Neue Ohren für neue Musik

Gedanken zur Musikalität der philosophischen Aphorismen
und Gedichte Friedrich Nietzsches[1]

Kein anderer hat wie Nietzsche gegen das in der Grammatik von Sprache verbundene »Wir« den unverwechselbaren Stil eines »Ich« zu demonstrieren versucht, das sich gegen den großen Anderen des sprachlichen Systems als genialischer Sprachkünstler artikuliert. Das zunehmende Bewußtsein der Unwahrheit von Grammatik in ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, Intersubjektivität und Vernünftigkeit wird durch einen poetisch-stilistischen Diskurs reflektiert, in dem sich das Selbstbewußtsein eines genialen Sprachvermögens zu bilden versucht. Gegen das begrifflich-grammatische Philosophieren opponiert ein Subjekt, das in Aphorismen und poetischen Figuren sich als Stilist begreift. Dabei spielt die »Musik« eine herausragende Rolle. Der Philosoph, besonderer und einzigartiger Mensch — und kein Repräsentant einer res cogitans, eines reinen ego oder eines transzendentalen Subjekts mehr —, versteht und inszeniert sich als Musiker der Sprache. Aphoristischer und poetischer Stil sind seine Erkennungszeichen. Nietzsche hat sie für die Philosophie entdeckt. Von dieser Entdeckung handelt der folgende Essay.

1. Bewunderung und Warnung vor der Musik

Nietzsches Positionen, die Musik betreffend, sind wechselhaft und von zunehmend kritischer Distanziertheit. Der Bogen reicht vom ungebrochenen Vertrauen in das sprachkritische und sprachskeptische Vermögen der Musik des Wagnerianers bis hin zum »Cave musicam«, dem »Hüte dich vor der Musik« des 1. Aphorismen-Buches »Menschliches, Allzumenschliches« und der dort getroffenen Feststellung, daß sich vor der romantischen Musik, gemeint ist vornehmlich die wagnersche, hüten solle, wer »in Dingen des Geistes auf Reinlichkeit« (MA / I, 740)[2] halte. Zuletzt, in »Ecce Homo«, wird dagegen noch einmal die »Hoffnung auf eine dionysische Zukunft der Musik« (EH / II, 1111) ausgedrückt. Wie die Physiognomie einer solchen Musik allerdings aussehen sollte, blieb fraglich, ist doch mit dieser Hoffnung die Problematik verbunden, wie und ob das Dionysische überhaupt sich repräsentieren lasse.
»Die Tonkunst redet oft in Tönen eindringlicher als die Poesie in Worten zu uns und ergreift die geheimsten Falten des Herzens.« (AB / III, 34) Das schrieb der vierzehnjährige Nietzsche »Über Musik« in großer Dankbarkeit für »diese herrlichste Gabe Gottes«, (ebd., 35) Die Musik ergreift und sagt unmittelbar aus, was im Innersten des Menschen wohnt. Selbst die ästhetische Würde des poetischen Wortes bleibt defizitär gegenüber der Objektivation von Subjektivität im musikalischen Ton. Wird das Wort durch den Ton ersetzt, so verdrängt das Herz den Verstand.
Daß die Musik kein bedeutetes, begriffliches Signifikat besitze, ließ Nietzsche zunächst zum Anhänger Wagners werden. In der Trennung und Gegnerschaft von Sprache und Musik werden beide als isolierte Entitäten gesehen, so daß die Musik als für sich seiende Universalsprache der »richtigen Empfindung« (GT / I, 388) auftreten und die falsche Verallgemeinerung durch begriffliche Sprache vermeiden könne. Später, der Jüngerschaft Wagners ledig, vermag Nietzsche zu unterscheiden und, wie man schließen kann, selbstkritisch zu äußern: »Die Musik ist eben nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache« (MA / I, 802), sondern eine kulturelle und physiologische Semiotik, deren Maß zeitlich und örtlich gebunden ist. In dieser Einsicht wurzelt Nietzsches Kritik an Wagner, dessen Musik einer bloß reaktiven Physiologie unterliegt, ohne dionysische Intensität.

2. Nietzsches Rückkehr zur griechischen musiké

»Nur Musik, die einmal Sprache war, transzendiert ihre Sprachähnlichkeit«[3] — In zunehmender Auseinandersetzung mit Wagner präzisiert sich Nietzsches Konzeption von Musikalität und Stil, die auch für seine Schriften wesentlich wird. Schließlich wird jene Trennung aufgehoben, die für das europäische Sprach- und Musikbewußtsein kennzeichnend ist: Sprache selbst, besonders in ihrer poetischen Gestaltung, wird als musikalische Formgebung verstanden; Dichten, Komponieren und Philosophieren werden auf einen einheitlichen Impuls zurückgeführt, der vor jenen Aufspaltungen liegt, die für uns selbstverständlich geworden sind.
Gegen hilflose Vermittlungsversuche, Sprache und Musik als getrennte Entitäten wieder zusammenzubringen, indem Musik als Sprache reflektiert wird (»Ist Musik eine Sprache«?[4]), ein Problem, das besonders angesichts der semantischen Begriffslosigkeit musikalischer Bedeutung als unlösbares Rätsel erscheint, hat Nietzsche versucht, zu jener Einheit zurückzukehren, die einst bestanden hat, bevor sich die Musik als für sich seiende Form verselbständigt hat. Die Vermittlung von Sprache und Musik kann nicht additiv geschehen oder durch eine »Versprachlichung der Musik«. Das hat Nietzsche an Wagners »Musik« demonstriert, die umso mehr ihren musikalischen Stil preisgeben mußte, je mehr sie Sprache nachzuäffen und sprachähnlich zu werden versuchte, je mehr sie »bedeuten« wollte. Übrig blieb »einfach schlechte Musik« (FaW / II, 919), nichts als die pathetische Geste eines Schauspielers, der ohne musikalischen Stil seine Zuhörer zu begeistern versucht.
Es war besonders Nietzsches Rückkehr zur Frühzeit der griechischen Antike, welche die Wagnersche »Rhetorik« in eine negative Perspektive rückte. Denn dort findet der Altphilologe Nietzsche jene Einheit von Sprache, Vers, Rhythmus, Musik und Tanz kulturgeschichtlich ausgeprägt, die innerhalb der christlich-abendländischen Kultur verlorengegangen ist. Er ist zu ihr zurückgekehrt als ein musikalisches Subjekt, das seine eigenwillige Diskursarbeit vollzieht mit jener doppelten Bewegung, die Nietzsche als klassischen Philologen und stilbewußten Autor kennzeichnet und seine Texte unverwechselbar werden läßt: griechische musiké in deutschsprachigem Gewand. Nietzsches ganze »Kunst des Stils« (EH / II, 1104) besteht im Schaffen neuer sprachlicher Kunstmittel, die durch eine Rückkehr zu griechischen Vorbildern ihren Wert enthalten. Um tausend Meilen über das hinausfliegen zu können, »was bisher Poesie hieß« (ebd.), wurde, unter anderem, auch der griechische Dithyrambus für die deutsche Sprache lebendig gemacht. Die antike Form, kulturgeschichtlich den Trennungen von Sprache und Musik vorgelagert, wird als Möglichkeit der deutschen Sprache erprobt: »Daß dergleichen gerade in deutscher Sprache möglich war, blieb zu beweisen: ich selbst hatte es vorher am härtesten abgelehnt. Man weiß vor mir nicht, was man mit der deutschen Sprache machen kann — was man überhaupt mit der Sprache machen kann.« (ebd.) — Man wußte es nicht mehr, weil man es vergessen hatte. Der Dithyrambus schien nichts mehr wert zu sein und fristete, etwa in der Form gereimter Loblieder nach dem Vorbild des Barock und der Aufklärung, ein poetisches Schattendasein.

3. Musikalischer Takt und Rhythmus der musiké

Daß die Musik an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres sein soll, so tief erregend, »daß sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte« (MA/I, 573), ist nur ein verständlicher Irrtum, der aus dem Vergessen einer einst mächtigen Verbindung von Symbolik, Poesie, Rhythmus, Tanz und musikalischem Ton stammt. Wir »wähnen« den Klang als bedeutsam und intellektualisieren die Musik als Sprache, weil uns jene ursprüngliche Fähigkeit verlorengegangen ist, über die der dithyrambische Dionysosdiener einst verfügt hat. Bereits in der »Geburt der Tragödie« hatte Nietzsche sein Loblied gesungen:

»Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Äußerung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nötig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie plötzlich ungestüm.«(GT / I, 28)

Musikhistorische Untersuchungen über den Ursprung der abendländischen Musik haben Nietzsches Euphorie, seine Rückkehr zum großen Stil der griechischen Antike, zunehmend verständlich werden lassen. Seine Erfahrung — »daß die Musik den Geist frei macht, dem Gedanken Flügel gibt; daß man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird« (FaW / II, 906) — lebt aus der ursprünglichen Kraft der musiké, des musikalischrhythmischen Charakters griechischer Sprachkunst, in der noch verbunden war, was später in die getrennten Bereiche von sprachlicher Prosa und musikalischer Form zerfallen ist: auf der einen Seite das phonetische Wort, in dem Bedeutungen und Referenzobjekte verbalisiert werden, auf der anderen Seite die sprachlose Musik, in der nicht mehr Bedeutbares als Signifikant fixiert, sondern Zeit als Medium abgesteckt und ausgefüllt wird durch Töne, deren Abfolge »rein musikalischen« Gesetzmäßigkeiten und Impulsen unterliegt.
Thrasybulos Georgiades hat dabei zeigen können, wie die antike musiké, als Bändigung von Sinngehalt durch die Kraft eines musikalischrhythmischen Sprachvermögens, in der griechischen Sprache selbst begründet liegt und sich im chorós [5] am kunstvollsten sitilisiert und gestaltet, in jener Ganzheit von Vers, Rhythmus, Gesang und Tanz, die besonders innerhalb des dithyrambischen Dionysoskults gesteigert erlebt worden ist.[6] Sprachliche Grundlage ist dabei die festliegende Strukturierung jedes Wortes hinsichtlich der Länge und Kürze seiner Silben. Unabhängig von den Wortbedeutungen und vom Ausdruck, den ein Sprecher einem Wort geben möchte, ist ein für allemal die Silbendauer als ein »objektives« Merkmal jedes Wortes festgelegt. Mit dieser zeitmäßig bestimmten Silbenstruktur arbeitet die rhythmisierende musiké: sie stilisiert die Abfolge von Längen und Kürzen, addiert gewissermaßen diese beiden gegebenen Elemente, stellt sie in immer wieder neuen und verschiedenartigen Arrangements zusammen, nach einem rhythmischen Prinzip, das die Zeit der musiké als »erfüllte Zeit« sprachlicher Längen und Kürzen strukturiert. So kann also bereits auf der Sprachebene selbst der Rhythmus, auch musikalisch, festgelegt werden: der griechische Vers enthält bereits seine musikalische Komponente weil die griechische Sprache sie durch die Zeitstruktur ihrer Silben schon impliziert.
Die Selbständigkeit der musikalischen Rhythmik, wie sie uns vertraut ist und frei von der Sprache gestaltet werden kann, setzt demgegenüber eine andere Sprachstruktur voraus: indem Länge und Kürze der Silben gewissermaßen allein den Intentionen des
sprechenden Subjekts überantwortet, d.h. keine festgelegten Eigenschaften des Wortkörpers selbst sind, gewinnt die Betonung der Wörter überragende Bedeutung. Aus ihr aber läßt sich noch kein Rhythmus gewinnen. Die poetische Ästhetisierung muß gleichsam von außen hinzukommen. Metrische Betonungsfolgen werden festgelegt, eine metrische Struktur wird fixiert, die dann durch sprachliches Material ausgefüllt werden kann. Versbildung erscheint als Takt-Kunst, als regelmäßige Folge von Betont- und Unbetontheiten, als Erfüllung eines gleichbleibenden Taktmaßes, das mit der sprachlichen Struktur selbst nichts mehr zu tun hat, zumindest nicht aus ihr folgt oder durch sie bereits festgelegt ist. Diese Getrenntheit von taktvollem Vers und sprachlichem Material hat konsequenterweise die Verselbständigung von Musik zu ihrem Komplement: unterworfen nur dem »leeren Maß« des Taktsystems wurden die Töne zeitlich geordnet, unterliegen einem musikalischen Betonungs- und Maßsystem, das ohne sprachliche Grundlage ist, was andererseits eine besondere musikalische Untermalung oder Vertonung der Verssprache ermöglicht, ohne durch sie rhythmisch gefordert zu sein. Gerade das aber war es ja, was beim griechischen Vers unmöglich gewesen wäre, der ursprünglich Musik und Sprache zugleich war aufgrund der rhythmisch stilisierbaren Zeitstruktur der griechischen Wörter selbst. Der griechische Vers enthielt Musik in sich, er brauchte nicht erst in Musik gesetzt zu werden, weil sein sprachlicher Rhythmus als solcher musikalisch war in der geregelten Abfolge langer und kurzer Zeiteinheiten.

4. Der dithyrambische Diskurs: Großer Stil

Es kennzeichnet Nietzsches Kunst des »großen Rhythmus«, seine Kunst des Stils, die er besonders in den dithyrambischen Gesängen des »Zarathustra« praktiziert, daß er die deutsche Sprache als altgriechische behandelt. Stil erscheint als musikalische Rhythmik der sprachlichen Sequenz. Der sprachlich bedeutete Sinn, der in den Wörtern zum Ausdruck kommt, ist musikalisch gestaltet: philosophische musiké. Vor der Trennung in »Dichten« und »Komponieren«, Verskunst und Musik, wird in der Sprache selbst, in ihrer körperhaften Festigkeit, ihren artikulatorischen Längen und Kürzen, das musikalische, das kompositorische Material aufgespürt, das keine theatralische Musik als suggestives Ausdrucksmittel und Gebärden-Verstärkung mehr benötigt. Nietzsches musikalische Philosophie ist »erfüllte Zeit«, komponiert aus einem sprachlichen Stoff, aus dem ein Rhythmus selbst zu entstehen scheint, ohne durch Takt, Metrik, Maß und Betonungsfolge geregelt und gegängelt zu werden. Das kennzeichnet die Einzigartigkeit eines Stils, für den es in der nach-antiken Sprach- und Musikwelt kaum noch Ohren zu geben scheint.

»Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eignen Flügeln in eigne Himmel flog:
Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm, und meiner Freiheit Vogel-Weisheit kam: —
- so aber spricht Vogel-Weisheit: Siehe, es gibt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter!
Singe! sprich nicht mehr!
- sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte!
Singe! sprich nicht mehr!
O wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem
hochzeitlichen Ring der Ringe — dem Ring der Wiederkunft?
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe:
denn ich liebe dich, o Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!« (Z / 11,476)

Der siebente Dithyrambus aus dem »Ja- und Amen-Lied« des Zarathustra, eine Erinnerung an die Kraft dithyrambischer musiké, philosophische Beschwörung und liebende Bejahung der »Wiederkunft« und »Ewigkeit«, zugleich musikalische Dichtung und Erinnerung an jenen Dithyrambusdichter, der ein Vogel sein wollte, um sich aus Wolken des Himmels die Kraft zur musischen Benennung des weltlichen Sinns zu holen:

»An diesen (Wolken) hängt unser ganzes Können.
Ein Dithyramb, ein glänzender, muß luftig,
Recht dunkel, nebelhaft und nachtblau sein,
Und hochfliegend...«[7]

Im dithyrambischen Stil seiner »Lieder«, seines »Gesangs«, erfährt Nietzsches Sprache die größte Annäherung an die Musik. Aber diese Annäherung versteht sich nicht mehr als die Vermittlung von Getrenntem. Es handelt sich nicht um die theatralische Vertonung eines philosophischen Gedankens — »das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, das ungeheure Ja- und Amen-sagen« (Z / II, 1136) —, der als solcher prosaisch gedacht und ausgesprochen werden könnte. Nietzsche, der Dithyrambus-Sänger, läßt den Rhythmus in die Sprache eindringen und versucht aus jenem poetischen Impuls heraus zu sprechen-schreiben-dichten-singen-tanzen, den er aus der griechischen Antike als musiké kennt.

5. Die Melodie des großen Stils

Die philosophisch gerichteten Reflexionen über Poesie, orientiert an der griechischen musiké und kritisch gegen jede poetische »Rhetorik«, zentrierten sich in der Kategorie des großen Stils. Gegen den Rhetoriker, der die Sprache verführerisch benutzt und für seine überrumpelnden Zwecke ausnutzt, läßt sich der Stilist Nietzsche auf ein ganz anderes Abenteuer ein. Er versucht zu balancieren zwischen der Semiologie sprachlicher Zeichen und dem quantitierenden Rhythmus von musikalischem Bewußtsein und Trieb. Als Intensität steht der große Stil den Intentionen des metrisch gebundenen Iktus gleichermaßen gegenüber wie den »rhetorischen« Regeln des musikalischen Taktes. Effekt ist die Ausweitung der Vortrags- und Interpretationsmöglichkeiten durch die Betonung der differentiellen Zeitwerte statt iktischer Hervorhebung einzelner metrischer Akzente.
Das Resultat dieser ausdeutbaren Ganzheit poetischer Sprache nennt Nietzsche Melodie (Br / III, 1227), auch jetzt wieder orientiert am altgriechischen Begriff von »melos«, das bevorzugt den dithyrambischen Kultgesängen der Dionysosdiener zugesprochen war:

»Des Dionysos, des Herrschers, schönes Melos anzustimmen, Weiß ich, den Dithyrambus,
wenn mir der Sinn mit Wein gemischt ist.«[8]

Immer meint, in Musik wie in Sprache, »Melodie« die Eliminierung der durch feste Regelabstände vorneinander getrennten Singularitäten. Rhythmus ohne Takt, Rhythmus ohne vorgeordnete metrische Regularität wiederkehrender Betonung verhindert die Pervertierung der ewigen Wiederkehr als Wiederkehr des stets Gleichen im Durchlauf ein und derselben metrischen Struktur. Die dithyrambisch besungene Liebe zur Ewigkeit entgeht der pädagogisierenden Übercodierung und Überstrukturierung des Taktes. Sie äußert sich im »melos«, im »trunkenen« Lied, das sich der Struktur europäischer Musik entzieht. In diesem Feld von Melodie befinden sich Lektüre wie Konstitution des Aphorismenbuchs als Reisebuch. Gegen die Affekt-Rhythmik des gleichbleibenden Taktsystems steht die befreiende Reise im Medium der musiké:

»...ergibt sich eine bestimmte Form der Mittheilung: denn dem beflügelten und unruhigen Wesen der Reise widerstreben jene lang gesponnenen Gedankensysteme, welche nur der geduldigsten Aufmerksamkeit sich zugänglich zeigen und wochenlange Stille, abgezogenste Einsamkeit fordern. Es müssen Bücher sein, welche man nicht durchliest, aber häufig aufschlägt: an irgend einem Satze bleibt man heute, an einem anderen morgen hängen und denkt wieder aus Herzensgrunde nach: für und wider, hinein und darüber hinaus, wie einen der Geist treibt, so daß es einem dabei jedesmal heiter und wohl im Kopfe wird. Allmählich entsteht aus solchermaßen angeregten — ächten, weil nicht erzwungenen — Nachdenken eine gewisse allgemeine Umstimmung der Ansichten: und mit ihr jenes allgemeine Gefühl der geistigen Erholung, als ob der Bogen wieder mit neuer Sehne bespannt und stärker als je angezogen sei. Man hat mit Nutzen gereist.« (NWK / IV, 2.569f.)

Die takt-lose Reise ist die Devise der nietzscheanischen Melodie. Sie treibt uns weiter und vorwärts in der rhythmischen Heiterkeit musikalischer Intensität. Die Sprache dieser Reise ist irgendwie immer Gedicht, gespielt auf der aulos des Dionysos, »irgendwelche Musik und Flötenkunst«. (MA / I, 444) Jenseits der geregelten Abwechslung von Stark und Schwach, frei von festgelegter Sukzessivität, verführt sie zu »beflügeltem« Denken, Lesen, Reisen.

6. Die Kunst des Aphorismus

Auch Nietzsches Kunst des Aphorismus entfaltet sich zwischen Musik und Sprache. Als Wortsprache übernimmt er, wie sich Musik aus dem Dilemma der begrifflichen Sprache zu ziehen versuchte: er spricht unter Vermeidung konventionalisierter Begriffe. Das Wort soll die Dignität des Tons erlangen, das heißt: in der Paradoxie von gleichzeitigem Sprechen und Schweigen existieren. Die Aufgabe lautet, die Schamlosigkeit des frechen Wortes und die Ungegenständlichkeit der Musik zu vermeiden.
Dergestalt konstruiert sich der Aphorismus zum einen als Leib und zum anderen als Schreibweise des großen Stils. Als »Spitze der Entwicklung« jenes aus dem dionysischen Rauschzustand resultierenden »Mehr von Kraft« ( III, 755) ist der große Stil der ästhetische Ausdruck des Willens zur Macht, der die differentiellen Elemente des Werdens zu einer neuen Einheit synthetisiert. Er ist der Formgeber alles Auslegbaren: in seiner strengen Gesetzlichkeit und asketischen Kontur überschreitet er das dem sentimentalischen Pessimismus Schopenhauers geschuldete gestaltlose Chaos der Wagnerschen Dissonanz. Das bedeutet nicht nur den Rekurs auf die Einfachheit der klassischen Form, sondern setzt auch das dionysische Rauscherlebnis in ein umgekehrt proportionales Verhältnis zur ästhetischen Form, das nach dem Gesetz erfolgt: je höher die physiologischen Intensitäten in der Entfesselung der leiblichen Symbolik, desto unprätentiöser die künstlerische Form. »Die logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge der Krafterhöhung: umgekehrt erhöht wieder das Wahrnehmen solcher Vereinfachung das Kraftgefühl (...) Spitze der Entwicklung: der große Stil.« (III, 755)
Wie sich Dionysosdiener und Dithyrambus wechselseitig stimulieren, so soll der Leser in das Geschriebene des Aphorismus eingehen. Die Aufteilung in Autorschaft/Leser ist gleichermaßen hinfällig wie in der Relation Dithyrambus/Leib. Die dionysische Musik ist Stimulator zur Exegese des Leibes, dessen polymorphen Kräfte ihrerseits die musikalische Rhythmik stimulieren. Den Nachklang des Dionysischen und seiner entfesselten Rhythmik zwingt der große Stil in die rhythmische Syntaktik der aphoristischen Form. Musik existiert als Strukturales Prinzip, nicht als andersgeartete Seinserkenntnis. Die vom Aphorismus formulierte tragische Erkenntnis weist sich in ihrer ästhetischen Schreibweise als Interpretation aus, deren gestische Präsentation zur erneuten Interpretation einlädt. Wie der dionysisch gestimmte Leib seine Kräftevielfalt eröffnet, so eröffnet der Aphorismus die Tiefe der unendlichen Interpretation und erweist damit das Signifikat als Differenz in dem doppelten Sinne, den Derrida ihr gegeben hat. Als Schrift-Körper fordert der Aphorismus zur Entzifferung auf. Nietzsches explizite Aufforderung zur »Auslegung« (GM / II, 770) macht den Aphorismus zum labyrinthischen Zeichen, dessen Sinn, unter permanentem Zurückweichen eines eindeutig identifizierbaren Signifikats, erraten werden muß. Bei der Interpretation des sinnkonstituierenden ästhetischen Spiels der Signifikanten ahmt die metonymische Arbeit des Lesers die Bewegung des Falls in die Tiefe des Werdens nach. Lesen wird zur Kunst, wenn die Lektüre dazu einlädt, über den Text supplementär zu verfügen.
Das ist, was Nietzsche in seinen Schriften unablässig von seinen Lesern verlangt: eine verwandelte Physiologie, die Aphorismen lesen wie sie Musik hören kann. Musik freilich verstanden als Rekursivität auf das ihr eigene Material des Tons als interpretierende Form, in der kein Signifikant für sich existieren kann. Spricht der Aphorismus folglich mit feiner Zunge, wenn er vom Leser verlangt, daß dieser ganz Ohr sein solle, und an die lustvolle Betätigung dieses hochsensiblen Partialobjekts appelliert, so hat dies Auswirkungen auf das qualitative Selbstverständnis seines Materials, das Wort. Umgekehrt muß der Leser Abschied nehmen von der Systematik der absoluten Musik (vgl. MA /1, 573 ff), so wie sie Nietzsche versteht: als von den Gebärden abstrahierende Symbolsprache und dem damit verbundenen Versuch musikalischer Notierungen von Eindeutigkeit. Um die Ohren des Lesers stimulieren zu können, muß ein Buch sich auf die verführerische Flötenkunst des Dionysos verstehen.
Der dithyrambische Vortrag ist das Vorbild der aphoristischen Schreibweise, wenngleich sich die Stimme fundamental von der Letter, die Rede sich fundamental von der Schrift unterscheidet. Die Letter des Aphorismus versucht sich mimetisch zur musiké zu verhalten, indem sie den dithyrambischen Körper in den Schriftcorpus des Aphorismus überführt: »Die Kunst zu schreiben verlangt vor allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden, Akzente, Töne, Blicke. Deshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: — er will mit wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener.« (MA/II, 922) In seiner Anlehnung an die musiké läßt sich der Stil des Aphorismus als geschriebene Stimme und als stumme Rede definieren. Doch ist das nur die halbe Definition, denn die Qualität der Stimme ist noch unbestimmt: die aphoristische Stimme ist nicht allein geschriebene, stumme Rede —, sie ist stummer Gesang.
Die Beachtung der Rhythmen und ihre schriftliche Transformation in die Syntatik der aphoristischen Sätze ist die eine künstlerische Tugend. Die Zäsuren der Satzzeichen werden dabei genauso signifikant wie die Aussagekraft des einzelnen Wortes. Entscheidend für die Aussage werden die formalen Mittel und ihre Anwendungsgesetze: Satzbau ist Kunst. Man muß wissen, »daß Kunst in jedem guten Satz steckt — Kunst, die erraten sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Mißverständnis über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist mißverstanden!« (JGB / II, 713) Die andere Tugend ist die Beachtung der sprachlichen Materialität: der Silben, Vokale, Diphthonge. Die Art und Weise ihrer Anordnung und Aufeinanderfolge entscheidet über Sinn und Rhythmik genauso wie die der Lexeme. Von der gelungenen Ordnung jedes Graphems hängt die Aussagekraft des Aphorismus ab.
Die Gestaltung des Aphorismus erfolgt nach strengen formalen Gesetzen: in ihm wird die Sprache als Form behandelt. Die rhythmische Anordnung der einzelnen Zeichen bestimmt das Tempo des Aphorismus insgesamt. Das Ganze ist eine Funktion der einzelnen Teile, die sich zueinander wie formale Werte verhalten. Man kann die Konzentration auf die Form der Sprache einer- und auf ihr Material andererseits als nachwirkende Abkehr von der Wagnerschen Musik sehen. Am Material der Sprache wird vorgeführt, worauf sich die Musik eigentlich besinnen sollte: auf die Destruktion der Expression zugunsten gelungener Verknüpfung der einzelnen Elemente innerhalb einer tönenden ganzheitlichen Form.

7. Das Schreiben des Körpers

Der Aphorismus sucht den dithyrambischen Leib zu schreiben. Gleichzeitig präsentiert er sich als wirklicher Leib, als Montage verschiedener Organe, wie sich besonders deutlich in Ecce Homo zeigt. Es existieren: eine Lunge, deren Konsistenz eine wahlverwandte Struktur beim Leser/Hörer verlangt: »Wer die Lust meiner Schriften zu atmen weiß...(EH / II, 1066) Eine Nase: »(...) so daß ich (...) die >Eingeweide< jeder Seele physiologisch wahrnehme — rieche (...)« (II, 1080); Hände: »Ohren und Hände für meine Wahrheiten« (II, 1099); Beine: »So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung — in dem nicht die Muskeln ein Fest feiern.« (11/1084)
Zu den Partialorganen des sich schreibenden Ich fügt sich als Rumpf ein Tierkörper. Er liegt »in der Sonne (...), rund, glücklich, einem Seegetier gleich, das zwischen Felsen sich sonnt. Zuletzt war ich's selbst, dieses Seegetier.«(II, 1124). Das ist die Wiederkehr der mythischen Metamorphosen des Dionysos in der Schrift Nietzsches. Die Vielfalt seiner Zerstückelungen und Wiedergeburten, ja sogar der Höhepunkt des Orgiasmus in der Verwandlung des Dionysos in die (sich) opfernde Tiergestalt, kommen in der mystisch-produktiven Ekstasis Nietzsches zurück. Es hat seine Korrespondenz im proteischen Schillern seiner Schreibstile: »und in Anbetracht, daß die Vielheit innerer Zustände bei mir außerordentlich ist, gibt es bei mir viel Möglichkeiten des Stils — die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat.« (II, 1104)
Mit welcher Stimme spricht der verwandlungsfähige Schrift-Körper des Aphorismus? Die voran gegebene Definition der aphoristischen Stimme als Bewegung auf dem Grenzgebiet zwischen Sprache und Musik soll präzisiert werden. Im Lied, so hat es Roland Barthes beschrieben, treffen Sprache und Stimme aufeinander. Die Stimme tritt im Lied zweifach auf: als Sprache und als Musik. Die Reibung zwischen beiden Bereichen ergibt die Beschreibungskategorie. Barthes nennt sie die »Rauheit (le grain) der Stimme«.[9] Die Kategorie erscheint brauchbar für die aphoristische Stimme Nietzsches: reklamiert Barthes das Lied als das »gesungene Schreiben der Sprache«,[10] so läßt sich Nietzsches Aphorismus als der »geschriebene Gesang der Sprache« bezeichnen. Im Rückblick ist die Geburt der Tragödie für Nietzsche selbst zu wenig: — Lied. »Sie hätte singen sollen, diese >neue Seele< — und nicht reden.« (GT / I, 12)

8. Das »Gesicht« des Aphorismus

Nietzsches »Ohr für Viertelstöne« (III, 1272, Brief an Georg Brandes, 2. 12. 1887) geht einher mit dem Erlebnis des sogenannten »Gesichts«. »— ich bin ein Doppelgänger, ich habe auch das >zweite< Gesicht noch außer dem ersten. Und vielleicht auch noch das dritte.« (EH / II, 1073) Die mystische Erfahrung des >Gesichts< ist der Weg aus der Sprache zu den Empfindungen, also zu denjenigen Kräften, von denen die Grammatikalität des An-Sich abstrahiert. Die Aktivierung der Gesichtssinne bewirkt den Eintritt in die diskreten Gebiete des Unsagbaren, zu dem alle Sprache sich nicht anders als negativ verhalten kann. Das »Gesicht« verhält sich zum System der Sprache irreversibel. Der Zustand der Offenbarung als intuitive und ekstatische Erkenntnis zerreißt das Papier, auf dem die Regeln der sprachlichen Grammatik verzeichnet sind. Die Sprache konserviert und verallgemeinert Erfahrungen in Begriffen als apriorische Struktur. Ihr wird im besonderen Charakter der Erfahrung als Erlebnis versucht zu entkommen. Das Erlebnis ist einzigartig, eine Qualität, die bei der Transposition in die Konvention der sprachlichen Zeichen droht verloren zu gehen.
Das Gesicht des Aphorismus ist selbst mindestens zweifach. Einerseits ist der Aphorismus von der diskreten Verschwiegenheit des Rätsels; andererseits ist er Funktion des dionysischen Erregungszustandes. Als konzises Schriftzeichen des visionären Augenblicks führt er eine Existenz als differentes Supplement, in dessen Wort das Tonische des Erlebnisses in die Qualität des neuen Wortes als Ton umschlägt. Die Metapher des musikalischen Tons in Analogie zum aphoristischen Wort ist auch als Intervention gegen allzu schnelles Verstehen seiner Bedeutung aufzufassen. Das aphoristische Wort »schwingt«. Als Testament des Augenblicks ist es Verweigerung eines souveränen Subjekts des Diskurses; es ist schamhaftes Zeichen der (tragischen) Erkenntnis:

»Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mitteilen. Unsre Erlebnisse sind ganz und gar nicht geschwätzig. Sie könnten sich selbst nicht mitteilen, wenn sie wollten. Das macht, es fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Wort haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung.« (GD / II, 1005)

Das vom Seienden differente Supplement des auslegenden/auslegbaren aphoristischen Schriftkörpers sagt die Abwesenheit des Subjekts als Ohnmacht vor dem Objekt, dessen Erkennbarkeit allein ein ästhetischer Akt sein kann.

»Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den ich allein Farben habe, viele Farben vielleicht, viele bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Rots:
— aber niemand errät mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussähet, ihr plötzliches Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten schlimmen Gedanken!« (JGB / II, 756)

Zwischen Morgen und Nachmittag aber liegt der Mittag, jene inspirierende Stunde, deren Nachklang die Gewalt besitzt, der Macht der nivellierenden Zeichen sich zu entziehen. Das ist die Wurzel der dionysischen Wollust des Schaffenden, der Nach-Mittag der schöpferischen Nach-Schrift. Der Mittag war ein einziges großes Schweigen, die Stunde, in der Zarathustra sich zum Schlafen niederlegte: »— es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah.« (MA / I, 996) Während des Mittags schläft Pan, der bocksbeinige Gefährte des Dionysos, und auch seine Flöte schweigt. Das Wiedererwachen des Pan und seines dionysischen Flötenspiels ist dem Entstehen des aphoristischen Worts vergleichbar. Die reine Präsenz des mittäglichen Schweigens schreibt sich als Nachklang des Schweigens. Im Wieder-Anheben der Sprache schreckt ihr Klang vor der Zudringlichkeit des bezeichnenden Wortes zurück. Als ästhetisches Surplus des Willens zur Macht schreibt sich der große Stil als Spur der Leidenschaft in der musikalischen Transkription zum poetischen Wort. Es ist nicht Mimesis eines transzendentalen Signifikats, sondern konstituiert im Spiel seiner Signifikanten den Aphorismus als energetisches Kräftefeld.