1. Epistemologische Grundlagen
Wenn wir die Frage nach dem Gedächtnis und nach dem Akt der Lektüre diskursanalytisch behandeln, so können wir dabei keinem organischen, psychophysiologischen Substrat mehr ein apriorisches Privileg zugestehen. Ohne hier den ontologischen Stellenwert der neurobiologischen Forschung zu diskutieren, derzufolge der Sitz des Gedächtnisses beim Menschen wie bei höheren Lebewesen im zentralen Nervensystem liegt, soll nur festgehalten werden, daß dieser Ordnung zufolge das Gedächtnis direkt einem lebenden Organismus angeschlossen wird: neurobiologisch ist es gegeben in Form von Spuren, welche die innere, individuelle Repräsentation von äußeren Phänomenen organismisch konstruieren — in Gestalt mehr oder weniger komplexer Verhaltensschemata und/oder reaktivierbarer Operatoren, die von der punktuellen Spur eines traumatischen Schocks bis hin zur aktiven Konstruktion eines »semantischen Gedächtnisses« reichen. Dieser organismischen Auffassung des Gedächtnisses stellen wir eine alternative Hypothese entgegen, die seinen sozialen Status ins Spiel bringt. Er gilt uns als Bedingung des gedächtnishaft-diskursiven Funktionierens und zeigt sich in der Produktion und Interpretation von Netzen graphischer und phonischer Spuren. In diskursanalytischer Perspektive wird das Gedächtnis folglich weder auf kortikale Spuren in einem Organismus bezogen, noch auf Verhaltensspuren, die von ihm veräußert werden. Stattdessen wird es an ein komplexes Ensemble gebunden, das vor dem Organismus existiert und ihm selbst äußerlich ist. Konstituiert wird es aus lesbaren Anreihungen von Anzeichen (indices), die einen Korpus soziohistorischer Spuren bilden. Wenn man so das Gedächtnis als gesellschaftliche Spurenkörper begreift, die in extrem verschiedenen Formen eingeschrieben sind, so verweist das auf den Begriff des »kollektiven Gedächtnisses«, wie er von den Historikern der Mentalitäten entwickelt worden ist: die kollektiven Körper (Städte, Regionen, Institutionen, Vereinigungen und Verbände. Nationen, Staaten usw.) werden untersucht als Körper von Spuren,[1] ebenso wie jene Texte, in denen sich die für eine bestimmte Epoche typischen Figuren der Kindheit, des Wahnsinns, des Todes oder der Sexualität diskursiv anzeigen, ohne jene transparente Gewißheit, die sie traditionell zum dokumentarischen Gegenstand der Historiographie prädestiniert hatte. Ähnlich den Methoden der Mentalitätsgeschichte hat auch Michael Foucault in seiner »Archäologie« Textdokumente wie »Monumente« behandelt, wie diskursive Spuren in einer Geschichte, Knoten in einem Netz von Aussagen.[2] Besonders seine »Archäologie des Wissens« hat der Diskursanalyse neue Perspektiven eröffnet. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß auch die Begriffe »Ideologie« oder »Wissens-, Vorstellungs- und Glaubenssysteme«, wenngleich in ganz verschiedener Art und Weise, solche Netze von Zeichen, Spuren und Fährten bezeichnen. (Besonders Carlo Ginzburg hat diese Ausdrücke in seiner Überlegung zum Paradigma des Anzeichens verwendet.)[3]
2. Verarbeitung einer Information und Produktion einer Interpretation
Die Praktiker der Diskursanalyse unterschieden im allgemeinen zwischen logisch stabilisierten Diskursuniversen einerseits (z.B. die Diskurse der Naturwissenschaften, der Technologien, auch der administrativen Systeme in ihrem formalen Funktionieren) und logisch nichtstabilisierten andererseits (in Bereichen der Philosophie, Sozialgeschichte, Politik, Ästhetik und den vielfältigen Registern des Alltagslebens). Während die logisch stabilisierten Diskursräume das bevorzugte Übungsfeld der neuen Interdisziplin »Künstliche Intelligenz« sind, mit ihrem verallgemeinerten epistemischen Subjekt, konzentriert sich die Diskursanalyse besonders auf die Spuren des Nichtstabilisierten. Diese Differenz hat bestimmte theoretische und forschungstechnische Konsequenzen. Zunächst muß betont werden, daß der Raum logisch stabilisierter Diskursbereiche das privilegierte Gebiet darstellt, in dem sich psychologische Theorien des epistemischen Subjekts entfalten können, eines Subjekts, das »Herr in seinem Hause« ist und, juristisch gesehen, als ein bewußter, rationaler logisch-operationaler Stratege arbeitet. Das ist leicht zu verstehen: die Behandlung logisch-mathematischer Objekte, der geregelte Gebrauch wissenschaftlicher Begriffe oder Technologien in einer »operationalen« Situation, auch das Argumentieren in einem allgemein verbindlichen Forschungsrahmen setzen eine metasprachlich geregelte Klarheit voraus, in der offene Interpretationsmöglichkeiten funktionslos sind und ausgeschlossen werden müssen. Das Subjekt dieser Diskurse entwickelt sich nicht auf der Basis unabgeschlossener, stets wieder neuer Interpretationen, sondern operiert und arbeitet mittels kognitiver Strategien, die ihm durch verfügbare Operationssysteme angeboten werden. Das epistemische Subjekt der logisch stabilisierten Diskurse ist eine ideale Instanz, die über die entsprechenden Codes verfügt. In diesem Rahmen muß konsequenterweise das Lesen als »Informationsverarbeitung« begriffen werden, selbst wenn es sich um gesprochene oder geschriebene Sequenzen einer natürlichen Sprache handelt, die nicht ausschließlich stabilisierten Diskursregeln unterliegt. Die kognitivistische Matrix nimmt die Existenz eines strukturierten Ensembles von Operationen an, das im Subjekt angesiedelt sein soll und dazu befähigt, den angemessenen Sinn einer gegebenen Sequenz zu konstruieren, angeleitet durch den Code des Diskursuniversums, dem die entsprechende Sequenz vermeintlich angehört. Das epistemische Subjekt »versteht« eine Sequenz, sobald es in der Lage ist, ausgehend von der wörtlichen Bedeutung (litteralite) dieser Sequenz, die Präsuppositionen, Inferenzen, Implikationen usw. festzustellen, die dem logischen Raum, in dem die Sequenz funktioniert, adäquat sind. In anderen Worten: das Wörtliche der Sequenz, die geregelte, grammatische Serie ihrer linguistischen Merkmale, wird betrachtet als ein Ensemble logischer Operationsspuren, das auf Nicht-Gesagtes, jedoch logisch Rekonstruierbares verweist. Sein Ort ist ein Gedächtnis, dessen kognitivistisches (semantisches oder semantisch-pragmatisches) Modell auf der Annahme eines strategisch operierenden Subjekts beruht, das mit einer logischen Maschinerie ausgestattet ist. Durch sie ist das Subjekt in der Lage, den Sinn einer Sequenz operational zu rekonstruieren, indem anhand des Materials Schritt für Schritt der informationsverarbeitende Mechanismus sich abarbeitet und in seiner Angemessenheit bestätigt. Dieses Modell kognitiver Prozesse steht in einem disziplinaren Rahmen, der starr genug ist, um sich auch durch die vielleicht notwendige Berücksichtigung »äußerer«, nicht-sequentieller Informationen nicht aufweichen zu lassen, auch nicht durch jene interpretativen Assoziationen (den »Konnotationen« der Sequenz), die das logischwörtliche Verständnis sekundär begleiten. Grundsätzlich ist dieser Rahmen durch drei Annahmen charakterisierbar:
- Es gibt eine dem Subjekt verfügbare logische Maschinerie. Sie stellt die wesentliche innere Bedingung für die Verarbeitung von Informationen dar. Ihr Funktionieren ist durch logisch stabilisierte Regelsysteme garantiert.
- Es gibt eine konstitutive Trennung zwischen der logischen Maschinerie und den bloß »sekundären« oder peripheren Funktionen, die der rekonstruierten Information irgendwelche Rand-Informationen hinzufügen können.
- In der Produktion, der Aufnahme und im Verstehen von gesprochenen oder geschriebenen Sequenzen dienen die natürlichen Sprachen als Mittel, um die feststellbaren linguistischen Merkmale als Operationsspuren zu behandeln. Durch sie werden die operationalen Merkmale auf die ihnen entsprechende logische Metasprache bezogen. Zu dieser Triade eines informationsverarbeitenden Systems und seines epistemischen Subjekts liefert die Diskursanalyse eine Reihe alternativer Annahmen. Sie hängen mit einer Praxis zusammen, die besonders auf logisch nichtstabilisierte Diskursräume intendiert. Ich fasse sie in den drei folgenden Punkten zusammen:
1. Die wesentliche Bedingung der Produktion und Interpretation einer sprachlichen Sequenz liegt nicht in der individuellen Sphäre des psychologischen Subjekts begründet. Sie basiert vielmehr auf der Existenz eines soziohistorischen Körpers diskursiver Spuren, die den Gedächtnisraum der Sequenz bilden. Der Begriff des Inter-Diskurses [4] kennzeichnet diesen Spurenkörper als eine diskursive Materialität, die der jeweils gegebenen Sequenz vorangeht und ihr »äußerlich« ist. Während der Begriff des Intradiskurses die in der Linguistik wohlbekannte Ebene des Diskursfadens (einer Rede oder eines Textes) bezeichnet, d.h. die Verbindung der Zeichen innerhalb ihrer linearen Verkettung, zielt das Konzept des Interdiskurses auf die Tatsache, daß jede Sequenz, neben ihrer offensichtlichen Linearität, eine komplexe und geschichtete (stratifizierte) Materialität ist, die sich auf andere Diskurse bezieht, die vorher, außerhalb und unabhängig bereits existieren. Die Bestandteile eines Diskurses stammen immer aus einem soziohistorischen Anderswo, in dem sie bereits funktioniert haben.[5] Das »Nicht-Gesagte« der Sequenz läßt sich daher nicht auf der Grundlage interner logischer Operationen rekonstruieren. Es stammt vielmehr aus Bereichen des Bereits-Gesagten und Anderswo-Gesagten. Vorauskonstruierte und querlaufende Elemente bestimmen die Interdiskursivität von Sequenzen, deren Produktion und Interpretation nicht im Rahmen operationaler Systeme garantiert ist.
Der diskursanalytische Begriff des Vor-Konstruierten (preconstruit),[6] der unterschieden werden muß vom logischen Begriff der Präsupposition, sei an einem Beispiel aus einer moralischen oder juridischen Diskurssequenz verdeutlicht: »Sein Tod war Gottes Wille.« Hier wird nicht nur präsupponiert, daß jemand gestorben ist und dieses Sterben in Gottes Wille lag. Der Ausdruck »Gottes Wille« stammt zudem aus einem Diskurs, der anderswo bereits existiert (Tradition des religiösen Dogmas), die Vorstellung bekräftigt, daß es einen Gott gibt, daß dieser Gott einen Willen hat usw., kurz gesagt: aus einem Diskurs, der den Ausdruck »Gottes Wille« vorkonstruiert hat. Als vorgeprägte Konstruktion ist der Ausdruck in das diskursive Gedächtnis, den soziohistorisch geprägten Interdiskurs, eingeschrieben und steht als immer wieder aktualisierbares Element zur Verfügung. Aktualisiert funktioniert es dann als evidente Referenz. Es ist als ein diskursiver Gegenstand gegeben und geht als solcher in die Produktion und das Verstehen der Sequenz ein.
Auch die quer-laufenden Elemente, die Materialien des Quer-Diskurses (discours-transverse),[7] seien an einer ähnlichen Sequenz exemplifiziert: »W., der nicht an Gott glaubte, wird ewig unglücklich sein.« Durch sie wird auf ein Element zurückverwiesen, das im interdiskursiven Gedächtnis quer-diskursiv bereits existiert, etwa folgenden Typs: »Derjenige, der nicht an Gott glaubt, wird verdammt sein.« Festzuhalten bleibt hier, daß die exemplarische Sequenz diesen Quer-Diskurs nicht wörtlich reproduziert. Vielmehr spielt sie auf ihn an, stützt sich auf ihn, um sich so überhaupt erst ausdrücken zu lassen. Der Quer-Diskurs funktioniert als eine Art von Bedeutungsaxiom, das im diskursiven Gedächtnis stabilisiert ist und scheinbar evidente intradiskursive Verkettungen ermöglicht.
2. Die interdiskursiven Elemente lassen es als unmöglich erscheinen, die »Instruktionen«, welche die Bedeutung einer Sequenz zu produzieren und zu lesen erlauben, vollständig abzutrennen von dem Interpretationsprozeß, der auf den Sinn dieser Sequenz zielt und sich nicht in codifizierter Informationsverarbeitung erschöpft. Die Diskursanalyse gibt dabei nicht vor, sich als Spezialwissenschaft der Interpretation zu instaurieren und »den« Sinn von Texten allgemein zu beherrschen. Stattdessen stellt sie Verfahren vor, die den Leser solchen Ebenen des Diskurses aussetzen, die undurchsichtig sind gegenüber den strategischen Handlungen eines informationsverarbeitenden epistemischen Subjekts. Der Effekt des Interdiskurses, der in die Ordnung des Sagbaren einbricht in Form des Nicht-Gesagten oder Anderswo-Gesagten, erfordert die Interpretation des anderen Diskurses, als Diskurs eines anderen oder als Diskurs des Anderen.[8] Es geht also nicht um ein mehrfaches Lesen, um eine plurale Lektüre, in der ein Subjekt spielerisch die möglichen Standpunkte vervielfacht, um sich darin besser zu erkennen, sondern um ein Lesen, das einem mehrschichtigen und heterogenen Korpus untergeordnet ist und dessen Struktur sich in Abhängigkeit von diesem Lesen selbst verändert. Das ist eine Art der Lektüre, in der das lesende Subjekt den Sinn, den es entziffert, zugleich verantwortet und von ihm enteignet ist. Denn die Interpretation folgt den interdiskursiven Spuren, die als solche vorkonstruiert und querlaufend sind.
3. Innerhalb der logisch nichtstabilisierten Diskursräume kann die natürliche Sprache nicht als logisch mehr oder weniger defizientes Werkzeug funktionalisiert werden, um die Applikation informationsverarbeitender Systeme zu garantieren. Sie funktioniert nicht als Mittel, um einen neutralisierten Diskurs über vergleichgültigte Objekt-Diskurse halten zu können. Sie ist nicht die oberste Metasprache, um linguistische Merkmale operational verankern zu können. Stattdessen bildet sie den privilegierten Raum für die Einschreibung sprachlicher Diskursspuren, die das soziohistorische Gedächtnis bilden. Diesen Spurenkörper hat die Diskursanalyse zum Gegenstand, wobei sie einen »technischen« Umweg über die Konstruktion heterogener und mehrschichtiger Korpora einschlägt, die in ständiger Rekonfiguration begriffen sind, entsprechend dem Stand ihrer jeweiligen Lektüre.
Das setzt voraus, daß man das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen syntaktischen, lexikalischen, Äußerungs- und Diskursebenen der Lektüre thematisiert. In Frage steht jeweils die diskursive Analyse einer Sequenz hinsichtlich eines interdiskursiven Körpers soziohistorischer Spuren.
3. Einfügungen des Interdiskurses in die linguistische Diskursanalyse
Unter Diskursanalyse im Rahmen der Untersuchungspraktiken gesprochener und geschriebener Materialien verstehen wir zunächst — auf der einen Seite verschiedene Praktiken, ein Text- oder Gesprächsarchiv zu lesen auf der Grundlage konstituierter diskursiver Korpora; —auf der anderen Seite auch jene Verfahren, die linguistisch entwickelt worden sind, um die Minimalebene der syntaktischen, intra- und inter-propositionellen Analyse verlassen zu können und jenseits der Satzeinheiten die intradiskursiven Fäden der sprachlichen Verkettung zu verfolgen, besonders anhand bestimmter Äußerungsmerkmale.[9] Manchmal wird all das als »Diskursanalyse« bezeichent, was als Praxis aus dem Lektürefeld von Archiven stammt (sobald bestimmte Korpora bestimmt worden sind); manchmal aber auch das, was sich linguistisch analysierend auf den Diskursfaden bezieht, sobald dieser die Satzgrenzen überschreitet. In unserer Perspektive wird »Diskursanalyse« für jene Praktiken reserviert, in denen beide Ansprüche verbunden sind: die Konstitution/Konstruktion bestimmter Korpora von soziohistorisch gebundenen Diskurssequenzen und die Forderung, diese Sequenzen linguistisch zu analysieren. Damit unterstreichen wir die besondere Rolle des Interdiskurses für die interphrastische (oder intra-diskursive) Untersuchung, zugleich aber auch die Relevanz lexikalisch-syntaktischer und äußerungsbezogener Analysen, sobald man den Interdiskurs als einen Spurenkörper des soziohistorischen Gedächtnisses auffaßt. Das hier nur angedeutete Forschungsprojekt zielt auf einen besonderen und entscheidenden Aspekt der diskursanalytischen Fragestellung: wir wollen die Modalitäten untersuchen, wie interdiskursive Effekte (des Vorkonstruierten, des Querdiskurses und des zitiert-berichteten Diskurses (discours rapporte)) in die Sequenzstrukturierung einwirken und intervenieren. Innerhalb der konkreten Diskurssequenzen (deren, Herauslösung und Begrenzung zu »autonomen« Formen nicht ohne Probleme ist) wirken sich die Effekte des Interdiskurses offensichtlich vielfältig und variationsreich aus. Sie können zurückgeführt werden auf die zahlreichen Modalitäten der Anwesenheit eines anderen Diskurses, der sich als Diskurs eines anderen und/oder Diskurs des Anderen in den jeweils untersuchten Diskurssequenzen ausdrückt und zur Sprache bringt. Das betrifft nicht nur textlich-verschriftete Diskursivitäten. Es gibt keinen Grund, nicht auch die Frage nach dem Interdiskurs von Gesprächen zu stellen. Die Erforschung interdiskursiver Effekte, die sich in der heterogenen Fülle intervenierender anderer Diskurse zeigen, bildet das zentrale Thema unserer Untersuchung. Dabei bieten sich besonders Oswald Ducrots Vorschläge zur linguistischen Semantik als kritischer Ausgangspunkt an, sowohl auf theoretischer als auch auf technischer Ebene. Sie betreffen besonders die Analyse intra- und interphrastischer Verkettungen.[10] Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Ducrot die Einfügung/Einwirkung (incidence) einer besonderen Art von Nicht-Gesagtem anhand der Konnektoren wie »aber« (mais), »nun gut« (eh bien) usw. herausgearbeitet hat. Betrachten wir als kleines Beispiel nur folgende Mini-Sequenz: »Peter ist da, aber Hans wird ihn nicht sehen.«[11] Anhand dieses Exempels hat Ducrot überzeugend gezeigt, daß der Konnektor »aber« nicht direkt die Aussage A (Peter ist da) mit der Aussage B (Hans wird ihn nicht sehen) verbindet. Zum Verständnis muß man vielmehr noch eine Aussage B' annehmen, die dem Nicht-Gesagten der Sequenz angehört, etwa folgenden Typs: »Hans wird Peter sehen«. Nur wenn man B' einfügt, läßt sich die Bedeutung von »A, aber B«mit »B« = »nicht-B« konstruieren. Der kritische Punkt betrifft offensichtlich den diskursiven Staatus der Aussage B. Ducrot weigert sich ausdrücklich, in der linguistischen Analyse der Sequenz den referentiellen Bezug auf irgendein interdiskursives Korpus dazwischenkommen zu lassen. Diese Weigerung gilt ihm sogar als Kennzeichen für das, was legitimerweise als lingiustische Analyse gelten kann. Stattdessen stellt er für die Linguistik (zumindest für die interphrastische Linguistik) ein theoretisches Modell auf, konzipiert als »eine Menge allgemeiner Hypothesen, die von den Formeln einer künstlichen Sprache ausgedrückt werden.«[12] Dieser hypothetische Mechanismus hat dann die Aufgabe, die Bedeutung der Sequenz zu konstruieren, indem die Folge von »Instruktionen« angegeben wird, die für die »Decodierung« der Sequenz in der jeweiligen Diskurssituation notwendig sind. Die Diskursanalyse, wie wir sie verstehen, stellt den autonomen Status dieser logisch-linguistischen Maschinerie in Frage. Ducrots Anspruch, die Bedeutung eines Satzes vor und unabhängig vom Bezug auf seine Gebrauchsbedingungen berechnen zu können, bleibt im Rahmen logisch stabilisierter Diskursräume und vertraut auf dessen epistemisches Subjekt: die Anwendung des logisch-linguistischen Mechanismus setzt voraus, daß der Sprecher das interdiskursive Einwirken der verschiedenen Äußerungssubjekte in seine Äußerung selbst und »autonom« vornimmt. Es ist zweifelhaft, ob diese Annahme eine grundlegende Bedingung der Linguistik sein kann. Vielmehr scheint sie dazu zu führen, auch logisch nichtstabilisierte Diskursformen in den idealen Raum des logisch Stabilisierten hereinzuholen, mit den damit verbundenen strategischen Attributen des kognitiv-epistemischen Subjekts. Angesichts einer Sequenz wie: »Peter ist da, aber Hans wird ihn nicht sehen« bleibt die Diskursanalyse, unserer Intention zufolge, dagegen auf das Konzept des Interdiskursiven angewiesen: sie geht aus von der Beziehung dieser Sequenz zum Text- oder Gesprächskorpus, aus dem sie herausgelöst worden ist, und versucht nun, die interdiskursiven Elemente zu rekonstruieren, die ihre Produktion und Interpretation ermöglichen. So wird diskursanalytisch, ausgehend von der Aussage »Peter ist da«, der Eigenname »Hans« eingeführt als vorkonstruiert hinsichtlich Peters Anwesenheit; ebenso die Querverbindung zwischen »da sein« und »sichtbar sein« (mit der diskursiven Spezifizierung des optischphysischen oder des sozialen Werts der lexikalischen Folge »sehen«, »sichtbar sein«,...). Offensichtlich dabei ist, daß die verschiedenen Analyseebenen der Lexik, der Syntax und der Äußerung mit der Ebene der Diskursanalyse zusammenwirken. Bei der Entwicklung unseres Ansatzes spielt dabei auch die Informatik eine wichtige Rolle. Besonders die Ausarbeitung von Algorithmen der Sequenzanalyse besitzt diskursanalytische Aktualität: Algorithmen der diskursiven Konstruktion von Gegenständen, Ereignissen und Eigenschaftsnetzen, die der Sequenz angehören; Algorithmen der thematischen Entwicklung, der Segmentierung der Sequenz u. a.. Summarisch kann hinsichtlich unseres Projekts und seiner drei grundlegenden Annahmen (Interdiskurs/Interpretationsprozeß/soziohistorisches Gedächtnis) gesagt werden: im besonderen Fall der linguistischen/diskursiven Analyse intradiskursiver Verbindungen wird es darum gehen, die drei diskursanalytischen Postulate anhand von »Nicht-Gesagtem« als anderem Diskurs, der in die Sequenz einbricht und interveniert, zu begründen und fruchtbar zu machen. Ausgangsmaterial bilden dabei sprachliche Sequenzen, deren interdiskursives Material soziohistorische Spuren hinterlassen hat und den Lektüreprozeß als Interpretation konstituiert. Die diskursiven Modalitäten, sofern sie durch die Anwesenheit eines/des Anderen bestimmt sind, durchkreuzen dabei die Oppositionen zwischen dem Individuellen und dem Sozialen, zwischen dem Monologischen und dem Dialogischen, zwischen dem Gesagten und dem Nicht-Gesagten. Mit dieser Durchkreuzung dekonstruieren sie die Idee eines epistemischen Subjekts, das »Herr seiner Sprache« ist, und das Ideal einer Sprache, deren Bedeutung sich »informationsverarbeitend« berechnen lassen soll ohne Berücksichtigung der präkonstruierten und querlaufenden Elemente, die interdiskursiv wirksam sind.