Das grausame Subjekt

Über Marquis de Sade und die Intentionen seines
philosophischen Diskurses

»Die Philosophie muß alles sagen.«
Juliette

Programmatisch hat Juliette, die grausame Heldin des gleichnamigen Romans, in dem die Vorteile des Lasters (les prospérités du vice) vorgeführt und begründet werden, es der Philosophie als Aufgabe zugewiesen, »alles zu sagen«. In diesem Alles steckt das Sadesche Programm und seine ganze Problematik. Nur durch dieses monströse Programm, alles zu sagen, seis auf der Erzählebene der geschilderten Ereignisse oder im Bereich der theoretischen Begründungen und Reflexionen, wurde eine »Philosophie des Sadismus« ermöglicht, die heute noch so anstößig ist wie zur Zeit ihrer Entstehung.[1]
Auch die grausamen Subjekte de Sades sind nur verstehbar, wenn man diese philosophische Intention ihres Schöpfers berücksichtigt. Alles zu sagen, das heißt ja: nicht nur »Etwas«, eine einzelne Liebesoder Haßgeschichte, ein besonderes, erzählungswürdiges Ereignis, eine interessante Einzelheit, eine ungewöhnliche Situation. Hätte de Sade, wie fast alle Schriftsteller, die auf keine »Philosophie« gerichtet sind, nur etwas Bestimmtes erzählen wollen, so wäre auch für freundliche und liebenswürdige Menschen in seinem Diskurs unendlich viel Platz gewesen in der Vielfalt möglicher Geschichten. Es wäre, in den Augen des Marquis, damit aber nichts Wesentliches gesagt worden, nichts Philosophisches, das über unser Wesen Auskunft gibt. Denn der philosophische Anspruch impliziert, daß man nichts gesagt hat, wenn man nicht alles gesagt hat.
Unüberhörbar ist hier die Stimme des Jahrhunderts, das in dem philosophierenden Romancier de Sade seinen wohl radikalsten Sprecher hat. Auch er ist einer jener »Philosophen« des französischen 18. Jahrhunderts, die lebendige Exempel für die Freiheit und Kühnheit eines eigenen Urteils sein wollten, das sich aus traditionellen Vorurteilen und überkommenen Zwängen befreit hat. Kritisch und unnachgiebig steht er besonders dem religiösen Aberglauben gegenüber, gegen den er die atheistische Vernunft favorisiert, aber auch den alltäglichen Vorurteilen eines gesunden, volkstümlichen Menschenverstandes, der sich gegen selbstkritische Einwände abzuschirmen gelernt hat. Er ist ein »Aufklärer«, ganz in jenem Sinn, den Kant wenige Jahre vor der Französischen Revolution erläutert hat: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. (...) Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«[2]
Besonders auf dem Gebiet der Moral war der aufklärerische Kampf entbrannt. Es war so etwas wie ein »tic« des Jahrhunderts, zu »moralisieren«. Welchen Stellenwert hat die Leidenschaft für das menschliche Subjekt? Was bedeutet die Lust, die durch Befriedigung der Leidenschaft verschafft wird? Welche Grenzen gibt es im freien Ausleben der Leidenschaft, jenem menschlichen Äquivalent zur Energie der Natur? Lassen sich moralische Gesetze, vielleicht auch ein System der Ethik, erkennen und begründen, um die Leidenschaften hinsichtlich ihrer guten oder schlechten Impulse und Wirkungen beurteilen zu können?
Auch de Sade war von diesen Fragen besessen. Aber als Einziger der aufklärenden Moralphilosophen versucht er den Weg der Aufklärung bis zu seinem Ende zu gehen. Denn als Einziger läßt er sich allein durch eine Vernunft leiten, die sich tatsächlich völlig befreit hat, auch von den sozialen Pflichten eines vergesellschafteten Bürgers, der nur im tugendsamen Leben den Garant des gesellschaftlichen Wohls zu sehen vermag.
In dieser Hinsicht war es besonders Kant, an dem sich de Sade »abarbeitet«: radikalisierend greift er dessen aufklärerische Intention auf und wendet sie gegen ihn. Besonders Kants universalmoralisches Grundgesetz, der kategorische Imperativ, mitsamt dem ganzen daraus abgeleiteten moralischen Katechismus, der anhand »aller Artikel der Tugend und des Lasters durchgeführt werden muß«,[3] um immer wieder die Schändlichkeit des Lasters und die Würde der Tugend hervorstechend darzustellen (unabhängig von der Schädlichkeit oder dem Genuß für den jeweiligen Täter), werden von de Sade noch als irrational und unaufgeklärt destruiert. Sie halten nicht stand vor dem Angriff einer radikal-freien Vernunft, die sich von jeder Fessel befreit hat. Auch der Vorzug des Guten vor dem Bösen, des Heils vor der Sünde, gilt noch als unvernünftiges Dogma. Denn das Laster hat seine Vorteile (»Juliette«) und die Tugend ihre Mißgeschicke (»Justine«); die »Philosophie im Boudoir« versucht dieser Einsicht die pädagogische Grundlage zu liefern und »Die 120 Tage von Sodom« das enzyklopädisch ausgeführte Programm.
Wie bei Kant gefordert, werden in diesen Werken alle Artikel der Tugend und des Lasters vorgeführt, in erzählten Berichten, in praktischen Aktionen, in räsonnierenden Kommentaren und Anleitungen. Alles wird zu sagen versucht: jede überhaupt denkbare tugend-oder lasterhafte Praktik, jedes mögliche rationale Argument für oder wider ein leidenschaftliches Genießen oder Erleiden. Für das Denken von Sade und für seinen Diskurs gibt es keine Grenze mehr, die nicht überschritten werden müßte, um alles sagen zu können — und das ist die einzige Regel, der de Sade zu folgen bereit ist.
De Sades philosophische Indention läßt sich klarer kennzeichnen, wenn sie hinsichtlich der drei Komponenten jedes Diskurses aufgeschlüsselt wird: hinsichtlich des Gegenstandes, der dargestellt wird; hinsichtlich des Subjekts, das sich ausdrückt; und hinsichtlich des Adressaten, an den appelliert wird.[4]
(In diesem Beitrag geht es mir nur um die formale Charakterisierung des Sadeschen Diskurses hinsichtlich seiner Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellstruktur. Auf die Frage, warum die weiblichen Subjekte seiner Texte »grausam« sein müssen, warum sie in ihrer Libertinage monströs und ungeheuerlich werden, gehe ich hier nicht ein und verweise auf meine Untersuchung über »Die grausame Frau«, die demnächst im Verlag »Stroemfeld/Roter Stern« erscheinen wird. Aus ihr sind auch die folgenden Charakterisierungen entnommen.)

1. Alles muß dargestellt werden

Natürlich hat de Sade nicht über alles geschrieben. Er hat sich besonders auf einen bestimmten Gegenstand konzentriert, der für die Moralphilosophie von entscheidendem Interesse war und auch mit der menschlichen »Natur« in engster Verbindung gesehen wurde: Leidenschaft, Lust, Begierde, Sexualität. Die Bedeutung, die der Naturbegriff in der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts gewonnen hat, bekommt bei ihm eine spezifische Kontur, indem er ihn gegen die sexuellen Gebote und Verbote ausspielt, die dem Menschen kulturell auferlegt sind. De Sade konzentriert sich auf die Sexualität als jenes Übergangsfeld vom Tier zum Menschen, auf dem sowohl die Frage nach der »Natur« prägnant gestellt werden kann als auch der Charakter der »Kultur« sich aufklären läßt.
Auf diesem Zwischenfeld der Sexualität spielt sein Diskurs, Grenzbereich in doppelter Richtung.
Dabei wird nach der einen Seite hin deutlich, daß der sexuelle Akt und leidenschaftliche Genuß nicht an und für sich »natürlich« ist, sondern nur im Verhältnis zu den kulturellen Geboten, die er zu überschreiten versucht, um sich als unkalkulierte Natur zu rekonstituieren. Nach der anderen Seite aber erweist sich auch die Kultur als Fiktion, als eine Sammlung von geheiligten Vorurteilen, die übertretbar und verletzbar sind und, paradoxerweise, gerade dadurch den größten Genuß ermöglichen: für den weiblichen und männlichen Libertin gibt es nur Genuß, wenn eine Überschreitung vorliegt, und seine »natürliche« Sinneslust ist nur intensiv und stark, wenn es kulturelle Schranken zu zerbrechen gibt.
Also macht de Sade sich an sein riesiges Werk, jede denkbare (sexuelle) Überschreitung festzustellen und im Hinblick auf die Frage nach der »Natur« zu untersuchen, die zugleich doch auch die nach der »Kultur« ist. Überschreitung ist der Gegenstand des Sadeschen Denkens und Schreibens, über den alles gesagt werden muß, um den Menschen zu erkennen.
Das mag irrtümlich so aussehen, als habe de Sade so etwas wie einen umfassenden Katalog von »Perversionen« im Auge, wie er dann, hundert Jahre später, von der »Psychopathia sexualis« aufzustellen versucht wurde. Aber es geht ihm nicht um die Perversionen im pathologischen Sinn, sondern um das ganze Spektrum der Leidenschaften, für das die Gewissenserforschung der Kasuisten, nicht die Beobachtung eines psychopathologisch interessierten Forschers den Anstoß liefert. Es geht um die Totalität einer exzessiven Phantasie, nicht um die Vollständigkeit beobachtbarer Sachverhalte. Hier ist eine Einbildungskraft am arbeiten, die nicht, wie ihr von Kant und Schiller bis hin zu Herbert Marcuse verschrieben worden ist, einen Antagonismus zwischen Sinneneindruck und Verstand zu überwinden trachtet, sondern auf beiden Gebieten bis zum Äußersten zu gehen versucht; denn nur dann ist alles gesagt, was es zu sagen gilt:
Auf dem Gebiet der Sinne wird jedes denkbare Verbot zu übertreten versucht, um in dieser exzessiven Bewegung alles zu erkennen, wozu der Mensch »von Natur aus« fähig ist (die Libertinage setzt deshalb das totale Fallenlassen aller Hemmungen voraus, die souveränste Verachtung aller Vorurteile, die tiefste Verachtung jeder Art von moralischer Einschränkung). Und auf dem Gebiet des Vestandes wird erprobt, wie weit man, ohne Verlust der Vernunft, in der Rechtfertigung der Überschreitung gehen kann, sofern für diese Rechtfertigung nichts als der distanzierte, »apathische«, kalte Gebrauch der Urteilskraft beansprucht werden darf.
Es geht de Sade also um keine spielerische Überwindung des Gegensatzes von Sinnlichkeit und Denken, Stoff und Geist, Natur und Freiheit, wie sie z.B. Schiller als »ästhetische Erziehung« gefordert hat; es geht um den Anspruch, daß jedes dieser gegensätzlichen Momente aus seiner eigenen Bewegung heraus sich bis zum Äußersten steigert, um in der jeweils eigenen Radikalität und Konsequenz sich schließlich mit dem anderen in der größten Exzessivität zu treffen. Das ist das Herausfordernde de Sades: der ruchloseste (weibliche oder männliche) Libertin ist zugleich der vernünftigste (»Das vollkommenste Wesen, das wir uns vorstellen können, ist jenes, das sich am weitesten von unseren Konventationen entfernt und sie am verächtlichsten findet«)5, nur wenn Juliette alle Laster erprobt und kennengelernt hat, ist sie wirklich wissend und klug, ihr Bewußtsein »luzide«; nur am Ende der 120 Tage von Sodom, wenn alles getan und besprochen worden ist, ist die »Bildung« der Libertins vollendet; nur nach Vollzug jedes denkbaren sexuellen Aktes, frei von jeder kulturellen Eingrenzung, hat auch die räsonnierende Vernunft ihre vollendete, unpersönliche »Reinheit« gefunden, jene »Apathie«, die auch Kant für die vollendete Tugend unter den Maximen einer Reinen Vernunft gefordert hat: »Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüt in Ruhe.«[6] Nur daß er das Risiko eines gesteigerten Affekts bereits zu Beginn zu meiden empfiehlt, das de Sade bis zur letzten Konsequenz einzugehen fordert, um alles über uns zu erfahren.
Hieraus erklärt sich jene fundamentale Unterscheidung zwischen den »normalen Perversen« und den »integralen Ungeheuern«, die Pierre Klossowski getroffen hat: Während der/die Perverse an eine ganz bestimmte Vorstellung, einen besonderen Genuß durch eine partielle Praxis, ein einzelnes Partialorgan gebunden ist und dadurch die Normalität des Sexualaktes verletzt, ist der Libertin in eine ständig über sich hinausgehende Bewegung der Überschreitung hineingerissen, die sich nur in einer alles umfassenden, einer »integralen« Orgie erfüllen ließe. In dieser libertinen Orgie gibt es folgerichtig keine Perversion mehr, denn jede besondere Abweichung ist »aufgehoben« im totalisierenden Prozeß der Überschreitung. Es gibt aber auch keine Normalität mehr, keine sexuelle Norm, denn auch sie werden in diese Bewegung integriert; sie können zum Anlaß eines besonderen Genusses der integralen Ungeheuer werden und erscheinen dabei wie besondere Figuren einer alles umfassenden »Perversion«. (Auch der »normale, heterosexuelle Koitus« erscheint in der Schilderung de Sades als »perverses« Element einer Totalisierung, die kein ausgezeichnetes Zentrum mehr kennt, nur den stetigen Impuls, alles sagen zu wollen.)

2. Alles muß ausgedrückt werden.

Was ist das für ein Subjekt, das hier spricht und sich zum Ausdruck bringt? Wie muß man sich das Subjekt der Aussage vorstellen, von dem alles gesagt werden soll? Wie das Subjekt der Äußerung, das alles zu sagen versucht?
Am Ende ihres Berichts über das erste Verbrechen, das sie »autonom«, ohne Anleitung durch eine(n) Andere(n), planen und begehen konnte, spricht de Sades Ich-Erzählerin Juliette, nicht ohne Bedauern, davon, daß sie mehr hätte tun können, wenn sie allein gewesen wäre. »Wenn ich ganz allein gewesen wäre, ich weiß nicht, wie weit ich die Wirkungen meiner Zügellosigkeit getrieben hätte.«[7] Um alles wagen zu können, um den progressiven Prozeß der Übertretung so weit wie möglich treiben zu können, muß das Subjekt also allein sein.
Das scheint, auf den ersten Blick, dem Szenarium zu widersprechen, in dem die Heldinnen und Helden de Sades agieren. Denn ihre Leidenschaft ist doch nur zu befriedigen und bis zur Raserei einer höchsten Lust zu steigern, wenn andere da sind: sei es als Objekte, als Opfer, auf die der Einzelne seine sexuellen Impulse richtet, bis hin zu ihrer Vernichtung; sei es als Komplizen oder als jene Zuschauer, deren Blick der libertine Mensch zu brauchen scheint, um sich selbst in seiner Leidenschaft immer auch so sehen zu können, wie die anderen ihn sehen.
Aber diese Notwendigkeit der anderen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Subjekt, das alles ausdrücken will, zutiefst allein und einsam ist, absolut isoliert und für sich.
Denn sein Begehren richtet sich nicht auf das Begehren seines Objekts, um von ihm eine Antwort zu erhalten oder ihm das Gleiche an Lust und Befriedigung zukommen zu lassen. Es steht auch nicht unter dem Zeichen eines Widerspruchs, der für eine sexuelle Dialektik vielleicht bedeutsam ist, keineswegs aber für die Geste einer Überschreitung, die es mit der Grenze der sexuellen Einbildungskraft zu tun hat. Es richtet sich auf den anderen als ein körperliches Objekt, das dem eigenen sexuellen Begehren ganz und gar unterworfen wird, um schließlich, in der letzten und grausamsten Konsequenz dieser autonomen Bewegung des agens, negiert und vernichtet zu werden. Diese tödliche Negation des Lustobjekts ist dabei nur die Steigerung einer Lust, die von Anfang an völlig selbstbezogen und für sich ist, egoistisch und »despotisch«. Anstatt sich mit der triebhaft profanen Welt der Tiere zu verbinden, ist die Sexualität bei de Sade Zeichen der Spaltung und Entfremdung:

»Es gibt keinen Menschen, der in der Erregung nicht Despot sein möchte. Er scheint förmlich weniger Genuß zu spüren, wenn ein anderer ebenso stark genießt, wie er selber. In einem merkwürdigen Akt des Stolzes, der in seiner Situation nur allzu einsichtig erscheint, möchte er der einzige Mensch auf der Welt sein, der imstande ist, so stark zu genießen, was er fühlt. Die Vorstellung, daß ein anderer den gleichen Genuß empfinden könnte, degradiert ihn zu einer Form der Gleichheit, die die einzigartigen Wonnen des Despotismus im Nu zerstört. Es ist außerdem falsch, anzunehmen, man empfange Genuß, weil man anderen Genuß schenke. Nur, wenn er anderen zugleich Erniedrigung bereitet, wird der Mensch jener Erregungen teilhaft, wie sie einem nervösen Individuum zukommen, das durch Übung seine Kräfte genießt. Und so wird er schließlich zum Tyrannen und dies ist dann die Situation, aus der sein Egoismus höchsten Gewinn zieht.«[8]

Frei von jeder hegelschen Dialektik -des Herrn und des Knechts-, in der säkularisiert noch etwas von dem theologischen Verhältnis zwischen Begehren und Dankbarkeit durchscheint, weil jeder den anderen braucht, ist bei de Sade das leidenschaftliche Subjekt, um dessen stets eigene »unteilbare« Lust es geht, apriori allein, eingesperrt in den Raum seiner despotischen Einzigartigkeit. »Die einzige Verhaltensmaßregel besteht also darin, daß alles, was mich glücklich macht, zuerst in Betracht kommt, und daß ich alles für nichts erachte, was aus meinen Wünschen für andere an Schlechtem hervorgehen kann.«[9] — Deshalb bleibt selbst im umgekehrten Fall, in der tödlichen Niederlage gegenüber der Stärke und Macht eines anderen, der Despot »autonom«. Was auch immer geschehen mag, für das isolierte Subjekt, das keine Bindung zwischen den Menschen anerkennt, gibt es keinen Herrn: »Wenn ein solcher Mensch besiegt wird, kehrt er in seine Einsamkeit zurück, die sich im Tod erfüllt — aber er bleibt souverän.«[10]
Auch der Zuschauer, der Dritte, den fast alle perversen Sexualspiele benötigen, um schamlos sich ihren provokativen Gehalt zurückspiegeln zu lassen, ist für die sadesche Überschreitung eher Hindernis als Unterstützung. »Wir möchten dich so handeln sehen als wärest du allein«, fordern Juliette und ihre Freundin Clairvil von einem neapolitanischen Wüstling. Nur so, in der Dunkelheit des Alleinseins, kann alles durchgeführt werden, was ausgedacht wurde. Die Handlung des Wüstlings müßte eigentlich stumm und ohne Zeugen vollzogen werden. Nur das Interesse der lernbegierigen Juliette, alles zu erfahren, bringt sie als Augenzeugin ins Spiel, was umgekehrt nur heißen kann, daß das sadesche Subjekt die Gesellschaft nur braucht, um das absolute Alleinsein, in das ihn seine Lust einsperrte, besser beschwören zu können.
Das Subjekt, das alles über seine Leidenschaften, seine Laster, seine körperlichen Begierden und Handlungsmöglichkeiten, die ihm Lust verschaffen, ausdrücken will, muß allein sein. Im ungelösten Verhältnis zwischen de Sade als Autor und seinem Publikum, vor dem er jenen »öffentlichen Gebrauch« seiner Vernunft demonstriert, der — Kant zufolge — für Freiheit wesentlich ist, zeigt sich dieses Alleinsein gewissermaßen produktions- und rezeptionsästhetisch.
Denn die Produktion dieses monströsen Werks ist wohl nur möglich gewesen unter den Bedingungen einer totalen Isolation. Die maßlose Übersteigerung des aussagenden Subjekts, das alles Eingrenzende übertreten will, komplementiert die Situation des Gefängnisses und der Irrenanstalt, hinter deren Mauern de Sade einen Großteil seines Lebens zubringen mußte. 1777, im Alter von siebenunddreißig Jahren, wird der Marquis ins Gefängnis von Vincennes eingeliefert, verhaftet aufgrund eines »Lettre de cachet«, einer geheimen Order des Königs, derzufolge eine Person auch ohne weiteren Haftbefehl gefangengesetzt werden kann. Nach einer erfolgreichen Flucht (16. Juli 1778) wird er, kaum einen Monat später, wieder inhaftiert. Mehr als elf lange Jahre verbringt er einsam im Gefängnis, zunächst in Vincennes, seit 1784 in der Bastille. Schließlich, während die französische Revolution im vollen Gange ist, wird er 1790 befreit, bleibt jedoch auch unter den neuen Verhältnissen ein so unabhängiger Geist, daß er stets mit neuen Inhaftierungen rechnen muß. Unter napoleonischen Verhältnissen, 1801, wird er — nun wegen der Obszönität und Unmoral seiner Werke, besonders seines gigantischen, im Original 3600 Seiten umfassenden Doppelwerkes »La Nouvelle Justine ou Les Malheurs de la vertu, suivie de l'histoire de Juliette, sa soeur« (1797 anonym erschienen) — wieder verhaftet. Ohne Prozeß wird er als unliebsame Person für »geisteskrank« erklärt und ins renommierte Irrenhaus von Charenton eingeliefert, wo er den Rest seines Lebens zubringen muß. 1814 stirbt er.[11]
Doch zurück zu den langen Jahren zwischen 1778 und 1790, in die Zeit jener totalen Abgeschlossenheit und völligen Einsamkeit, in der der Gefangene von Vincennes und der Bastille schreibt und schreibt und schreibt, sechzehn dicke Bände mit winziger kalligraphischer Handschrift, unter ihnen das voluminöse Werk der »120 Tage von Sodom«, der philosophische Roman »Aline et Valcour«, mehrere Fassungen der »Justine«, dazu Tagebücher, Notizen und unzählige Briefe. Er hatte zwar auch vorher schon geschrieben, zur Zeit seines lasterhaften und ausschweifenden Lebens eines Aristokraten, dessen Skandale ihn mehrfach mit der Staatsgewalt konfrontiert hatten. Aber doch nicht mit jener Besessenheit und Intensität, die sein Schreiben hinter den dicken Mauern bestimmt und auf eine neue Sprache zielt, eine erbarmungslose, unerträgliche Sprache, in der alles ausgedrückt werden kann, was das Begehren des Einsamen bestimmt und seine sexuelle Phantasie hochputscht. Die »Abstinenz von allen Freuden des Fleisches«, zu der er gezwungen ist, hat sein »Gehirn in Glut versetzt«.[12] Es scheint, als habe erst das Gefängnis dem Marquis die Möglichkeit entziehen müssen, seine Leidenschaften (mit anderen) zu befriedigen, damit er sich klar werden konnte über das Geschick der Antriebe, die ihn beseelten.
In der engen Zelle eines Menschen, der wirklich »allein« war, »für den der Andere nicht mehr zählt«,[13] entsteht das Riesenwerk einer Untersuchung, in der die Leidenschaften sich als das zu erkennen geben, was sie wären, wenn es keine Verbote und Gebote, keine Moral, keine Religion und kein Gesetz, keine »Wechselliebe« und »gegenseitige Achtung« mehr gäbe. Durch dieses — konjunktivische — Schreiben (denn auch de Sade weiß, daß die Schrift der einzige Ort ist, an dem »alles« getan werden kann bis hin zu einer universalen Verderbnis, zu einer Destruktion, die auch über den Tod des schreibenden Subjekts hinaus noch wirksam bleibt) ist de Sade der männliche Schriftsteller par excellence, der alle Widersprüche in sich vereinigt:

»Er ist einsam, der einsamste aller Menschen, aber gleichwohl öffentliche Person und politisch einflußreich. In Gefängnisse gesperrt, aber trotzdem absolut frei, Theoretiker und Symbol absoluter Freiheit. Er schreibt ein Werk ohne Maß und Grenze, und niemand weiß um die Existenz dieses Werks. Er ist unbekannt, doch was er darstellt, hat für alle unmittelbare Bedeutung. Er ist weiter nichts als ein Schriftsteller, und zeichnet das in höchste Leidenschaft sich entäußernde Leben, eine Leidenschaft, die Grausamkeit und Wahnsinn wurde. Die abweichendste, verborgenste, aller Billigung sich entschlagende Empfindung macht seine Feder zum Tatbestand eines öffentlichen Diskurses, der, nachdem Geschichte von ihm Besitz ergriffen hat, eine legitime Auslegung der Bedingungen menschlichen Daseins bedeutet. Er ist die Kraft der Negation schlechthin: sein Werk vollzieht nur die Arbeit der Negation, die die Anderen leugnet, die Natur leugnet und in diesem unablässig durchlaufenen Kreis sich selbst als absolute Souveränität genießt.«[14]

3. An Alle(s) muß appeliert werden

Diese Souveränität des schreibenden Subjekts bleibt nicht ohne Effekt für die Leser, an die sich das Werk richtet. Denn de Sade will ja »aufklären«, er wendet sich an ein Publikum, er räsonniert über die Vorteile des Lasters und die Nachteile der Tugend und versucht, in die Gesellschaft, deren Gesetze, Ideologien, Philosophie er überschreitet, schreibend einzugreifen. Das erklärt die maßlose Traurigkeit, die de Sade überfallen hat, als er feststellen mußte, daß aus der Fülle seiner im Gefängnis verfaßten Manuskripte nur ein Bruchteil gerettet worden ist:

»Während meiner Gefangenschaft war ich ungemein fleissig, aber stellen sie sich vor, mon cher avocat, ich hatte fünfzehn Manuskripte fertig, die man in Druck hätte geben können; als man mich aus dem Gefängnis entließ, waren mir davon bloß ein Viertel geblieben. Es hat Madame de Sade gefallen, die einen verlorengehen, die anderen stehlen zu lassen und das bedeutet dreizehn verlorene Jahre. (...)
Meine Manuskripte, meine Manuskripte — ich weine blutige Tränen. Betten, Tische und Kommoden waren zu ersetzen, Gedanken sind es nicht. Nein, mon ami, ich bin außerstande, meine Verzweiflung über diesen Verlust zu schildern, das ist nie wiedergutzumachen.«[15]

In seiner absoluten Einsamkeit appelliert das schreibende Subjekt an ein Publikum (das nicht unbedingt das seiner Zeitgenossen sein muß, sondern jeden umfaßt, der, auch nach dem Tod des Schriftstellers, sich seinen Texten aussetzt), dem er alles sagen möchte, weil nur so der eigentliche Zweck der »Philosophie« erreicht werden kann: den Leser des Textes über sich selbst aufzuklären, jeden Einzelnen.
Die Universalität der Leidenschaften, von den einfachen bis zu den kompliziertesten, wird Subjekten angeboten, die, jeweils für sich, denn auch zwischen ihnen gibt es keine Bindungen, im Text de Sades ihre jeweils eigene Fähigkeit der Überschreitung fixieren können. Der Impuls, alles zu sagen, kann überhaupt erst die Möglichkeit schaffen, sich als lesendes Subjekt ins System der Leidenschaften einzugliedern. In den »120 Tagen von Sodom« ist es deutlich formuliert, wenn der Erzähler sich so an sein Publikum wendet:

»Wenn wir nicht alles aussprechen, alles analysieren würden, wie sollten wir dann erraten können, was dir gebührt? An dir liegt es, auszuwählen und den Rest beiseite zu lassen; ein anderer täte desgleichen, und nach und nach würde jeder seinen Platz finden.«[16]

Im lesenden Nachvollzug der sadeschen Übertreibung, die aufs integrale Ungeheuer zielt, lernt jeder Einzelne, wie weit er selbst zu gehen bereit ist, zumindest auf dem stillen Weg seiner wollüstigen Phantasien und Träume. Mit der erschöpfenden Vollzähligkeit, die de Sade darstellen und ausdrücken will, wird kein neutrales sexualwissenschaftliches System vorgestellt, das in seiner »Objektivität« den Leser unbehelligt läßt. Diese Vollständigkeit ist bestimmt allein durch die präzise Absicht, Jedes Subjekt zu treffen.«« De Sades Texte sind nicht distanziert zu lesen; vielmehr saugen sie den einzelnen Adressaten in ihre Bewegung hinein, um ihn gerade so über die jeweils einzigartige Prägung seiner Lust aufzuklären.
Um den genauen Punkt zu erkennen, bis zu dem man/frau de Sade zu folgen bereit ist, »um seinen Platz zu finden« in der Totalität menschlicher Leidenschaften, gibt es ein sichtbares Anzeichen, das de Sades Texte vordergründig mit der pornographischen Literatur verbindet. Mit dem rezeptionsästhetischen Begriff des »einhändigen Lesens«, der witzig die Verbindung von Hand- und Kopfarbeit bei der Lektüre anregender erotischer Texte ausdrücken will, ist dieser Index verschämt benannt. De Sade hat es, wie immer, drastisch und offen formuliert:

»Ohne Zweifel werden dir viele der Abirrungen, die du beschrieben finden wirst, mißfallen — das weiß ich; es werden sich jedoch welche finden, die dich so erhitzen, daß sie dich Samen kosten; und das ist alles, was wir beabsichtigen.«[18]

(Wobei anzumerken bleibt, daß »Samen kosten« (im Original: »coûter du foutre«) sich in de Sades Sprachgebrauch nicht auf den männlichen Orgasmus beschränkt, sondern auch den weiblichen meint.) Die körperliche Reaktion des lesenden Subjekts — und nicht nur sie macht deutlich, daß man bei der Lektüre der Texte genauso »allein« sein muß wie das aussagende Subjekt bei der Produktion — ist das verläßlichste Kennzeichen für die Treffsicherheit, mit der der »ruchlose Philosoph« auf das sexuelle, leidenschaftliche Dispositiv jedes Einzelnen gezielt hat. Und nur deshalb, weil Jede(r) getroffen werden soll, muß philosophisch alles gesagt werden.

Durch diese Intention wird der philosophische Diskurs des Marquis de Sade wohl auch in Zukunft auf einmalige Art und Weise »skandalös« bleiben. Seine Appellstruktur hat dem Leser bewußt werden lassen wollen, was für ihn die sexuelle Handlung und Überschreitung bedeuten kann. Das kann nicht ohne Empörung zur Kenntnis genommen werden, ein Indiz mehr für die »aufklärerische« Wirksamkeit der Sadeschen Philosophie: »Was uns am heftigsten empört, ist in uns.«[19]

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