Das Geschäft der Sprachkritik und die Verantwortung des Sprachwissenschaftlers

»Ist die Sprache aber kein Kunstwerk, so ist
sie dafür bis heute die einzige Einrichtung
der Gesellschaft, die wirklich schon auf
sozialistischer Grundlage beruht...
Die Sprache ist Gemeineigentum.
Alles gehört allen, alle baden darin, alle saufen es,
und alle geben es von sich.«
Fritz Mauthner

Sprachkritik: eine Aufgabe für die Sprachwissenschaft?

Auf die Frage, was denn, ganz allgemein, die Aufgabe der Sprachwissenschaft sei, hätten vorzeiten Grammatiker antworten können, daß sie die Regeln dafür aufzustellen habe, wie eine Sprache richtig zu sprechen sei. »Die Sprachkunst ist eine Wissenschaft/ oder kunstmäßige Fertigkeit/ recht und rein Teutsch zureden oder zuschreiben«, stellt Schottelius (1663, 180) ganz selbstverständlich fest. Nachdem sich die Wissenschaft der Legitimationsprobleme bewußt geworden ist, die mit solchen Ansprüchen verbunden sind, versteigen sich Sprachwissenschaftler heute kaum noch zu solchen Aussagen. Sie sind im Gegenteil peinlich bemüht, den Eindruck zu vermeiden, daß sie sich zu Sprachrichtern aufspielen wollten. Sie verstehen sich — über alle fachinternen Differenzen hinweg — eher als Chronisten der sprachlichen Ereignisse, wollen verstehen und nicht verordnen.
Die Abkehr von normativen Ansprüchen gründete in der Erkenntnis, daß Sprachen eine Sache ihrer Sprecher sind und daß niemand berufen ist, darüber zu befinden, wie die Sprecher ihre Sprache zu sprechen haben. Diese Erkenntnis ist umso erstaunlicher, als sie offensichtlich aus der Wissenschaft selbst hervorgegangen ist und ihr nicht etwa dadurch aufgezwungen wurde, daß niemand mehr bereit war, die Normen der Grammatiker zu akzeptieren. Tatsächlich ist die Bereitschaft, sich vorschreiben zu lassen, wie man zu reden habe, in weiten Teilen des Volkes ungebrochen.
Der Wandel der Sprachwissenschaft von einer normativen zu einer deskriptiven Wissenschaft stellt sich unter moralischem Gesichtspunkt als Fortschritt dar, weil er eine unerträgliche Anmaßung zurücknimmt. Unter sozialem Gesichtspunkt hat sich dieser Wandel aber oft eher als Rückschritt erwiesen: Die normative Grammatik nahm — wie immer man diesen »Dienst« bewerten mag — eine soziale Funktion wahr und hatte so ihren Platz im Leben der Gemeinschaft. Die nunmehr deskriptive Sprachwissenschaft hat mit ihren normativen Ansprüchen häufig auch ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen zurückgenommen. Sie ist auf Distanz gegangen, in den besagten Elfenbeinturm, und sie hat keine neue Verantwortung übernommen.
Der Rückzug der Sprachwissenschaft aus dem Geschäft der Sprachbewertung und Sprachkritik — im weitesten Sinn — hat dieses Geschäft nicht zum Erliegen gebracht. Politiker, Journalisten, Lehrer und Wissenschaftler verschiedenster Provinienz sehen sich berufen zur Sprachpflege und Sprachkritik, warnen vor Sprachverderb und gehen mit Individuen und Gruppen ins Gericht, die unsere Sprache für ihre dunklen Zwecke mißbrauchen. Sie sind— bei allen Unterschieden ihrer Auffassungen — beseelt von der Überzeugung, daß man die Sprache nicht sich selbst überlassen dürfe, daß sie vielmehr kompetente Helfer braucht, um sich funktionstüchtig zu erhalten bzw. überhaupt erst funktionstüchtig zu werden. Und weil die selbsternannten Sprachpfleger, Sprachreiniger und Sprachkritiker davon überzeugt sind, halten sie es für verantwortungslos, daß die an sich zu diesen Aufgaben berufene Sprachwissenschaft sich nicht — zumindest nicht in genügender Breite — dazu bereitfindet, ihr Geschäft zu betreiben.[1]
Es gibt zwei gute Gründe, als Sprachwissenschaftler die Kritik von dieser Seite nicht allzu ernstzunehmen, und es gibt zwei noch bessere Gründe, das doch zu tun:

  1. Die von Amateurphilologen und logikomanen Philosophen vorgebrachte Sprachkritik beruht teils auf unbeweisbaren Spekulationen, teils auf fundamentalen Fehleinschätzungen der Natur ihres Gegenstands.[2] Das gilt in letzter Konsequenz auch für die an sich sehr viel ernstere radikale Sprachkritik eines Nietzsche und eines Mauthner.
  2. Die Sprachkritik tritt zwar meist mit recht starken Worten auf und gebärdet sich, als hinge zumindest das Schicksal des Abendlandes von ihr ab, bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, daß die Sprachkritiker selten mehr sind als Speckläufer — um eine Charakterisierung Wimmers (1983, 335) aufzugreifen. Sie dürfen die Sonntagsreden halten, im Feuilleton schreiben. Auf den Titelseiten stehen ganz andere Dinge.
  3. Die kaum übersehbare Bedeutungslosigkeit der praktizierten Sprachkritik erklärt sich m.E. aus den in (1) angesprochenen fundamentalen Fehleinschätzungen, die dieser Kritik zugrunde liegen. Das bedeutet aber nicht, daß Sprachkritik in jedem Sinn ohne Interesse ist. Sprache — und damit meine ich auch ihren Gebrauch — ist ohne Frage ein Phänomen von größter Bedeutung für uns als Individuen wie als Gesellschaft. Unsere Welt und unser Leben in ihr sind undenkbar ohne Sprache und es gibt tatsächlich Grund genug, sich darum zu sorgen, daß uns unsere Sprache so erhalten bleibt, wie wir sie brauchen. Es kommt hier darauf an zu erkennen, was genau wir an unserer Sprache haben und die Kritik dort anzusetzen, wo vitale Interessen der Individuen und der Gesellschaft bedroht werden, statt sich bei Entwicklungen aufzuhalten, die sich von selbst in die bestmögliche Ordnung bringen. 
  4. Eine gesellschaftspolitisch relevante Sprachkritik ist nicht nur ein mögliches und attraktives Arbeitsgebiet für die Sprachwissenschaft: Die Sprachwissenschaft ist hier gefordert, denn diese Kritik muß, gerade weil sie so bedeutend ist, mit der Sorgfalt und Ernsthaftigkeit einer Wissenschaft vorbereitet und vorgebracht werden. So angebracht es ist, wenn Sprachwissenschaftler sich aus einer oberlehrerhaften, beckmesserischen Sprachkritik heraushalten,[3] so unverantwortlich wäre es, wenn sie sich grundsätzlich jeder Sprachkritik enthalten. Sie sind nun einmal die Experten in Sachen Sprache und Kommunikation, oder sie sollten es zumindest sein, und sie sind deshalb mehr als andere dafür verantwortlich, erforderliche Kritik zu üben. Das heißt keineswegs, daß ihnen damit wieder ein Amt als Sprachrichter zuerkannt werden soll: Sie haben nicht darüber zu befinden, wie Sprache und Kommunikation zu sein haben. Als Experten haben sie Empfehlungen zu geben, wenn nötig zu warnen, ganz so wie etwa Experten für Ökologie das in Fragen der Umweltpolitik tun.

1. Sprache und Sprachkritik

Sprachkritik ist — soviel sollte deutlich geworden sein — nicht gleich Sprachkritik. Das gilt bereits für die von mir pauschal kritisierten Auffassungen von Sprachkritik und gilt noch mehr, wenn man Sprachkritik in dem Sinn einbezieht, in dem ich sie hier vorstellen möchte. Sprachkritik läßt sich nicht definieren, eher schon exemplifizieren. Sprachkritik steht für dies und das:
(a) »Es heißt nicht getrinkt. Es heißt getrunken.«
(b) »Rettet den deutschen Genitiv!«
(c) »Deshalb wehrt sich der Sprachsinn dagegen, daß über Vergangenes im Präsens gesprochen wird, wie das besonders häufig im biographischen Bericht geschieht, für den doch gerade die Tatsächlichkeit des Berichteten wesentlich ist.« (Storz, 1983).
(d) »Wenn der, dem ein Kaufmann Waren liefert, zu dem wird, den die Firma mit Waren beliefert, so rückt er deutlich aus der Rolle der sinngebenden Person heraus; er ist nicht mehr der persönliche Kunde, sondern die Nummer der Lieferantenliste.« (Weisgerber, nach Sternberger 1982, 111f.).
(e) »Es ist ja gerade diese verruchte Bequemlichkeit, diese unheimliche Verführungsmacht gewisser Wörter und Konstruktionen — wie in unserem Falle des Betreuens und der Betreuung, der Verben mit dem persönlichen Akkusativ —, welcher der Sprachkritiker entgegenwirken und zuleibe rücken möchte.« (Sternberger 1982, 113).
(f) »Wer, wie einige der >Jugendforscher<, die >Zeit der Allgemeinbegriffe< leichthin für beendet erklärt und die neuen Kommunikationsformen feiert, sollte prüfen, worauf er sich einläßt.« (Bayer 1982, 149).
(g) »Ich hasse die französische Sprache von ganzer Seele. Wie kann man einer Sprache feind sein, rief Wilhelm aus, der man den größten Teil seiner Bildung schuldig ist, und der wir noch viel schuldig werden müssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann?« (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 5. Buch, 16. Kapitel).
(h) »Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut.« (Nietzsche, Umwertung aller Werte, 1969, 80).
(i) »I, on the contrary, am persuaded that common speech is full of vagueness and inaecuraey, and that any attempt to be more precise and accurate requires modification of the common speech both as regards vocabulary and as regards syntax.« (Russell 1957, 387).
(j) »Durch die Sprache haben es sich die Menschen für immer unmöglich gemacht, einander kennen zu lernen.« (Mauthner 1982, Bd. 1,56).

Die Liste ist sicher nicht repräsentativ für alles, was als Sprachkritik verstanden wird oder verstanden werden könnte, aber sie dürfte doch in etwa einen Eindruck vermitteln, von wesentlichen Strömungen — Hauptsträngen, wie Heringer (1982) sie nennt — der Sprachkritik:

(I) ad hoc-Kritik zur grammatischen Form einer Äußerung;
(II) Pflege und gegebenenfalls Reinigung der Sprache mit dem Ziel, die überlieferten Formen zu bewahren;
(III) Bekämpfung  der Verführung durch Wörter und bestimmte Konstruktionen im Ausdruck;
(IV) Bewertung von Kommunikationsformen und ganzen Sprachen;
(V) Kritik des logischen Aufbaus natürlicher Sprachen;
(VI) Kritik der Verläßlichkeit der Sprache überhaupt als ein Mittel der Artikulation von Erfahrung;
(VII) Kritik der Eignung der Sprache als Verständigungsmittel.


Sprachkritik kritisiert Handlungen von Individuen, Handlungsweisen von ganzen Sprachgemeinschaften, und sie kritisiert Sprache und
Sprachen insgesamt. Die vorderhand nützliche Unterscheidung einer Sprachkritik als Kritik sprachlichen Handelns und Kritik des Sprachsystems überhaupt wird allerdings dadurch relativiert, daß, was sich als Sprachsystem präsentiert, durch das sprachliche Handeln der Sprachteilhaber ständig neu konstituiert wird — übrigens sehr zum Leidwesen traditionalistischer Sprachkritiker, die uns das Recht absprechen möchten, an den überlieferten Bestand an Sprache zu rühren.«
Sprachkritik jeder Form ist tolerabel, soweit sie selbst tolerant ist. Jeder darf in Sachen Sprache und Sprachgebrauch alles vorbringen, was ihm der Rede wert scheint, über alles kann man reden. Jedenfalls habe weder ich, noch hat sonst jemand — schon gar nicht die Sprachwissenschaft — ein Recht, ihm etwas zu untersagen. Das ist einer der zentralen Punkte der Sprachkritik, für die ich hier plädieren werde. Was einen gegen die vorgebrachte Sprachkritik — nicht jede, aber sicher die publizistisch wirksamste — dennoch aufbringen kann, ist der Anspruch, mit dem sie oft auftritt: nicht beratend, vorschlagend, sondern maßregelnd, anklagend, geradezu beleidigend.[5] Die Anmaßung von Sprachkritikern dieses Zuschnitts wird — von ihnen sicher ungewollt — unerträglich, wo sie die Sprachwissenschaft in die Pflicht nehmen wollen, um ihr Geschäft vollends der Kritik zu entheben. Wenn sich Sprachwissenschaftler auf ihre Verantwortung besinnen und zu Ratgebern in Sachen Sprache und Kommunikation werden, wird zuerst die Forderung, die sie auf den Plan rufen sollte, ein Gegenstand ihrer Kritik sein: Mit solchen Forderungen wird — wenn auch mit besten Absichten — eine der Grundvoraussetzungen kommunikativen Handelns untergraben bzw. zu untergraben versucht, nämlich die Voraussetzung, daß es kein Ansehen der Person geben darf, daß prinzipiell jeder in gleicher Weise zum Zug kommen können muß.

2. Zur Kritik der Sprachkritik

Wenn eine kritische Sprachwissenschaft sich auch nicht bereitfinden kann, eine wissenschaftliche Sprachkritik im Sinne Sternbergers [6] zu betreiben, so kann sie und sollte sie sich doch kritisch mit der vorgebrachten Sprachkritik auseinandersetzen: Das ist Teil der Aufklärungs- und Beratungstätigkeit, zu der sie durch ihre konzentrierte Erforschung von Sprache und Kommunikation bestimmt ist.
Eine gründliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Sprachkritik erfordert sicher mehr als einen Aufsatz und mehr als eine Meinung. Ich werde deshalb gar nicht erst versuchen, die Generalabrechnung mit der Sprachkritik einzuläuten. Ich beschränke mich auf kritische Bemerkungen zu den oben unter (a) — (j) aufgeführten Beispielen von Sprachkritik. In diesen Bemerkungen werden sich dennoch genügend Ansatzpunkte für eine Diskussion der fundamentalen Fehleinschätzungen ergeben, die, wie ich bereits angesprochen habe, für verschiedene Formen von Sprachkritik charakteristisch sind.

Zu Beispiel (a)
So kritisieren bzw. korrigieren wir »Fehler« von Kindern und Fremden, die unsere Sprache erst noch erlernen sollen. Wir trimmen sie damit auf die überlieferten Konventionen, nach denen in unserer Sprachgemeinschaft gehandelt wird. Zugleich sorgen wir damit auch dafür, daß diese Konventionen fortgeschrieben werden. Würden wir vorderhand abweichende Formen einfach hinnehmen, weil wir ganz gut verstehen, was gesagt werden soll, könnte das dazu führen, daß die alten Konventionen aufgeweicht werden und daß sich alternative Konventionen einbürgern. Ob es freilich ohne die Kritik dazu kommen würde, wie schnell es dazu kommen würde und inwiefern das gefährlich wäre, ist alles andere als geklärt.
Vielleicht ist Sprachkritik in dieser elementaren Form wirklich wichtig und richtig, um die Sprache großer Gemeinschaften beieinander zu halten. Daß sie wichtig sei, ist soweit aber nur ein Vorurteil mit großer Tradition. Da aber schiere Formalia Gegenstand dieser Art von Kritik sind und mithin niemand substantiell in seiner Redefreiheit eingeschränkt wird, besteht kein Anlaß, sich gegen diese Kritik besonders stark zu machen.
Zu Beispiel (b)
Kritik dieser Art unterscheidet sich in wesentlicher Hinsicht von der eben betrachteten Kritik: Die Bewahrung traditioneller Formen wird hier zum Programm, das Schaden abwenden soll. Während Kritik in der Art von (a) allenfalls einen Streit darüber auslösen wird, wie denn nun wirklich zu sagen sei, provoziert eine Kritik in der Art von (b) die Frage nach einer Begründung. Die Protagonisten solcher Kritik sind dabei von Anfang an in einer schwachen Position, weil die schiere Tatsache, daß sie sich zu solcher Kritik genötigt sahen, Beweis genug dafür ist, daß alternative Ausdrucksformen sich, ohne wesentlichen Schaden anzurichten, etablieren konnten.
Natürlich ist nicht grundsätzlich auszuschließen, daß es gute Gründe für eine Kritik wie (b) geben könnte, und solche Gründe müssen keineswegs immer zweckrationaler Art sein. Wenn solche Gründe vorgebracht werden, kann man sie diskutieren. In dem speziellen Fall des deutschen Genitivs ist mir kein Argument bekanntgeworden, das mich von der Notwendigkeit überzeugt hätte, mich für die Erhaltung dieser Ausdrucksform zu engagieren. Solang man mir nicht das Recht abspricht, gegebenenfalls andere Formen zu gebrauchen, sehe ich die Rettungsbemühungen mit Gelassenheit. Wenn sich allerdings die Verteidiger des Genitivs dazu versteigen, von Sprachverfall und minderwertigem Deutsch bei den Vernachlässigern zu reden, sollte man das als Anmaßung zurückweisen — für sich und für alle, die sich aus Unsicherheit in solchen Fragen betroffen fühlen könnten.
Die Warnung vor Sprachverfall verbunden mit einem allgemeinen Verfall der Sitten taucht notorisch auf, wo Eingesessene auf neue, von ihren Konventionen abweichende Formen des Ausdrucks und allgemein des Verhaltens treffen. Die Kritik, die solchen Warnungen zugrunde liegt, ist insoweit verständlich, als sich in ihr das Unbehagen an schlecht verstandenem, nicht vertrautem Neuen artikuliert. Da sich aber Unbehagen kaum zur Rechtfertigung der Kritik eignet, sucht man abenteuerliche Rationalisierungen, die das fremdartige Neue als objektiv dekadent ausweisen sollen. Man übersieht dabei, daß sich das Gewohnte, Vertraute, Überkommene denselben Prozessen der Sprachentwicklung verdankt, die jetzt zu den kritisierten Neuerungen geführt haben.
Zu Beispiel (c)
Die invocatio des Sprachsinns zeigt überdeutlich die Bodenlosigkeit dieser Kritik. Die Rede vom Sprachsinn oder Sprachgefühl — wie Storz auch sagt — ist keine bloße Metapher, sondern tatsächlich alles, was hier ins Feld geführt werden kann, um ungeliebte Ausdrucksweisen abzuwehren. Die Kritik übertrifft sich hier selbst, indem sie ihre offenkundige Insuffizienz als »individuelle, der Musikalität vergleichbare Begabung« (Storz 1983) verklärt. Ich will nicht bestreiten, daß wir als kompetente Sprachteilhaber so etwas wie Sprachgefühl, ein Gefühl für Rhythmus, entwickeln können, das uns bestimmte Formulierungen gelungener als andere erscheinen läßt. Es geht allein darum, daß solche Gefühle kein Maß für eine Kritik abgeben dürfen, die auf öffentliche Anerkennung aus ist: Gefühle sind keine Argumente, und man kann ihnen deshalb nicht mit Argumenten begegnen. Eine kultivierte Auseinandersetzung über Kritik ist aber nur argumentativ möglich. Wenn es, wie ich noch zu zeigen versuchen werde, vor allem andern darum geht, in einer Sprachgemeinschaft eine kultivierte Auseinandersetzung über alles und jedes zu erhalten, was unter den Mitgliedern dieser Gemeinschaft kontrovers ist, dann muß jede Kritik, die sich der Argumentation entzieht, selbst Kritik auf sich ziehen, weil sie gegen die guten Sitten kommunikativen Handelns verstößt.
Zu Beispiel (d)
Weisgerbers Mutmaßung über Veränderungen im Bereich der sozialen Beziehungen, die durch Veränderungen im Bereich des sprachlichen Ausdruckes indiziert werden, dürfte letzlich auf gefühlsmäßigen Einschätzungen beruhen und ist insoweit nicht angreifbar. Aber Weisgerber kommt immerhin dahin, eine klare und angreifbare Behauptung über die sog. be-Verben mit persönlichem Akkusativ aufzustellen. Er sieht in der — von ihm unterstellten — Zuname solcher Verben eine Tendenz zur Bürokratisierung und Entmenschlichung der deutschen Sprache.
Weisgerbers schon etwas in die Jahre gekommene Kritik [7] ist hier vor allem deshalb von Interesse, weil sie als ein schönes Beispiel einerseits der Plausibilität, andererseits der Voreiligkeit dieser Art von Sprachkritik gelten kann. Plausibel ist die Kritik, weil sich jedermann sofort an Erfahrungen mit »behördlichen Verlautbarungen« erinnert sieht, in denen solche Verben in durchaus versachlichender Absicht offensichtlich so gehäuft vorkommen, daß sie uns, nachdem wir einmal darauf aufmerksam gemacht wurden, geradezu als charakteristisch für Bürokratie erscheinen, als sprachlicher Reflex einer zunehmend verwalteten Welt.
Bei aller Plausibilität ist die Kritik vorschnell, weil sie ohne Überblick über die Gesamtentwicklung auf der Grundlage bestenfalls punktueller Evidenz Thesen aufstellt, die in der Sache nicht zu halten sind und, was weit gravierender ist, Maßnahmen gegen den Sprachgebrauch nahelegen, mit denen die freie Entwicklung der Sprache behindert würde.[8]
Die Voreiligkeit der Weisgerberschen Kritik ist dabei keineswegs eine schiere Nachlässigkeit, Es ist nicht so, daß er mit etwas mehr Mühe den nötigen Überblick über die Tendenzen der Sprachentwicklung hätte gewinnen können, und es ist deshalb auch keine Frage der Zeit, wann die Sprachwissenschaft solche Kritik fundiert vorbringen kann. Diese Voreiligkeit ist ein notorisches Problem dieser Art Sprachkritik, weil die Kritiker prinzipiell nie in der Lage sein können, den nötigen Überblick zu gewinnen.
Das Problem, das hier anliegt, ist kein Problem des Arbeitsaufwands, sondern ein Problem der grundlegenden Einschätzung von Sprache und Kommunikation. Die Sprachkritik — jede Art von Sprachkritik, die Sprache nicht sich selbst überlassen will — geht davon aus, daß die Sprache als Menschenwerk auch von Menschen verdorben und verbessert werden könne. Die Sprachkritik gleicht darin ganz einer Gesellschaftskritik, die glaubt, die Wirtschaftsentwicklung steuern zu können und zu müssen, weil sich die ökonomischen Verhältnisse sonst nicht nach Wunsch gestalten. Der Punkt ist aber, bei Sprache und Wirtschaft, daß beider Verfassung zwar Folge menschlicher Handlungen ist, jedoch keinesfalls eine beabsichtigte Folge. Sprache wie Wirtschaft sind weder Naturphänomene noch Artefakte. Sie sind Phänomene der »dritten Art.«[9]
Sprachen — soweit es sich nicht um Kunstsprachen handelt, die man strenggenommen nicht als Sprachen bezeichnen sollte — verdanken sich als Phänomene der »dritten Art« einem Prozeß, den man nach einer Metapher von Adam Smith als »invisible hand process« bezeichnet hat. Sie haben sich über den Mikrostrukturen menschlicher Handlungen als Makrostrukturen ausgebildet. Die Ausbildung solcher Makrostrukturen ist am besten zu beschreiben als ein Prozeß der Selbstorganisation: Daß es über den je am Hier und Jetzt orientierten menschlichen Verständigungsversuchen zu so etwas wie Sprachen gekommen ist, kann nur als Folge eines ungesteuerten Zusammenwirkens weitgehend unbekannter Faktoren erkannt werden. Ohne Verabredung haben sich Konventionen ausgebildet, haben sich aus einer Vielzahl tentativer Konventionen bestimmte Konventionen als überlegen erwiesen und die andern nach und nach »versklavt«,[10] d. h. nach ihrer Facon geformt oder in evolutionärer Selektion ausgeschaltet.
Die Ergebnisse solcher Prozesse der Selbstorganisation erscheinen uns gewiß nicht immer und in jeder Beziehung optimal. Wir könnten deshalb versucht sein, uns kritisch an unserer Sprache zu schaffen zu machen. Wir können dabei vielleicht da und dort lokale Verbesserungen bewirken, aber wir laufen Gefahr, das unüberschaute große Ganze der Sprache in unkontrollierter Weise zu derangieren. Erfahrungen aus den Bereichen der Wirtschaft und auch der Natur — denn »invisible hand«-Prozesse wirken sich in vieler Hinsicht quasi - natürlich aus — sollten uns lehren, bei Eingriffen in die Sprache äußerst vorsichtig zu Werke zu gehen: Maßnahmen, die etwa zur Konjunkturbelebung durchgeführt wurden, haben sich mehr als einmal als ein Schuß in den Ofen erwiesen. Planwirtschaften, die den Risiken eines freien Marktes entgehen wollten, haben die Zahl ihrer Probleme eher vermehrt. Eingriffe in die Natur, die das ökologische Gleichgewicht — ein Resultat der Selbstorganisation der Natur — gestört haben, bringen weite Teile der Erde in immense Schwierigkeiten. Wir kennen, trotz aller Sprachwissenschaft, sehr wenig von den Entwicklungsgesetzen unserer Sprachen. Wir haben deshalb allen Grund, den Slogan von Hall (1950) ernstzunehmen: »Leave your language alone!« Und das auch dann, wenn wir, wie Weisgerber im Fall des »Belieferns«, glauben, einer inhumanen Entwicklung auf der Spur zu sein, denn unsere wohlgemeinten Eingriffe wären stets in Gefahr, mehr Schaden anzurichten als zu nützen. Zurückhaltung bei autoritären Eingriffen in die Sprache nimmt uns im Übrigen kein demokratisches Recht. Es bleibt uns unbenommen, unsere Bedenken zur Sprache zu bringen.
Zu Beispiel (e)
Sternberger begnügt sich nicht damit, wie Weisgerber Mutmaßungen anzustellen. Er unterstellt offen eine Verführungsmacht von Wörtern und Konstruktionen und gibt — u. a. in Sternberger (1982) und in Sternberger, Storz und Süskind (1968) — Beispiele dafür. Er bekennt, daß er den Verführern und den Zeugnissen der Unmenschlichkeit in unserer Sprache »zuleibe rücken« möchte.[11] Ohne ihm andere als die besten Absichten unterstellen zu wollen, halte ich das für einen Affront, der nur dadurch gemildert wird, daß dieses Unterfangen von Anfang an als aussichtslos zu erkennen ist.
Nichts und niemand hat ein Recht, in unsere Sprache einzugreifen. Wenn Sternberger meint, bestimmte Ausdrücke — wie etwa Betreuung — aus der Sprache verbannen zu müssen, weil diese Ausdrücke von Nationalsozialisten gebraucht wurden, ihre verbrecherischen Taten zu kaschieren, dann mag dieses Motiv ehrenwert sein, aber der Akt der Verbannung wäre ungerechtfertigt und sogar widersinnig: ungerechtfertigt, weil es keine Rechtfertigung dafür geben kann, jemand nicht sagen zu lassen, was er sagen will, widersinnig, weil die Verbannung nur zur Folge haben könnte, daß neue Formen gefunden würden, dasselbe zu sagen. Der Sprachkritiker muß hier unweigerlich zum Hasen werden, der dem gerisseneren Igel auf ewig nur nachlaufen kann.
Sprachkritiker könnten einwenden, daß es denn doch zu weit ginge, jedermann alles sagen zu lassen, was er will. Das leuchtet unmittelbar ein, aber nur deshalb, weil wir dabei immer an die andern denken, die etwas nicht sagen können sollen. Was aber, wenn Dir und mir das Sagen verboten werden soll? Ich nehme mir heraus und gestehe jedem zu, daß er oder ich auch Dinge sagen, für die man später von uns Rechenschaft verlangen wird. Alles muß gesagt werden können, denn Untersagung wäre hier immer auch ein Stück Entmündigung.
Sternbergers Problem sind die unguten Erinnerungen, die für ihn und viele seiner Generation mit bestimmten Wörtern und Konstruktionen verbunden sind. Betreuung, Verschickung — ein anderes seiner Beispiele — gehen ihm nahe, wie einem die Nennung des Namens eines Verstorbenen nahegehen mag. Er hat Grund, diese Wörter zu meiden und sich peinlich berührt zu fühlen, wenn jemand diese Wörter in seiner Gegenwart benutzt. Man kann ihm soweit folgen, muß aber daraus keine Rechtfertigung für die Verbannung der Wörter herleiten.
Was könnte eine Verbannung von Wörtern bewirken, die dazu mißbraucht wurden, Verbrechen zu verschleiern? Will man verhindern, daß sie weiterhin zu diesem traurigen Geschäft gebraucht werden können, dann genügt es vollauf, den Mißbrauch aufzudecken, den man mit ihnen getrieben hat. Wenn jeder, der durch solche Wörter hinters Licht geführt werden könnte, weiß, was er davon zu halten hat, wenn etwa von Sonderbehandlung die Rede ist, dann hat die Verwendung von Sonderbehandlung alle Verführungskraft verloren und nennt das nackte Verbrechen so offen, wie das mit Wörtern zu erreichen wäre, die eigens für die Bezeichnung von Verbrechen gedacht sind. Man könnte als Argument für die Verbannung eines solchen Wortes jetzt nur noch vorbringen, daß es ein »schlechtes« Wort sei, weil es sich für den Mißbrauch als geeignet erwiesen hatte. Aber dieses Argument geht an der Sache vorbei: Wenn es in diesem Sinn schlechte Wörter wirklich gibt, dann sollte man sie aus der Sprache entfernen, bevor sie ihre Verführungskraft entfalten konnten. Einmal entdeckt beim Verführen, geht keine Gefahr mehr von ihnen aus. Vor einer vorsorglichen Verbannung potentiell verführerischer Wörter wäre aber, bei Licht besehen, kein Wort unserer Sprache mehr sicher, weshalb sich diese Art Sprachkritik wohl von selbst verbietet.
Sternbergers Kritik wendet sich freilich nicht gegen den aufgeklärten Gebrauch von Wörtern wie Betreuung, Verschickung, Sonderbehandlung, mit dem die Dinge beim Namen genannt werden, sondern gegen einen, wie er meint, erschreckend vergeßlichen Gebrauch, bei dem die leidvolle Geschichte nicht bedacht wird. Aber auch so gesehen, verfehlt seine Kritik ihr Ziel: Wenn die Menschen in diesem Land wirklich so gleichgültig gegen Verbrechen sind, daß sie die Erinnerung nicht peinlich berührt, die von diesen Begriffen ausgehen könnte, dann hilft es wenig, ihnen die Wörter zu nehmen.[12] Wenn sie, was m.E. wahrscheinlicher ist, durch keine Erinnerung gestört werden, weil sie nie erkannt haben, welche Verbrechen hinter diesen Wörtern versteckt wurden, dann zeigt das lediglich, daß die Sprachkritik dort versagt hat, wo sie gefordert gewesen wäre: bei der Aufdeckung der Manipulation.
Zu Beispiel (f)
Auch Bayer zeigt sich besorgt über Entwicklungstendenzen im Bereich des sprachlichen Handelns — Tendenzen, die andere, wie er selbst
feststellt, glauben feiern zu dürfen. Er sieht die Qualität dieses Handelns bedroht durch die — von ihm angenommene — Verringerung der schriftsprachlichen Fähigkeiten und damit auch der Verfügbarkeit von Allgemeinbegriffen. Er geht dabei immerhin soweit, dies nicht ganz losgelöst von den Interessen der Betroffenen zu betrachten, sondern meint, es sei in ihrem wohlverstandenen Interesse, über entsprechende Fähigkeiten zu verfügen. Den nächsten Schritt, den man von einer ernstzunehmenden Sprachkritik erwarten sollte, tut er nicht: Er sucht nicht zu zeigen, was sie »überlieferten Formen« kommunikativen Handelns auch und gerade für Jugendliche hier und heute noch sinnvoll macht. Er erinnert nur mahnend an den guten Sinn der Tradition und übt sich so sprachkritisch in einem der games people play,[13] um sich die wirklichen Sorgen vom Leib zu halten.
Wenn und soweit die von Bayer gerügte Verringerung der schriftsprachlichen Fähigkeiten zu beobachten ist, dann dürfte dies — jenseits oberflächlicher Gründe wie Veränderungen in der schulischen Ausbildung — ganz entscheidend daran liegen, daß dieses Handeln vielfach zur schieren Form heruntergekommen ist. Wo kommunikatives Handeln seine Bedeutung für das Zusammenleben erhalten kann, etwa im Gespräch unter Freunden oder Geschäftspartner, da erhalten sich auch ohne jede besondere Pflege die angemessenen Formen kommunikativen Handelns. Wo eine Verringerung kommunikativer Fähigkeiten aufzutreten scheint, ist das zunächst einmal ein Indiz dafür, daß diese Fähigkeiten an Bedeutung verlieren oder daß ihre Bedeutung nicht mehr richtig gesehen wird. Eine Kur für dieses Problem — wenn es eines ist — kann nicht darin bestehen, die Entwicklung durch äußere Eingriffe aufzuhalten, indem man den Betroffenen ohne Sinn und Verstand die fraglichen Fähigkeiten aufdrängt. Damit würden nur die Symptome behandelt. Stattdessen sollte dafür gesorgt werden, daß entweder die doch noch gegebene Bedeutung der in Frage stehenden Fähigkeiten erkannt werden kann oder, wo der Bedeutungsverlust real ist, die Gründe dieses Verlustes offengelegt werden.
Kommunikative Fähigkeiten können — was Bayer nicht zu sehen scheint — allen Ernstes für bestimmte soziale Beziehungen an Bedeutung verlieren. Wenn, um ein naheliegendes und gewichtiges Beispiel zu wählen, Behauptungen ihren Charakter als Selbstverpflichtungen auf die Wahrheit des Gesagten verlieren oder wenn selbst die zwingendsten Argumente nicht mehr zwingen,[14] dann verliert sich unausweichlich auch die Bedeutung von Behauptungshandlungen und Argumentationen. Wenn man — wofür es gute Gründe gibt — daran interessiert ist, daß einem diese Handlungsmöglichkeiten bestimmten Partnern gegenüber erhalten bleiben, dann muß man alles daran setzen, dem Mißbrauch dieser Handlungsmöglichkeiten zu Zwecken der Manipulation zu wehren. In der Praxis bedeutet das für eine ernstzunehmende Sprachkritik, daß sie etwa Propaganda und Scheindiskussionen als das decouvrieren muß, was sie sind. Sie muß Sorge tragen, daß der Mißbrauch nicht — zumindest nicht allzu oft — gelingt. Mit anderen Worten: Die Sprachkritik muß als Advokat einer Ethik der Kommunikation auftreten, um der kurzsichtigen Ausbeutung dieser Handlungsmöglichkeit für partikuläre Interesse entgegenzuwirken.
Zu Beispiel (g)
Goethe übt hier nicht selbst Sprachkritik. Er bringt aber eine recht verbreitete Form der Sprachkritik zur Sprache. In seiner Zeit war diese Kritik ganzer Sprachen im Sinn des Wortes salonfähig und sogar Gegenstand von Akademie-Preisschriften.[15] Heute enthalten sich Fachleute solcher Pauschalurteile, aber Laien sind damit immer noch schnell bei der Hand.
Solche Kritik ist, ganz wörtlich verstanden, maßlos. Ihr fehlt jedes Maß für eine vergleichende Bewertung von Sprachen. Aber die Kritik ist nicht unerklärlich: Die Sprachen bekommen dabei ab, was besser auf Menschen und Gesellschaftsformen gemünzt wäre. Goethes Aurelie — die Protagonistin der Kritik — sah sich von einem Freund betrogen, der, als er sich zurückzog, nicht mehr »treu deutsch«, sondern »perfid französisch« schrieb. Das Französische hatte hier nach dem Willen des Benutzers die Aufgabe, Distanz zu schaffen. Und da die Verwendung des Französischen so deutlich den Wandel in der Beziehung markierte, konnte diese Sprache für Aurelie zum Symbol der Untreue werden. Wilhelms Apologie lebt, bei umgekehrten Vorzeichen, von einer ähnlichen Einschätzung: Er sieht, was mit dieser Sprache geleistet wird und rechnet das der Sprache an. In einem wesentlichen Punkt geht er allerdings über Aureliens Kritik hinaus: Er unterscheidet den aktuellen Zustand der Sprachen von ihrer Entwicklungsfähigkeit. Er sieht das Deutsche nicht prinzipiell als unterlegen an, eher als retardiert. Mehr als die Sprachen wertet er die gesellschaftliche Funktionen, die sie erfüllen.
Zu Beispiel (h)
Nietzsches Bemerkung zu den Fundamenten der menschlichen Sprachen geht sehr viel weiter als die bisher betrachtete, eher an Äußerlichkeiten interessierte Sprachkritik. Er zweifelt radikal am Wert der Sprache als Mittel der Überlieferung von Einsichten. Er sieht Sprache als ein minderwertiges Produkt eines Entstehungsprozesses, der von den »allernaivsten Vorurteilen« lebte, zu denen unsere abergläubischen, ungebildeten Urahnen fähig waren. Man kann ihm soweit folgen, wie er damit die ersten Anfänge unserer Sprachen beschreibt: Was sich da als Sprache konstituierte, konnte kaum einsichtsvoller sein als die Urteile der Menschen, über deren kommunikativen Akten sich die Sprache wie von unsichtbarer Hand ergab. Aber Nietzsche geht da zu weit, wo er unterstellt, daß unsere Sprache auf dem Niveau der ersten Urteile stehenbleiben mußte.
Das Bild, das Nietzsche von der Sprache entwirft, ist ein Standbild. Er verkennt, daß natürliche Sprachen nie bleiben, was sie waren. Mit jedem neuen Urteil werden sie nicht zur Anwendung gebracht, sie werden zugleich bearbeitet: Daß ich etwas über etwas sage, arbeitet — sofern ich nicht gerade Beispiele für analytische Sätze vorstelle — einen nicht schon vorab bekannten Aspekt des Redegegenstands heraus und kann so dazu beitragen, den in Frage stehenden Begriff weiterzuentwickeln oder zu reformieren. Da solche Akte einen Großteil unseres sprachlichen Handelns ausmachen, kann man davon ausgehen, daß zumindest die begriffliche Seite unserer Sprache ständig auf den neusten Stand gebracht wird und sich so mit der Zeit völlig von ihren Anfängen löst.
Man mag dies immer noch für unbefriedigend halten, für Flickschusterei, aber: Wie anders könnten wir vorgehen? Wir können nicht aus der überlieferten Sprache aussteigen, einen archimedischen Punkt außerhalb der Sprache finden, von dem aus wir sie aus den Angeln heben und von Grund auf neu konstruieren können. Ein Ausstieg aus der Sprache — wenn so etwas überhaupt realisierbar wäre — müßte uns auf das intellektuelle Niveau von Schimpansen zurückwerfen, und wir würden dann die Welt naiver noch als naiv betrachten.
Nietzsches Kritik läuft ins Leere, weil alles, was in dieser Sache getan werden kann, schon seit undenkbaren Zeiten getan wird: Um zu gewährleisten, daß Fehleinschätzungen, die einmal in die Sprache eingegangen sind, nicht auf ewig festgeschrieben sind, verfügen wir über die Möglichkeit, Begriffe und Aussagen in Argumentationen selbst zum Gegenstand sprachlicher Handlungen zu machen. Unsere Sprache schließt, so gesehen, ihr eigenes Korrektiv ein. Sie ist zwar nie ideal, aber jederzeit verbesserungsfähig. Das sprachimmanente Korrektiv des argumentativen Handelns ist, wenn man so will, die ursprüngliche und sachgemäße Form der Sprachkritik. Hier können wir ansetzen und dieses Handeln kultivieren.
Zu Beispiel (i)
Lord Russell entwirft hier ein fast schon beleidigendes Bild von gewachsenen menschlichen Sprachen und damit wohl auch von jenen, die sie treugläubig in ihrem Alltag benutzen. Als »common speech« sind diese Sprachen vielleicht noch tauglich für das »gemeine« Leben des »gemeinen« Volks. Für die edleren Zwecke der Wissenschaft und der Logik scheinen sie ihm nicht brauchbar: »füll of vagueness and inaccuracy«. Mit dieser Charakterisierung der Umgangssprache soll der Boden bereitet werden für eine gründliche Überarbeitung dieser Sprache, jedenfalls soweit sie für wissenschaftliche Zwecke Verwendung finden soll.
Was Russell vorschwebt und woran er gearbeitet hat, ist eine Sprache, deren Logik sich unmittelbar aus ihr entnehmen läßt,[16] mit anderen Worten: ein Kalkül, eine durch und durch formalisierte Sprache. Er verspricht sich davon, daß die logische Qualität von Beweisführungen entscheidend verbessert wird, daß Beweisführung strenggenommen überhaupt erst möglich wird. Insofern als die Richtigkeit von Beweisen in allen Lebensbereichen ein hohes Gut darstellt, das man nicht missen möchte, kann man Sprachen, die diesem Anspruch genügen, als ideal ansehen. Die gewachsenen Sprachen erscheinen dagegen als minderwertig. Tatsächlich ist dieser Eindruck aber in keiner Weise gerechtfertigt. Er beruht zum einen auf einer extremen Verengung der Bewertungskriterien, zum anderen auf elementaren Fehleinschätzungen.
Russells Ideal [17] ist ausschließlich bestimmt von der Effizienz einer Sprache im logischen Kalkül. Ich will nicht bestreiten, daß formale Sprachen — die man im übrigen als Sprachen in Anführungszeichen schreiben sollte — in dieser Hinsicht gewachsenen Sprachen überlegen sein können, allerdings nur, was Transparenz und erreichbare Rechengeschwindigkeit betrifft: Daß die Umgangssprache an sich schon logisch defekt sei, mithin nur fehlerhaft eingesetzt werden kann, ist nicht nur nicht zu beweisen, sondern darf von niemand ernsthaft unterstellt werden, der ein Konzept von logischer Richtigkeit entwickeln möchte. Er kann nämlich bei diesem Vorhaben nicht auf eine Umgangssprache in dieser oder jener Form verzichten.
Was formale Sprachen hinsichtlich logischer Transparenz gewinnen, geht ganz auf Kosten ihrer Brauchbarkeit zu anderen Zwecken. Schon für die Diskussion unter Wissenschaftlern sind sie alles andere als ideal, weil eine echte Diskussion mit ihnen nicht möglich ist. Als Kalküle, die sie sind, setzen sie voraus, daß alle logischen Beziehungen zwischen den Ausdrücken der Sprache eindeutig geklärt sind. Probleme kann es dabei nur noch hinsichtlich der Verifikation oder Falsifikation von Thesen geben, deren Ableitbarkeit bzw. Nichtableitbarkeit aus den Axiomen des Kalküls nicht offen zu Tage liegt. Daß die fundamentalen Beziehungen zwischen zwei Begriffen eist noch zu klären sind, ist nicht vorgesehen. Genau das ist aber, was Wissenschaft vor allem anderen zu leisten hat. Erst wenn alle Wissenschaft am Ende angelangt ist — at doomsday — erfüllt sie die Voraussetzungen für eine Kalkülisierung. Bis dahin kann allenfalls die allgemeine Form formaler Sprachen ideal entwickelt werden.
Da wir keine Sprache für das Ende aller Tage brauchen, sondern eine Sprache, mit der wir uns miteinander verständigen und auch auseinandersetzen können, ist eine im Sinn Russells ideale Sprache für unsere Zwecke völlig ungeeignet. Russells Ideal ist aber nicht nur beschränkt tauglich, sondern in seiner Einschätzung der Umgangssprache völlig fehlgeleitet: Er sieht Präzision und Accuratesse als etwas an, das in der Sprache realisiert sein sollte, während es nur darum gehen kann, daß diese fraglos oft wünschenswerten Zustände mit einer Sprache erreicht werden können. Und das ist, soweit es überhaupt möglich ist, mit unserer »gewöhnlichen« Sprache bestens gewährleistet. Wir können — nicht auf Anhieb, aber in einem klärenden Gespräch — mit den Mitteln unserer Sprache jedes gewünschte Maß an Präzision erreichen.
Russell verkennt die Möglichkeit, mit den Mitteln des »common speech« so präzis wie nötig zu reden, weil er auf die verbalen Ausdrucksmittel starrt, statt das gesamte Spektrum unserer Ausdrucksmöglichkeiten zu sehen. Das hindert ihn wohl auch daran zu erkennen, wie sehr die Modifikationen, die er an der gewachsenen Sprache vornehmen will, um sie präziser und akurater zu machen, davon abhängig sind, daß sie mit den Mitteln der noch nicht modifizierten Sprache vorzunehmen sind.[18] Alles, was er tun kann, ist, sich für bestimmte Zwecke ein Stück Sprache zurechtzulegen. Er modifiziert die Sprache nicht wirklich. Er benützt sie, um sich span'sche Stiefel zu schnüren.
Zu Beispiel (j)
Mauthners Kritik bringt äußerste Provokation: Alle Welt glaubt, daß erst Sprache uns in die Lage versetzt, einander richtig kennenzulernen. Herr Mauthner hingegen hält es für ausgemacht, daß uns gerade das durch die Sprache für immer unmöglich geworden ist, daß mithin die Sprache auf ihrem ureigensten Gebiet versagt.
Zwei Fragen sind hier zu stellen: (i) Ist Mauthners Kritik in irgendeinem Sinn berechtigt, und, wenn ja, (ii) welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen? Hier ist zunächst einmal festzustellen, daß die Kritik bei einem bestimmten, durchaus naheliegenden Verständnis von einander kennenlernen rundweg falsch ist. Da dies Mauthner kaum entgangen sein wird, ist davon auszugehen, daß er weniger Offenkundiges sagen wollte. Er muß ein Kennenlernen gemeint haben, das nicht der Sprache bedarf und bei dem Worte nur verwirren können. Daß es ihm nicht gelingt, restlos deutlich zu machen, was er meint, könnte man bereits als partielle Bestätigung seiner These auffassen: Was er sagt, läßt uns nicht wirklich an ihn heran, macht ihn uns nicht wirklich bekannt.

Die These vom unmöglichen Kennenlernen hat zwei wesentliche Gesichtspunkte: Zum einen wird behauptet, daß das Kennenlernen nicht über die Sprache gelingen kann, zum andern, daß die Sprache ein Kennenlernen regelrecht verhindert. Für beides läßt sich ein Verständnis finden, nach dem es zumindest nicht unplausibel ist. Da ich nicht so recht weiß, was Mauthners kennenlernen bedeuten könnte, will ich einen mutmaßlich analogen Fall betrachten, der vielleicht sogar Mauthners Fall sein könnte:

Jack liebt Jill. Jill liebt Jack. Schweigend lieben sie sich. Bis Jack sich zu fragen beginnt, ob Jill ihn liebt. Die Verfügung über eine Sprache versetzt ihn dazu in die Lage. Die Sprache stiftet ihn geradezu an zu dieser Frage, weil sie seine Beziehung zu Jill beschreibbar macht. Zugleich stiftet sie Unsicherheit, weil die private Beziehung über einen öffentlichen Begriff definiert werden muß. Ist's Liebe oder vielleicht doch etwas anderes? Jack versucht sich Gewißheit zu verschaffen, indem er Jill fragt: »Liebst du mich?« Jetzt, wo sie gefragt wird, beginnt sie auch selbst, sich zu fragen, ob sie ihn liebt. Sie antwortet: »Ich liebe dich, Jack.« Jack könnte sich damit zufrieden geben, aber er erkennt schnell, daß ihn die Antwort kein Jota sicherer gemacht hat. Ob sie ihn wirklich liebt? Er fragt sie auch noch, ob sie ihn wirklich ganz bestimmt ehrlich liebt.[19] Sie driften darüber immer weiter auseinander. Die Sprache hat — in gewissem Sinn — ihre Liebe zerstört, weil sie sie auf einen Begriff gebracht hat.

Wenn man Mauthners These in diesem Sinn versteht, was bleibt dann zu tun? Wir können aus vielen Gründen nicht auf unsere Sprache verzichten, nicht zuletzt deshalb, weil wir sie nicht wieder loswerden können, wenn sie uns einmal hat. Das zeigt sich sehr schön an Mauthner selbst, der es in seiner selbstzerstörerischen Sprachkritik auf mehr als 2000 Seiten gebracht hat. Wir können — wie Mauthner — eine schlechte Meinung von unserer Sprache haben, sie beschimpfen, verfluchen, aber darin zeigt sich nur eine enttäuschte Liebe, die letztlich genauso grundlos war wie der Haß. Ebenso könnten wir auf unsere physische Beschaffenheiten schimpfen. Mauthners Kritik ist, so gesehen, völlig witzlos, bestenfalls geeignet, übertriebene Lobpreisungen der Sprache zurechtzurücken.
Mauthner überfordert die Sprache: Sie soll leisten, was nur durch zeigen oder handeln zu leisten ist. Die Kritik erweist seine Fehleinschätzung. Daß sich nicht sagen läßt, was nur zu zeigen ist, kann sowenig als Mangel der Sprache gelten, wie die Tatsache, daß sich Gedanken nicht anfassen lassen, gegen das Denken spricht.

3. Was tun in Sachen Sprachkritik?

Die Kritik der Sprachkritik brachte überwiegend Negatives. Das ist darauf zurückzuführen, daß die kritisierte Sprachkritik in ihren verschiedenen Ausrichtungen stets das sich im Sinn eines invisible hand — Prozesses selbstorganisierende System der Sprache zum Gegenstand hatte. Um die positiven Möglichkeiten einer kritischen Sprachwissenschaft zu sehen, muß man zunächst die Perspektive erweitern, aus der man Sprache betrachtet. Man muß zu dem System auch das sehen, was Menschen mit den Mitteln ihrer Sprache tun: Im Sprachgebrauch, nicht im Sprachsystem, finden sich die Erscheinungen, die Kritik auf sich ziehen sollten, und während eine Kritik des Sprachsystems ohne rechtes Maß bleiben muß, kann sich eine Kritik des Sprachgebrauchs auf anerkannte Grundsätze kommunikativen Handelns stützen.[20]
Eine Sprachkritik auf der Grundlage der Grundsätze kommunikativen Handelns greift nicht in die legitimen Handlungsmöglichkeiten der Sprachteilhaber und schon gar nicht in die Sprache ein.[21] Sie schreibt nichts vor, das nicht jedem Sprachteilhaber von jedem andern zuzumuten ist, nämlich, daß er sich müht, aufrichtig, verständlich, relevant und informativ zu sein, «wenn er sich sprechend an ihn wendet.
Die genannten Grundsätze kommunikativen Handelns sind — in dieser oder jener Formulierung — bekannt genug, und eine Sprachkritik, die lediglich auf diese Grundsätze hinzuweisen hätte, wäre soweit weder originell noch nützlich. Das Mindeste, was eine kritische Sprachwissenschaft in dieser Sache noch zu leisten hat, ist herauszuarbeiten, wieso es im allgemeinen Interesse ist, daß diese Grundsätze eingehalten werden, und welche Folgen es haben muß, wenn sie allzu oft verletzt werden. Die eigentlich kritische Tätigkeit kann dann zwei Formen annehmen: (i) Sprachkritik als eine Art Vertretung des öffentlichen Interesses an intakter Kommunikation in Fällen von Verstößen, die durch Privatinteressen motiviert sind, und (ii) Sprachkritik als Beratung bei Schwierigkeiten, unter besonderen Bedingungen nach den Grundsätzen kommunikativen Handelns vorzugehen.
Sprachkritik im Sinn von (i) kann das Sprachgeschehen kritisch begleiten und immer dann die Gemeinschaft alarmieren, wenn Einzelne oder Gruppen versuchen oder auch nur zu versuchen scheinen, das Vertrauen ihrer Gesprächspartner in die Einhaltung der Grundsätze kommunikativen Handelns auszubeuten. In der Praxis bedeutet das etwa, daß sie
- sophistische Argumentationstricks aufdeckt;
- herausgeputztes Geschwätz auf das reduziert, was es ist;
- pseudoinformatives Reden moniert;
- Propaganda, insbesondere solche durch Massenmedien, denunziert;
- verschleiernde oder schönende Rede in »Klartext« übersetzt;[22]
- gewollte Unverständlichkeit anklagt.
Sprachkritik in diesem Sinn rettet sicher nicht den deutschen Genitiv, aber sie leistet ihr Teil, uns eine Form des Zusammenlebens zu erhalten, die manchem mehr am Herzen liegen dürfte als die deutschen Flexionsformen. Sprachkritik in diesem Sinn ist deshalb auch nicht ohne politische Brisanz und kann, anders als schiere Traditionspflege oder logizistischer Purismus, in widrigen Zeiten Kopf und Kragen kosten.
Sprachkritik im Sinn von (ii) ist verbindlicher. Sie schreibt nichts vor, denn dazu fehlt ihr jede Legitimation, aber sie berät — auf Verlangen und auch mal aus eigenem Antrieb. Der Schwerpunkt der Beratung liegt dabei auf dem Gebiet der Verständlichkeit, denn kein Grundsatz kommunikativen Handelns bereitet Sprachteilhabern in der Praxis mehr Schwierigkeiten als der Grundsatz, verständlich zu sprechen. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist nicht so, daß gegen diesen Grundsatz besonders oft verstoßen würde. Zur Vermeidung eines Verstoßes genügt bereits guter Wille, nicht aber dazu, auch wirklich für seinen Partner verständlich zu sein. Gerade das ist aber — nicht immer, aber oft genug — eine conditio sine qua non für den Erfolg eines Gesprächsbeitrags und deshalb ein vorrangiges Interesse der Sprecher. In der Beratung in Sachen Verständlichkeit könnte deshalb eine besonders attraktive Aufgabe für eine wissenschaftlich fundierte Sprachkritik liegen, sogar eine genuine Aufgabe, denn Beratung in dieser Sache ist ohne Erforschung der Voraussetzungen und Modalitäten des Verstehens kaum erfolgversprechend möglich.[23]

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