger Leichtsinn, welcher lächelnd alles Traurige weiß.« - Nachmittags melden sich die Freunde Heckel und Dr. Zeroni aus Mannheim, welche soeben Tristan in München gesehen haben. Große Freude an den trefflichen Freunden; Dr. Zeroni ist auch Altkatholik geworden (oder geblieben?) in der Überzeugung, daß, wenn diese Bewegung nicht um sich greift, Deutschland zu Grunde geht. Er geht zu der von Döllinger in Bonn berufenen Versammlung zum Uten September hin, R. spricht lebhaft, sagt, sie möchten den Protestantismus vollenden, die deutsche Kirche, nicht das Katholos in's Auge fassen, entwirft ihnen ein Bild der äußerlichen Gründe, weshalb der Protestantismus nicht weiter sich entwickelte.
Sonntag 6ten
Keine Kirche, die Kinder nicht wohl, ich schreibe Briefe, um Mittag unsere Freunde Heckel und Zeroni, mit welchen R. spazieren geht, um dann den Abend bei uns zusammen zu kommen. Um elf Uhr hole ich Marie Schleinitz am Bahnhof ab. Mit ihr bis um die Mitternacht geblieben. Welt- und Leidensgeschichten!
Montag 7ten
Der Tag gehört von Morgen bis zum Abend unsrer Freundin; am Morgen wurde ich sehr erschrocken durch eine plötzliche Röte, welche Fidi befallen, es stellt sich zu unsrem Jubel heraus, daß es nichts ist. Unsere Freundin, außerordentlich hübsch und interessant in der Erscheinung, führen wir zum Bau; ob der Kronprinz zu den dereinstigen Aufführungen kommen wird, sehr zweifelhaft!! Abends aus der Götterdämmerung die Rheintöchter und die Nornenscenen. - Um Mittag Überraschung durch den Maler Krauße, welcher den ganzen fertigen Karton zum Sgraffito auf dem Vorbau unseres Hauses bringt. Großer Schrecken für mich, tags vorher hatte ich mit R. besprochen, wie gut es sei, daß Herr Krauße, welcher während einem Jahr nichts hatte von sich hören lassen, uns wohl vergessen habe! -
Dienstag 8ten
In der Frühe zur Freundin, welche dann ihren Gemahl in Neumarkt abholt. Sehr angenehmes Zusammensein den ganzen Nachmittag, der Minister soeben von der Konfirmation des Sohnes des Kronprinzen[4] heimkehrend, erzählt von dem bewundernswürdigen Glaubensbekenntnis des Prinzen. Es bestätigt sich aber, daß dessen linker Arm lahm ist. Besuch des Theaters. - Sorge um Lusch's Gesundheit, Beginn der Entwickelung. - R. träumte wieder von einer Intimität mit Bismarck, und daß, wie er ihn Exzellenz genannt hätte, dieser ihm erwidert: »Sagen Sie lieber Majestät.«
Mittwoch 9ten
Isolde überraschte uns gestern durch einen völligen historischen Vortrag, welchen Fidi durch den Witz abschloß (es handelte sich um den Streit Ludwig's des Frommen mit seinen Söhnen): »Sie streiten sich wie auf dem Hühnerhof.« - Abschiedsbesuch der freundlichen Gönner, welche ungemein liebenswürdig gegen die Kinder waren. Aufstellung des Gerüstes. Allerlei mit dem »Vetter« Krauße besprochen. Ich viele Briefe zu schreiben. R. etwas an der Partitur arbeitend. Große Müdigkeit.
Donnerstag 10ten
Herr Hoffmann der Maler wird abgewiesen; den 25ten August spätestens hier erwartet, findet er sich erst heute hier ein. Frage, ob ein Prozeß entstehen wird. — Ich beginne wieder die Arbeit mit den Kindern, R. arbeitet an seiner Partitur. Verschiedenartige Briefe sind zu erledigen. Abends lesen wir Tieck's schöne Vorrede zu der Vorschule.
Freitag 11ten
Sehr üble Nacht, während welcher ich eine Anrufung an die Musik für Marie Muchanoff unter Tränen entwarf. Bad mit Lusch, Arbeit mit den Kindern, und darauf sieben bis acht Briefe geschrieben. Abends »Die Hexe« von Greene[5] gelesen, ohne Freude daran, ein Genie hat keine Vorgänger. (Vorher eine Kaffeegesellschaft bei Freifrau von Reitzenstein erlebt.)
Sonnabend 12ten
R. arbeitet (nach einer üblen Nacht, »die ganze Natur ist Bullrich«, ruft er scherzend während des Nacht-Sturmes aus); ich arbeite mit den Kindern, Vor- und Nachmittag. Abends beginnen wir »Don Arias Gomez' Liebchen«[6]. Ich bin sehr müde.
Sonntag 13ten
Brief des Herrn Hoffmann, welcher durchaus R. sprechen will, wir entscheiden uns dahin, ihn mit seiner Frau zum Abend einzuladen. R. zuerst sehr aufgeregt, beruhigt sich dann, es wird abgemacht, daß die Maquettes von Coburg wieder herüber bestellt werden. - Der angekündigte Dichtertag*(* Dem Heft beiliegend ein undatierter Zeitungsausschnitt (um den 10. September 1874) mit den zur Verabschiedung eingebrachten Resolutionen des auf den 27. September einberufenen Weimarer Dichtertages, s. Anm.[7]) mit seinen Paragraphen erschrickt durch die Dreistigkeit seiner Dummheit. Kälte, Vornehmung der Winter-Garderobe.
Vom 13ten September bis Mittwoch 23ten
nicht in das Tagebuch geschrieben. Arbeit mit den Kindern, Briefe für R. zu schreiben, Nachmittagsgesellschaften, Unterredungen mit Herrn Hoffmann, alles verhindert mich daran.
Dienstag 22ten Mit den Kindern gearbeitet, »Quentin Durward« von W. Scott mit Lusch begonnen. R. an der Partitur trotz einer schlechten Nacht, er ist von Flechten gepeinigt an drei Fingern. Zu Mittag Herr Hoffmann mit Frau, R. hat ihn endlich dazu vermocht, eine neue Skizze zu entwerfen! Nachmittagsgesellschaft, welche ich einzig, um für die Kinder Beziehungen aufrecht zu erhalten, annehme, R. immer unwillig dagegen, sagt, daß er sein ganzes Leben nicht begreift, wenn ich nicht da bin, daß ihm Haus und Kinder wie ein Unsinn erscheinen. - Schöner Brief des Königs, R. dankend; ich erinnere R. daran, was eine alte Wahrsagerin in München ihm gesagt, daß der König ihm immer bei zunehmendem Mond geneigt sein würde. - Wir haben die schönsten Mondnächte gehabt. Abends unser sgraffitierender Künstler; mir ist bei dem Arbeiten sehr bang. - Hübsche Schrift eines hiesigen Regierungsrates gelesen, wonach das Fichtelgebirge die Urstätte des alten Germanentums gewesen wäre, was uns freut. R., auf »Don Arias' Liebchen« zurückkommend, sagt: Es ist doch schlimm, daß diese wie eine Pest zu vertilgenden Mauren wiederum die einzigen anständigen Charaktere liefern. Religion hat es eigentlich nur bei den Heiden gegeben. - R. sucht vergeblich, unserem Ma-cedonier begreiflich zu machen, daß es keine Griechen mehr gibt und daß die Russen dieses ganze slawische Wesen einmal vereinigen werden. -Von seiner Partitur erzählt mir R., bei der Erzählung von Siegfried im Walde würde im Orchester das Waldweben aus Siegfried bloß angedeutet werden, denn hier müsse das Schicksal Siegfried's wirken und nicht zerstreut durch ein Naturereignis werden, ein anderes sei es gewesen, wo er hätte das Waldweben wirken lassen wollen, und jetzt; er könne überhaupt nie wiederholen, da fände er selbst den Ton zum Transkribieren nicht.
Mittwoch 23ten
R. hatte wiederum eine schlimme Nacht; der Barbier macht ihm Teerumschläge, und diese regen ihn auf, er arbeitet nicht, wir besuchen den Kindergarten, um Friedel[8] vielleicht dort[hin] zu schicken; aber es will uns nicht recht zusagen, und wir kommen überein, daß es eine vortreffliche Anstalt, jedoch für die Volkskinder größerer Städte ist. Langer Brief von Herrn Ulimann, dem Könige über die Virtuosen allerlei Londoner Angelegenheiten auseinandersetzend, Ratschläge gebend, wie man sich mit der Presse verständigen könnte, endlich wegen der von ihm selbst vorgeschlagenen Frau Nilsson sagend, sie würde wohl nicht bei den Bayreuther Aufführungen zugegen sein können, des Rachegefühles der Franzosen wegen etc. Brief von Frau Betty Schott, sie selber sei zu leidend, um zu kommen, ihre Geschäftsführer würden sie aber vertreten, was R. sehr freut; die materielle Lage ist wohl jetzt keine günstige, ich merke es wohl, meine kleinen Ersparnisse sind verwendet worden und genügen nicht, auch ist das Leben sehr kostspielig zu bestreiten. - Die Kinder nach Fantaisie geschickt, währenddem ich die Korrespondenz erledige, später ihnen mit R. entgegen. Abends die »Anabasis« des Xeno-phon begonnen. Schöner Mondschein, vor der Trennung mit R. noch im Garten gewandert.
Donnerstag 24ten
Immer schlechte Nächte für R., so schlecht, daß er nicht viel arbeiten kann. Ich arbeite mit den Kindern. Zu Tisch der Maler Krauße, welcher emsig an dem Sgraffito arbeitet. Nachmittags Spaziergang mit R. und den Kindern, ersterer ist sehr angegriffen, auch ist ihm die augenblickliche materielle Lage peinlich; das Pester Theater schickt die 1000 Gulden für Rienzi (längst geschuldet) immer [noch] nicht, und so viele Rechnungen sind zu bezahlen. Früh zu Bett.
Freitag 25ten
Für beide eine schlimme Nacht, R. träumte dazu, daß ich mit Fidi ihn verlassen wollte und er sich nur vornahm, schweigend mich nicht einen Augenblick zu verlassen! - Er kann nicht arbeiten und ist trübgemut, freut sich aber immer Fidi's, dessen Beobachtung ihm, wie er sagt, eine immerwährende Freude gewährt. Ich arbeite mit den Kindern. Nachmittags mit den Kindern und R. zum Theater gewandert. Schöner Abend, R. aber leider nicht wohl, keine Lektüre außer einige Bruchstücke aus Skizzen aus der Petersburger Gesellschaft, sehr nichtig.
Sonnabend 26ten
Wiederum eine sehr üble Nacht für R., welcher nun einige Tage nicht arbeiten kann. Ich wie gewöhnlich am Morgen mit den Kindern. Nachmittags zur Eremitage sie geschickt, abends den Besuch des Professors Schulz, Architekt aus Würzburg, welcher einige Ratschläge in Bezug auf unser Sgraffito gibt. - Magische Mondbeleuchtung, aus meinem grauen Stübchen, ich möchte sie nachts genießen, R. wünscht es nicht, in der Nacht aber öffnet er die Portieren.
Sonntag 27ten
R. träumte wiederum, ich verließe ihn, er behauptet, der Ausdruck, mit welchem ich gesagt hätte, der Mond ist mein Freund, hätte ihn eifersüchtig gemacht und ihm den Traum eingegeben, in welchem ich schön gekleidet mich von ihm schlich, um in einer grau-wollenen Jacke wieder bei ihm zu sein! - Er schreibt an den König,[9] welcher einen genauen Bericht von allem gewünscht hat. - »Ein neuer Drache ist gemacht worden«, meldet der Diener vom Sgraffito. Ein Brief vom Maler Hoffmann (trübseliger Freund, welcher trüb durch gemalte Scheiben bricht, ruft R. lachend aus!), welcher mich veranlaßt, an die Herrn Brückner zu schreiben. R. liest mir aus einem Volkslied des 15ten Jahrhunderts, welches uns entzückt (An die Schöne): »Der züchtige Blick, welcher das Herz erschrickt!« - Heute mein Namenstag, der Vater schrieb nicht, was mich etwas erschrickt. Abends lesen wir die Geschichte Krespel's aus den »Serapionsbrüdern« mit großer Rührung. Eine Bemerkung des Professors überrascht durch die große Schärfe der Beobachtung; und merkwürdig ist der Sinn, was das Lächerliche zuweilen zu bedeuten hat.
Montag 28ten
R. schreibt seit einigen Tagen an den König, der Brief schwillt immer mehr an, er gibt ihm auf seinen Wunsch einen vollständigen Bericht über seine Unternehmung, auch über unser Leben. - Ich arbeite mit den Kindern. Nachmittags sagt mir R., er wisse, warum es jetzt unmöglich sei, daß ein großer Dichter entstünde, weil alles jetzt die seichte optimistische Weltanschauung hat, mit welcher es unmöglich sei, die Welt tief und wahrhaft zu erfassen. Wir kommen darüber ein, daß die große Macht der Jesuiten nicht in ihren äußerlichen Mitteln ruhe, sondern in der Richtigkeit ihrer Erkenntnis von der Schlechtigkeit der Welt; daß sie aus dieser Erkenntnis Vorteil ziehen wollen, macht sie fluchwürdig. Abends beginnen wir die »Anabasis« des Xenophon.
Dienstag 29ten*
(*Von Cosima fälschlich »28ten« datiert; ab hier in der Handschrift fehlerhaft bis einschließlich 4. Oktober)
R. immer bei seinem Briefe; zu Mittag der Pr. Schulze, Herr Maziere,[10] Geschäftsführer des Hauses Schott, wegen Revision des Kontraktes (noch nicht zu Stande gekommen), und unser Sgraf-fito-Künstler. Nachmittags habe ich viele Briefschaften zu erledigen, enthusiastische Studenten etc. Abends Musik, Strauß'sche Walzer, von dem Verleger Rozsavölgyi aus Pest freundlichst geschickt und von Herrn Rubinstein zu unserem großen Vergnügen gespielt. Brief des Vaters; Fürstin Wittgenstein ist sehr schwer erkrankt in Rom. Freund Feustel hat in München Rat Düfflipp gesehen und ihn höchst übler Laune gefunden. Wenn wiederum eine Anforderung für das Theater käme, so würde er sich energisch dagegen stemmen! Feustel hatte uns am Morgen gemeldet, daß Geld sehr not tue. R. denkt an ein Konzert in Pest. Große Unannehmlichkeiten mit den Malern Brückner und Hoffmann, welche sich Gott weiß wie legen werden.
Mittwoch 30ten
R. schreibt immer weiter, und ich arbeite mit den Kindern. Nachmittags Spaziergang; das ganze Land völlig ausgetrocknet. In der Zeitung steht die Nachricht, daß der König bloß die Aufführungen in Bayreuth abwarte, um eine Regentschaft einzusetzen und eine Reise nach Indien vorzunehmen. Seltsamerweise fällt diese Notiz mit dem Ersuchen des Königs an R., ihn genau Jahr und Tag der Aufführungen wissen zu lassen, [zusammen]. — Abends die »Anabasis« zu großem Entzücken, es ist, als ob man in reinere Luft blickte. R. rühmt darin die Naivität, die gänzliche Unkenntnis des Effektes. Wie gespreizt und farblos dagegen unsere jetzigen Geschichtsschreiber!