Vorläufige Überlegungen zum Thema >Subjektivität in Interaktion<
aus ethnomethodologischer Sicht
Der folgende Beitrag ist ein Versuch, sich aus ethnomethodologischer Perspektive mit einem Phänomen auseinanderzusetzen, daß so offenkundig dieser analytischen Perspektive, die auf die Herstellung von Ordnung bedacht ist, entgegensteht: die Subjektivität der handelnden Gesellschaftsmitglieder und ihre Manifestation im Verlauf verbaler Interaktion.
Insbesondere ist dieses Papier ein erster Versuch, diese Konfrontation in eine produktive Fragestellung umzuarbeiten und zur Auflösung erstarrter begrifflicher Strukturen beizutragen.
I
Der Gegenstand Subjektivität wird in aktuellen Forschungsansätzen, die sich mit verbaler Interaktion befassen, vorwiegend aus zwei einander entgegengesetzten Analyse-Perspektiven betrachtet:
- Subjektivität wird unter dem Aspekt ihrer Unterdrückung durch soziale Strukturen, interaktive Muster oder vorgegebene Zeichensysteme betrachtet, und danach gefragt, wie Subjektivität durch restriktive Handlungsbedingungen eingeschränkt wird bzw. wie sie sich angesichts solcher Handlungsbedingungen durchsetzt (»durchbricht«).
Beispiele für diese Betrachtungsweise finden sich in Arbeiten in diesem Band, in psychoanalytischen Ansätzen, in aktuellen konversationsanalytischen Arbeiten und in soziologischen institutionenkritischen Untersuchungen.[1]
— Subjektivität wird unter dem Aspekt der Gefahrenquelle für die soziale bzw. interaktive Ordnung betrachtet, und danach gefragt, wie sie
nach Maßgabe übergeordneter (z.B. institutioneller) Zwecksetzungen unter Kontrolle gehalten werden kann (»Management«).
Beispiele für diese Betrachtungsweise von Subjektivität finden sich in Arbeiten zum Identitäts-Management und in Untersuchungen zum Auftreten emotional geladener Arbeitssituationen im Rahmen institutionell-professionaler Tätigkeit.[2]
So gegensätzlich diese Betrachtungsweisen auch erscheinen mögen, sie unterscheiden sich bei näherer Betrachtung nur in unterschiedlichen Bezugspunkten im Rahmen eines doch identischen Betrachtungssystems. Entweder wird das Individuum Bezugspunkt, dann wird auf Möglichkeiten und Grenzen seiner Entfaltung angesichts interaktiver Muster und Strukturen abgehoben, oder die Sozialstruktur ist Bezugspunkt, dann wird nach den Bedingungen und Problemen ihrer Aufrechterhaltung angesichts von Subjektivität gefragt. Beiden Betrachtungsweisen liegt eine gleiche Vorstellung von Individuum und Sozialstruktur als vorgegebene, konfliktär zueinander stehende Elemente zugrunde.
II
Es gibt jedoch gute Gründe, eine solche antagonistische Auffassung von Subjektivität und Interaktionsmuster skeptisch zu betrachten:
- In makrosoziologischer Perspektive hat sich seit langem gezeigt, daß das Individuum für seine Herausbildung institutioneller Stützen bedarf und eine Betrachtungsweise, die beide Größen nur einander entgegensetzt, obsolet ist.[3] Es liegt nahe, diese Erkenntnis als heuristische Hypothese auch auf die mikrosoziologische Betrachtungsebene zu transponieren und danach zu fragen, inwiefern Herstellung und Aufrechterhaltung von Subjektivität stützender interaktiver Bedingungen bedarf.
- Verbale Muster könnten nicht ihre beobachtbare Stabilität erlangen und sich übersituativ als soziale Struktur reproduzieren, wenn Subjektivität nur eine externe Störquelle darstellte, die das Zustandekommen als soziale Struktur verhindern würde.
- Es gibt eine Vielzahl interaktiver Phänomene, die der Aktualisierung individueller Subjektivität bedürfen, um als solche sozial etablierte Muster anerkannt bzw. aufrecht erhalten zu werden.
Drei Fälle des Einsatzes von Subjektivität für den Vollzug von Interaktion seien aufgeführt:
- Bei der Analyse ärztlicher Sprechstundengespräche zeigt sich, daß solche Gespräche durchweg einen Aktivitätskomplex >Schilderung der Beschwerden< aufweisen, in dem der Patient darstellt, was ihn veranlaßt hat, den Arzt aufsuchen. Untersucht man die Schilderung der Beschwerden auf die in ihr dargestellten typischen Sachverhalte hin, trifft man immer wieder auf einen Sachverhalts-Bestandteil, der sich als ,Leiden' charakterisieren läßt:[4] In diesem >Leiden< stellt der Patient seine subjektiven Empfindungen angesichts seiner Beschwerden dar, d.h. er beschreibt seinen Schmerz. Die Subjektivität dieser Beschreibung steht außer Frage. Gleichzeitig ist aber auch klar, daß das >Leiden< wesentlicher Bestandteil des Aktivitätskomplexes Beschwerdenschilderung ist und der Arzt auf den Vollzug angewiesen ist, um angemessen professionell weiterhandeln zu können. Die Manifestation von Subjektivität ist also für den Vollzug des interaktiven Musters >Schilderung der Beschwerden< konstitutiv.
- Die Zuschreibung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale an einen der Interaktionsbeteiligten in der Interaktion selbst dient häufig dazu, Unklarheiten und Störungen in der Interaktionsabwicklung aufzuheben. In solchen Fällen erfolgt der Einsatz von Subjektivität gerade, um den erwarteten Handlungsverlauf faktisch auch ausführen zu können. Die Attribution von Subjektivität hat also musterunterstützende Funktion.[5] Die Inhalte der festgestellten Subjektivitäts-Attribution können es sowohl diskreditieren als auch aufwerten; so z.B., wenn man bei einer Störung im Interaktionsverlauf auf die Ungeschicklichkeit eines der Teilnehmer verweist; man heilt die Situation, indem man einen Aspekt der persönlichen Identität des Teilnehmers als Interaktionsgegenstand etabliert; aber für den Teilnehmer bedeutet diese Zuschreibung von Subjektivität alles andere als eine Möglichkeit, sich positiv zu entfalten.
— In Interaktionsmustern, in denen einem der Teilnehmer die Rolle eines Leidtragenden zugeschrieben wird (»Schlechte-Nachricht-Gespräche«), hat dieser Teilnehmer nicht nur das Recht, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, sondern es gehört sogar zum Vollzug des Musters als solchem dazu, daß der leidtragende Teilnehmer seinen Gefühlen auch freien Lauf läßt. Der unmittelbare Ausdruck von Subjektivität ist auch hier konstitutiv für den Vollzug eines sozial etablierten Handlungsmusters.[6]
4. Neben den Fällen, in denen Subjektivität funktional für die Aufrechterhaltung interaktiver Muster wird, gibt es auch die Beobachtung, daß Subjektivität zu ihrer Manifestation und Etablierung in der Interaktion fördernder Bedingungen und leitender Muster unterstützend bedarf.
In Beratungsgesprächen, insbesondere wenn es um ein Problem geht, das den Klienten persönlich stark betrifft, ist es häufig der Fall, daß der Berater eigens Vorkehrungen trifft, die es dem Klienten ermöglichen sollen, seinem ganzen Leidensdruck Ausdruck zu verleihen (»ausschleimen« im Fachjargon der Berater). Der Berater macht deutlich, daß in dem Gespräch ein Freiraum vorgesehen ist, in dem der Klient das ganze Ausmaß persönlichen Leidens gesprächsweise entfalten kann, und er unterstützt den Klienten dabei aktiv.[7]
Für die bereits zitierten Schlechte-Nachrichten-Gespräche beschreibt Sudnow (1973) das ganze Spektrum interaktiver Maßnahmen seitens des Boten (z.B. des Arztes bei Todesfällen), mit denen es den Betroffenen erleichtert wird, seinem Schmerz und seiner Trauer Ausdruck zu verleihen:
»Das vorübergehende >Sichgehenlassen< des von der Nachricht Betroffenen wird als ein gutes Recht vom Arzt respektiert; aber auch im Anschluß daran muß der Arzt bei dem Versuch, das unterbrochene Gespräch von sich aus wieder aufzunehmen, sehr vorsichtig sein, damit nicht der Eindruck entsteht, er halte den ersten Schmerz schon für überwunden — eine Annahme, die dem betroffenen Leidtragenden unangenehm sein könnte. Deshalb ist es mehr oder weniger Sache des Hinterbliebenen, zu erkennen zu geben, daß er zur Wiederaufnahme des Gesprächs bereit ist. ... Mit den ersten gesprochenen Worten nimmt die Begegnung wieder den Charakter einer geordneten Interaktion an, wobei der Arzt auf das einleitende Signal wartet, um dann das Gespräch aufzunehmen. Gleichzeitig läßt er die Möglichkeit offen, daß die ersten Versuche fehlschlagen. Wenn sein Gegenüber z.B. zum Sprechen ansetzt, aber schon bei den ersten Worten erneut in Tränen ausbricht, verhält er sich so, als ob dieser Kontaktversuch gar nicht stattgefunden hätte.« (Sudnow 1973, 181ff.)
Die aufgeführten Fälle zeigen, daß sowohl Interaktionsmuster oft der Repräsentation von Subjektivität als Grundlage ihres Vollzuges bedürfen wie auch die Manifestation von Subjektivität ihrerseits oft besonderer unterstützender Interaktionsbedingungen bedarf.
III
Die einseitige — ideologische — Vorstellung der Entgegengesetztheit von Subjektivität und Interaktionsmuster beruht m.E. auf der Auffassung, daß sich die Subjektivität eines Handelnden unabhängig vom Handlungsvollzug, in dem sie sich je manifestiert, fassen lassen kann, daß sie sich m.a.W. als Gesamt der »inneren Zustände« des handelnden Individuums begreifen läßt.
Dieser Auffassung möcht ich ein ethnomethodologisches Konzept von Subjektivität entgegensetzen, demzufolge Subjektivität als im Interaktionsvollzug hergestelltes soziales Phänomen betrachtet wird.[8]
Ein solches Konzept von Subjektivität erhält seinen Sinn und seine Rechtfertigung insbesondere auf dem Hintergrund der Debatte um den Status mentaler Prädikate, wie er im wesentlichen von der sprachanalytischen Philosophie geführt wird.[9]
Die Auffassung, die dem hier entwickelten Konzept von Subjektivität zugrunde liegt, läßt sich gut am Fall von Selbst-Berichten von Individuen über innere Zustände und Prozesse verdeutlichen: Solche Beschreibungen werden nicht unter den Gesichtspunkt der sprachlichen Repräsentation existenter innerer Zustände betrachtet, sondern unter dem Gesichtspunkt der interaktiven Bedingungen, unter denen diese Berichte als Berichte über innere Zustände erkennbar gemacht und sozial akzeptiert werden.
»...if we treat self-reports like >I feel angry< as circumstantially justified or unjustified expressions of anger, instead of as descriptions of internal events or states, then the >something< that may be present of absent is nothing hidden in the Chamber of the mind or body, but is some justifying or entitling (set of) circumstance (s).« (Coulter 1979, 127)
In einer solchen interaktionsbezogenen Perspektive läßt sich Subjektivität problemtheoretisch fassen:[10] In analytischer Betrachtungsweise wird danach gefragt, welches das charakteristische Problem ist, das Manifestation von Subjektivität für Interaktion mit sich bringt, und in empirischer Betrachtungsweise werden interaktive Phänomene als Bearbeitung dieses Problems durch die Teilnehmer selbst begriffen. Die problemtheoretische Fassung von Subjektivität erlaubt es somit, den Prozeß der interaktiven Herstellung von Subjektivität aus der Perspektive der Teilnehmer zu rekonstruieren.
In einer solchen problemtheoretischen Fassung läßt sich Subjektivität neu und umfassender formulieren: nicht mehr das Störpotential von Subjektivität für interaktive Muster oder ihre Geknebeltheit durch interaktive Muster stellt das Problem ihrer Vermittlung dar, sondern als zentrales Problem der Herstellung von Subjektivität in Interaktion erscheint ihre fehlende Intersubjektivität.
Fehlende Intersubjektivität wirkt sich auf der Ebene der Sachverhalts-Darstellung als Wahrheitsunfähigkeit der Äußerung aus. Das bedeutet, daß die Sachverhalte in solchen Interaktionen, in denen Subjektivität manifest wird, nicht von Anderen auf ihr Zutreffen bzw. Nicht-Zutreffen geprüft werden können.[11] Die in diesen Manifestationen vermittelten Inhalte gelten als nur dem Handelnden selbst zugänglich, sie machen einen wesentlichen Teil seiner jeweiligen Besonderheit, seiner Individualität aus. Fehlende Intersubjektivität wirkt sich so aus, daß der Vollzug der Handlung unerwartet erfolgt und nicht selbstexplikativ ist (accountable im Sinne der Ethnomethodologie.
Die Vorteile dieser Bestimmung von Subjektivität liegen darin, daß
1. die Annahme der Existenz mentaler Zustände, die der Äußerung korrespondieren, überflüssig wird,
2. Subjektivität im Hinblick auf ein zentrales Charakteristikum von sozialer Interaktion, ihren intersubjektiven Charakter, bestimmt wird,
3. ein abstrakter Bezugsgesichtspunkt für die Analyse des Auftretens von Subjektivität in Interaktion gewonnen wird, auf den hin spezifische Vermittlungsformen (Störung, Unterdrückung) selbst noch als charakteristische Bearbeitungsformen des Problems erfaßt und systematisiert werden können.
Die fehlende Intersubjektivität stellt sich interaktiv aus der Perspektive der Teilnehmer als Problem des Verstehens der in den Manifestationen von Subjektivität dargestellten Sachverhalte bzw. des Erklärens des Auftretens der Subjektivitäts-Äußerung dar. Der gängige Mechanismus des Fremdverstehens in verbaler Interaktion, das gemeinsame Erleben und Altern,[12] versagt gerade im Falle von Manifestationen von Subjektivität. Es bedarf gesonderter Anstrengungen der Teilnehmer, Manifestationen von Subjektivität als sinnvolle, »verstehbare« Bestandteile des je laufenden interaktiven Zusammenhangs zu behandeln, d.h. Subjektivität muß eigens als solche unter dem Aspekt ihrer ausgefallenen Verstehbarkeit >organisiert< werden.
IV
Ich stelle im folgenden zwei Verfahren vor, mit denen die Organisation von Subjektivität bewerkstelligt werden kann. Das eine besteht darin, die Manifestation von Subjektivität an einen Gegenstand zu binden; das zweite besteht darin, den interaktiven Kontext, in dem sich das Auftreten von Subjektivität ereignet, als Interpretationszusammenhang zu benutzen. Ich erläutere die Verfahren an kommunikativen Phänomenen, deren Subjektivitätscharakter außer Frage steht: die Schilderung eigener Krankheitsbeschwerden; eine Passage in einem Gespräch, in der einer der Teilnehmer minutenlang weint; und Interjektionen, als Mittel für Gefühlsausbrüche.
1. Die Bindung an einen Gegenstand
In dem Bemühen, Manifestationen von Subjektivität in den sinnhaft fundierten interaktiven Kontext zu integrieren, suchen die Beteiligten i.d.R. nach einem Sachverhalt oder Gegenstand, den sie als »guten Grund« für das Auftreten von Subjektivität betrachten können.[13] Zwei Gesichtspunkte sind für das Verständnis dieser Suchaktivitäten wichtig: 1. Die Suche wird von allen Beteiligten unternommen, nicht nur von dem Teilnehmer, der sich äußert. Alle Teilnehmer haben ein Interesse daran, das Auftreten von Subjektivität in den Interaktionskontext einzubinden. 2. Der »gute Grund« muß nicht identisch sein mit der Reizkonstellation, die den Handelnden zu seiner subjektiven Entäußerung veranlaßt hat. Wichtig ist vielmehr, daß ein Grund gefunden werden kann, der nach allen kulturellen Standards oder situativen Bedingungen der jeweiligen Interaktion als gerechtfertigter Anlaß für die Entäußerung gelten kann.[14] Kulturelles Wissen und situative Sensibilität stellen mithin zwei Ressourcen dar, mit deren Hilfe Interaktionsteilnehmer ihre Suche vollziehen können. Für den Einsatz dieser Ressourcen jeweils ein Gesprächsausschnitt als Beispiel: Rückgriff auf kulturelles Wissen Marge: Hello. Jean: Hello Marge? Marge: Yes.
Jean: How are you feeling? Marge: Oh terrible I I feel so badly that I just reality carit imagine whats wrong with me. Jean: You what
Marge: I feel so badly I caiit understand (it) what it is thats wrong with me. Jean: Oh::: Well its probably the flu::. Marge: Oh I'm sure it is oh yes but I mean I ( ) had flu lots of times but this is such acompletely different devastating kind of flu... (Jefferson 1980,10)
Durch it's probably the flu bringt Jean die Schilderung subjektiver Befindlichkeit von Marge auf einen intersubjektiv geteilten Begriff the flu und macht Marges Schilderung damit für den weiteren Interaktionsverlauf thematisierbar und behandelbar. Die Zuschreibung eines Gegenstandes erfolgt auf dem Hintergrund standardisierten Wissens über die Anwendung der Krankheitskategorie the flu (ihre Verwendungsregeln). Situative Sensibilität
Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus einem Gespräch in einer genetischen Beratungsstelle zwischen dem Berater und einer Klientin, die das Problem einer zweiten Schwangerschaft bewegt, nachdem ihr erstes Kind schwer mißgebildet geboren und nach einiger Zeit gestorben war. Der Ausschnitt beginnt mit der Frage des Beraters nach den sozialen Reaktionen in der Umgebung der Klientin auf das erste mißgebildete Kind.[15]
BERATER | KLIENTIN | |
aber sie haben sehr viel zu hören bekommen | ja ich sag in der anfangszeit aber nachher 0 eigentlich nicht mehr 0 oder wenig |
|
4,5 sec | ||
ja und das sind die 00 ... zu schaffen machen dazu nich daß sie ja doch ... nicht |
16 sec | SCHLUCHZEN |
daß sie das in der erinnerung daran sehr traurich macht ... damals als das Kind starb |
79 sec | SCHLUCHZEN |
und sie haben damals mit ihrem sohn 0 bei ihren eitern zusammen gelebt | SCHLUCHZEN | |
sie haben dann auch eben an ihrem kind gehangen nich mhm kann des gut verstehen daß sie jetzt so 00 in der erinnerung nochmal so durcherleben was sie damals erlebt haben |
66 sec | natürlich ja ja
SCHLUCHZEN |
In der dargestellen Textsequenz steht der Berater vor der Aufgabe, sich dem Weinen der Klientin gegenüber verhalten zu müssen. Er löst diese Aufgabe dadurch, daß er ihr Freiraum zur Expression ihrer Gefühle einräumt, indem er das Beratungs-Schema für die Zeit der Expression anhält und dadurch, daß er im Gesprächskontext nach einem Gegenstand sucht, der den Gefühlsausbruch gerechtfertigt, sinnvoll und angemessen erscheinen läßt. Er entwickelt einen geeigneten Gegenstand unter Rückgriff auf den unmittelbar vorhergegangenen Gesprächs-Kontext, in dem es um die Belastung der Klientin durch ihr erstes Kind ging: damals als das Kind starb. Das Sterben des Kindes selbst war bis dahin nicht Interaktionsgegenstand gewesen, aber es stellt — in unserer Kultur — für den Gefühlsausbruch einen angemessenen Gegenstand dar und steht in systematischer Beziehung zum letzten thematisierten Gegenstand >Belastung durch erkranktes Kind<. Die systematische Beziehung besteht in der Steigerung der Belastung durch ein krankes Kind zur Belastung durch den Tod des Kindes. Der Berater verdeutlicht den Gefühlsausbruch der Klientin also als Aussage mit expressiven Mitteln, bezieht ihn auf den vorhergegangenen Gesprächs-Kontext über das Prinzip der Steigerung und gliedert ihn damit als verstehbaren Redebeitrag in den Interaktionsverlauf ein. Die Rechtfertigung für die Gefühlsparaphrase erfolgt durch Zuschreibung des mentalen Prädikats in der erinnerung. Die Identität von Gefühlsausbruch und Verbalisierung wird rhetorisch in die mentale Sphäre der Klientin verlagert.Ein ähnlicher Prozeß läuft gegen Ende der Sequenz ab. Auch hier operiert der Berater mit der Erinnerung als vermittelnder Instanz zwischen Gefühlsausbruch und Interaktionszusammenhang und auch hier wird ein Objekt angeführt, in Relation zu dem der Gefühlsausbruch gerechtfertigt ist. Über den thematischen Kontext werden die angeführten Gefühlsexpressionen also verständlich gemacht und in das interaktive Geschehen integriert.
Die Macht der Praktik, Subjektivitätsäußerungen an einen Gegenstand zu binden, zeigt sich deutlich in Fällen, in denen ein solcher Gegenstand offenbar schwer zu beschaffen ist und der Handelnde dieses Manko vorgängig zu entkräften sucht: »ich weiß auch nicht woran es liegt, aber ...« »ich weiß, es klingt komisch, aber ...« etc.
2. Die Verankerung im ökologischen Rahmen
Alternativ zu der Suche nach dem Gegenstand, der das Auftreten von Subjektivität »erklärt«, kann die Sinnstiftung der Subjektivitäts-Äußerung über den >ökologischen Rahmen<, in dem sie sich ereignet, erfolgen. Der >ökologische Rahmen< ist das Gesamt von Ereignissen und Zuständen, die in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe zur Subjektivitäts-Äußerung stattfinden bzw. bestehen, aber nicht Bestandteile des ablaufenden Interaktionsmusters sind. Die Erweiterung der Aufmerksamkeitsspanne der Beteiligten über das, was »eigentlich« zum Interaktionsvollzug dazugehört (Themen-Orientierung), auf den ökologischen Rahmen hin integriert Ereignisse bzw. Zustände, auf die hin die Äußerung von Subjektivität als sinnvolle, verstehbare Reaktion betrachtet werden kann.
Die Praktik der Verankerung von Subjektivität im ökologischen Rahmen taucht insbesondere bei Gefühlsausbrüchen ohne propositionalen Gehalt und ohne lexikalische Kontur auf. Goffman spricht von response cries:
»... i. e. exclamatory interjections which are not full-fledged words. Oops! isan example. These non-lexicalized, discrete interjections — like certain unsegmented tonal, prosodic features of speech — comport neatly with our doctrine of human nature. We see such ,expression' as a natural overflowing, a flooding up of previously contained feeling, a bursting of normal restraints, a case of being caught off-guard.« (Goffman 1978, 800)
Goffman zeigt, daß die verschiedenen Typen solcher response cries stets ihren organisierten Charakter durch Rückbezug auf den situativen Kontext erhalten, in dem sie geäußert werden, daß sie einander zur Bedeutungsbestimmung bedürfen und daß Kontext und Äußerung sich in ihrer situativen Bedeutung explizieren können.
So explizieren und verdeutlichen Expressionen von Ärger, Ungeduld usw. z.B. das Auftreten von Pannen in Vollzug laufender Aktivität (»spill cri«) und machen sie damit für die anderen Interaktionsteilnehmer oft erst transparent. Die Äußerung von Subjektivität setzt bei den Anderen die Suche nach irregulären Kontext-Phänomenen in Gang, auf die hin die Äußerung als verständliche Reaktion gelten kann.
Auch Ausdrücke von Überraschung oder Furcht (»threat startle«) lenken oft die Aufmerksamkeit der Anderen auf Geschehnisse im ökologischen Rahmen, in dem sich die Interaktion ereignet. Das Auftreten dieser Geschehnisse rechtfertigt in solchen Fällen die Äußerung von Subjektivität.
Expressionen von Ekel (»Repulsion sounds«) lassen sich oft in das soziale Geschehen integrieren, wenn sie auf den interaktionsbegleitenden Arbeitsvollzug bezogen werden können. (z.B. wenn einer der Teilnehmer während der Unterhaltung ein Huhn rupft oder Fische ausnimmt). In solchen Fällen erfüllt die Gefühlsäußerung insbesondere die Funktion, deutlich zu machen, daß der Handelnde seinem Tun gegenüber distanziert gegenübersteht.
»... to show that indelicate, dirty work need not define the person who is besmeared by it.« (Goffman 1978, 803)
In allen diesen Fällen erfahren diese Äußerungen von Subjektivität ihren Sinn, ihren organisierten Charakter, dadurch, daß sie als Kommentare auf die Situation, in der sich die Interaktion gerade abspielt, interpretiert werden. Sie funktionieren modellhaft nach dem Prinzip der dokumentarischen Methode«,[16] d.h. Kontext und Interpretat explizieren sich wechselseitig und unterstützen sich in ihrer Bedeutungskonstitution.
V
Subjektivität stellt sich in Interaktion dar als Problem ihrer Organisation in den Interaktionsverlauf und in den intersubjektiv vermittelten Diskurs. Die Aktivitäten der interaktiven Organisation stellen die Schaltstellen dar, an denen sich entscheidet, ob »Subjektivität« sich produktiv für den Interaktionsverlauf auswirkt oder disruptiv, ob ihre Geltung anerkannt wird (und damit der Handelnde, der die Geltung beansprucht) oder ob sie bestritten wird. An ihnen klärt sich das Verhältnis von Subjektivität zu Interaktionsmuster vermittels der interaktiven Anstrengungen der Teilnehmer in der jeweiligen Interaktion selbst. Diese zu untersuchen, stellt sich entsprechend als forschungsprogrammatische Aufgabe für die Gesprächs-Analyse.