Wer ist sie?

Zum Verhältnis von weiblicher Identität und literarischem Diskurs
in Frauenromanen des 18. Jahrhunderts

»Was will sie denn da, wer ist sie...« — Diese Fragen stellt sich die Heldin in einem Roman, der 1774 in Prag erscheint, um gleich anschließend zu resümieren: »so beschäftigte mich das erstemal das Ich!«[1] Die Lebensverhältnisse dieser Heldin scheinen das Problem ihrer Identität eigentlich gar nicht mehr aufzuwerfen: auf Wunsch ihres Onkels verheiratet und nach der Geburt eines Sohnes vom Ehemann totgesagt und in ein ererbtes Haus verbannt, hat sie überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt. Allein ihre Kammerfrau Fani weiß von ihrer Existenz, selbst den Dienstboten bleibt sie verborgen, das Haus funktioniert reibungslos, als ob es in ihm keine Seele, kein Zentrum gebe. Erst die »maschinenmäßige« Begegnung mit ihrem Spiegelbild bricht in die Einförmigkeit ihrer Beschäftigungen und die lange Gewöhnung an ihre Einsamkeit ein: »O wie viele Betrachtungen fieng ich jetzt nicht an, über das liebe ich anzustellen?«
Wie kommt dieser Blick auf die eigene Identität zustande, wie läßt er sich erklären in einem >geschlossenen System<, das seit dem 15. Lebensjahr der Heldin 16 Jahre lang stabil bleiben konnte? Und wie kommt es zu diesen Fragen gerade in einem Roman?
Am Ende des 18. Jahrhunderts finden sich in der großen Flut der Romanproduktion in Deutschland viele Texte, die sich als Frauenromane ausgeben. Das allein wäre schon ein Grund, sie genauer zu untersuchen, sind doch die Spuren literarischer Äußerungen von Frauen nur schwer zurückzuverfolgen. Aufmerksamkeit verdienen diese frühen Romane aber gerade dann, wenn sie so deutlich wie in dem zitierten Beispiel die weibliche Identität zum Thema machen und damit aktuelle Diskussionen um eine Frauenliteratur, um Kriterien für eine weibliche Ästhetik antizipieren. Schon ein Blick auf einzelne Titel verstärkt diesen Eindruck: da geht es um »Irrgaenge des weiblichen Herzens« oder um »Elisa oder das Weib wie es seyn sollte«, um die »Geschichte des Fräuleins von Sternheim«, um »Louise oder die unseligen Folgen des Leichtsinns« und »Mollys Bekenntnisse oder so führt Unbefangenheit ins Verderben. Eine wahre Geschichte zur Warnung für alle Wildfänge unter den heiratslustigen Mädchen«, um das »Tagebuch einer jungen Ehefrau«, um »Karolines Tagebuch ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine« oder um »Briefe an Lina. Ein Buch für junge Frauenzimmer die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen«. Immer präsentieren die Titel eine Frau — offenkundig die Heldin des Romans —, aber hinter dem Namen der Heldin taucht schon die Perspektive auf, aus der auf sie geblickt wird. Der Name allein ist zu wenig, er soll zugleich exemplarisch sein wie im Fall von »Louise« oder »Molly«, die ja wohl wirklich ins Fallen geraten. Geht es nicht um Lehrbeispiele wie bei diesen Heldinnen, so garantiert der Titel eher die Beiläufigkeit des dargestellten weiblichen Schicksals. Die Romane scheinen keinen Anspruch auf »Außerordentlichkeit« zu erheben. Die Identität der Heldin ist von Anfang an umstellt: auf der einen Seite eine Weiblichkeit, »wie sie sein soll«, auf der anderen eine literarische Form, die sich eng an die Wirklichkeit anlehnt, als Tagebuch oder als nützlicher Ratgeber.
Das zeichnet sich schon an dem Roman ab, der als der erste deutsche Frauenroman gilt, der »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« von Sophie von La Roche (1771). »Das Mädchen«, so heißt es programmatisch, »macht eine ganz neue Gattung von Charakter aus.«[2] Die »Sternheim« wird immer wieder in den anderen Frauenromanen zitiert, die Thematisierung weiblicher Identität durch Frauen hält an und bildet allmählich eine spezifische Form der Literarisierung des Problems aus, eine Art literarischen Diskurs, in dem weibliche Figuren sich bewegen. Durch die Orientierung am literarischen Vorbild der Sternheim legitimiert, stabilisiert er sich in dem Maße, in dem er Bilder, Ideen und Motive über die Weiblichkeit zusammenträgt. Wie dies geschieht, soll hier an einigen Beispielen skizziert werden, um auf Momente weiblicher Produktivität aufmerksam zu machen, die die ästhetische Bearbeitung der eigenen Identität zum Gegenstand haben.
Sie fanden bisher in der Geschichte der den Frauen zugewiesenen gesellschaftlichen Rollen keinen Ort, obwohl gleichzeitig zu diesem weiblichen Diskurs zeitgenössische Diskussionen über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft das »Weibliche« an einem Ort situieren. Karin Hausen hat diesen Prozeß als »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« an der »Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben« an der Wende zum 19. Jahrhundert beschrieben.[3] Er fällt mit der Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, die die Produktionsweisen der beiden Geschlechter gegeneinander abgrenzt. Die verschiedenen Räume, die damit als >Sphäre< weiblicher und als Produktionsstätte männlicher Arbeit bestimmt sind, sollen sich zwar ergänzen, sich zuarbeiten; zugleich sind sie nach eigenen, sich ausschließenden Prinzipien organisiert, die einen Gegensatz von Innen und Außen begründen: der Frau ist das Innere des Hauses, dem Mann der öffentliche Raum der Produktion zugewiesen.[4] — Richtet sich der literarische Diskurs der Frauenromane gerade gegen die »schattenhafte Existenz der Frauen«, gegen die »weibliche Geschichtslosigkeit«, die mit dieser »Polarisierung« gesetzt ist?[5] Ganz im Gegensatz zu ihren Einflußmöglichkeiten in der Öffentlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft stehen die Frauen hier im Zentrum, sie bestimmen das Leben der Romane, versorgen sie geradezu unerschöpflich mit Handlungen und Personal. Dies geschieht mit solcher Leidenschaft, daß der Zusammenhang von weiblicher Identität und literarischem Diskurs in diesen Texten befragt werden soll.

I

Die Herzogin von Cxxx, jene Heldin, die sich, wie oben erwähnt, zum erstenmal mit ihrer Identität beschäftigt, spürt selbst dem Moment nach, in dem ihr die eigene Identität zum Problem wird. Sie beschreibt ein Aufbrechen der Wahrnehmung von sich selbst.

»Einige Pausen von Unthätigkeit, die ich mir erlaubte, führten mich auf verworne unzusammenhängende Gedanken, oder besser zu sagen, sie zeigten mir eine düstere Leere, die ich auszufüllen wünschte, und fast maschinenmäßig kämm ich vor einen Spiegel; dieser stellte mir eine Figur vor, die seiner nicht mehr nöthig hatte, sie war angekleidet, hatte nichts mehr an sich in Ordnung zu richten: was will sie denn da, wer ist sie, hätte ich beynahe gefragt; so beschäftigte mich das erstemal das Ich! Sonst hatte ich nur die Ordnung meines Anzugs darinn gesucht, und mein mir erst wichtig gewordenes Ich noch nicht bemerkt.« (Karoline, S. 136)

Der Spiegel, selbst eine leere Fläche, solange in ihm nichts erscheint, führt ihr ein Bild vor, das sich nicht mit dem deckt, das sie von sich hat. Der Blick, in dem sie sich spiegelt, relativiert plötzlich die eigene Person, sie ist, wie sich mit Lacan folgern liesse, in eine imaginäre Beziehung eingetaucht, die um das eigene Körperbild kreist.[6] Auch andere Erfahrungen der Herzogin scheinen dem Spiegel auf eine merkwürdige Weise verwandt.
Jedesmal handelt es sich um Flächen, die aber im Gegensatz zum Spiegel nicht leer, sondern beschriftet, von Zeichen bedeckt sind. Sie gehören verschiedenen Ordnungen an, zum einen der Welt der Bilder und Gemälde, um anderen der Welt der Bücher und der Schrift. Jede dieser Welten ist für die Herzogin mit demselben Aufspringen der Identität verbunden, Erfahrungen, die die Heldinnen anderer Romane auf eine ähnliche Weise machen. Sie führen in das Konnotationssystem ein, das die weiblichen Figuren beschreibt; an ihnen lassen sich die verschiedenen Bezugspunkte rekonstruieren, zwischen denen sich im Text die Identität der Heldinnen entfaltet; Geschlechtsspezifik, Weiblichkeitsideal und literarische Form werden im Roman zugleich dargestellt und diskutiert.
Dies läßt sich zunächst an der Art und Weise nachvollziehen, in der die Frauenromane den Blick auf die weiblichen Figuren lenken, d.h. an der Darstellung, der Imagination des Zusammenhangs von Geschlechtsspezifik, Weiblichkeitsideal und literarischer Form. Hier ist die Darstellung der weiblichen Schönheit sehr wichtig, die im Spiegel, im Spiegelbild präsentiert wird. Erst in ihm entdeckt die Herzogin von Cxxx »Schönheiten«, die »ich vielleicht nicht hatte«. (Karoline, S. 137) Der Spiegel bietet eine erste Antwort auf die Frage »Wer ist sie?«, indem er die Betrachterin ihres Geschlechts versichert. Zugleich wird aber vor dem übertriebenen Gebrauch des Spiegels gewarnt, verankert er doch entweder Eitelkeit oder eine gefährliche Neigung zur Melancholie bei Frauen. Der richtige Blick in den Spiegel will gelernt sein, er setzt die Bereitschaft voraus, den Spiegel nur zur Kontrolle der eigenen Vervollkommnung und Verbesserung zu benutzen. Einen entsprechenden Rat erhält Eleonora von Lusani, bevor sie mit der Herzogin und ihrem Schicksal bekannt wird:

»...und halten sie sich nicht lange bey den Spiegeln auf, damit sie davon nicht bethöret werden. — So, sind das unsere Feinde? — von heute an, soll mich kein Spiegel mehr beschäftigen, o fort fort alle aus meinem Zimmer; dieser da zu erst, indem ich auf meinen Nachttisch zulief, und ihn ergriff. — Was wollen sie mit diesem Spiegel, Fräulein? — Weg soll er: — und wo soll er hin? Weg weg aus meinem Zimmer, oder wenigstens in einem Winkel, daß ich ihn nicht wieder sehe, das verwünschte Glas! was gilts, auch ihnen wird es vielleicht die Betrübnis verursacht haben, die ich mit Schmerzen an ihnen wahrnehme! Sie schwieg und seufzte ein paarmal... der Spiegel hatte keine Schuld, wenn ihn unser Eigensinn zu Erregung verderblicher Leidenschaften mißbrauchte. Er ist vielmehr unser Freund... wenn wir ihn wohl zu gebrauchen wissen. Er zeigt uns unsere Unvollkommenheiten, die uns auch die besten Freunde, aus Furcht uns zu betrüben, gar oft verschweigen.« (Karoline, S. 77f.)

Was der Spiegel im privaten Raum gewährleistet, das übernehmen die Portraits der Heldinnen in der Öffentlichkeit. Sie präsentieren die weibliche Schönheit in Salons, in Empfangshallen — und stellen dem Roman eine weitere Möglichkeit zur Verfügung, die Schönheit seiner Figuren zu beschreiben. Die Bilder, die zu Lebzeiten von den Heldinnen angefertigt werden, sollen ihren Charakter in einem Blick erfahrbar machen, sie sollen die Wahrheit über sie enthüllen. So läßt die Herzogin nach der Begegnung mit ihrem Spiegelbild einen Maler kommen, »der mich so, wie sie es in ihrer Bibliothek gesehen, mit einem Blatt Papier in Hand abmalen mußte.« (Karoline, S. 138) Lony, eine kranke Engländerin, die unschuldig einer Intrige verdächtigt wurde und seitdem dahinsiecht, wird von Gainsborough gemalt;[7] auch von anderen Frauen werden Gemälde erwähnt.
Wollen die Romane ohne Hilfe dieser »Rahmen« ihre Heldinnen beschreiben, so greifen sie die Geste des Malers auf. Über die »Sternheim« heißt es:

»Aber vorher muß ich ihnen noch das Bild meiner jungen Dame malen. Sie müssen aber keine vollkommene Schönheit erwarten. Sie war etwas über die mittlere Größe; vortrefflich gewachsen; ein länglich Gesicht voll Seele; schöne braune Augen, voll Geist und Güte, einen schönen Mund, schöne Zähne. Die Stirne hoch, und, um schön zu sein, etwas zu groß, und doch konnte man sie in ihrem Gesicht nicht anders wünschen. Es war soviel Anmut in allen ihren Zügen, soviel Edles in ihren Gebärden, daß sie, wo sie nur erschien, alle Blicke auf sich zog... Die Schönheit ihrer lichtbraunen Haare, welche bis auf die Erde reichten, konnte nicht übertroffen werden. Ihre Stimme war einnehmend, ihre Ausdrücke fein, ohne gesucht zu scheinen.« (Sternheim, S. 48)

Dennoch ist dieses »Bild« merkwürdig leer. Einzelne Aspekte der Schönheit werden aufgezählt, in ihrer Wiederholung an anderen weiblichen Figuren und in der Wiederkehr auch in anderen Romanen ersteht aber eher ein Raster, ein stereotypes Modell weiblicher Schönheit. Die Schönheit dieser Heldinnen hat keine besonderen Merkmale, sie fungiert wie ein Zeichen, dessen Existenz von Bedeutung ist, nicht aber das, was es bedeutet. Nur so ist zu verstehen, daß manche Texte die Schönheit gar nicht mehr darstellen, sondern nur en passant erwähnen: »Nehmen sie mit der Versicherung einer Schönheit vorlieb, die durch die Mehrheit der Stimmen, vor dem kritischen Richterstuhle der Männer anerkannt ist...«[8] Das ist alles, was über Klara von Bourgs Äußeres gesagt wird. Die Schönheit hat nicht die Kraft zur Differenzierung weiblicher Individualität, sie hat den selben Wert wie die Eigenschaften, die sich in der Erziehung zur Hausfrau, Gattin und Mutter erwerben lassen. Gemeinsames Kennzeichen dieser Fertigkeiten ist gerade ihre allgemeine Disponibilität, die Tatsache, daß jedes Mädchen sie erlernen kann, vorausgesetzt, die häuslichen bzw. schulischen Verhältnisse sind auf die Erziehung zur eigentlichen »Bestimmung des Weibes«, der »zur Hausfrau, Gattin und Mutter«,[9] ausgerichtet. Die Frauenromane übernehmen die Formel von der »dreifachen Bestimmung des Weibes«, die sich im Diskurs der Pädagogen über die Notwendigkeiten und Ziele der Mädchenerziehung allmählich durchsetzt; in ihnen werden weibliche Schönheit und weibliche Bestimmung austauschbar. Über Klara von Bourg muß die »Vesicherung ihrer Schönheit« genügen, denn:

»Ihr Fleiß, ihre Erziehung und die außerordentliche Neigung, ihre Kenntnisse ohne allen systematischen wissenschaftlichen Unterricht zu erweitern, haben das Frauenzimmer gebildet, welches in der ersten Blüte des Lebens das Auge entzückt und das Herz rührt. Soll ich ihnen nun noch skizzieren, was für Augen, was für eine Nase, was für einen Mund, und welche göttliche Leibesgestalt dieses reizende Weib hat? Nein, mein Freund, daraus wird nichts...« (Klara, ebd.)

Und wie die »Bestimmung des Weibes« sich am Innern des Hauses, an der Verfassung der Familien und der häuslichen Zustände ablesen läßt, so müssen Leserinnen und Leser der Frauenromane den Blick auf das Äußere der Heldinnen richten, auf ihre Kleidung und auf ihr Verhalten, ihre Körpersprache, um sich ein Bild von ihnen zu machen.

II

Roland Barthes hat auf die Schwierigkeiten hingewiesen, in der Literatur die Schönheit zu beschreiben, sie erfahrbar zu machen, ohne auf einen anderen Code, auf ein ihr äußeres Zeichensystem Bezug zu nehmen.[10]« Die Frauenromane bestätigen diese Einsicht. Sie lenken den Blick von der äußeren Erscheinung der weiblichen Figuren ab und machen unter der Oberfläche ein zweites Zeichensystem sichtbar, das sich zwischen Signifikanten einer anderen Ordnung entspinnt. Es bezeichnet ein Innen, das notwendiges Korrelat der schönen weiblichen Vollkommenheit ist, sie allerst mit Leben erfüllt. Die Schönheit der Sternheim entspringt nicht äußerer Harmonie, sondern dem, was darunter liegt: »Kurz, ihr Geist und Charakter waren, was ihr ein unnachahmlich edles und sanftreizendes Wesen gab.« (Sternheim, S. 48) Sophie von La Roche formuliert an anderer Stelle noch deutlicher:

»Die Schönheit der Seele wird gewiß den Mangel der äusseren Reitze ersetzen. Die Eindrücke ihrer Tugenden werden ihre Gesichtsbildung verschönern, und sie wird dadurch mehr edle Herzen an sich ziehen, als durch Schminke, Geschmeide, Spitzen, Federn und allen Firlefanz der Mode, wodurch höchstens nur die flüchtige Bewunderung eines Thoren errungen wird.«[11]

Das Plädoyer für die »natürliche Schönheit« der Frauen richtet sich gegen höfische Gesellschaftsformen, weil sie »unser Gesicht, und das was man Physionomie nennt« als »eigentlichen Ausdruck unserer Seele« verdecken. Während eines Maskenballs sind »Augenbrauen, Schläfen und halbe Backen der Sternheim gedeckt und ihre Seele gleichsam unsichtbar; sie verlor dadurch die sittliche charakteristische Züge ihrer Annehmlichkeiten und sank zu der allgemeinen Idee eines Mädchens herab.« (Sternheim, S. 159). Dem Verschwinden von Masken, Schminke und Schmuck zugunsten der sichtbaren weiblichen Natur korreliert die Entdeckung der Tiefe des weiblichen Körpers.
Zum einen breitet sich also über die geforderte äußere Erscheinung die Schönheit auf den ganzen weiblichen Körper aus, erfaßt Innen und Außen gleichermaßen, indem sie sie unauflöslich aufeinander bezieht. Rosalie, die Heldin einer umfangreichen Briefsammlung, trägt zum Beispiel zwei Jahre lang dieselbe Kleidung und schafft es doch, immer wie neu angezogen auszusehen. Lotte Wahlstein betreibt eine regelrechte Ökonomie in Sachen Accessoires, sie überdeckt ihre bescheidenen finanziellen Mittel mit der beständigen Wiederverwendung von Bändern, Schleifen:[12] Einfachheit und Abwechslung bilden in diesem System keinen Widerspruch.
Zum anderen reduziert sich die Schönheit auf das Gesicht, vor allem auf die Augen. Die Augen sind in den Beschreibungen der Heldinnen von besonderer Bedeutung, sie sprechen, und zwar durch den Blick, der sie belebt, sei es, daß er hier seinen Ausgang nimmt, sei es, daß er hier auftrifft. Die Augen bzw. der Blick unterlaufen die Leere der Schönheit, weil sich in ihm verschiedene Linien schneiden. An ihrer Richtung wird deutlich, aus wessen Perspektive die Heldinnen, ihre Schönheit dargestellt werden: Richter über diesen Wert sind die Männer, ihr Diskurs entscheidet über den Status, mit dem sich die Frau fortan auf dem gesellschaftlichen Feld bewegt. Die Ordnung dieses Blicks scheint allein der Logik männlicher Verführung zu folgen, in der die Frau den Blick senkt, in der sie stumm bleibt. So erscheint Lotte Wahlstein, als sie von Brenkendorf erblickt wird und sich später erinnert:

»... erröthend bemerkte ich einigemal, daß es (sein Auge, HM) auf mich ruhte; ich hatte nicht den Muth etwas anderes mehr anzusehen, als ein Stück vom Fenster, auf welchen mein Blick gerade vor mich hintraf.« (Lotte I, S. 130)

Oft werden die Heldinnen auf diese Weise betrachtet und beschrieben. Bei den Männern, die dies tun, handelt es sich meistens um die zukünftigen Ehemänner, so daß hinter dem Blick weniger die Verführung als die Ehe auftaucht, d.h. die Ordnung, in der die Sexualität der Heldin sich an ihrer weiblichen Bestimmung ausrichtet. Die Frau als passives Opfer einer Verführung, die Frau als reines Objekt des Blicks — die Perspektiven vermischen sich, zeigen aber in jedem Fall eine Frau, deren Identität sich entziffern läßt.
In welchem Maße sich die Sichtbarkeit, die beständige Erforschung des weiblichen Innern und Äußern durchsetzt, läßt sich an der Bedeutung der Ärzte in den Frauenromanen nachzeichnen. Gerade weil sie über den wissenschaftlich begründbaren und gleichzeitig objektiven Blick verfügen, sind sie die Instanz, die unverfänglich und neutral über die Weiblichkeit Auskunft zu geben vermag.[13]
Demgegenüber werden durch einige Konstellationen zwischen den Heldinnen und ihren männlichen Gegenüber in der Verführung andere Gewichtungen hergestellt. Dieser Eindruck entsteht durch die Situation, die als Höhepunkt der »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« gelten kann und in der ihre Identität direkt auf dem Spiel steht. Diese Situation nimmt von ihrer Schönheit ihren Ausgang, sie geht in der Enthüllung der Sternheim in der doppelten Bedeutung des Wortes am weitesten. Als sie nämlich von Derby unter falschen Vorspiegelungen geehelicht und in ein Gasthaus entführt worden ist, kommt es beinahe zu ihrer Vergewaltigung. Derby, der Verführer par excellence, kommt zu ihrer Abendtoilette hinzu, sie kleidet sich gerade aus:

»Miltons Bild der Eva kam mir in den Sinn. Ich schickte ihr Kammermensch weg und bat sie, sich auf einen Augenblick zu entkleiden, um mich so glücklich zu machen, in ihr den Ausdruck des ersten Meisterstückes der Natur zu bewundern. Schamröte überzog ihr ganzes Gesicht; aber sie versagte mir meine Bitte geradezu; ich drang in sie, und sie sträubte sich so lange, bis Ungeduld und Begierde mir eingaben, ihre Kleidung von Hals an durchzureißen, um auch wieder ihren Willen zu meinem Endzweck zu gelangen.« (Sternheim, S. 190)

Die Sternheim wehrt diesen Übergriff ab — der Text markiert das überdeutlich, indem er den Herausgeber in einer Anmerkung fragen läßt: »Warum wurde sie dennoch so ungehalten? Warum sagte sie, er zerreiße ihr Herz da er doch nur ihr Déshabillé zerriß?«. Die Reaktion der Heldin — »Mylord, Sie zerreißen mein Herz und meine Liebe für Sie; niemals werd' ich ihnen diesen Mangel feiner Empfindungen vergeben!« (Sternheim, ebd.) — kehrt die Verführung gerade um, indem sie die Lust der Augen durch die Lust des Gefühls ersetzt. Was so sichtbar wird, ist nicht so sehr der vollkommene weibliche Körper, die vollkommene Schönheit, sondern ihre Scham, die Beschaffenheit ihrer Seele und ihrer Moral, die die wahre Unschuld der Heldin sichtbar machen. Die Verführung verliert durch diese Umwertung ihre Kraft. Eine Geschichte der Verführer und ihrer Rolle in den Frauenromanen könnte belegen, daß ihre Zeit dem Ende entgegengeht.[14]
Die Enterotisierung der Augen, der kalte Blick, von dem Mattenklott spricht und der sich hier auf Seiten der Frau behauptet,[18] begünstigt die entstehende Ideologie der »Liebe auf den ersten Blick«. In diesem Modell scheinen zwar Gefühl und Augensinn zusammengeschlossen, letztlich aber ist diese Liebe nur eine Ökonomie, in der der Besitz von Positionen verteilt wird, in der sich ein Paar gemäß gesellschaftlicher Anforderungen an die »Polarisierung der Geschlechter« organisiert. In den Frauenromanen finden sich schon Vorläufer dieser »romantischen Idee«; im »Tagebuch einer jungen Ehefrau« ist die Verbindung der Heldin mit ihrem Ehemann immer schon gesetzt:

»Wir liebten uns , sobald wir einander erblickten, und keines hatte nöthig, es dem anderen zu entdecken; unsere Herzen wurden gleich unzertrennlich miteinander verbunden.«[16]

Auch hier nimmt die Liebe des Mannes vom Anblick der Frau ihren Ausgang, sie entzündet sich an ihrer Schönheit, die durch die Rhetorik ihres Gesichts und ihres Körpers die Wahrheit über sich ausspricht, ohne sie zu kennen. »Das ist eben die wahre Tugend, daß sie selbst davon (von der Schönheit, HM) nichts wissen wollen, bleiben Sie in dieser reizenden Unschuld« — so der Rat an Eleonora v. Lusani, der die Reflexion auf das eigene Ich ausklammert, sei es im Spiegel, im Portrait oder im Wissen. Was aber immer noch gefordert wird, ist die zivilisatorische Leistung dieses weiblichen Blicks, seine kalkulierbare Auswirkung auf die Männer:

»...denn ein blühendes Gesicht, eine unschuldsvolle Miene, und ein solches Betragen, als das ihrige, hat für Personen, welche nur mit schlechten Weibspersonen umzugehen gewohnt gewesen sind, doppelten Reiz.« (Tagebuch, S. 140f.)

Hier wird der männliche Blick auf die Frau entschärft, verschoben — Baudrillard spricht von »Verführung« gerade im Sinn von »Ablenkung«.[17] In dieser Umkehrung macht sich der Einsatz des Weiblichen im gesellschaftlichen Feld bemerkbar, der den normierten Entwurf weiblicher Identität, die »dreifache Bestimmung«, unterläuft.
Auf der Ebene der Darstellung nimmt die Beschreibung der Heldinnen von der Schönheit und der Unschuld ihren Ausgang. Im Geflecht der Blicke, in dem diese beiden globalen Zeichen entziffert werden, werden die Konturen ihrer Identität abgesteckt. Aber es macht zugleich deutlich, wie sich die einzelnen Terme des Weiblichen auf die Männer beziehen und gerade durch diesen Bezug ihren Sinn erhalten. In der totalen Vollkommenheit der Heldinnen wird überdies der Mangel als komplementäre Eigenschaft markiert. Gerade vor dem Spiegel fängt die Herzogin an, »etwas, das ich selbst nicht zu nennen wüste, zu bedauern« (Karoline, S. 137). Die weibliche Figur kann zwar zur idealen Heldin werden, offenbart aber die Unbeweglichkeit, die ihrem Geschlecht verordnete Starrheit. Ihre Fragen nach dem Ich werden nicht beantwortet, lassen sich nicht beantworten, es sei denn, sie akzeptierte die weibliche Bestimmung, versuchte sogar, »Weib wie es seyn soll« zu sein. Wird das aber nicht dargestellt, werden die häuslichen Zustände nicht zum Thema des Romans, so sind die Risse zu spüren, die Frauenromane können das ideale Bild der Weiblichkeit nicht bruchlos repräsentieren. Sie lesen sich deswegen auch als Einführung in die Geschichte bürgerlicher Weiblichkeit, ihre Orte und Funktionen. Es ist, als hätten sie sich die detaillierte Darstellung des »Effekts Frau«[18] zum Ziel gesetzt und lösten auf dieser Ebene die Identität der Heldinnen im Konnotationssystem »Weiblichkeit« auf.

III

Diese Beobachtung wird durch einen anderen Diskurs unterstützt, der in den Frauenromanen gehalten wird. Auf der Ebene des Textes wird die weibliche Identität nochmals thematisiert. Dies führt in jene Welt der Bücher und der Schrift, von der ich oben schon gesprochen habe, und der Bedeutung, die sie für die weiblichen Figuren haben. Die Heldinnen sind immer Leserinnen. Das Lesen, die Lektüre beschäftigt die Frauenromane schon allein deswegen. Als Hilfsmittel jeder Erziehung für Frauen ist das Lesen unbestritten, die Ausbildung der Mädchen kann diese Fertigkeit nicht außer acht lassen. Differenzierungen setzen erst bei der Auswahl geeigneter Gegenstände ein. Auch hier tauchen vor allem Gefahren auf, die durch falsche Bücher ausgelöst werden: Erregung von Leidenschaften oder auch, auf die Einschätzung der eigenen Person bezogen, die Erregung von Eitelkeit. Die Herzogin von C xxx führt ihre Fragen nach sich selbst auf falsche Bücher zurück, die sie aus der Bibliothek ausgewählt habe: »Und was für Waare wählt nicht ein sich selbst überlassenes unerfahrenes Ding.« (Karoline, S. 136f.) Es gibt viele Beispiele für die Auswirkungen der Lektüre auf Frauen. Am interessantesten ist hier vielleicht eine Form, die schon Zeitgenossen kritisieren, wenn sie das Lesen von Romanen bei Frauen vor allem deswegen beanstanden, weil in ihnen die Frauenfiguren zu vollkommen seien,[19] so daß die Leserinnen entweder die Wirklichkeit verkennen oder das Ideal weiblicher Identität außer Kraft setzen. Immer steht die Ausbildung der weiblichen Einbildungskraft, der Phantasietätigkeit zur Diskussion, die sich an Büchern auf eine spezifische Weise entzündet.
Dies wird in einem Roman selbst Thema. Lassen wir noch einmal die Herzogin zu Wort kommen, in jener Situation, die sie vor dem Spiegel zeigt:

»Ich hatte schon einige Zeit her, an einem meiner Geschichte ähnlichen Roman geschrieben; ich war eben in der Schilderung meiner Heldin, die ich aus verschiedenen dichterischen Federn entlehnte, begriffen; ich suchte ihr alle Vollkommenheiten zu geben, denn ohne dieser Empfehlung glaubte ich nicht, daß die Geschichte Eindruck machen könnte... Ich hatte die geschriebene Skizen noch in der Hand, als ich so ungefehr vor den Spiegel trat. Meine Einbildungskraft von dem Gemälde erfüllt, das ich jetzt zu vollenden dachte, glaubte ich auf einmal, das Urbild wahrhaft durch eine Zauberkraft vor mir zu sehen; ich war so vertieft, daß es mir nicht gleich einfiel,daß ich selbst nur vor dem Spiegel stand; als ich mich aber wieder besann, fiel ich in keine geringe Verwunderung, an mir mittels des Spiegels alle die Züge zu bemerken, die ich auf dem Papier meiner Heldinn gegeben.« (Karoline, S. 137)

Auch auf dem Portrait, das sie in Auftrag gibt, ist die Herzogin mit »Blättern« in der Hand zu sehen, hier geht es also nicht mehr nur um das Lesen, sondern um das Schreiben, um den Entwurf eines Romans. Während aber auf der Ebene der Darstellung die Bilder von ihr, sowohl die Gegenüberstellung im Spiegel als auch durch den Maler vermittelte Gegenüberstellung im Gemälde, für die Handlung von Bedeutung sind, sie weitertreiben, verschwindet dieser »Roman«, der ihrer Geschichte so »ähnlich« ist. Aber nur auf den ersten Blick, wie sich zeigt, wenn man den ganzen Roman betrachtet.
In »Karolinens Tagebuch ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine«, so der Titel des Textes, dessen Herzogin uns so ausführlich beschäftigt, tauchen die Spuren dieses »Romans« an anderer Stelle wieder auf. Die Geschichte dieser Heldin hat für den gesamten Roman denselben Stellenwert wie für sie die Erfindung >ihres< Romans. Auf der Suche nach der eigenen Gestalt hat die Herzogin geschrieben. Im Spiegel und auf dem Portrait ist das Geschriebene immer dokumentiert, der Roman existiert, schon bevor sie explizit die Fragen nach dem Ich formuliert. Aber während der Spiegel das Bild von ihr zwischen Mangel und Vollkommenheit festhält und die Betrachtung des eigenen Bildnisses im Gemälde sie melancholisch macht, weil ihre Gestalt im Kunstwerk gerinnt und in die Nähe des Todes gelangt, passiert in der Schrift etwas anderes. Die Schrift belebt sich durch eine »Zauberkraft«, die »poetisch gemalte Heldin«[20] tritt in die Wirklichkeit, die Herzogin ist nicht mehr in der Lage, zwischen »Urbild« und realer Gestalt zu unterscheiden, sie findet an sich selbst die imaginierten Züge ihrer Heldin wieder. Im Schreiben eröffnet sich der Raum für die Erfindung eigener Möglichkeiten, eigener Bilder von sich selbst. Was der Roman der Herzogin, von den wir weiter nichts erfahren, markiert, ist das Schreiben selbst, Erfahrungen, die in der schriftlichen Arbeit mit der Sprache stattfinden.
Damit ist die Schnittstelle zwischen der Herzogin und der .eigentlichen' Heldin des Romans Karoline benannt. Ihr Name gibt dem Roman seinen Titel. Der Roman selbst führt aber in ein Labyrinth verschiedener Texte, verschiedener Bücher, auf die Wege verschiedener Heldinnen, die nur durch ihre Verknüpfung den Roman als ganzen konstituieren. Er enthält zuerst das Tagebuch Karolines, ihre Briefwechsel mit ihrer Schwester und ihrem »Schreibmeister«. Als der Briefwechsel mit ihrer Freundin Eleonora v. Lusani aufgenommen wird, spricht Karoline von einer »Schreibübung«, und als diese von ihren Erlebnissen infolge einer Entführung berichtet, tritt eine dritte Heldin auf, eben jene Herzogin von Cxxx Karoline beginnt aus derselben Erfahrung wie die Herzogin zu schreiben: als es um ihre Heirat mit Karl R. geht: »Es betrifft die Veränderung meines Standes; Karl Rxx soll mich umschmelzen, er soll mir seinen Namen geben...« (Karoline, S. 142) Im Tagebuch will sie sich über die Veränderungen Rechenschaft ablegen, die das für sie bedeutet. Schon bald aber verselbständigt sich das Schreiben. Mit den neuen Heldinnen vervielfältigt sich der Text. In das Tagebuch brechen andere literarische Formen ein, zunächst der Briefwechsel mit ihrer Freundin, dann die Geschichte der Herzogin, die vom Schreibmeister Karolines als »Erdichtung« kritisiert wird:

»Erst gestern sagte mir ihre Fräule Schwester, die Fräule Lusaninn hätte ihr in keinem Brief, deren sie doch schon etliche erhalten, ein Wort davon (von der Geschichte der Herzogin, HM) gemeldet.« (Karoline, S. 259)

Wie das Tagebuch auf diese Weise gesprengt wird, hält der Roman fest, indem er die Bruchstellen zwischen den verschiedenen Texten immer doppelt motiviert: einmal durch die allmählich heranrückende Hochzeit Karolines, zum anderen durch das Thema Schreiben, das für alle drei Heldinnen relevant ist: alle haben die gleiche Lust zu schreiben, desto öfter verhaspelt sich die Autobiographin:

»...ein flehender Blicke (von Karl, HM) brachte mich in eine Lage, die ich selbst nicht zu nennen weis...mein Glück, daß ich vor keinem Spiegel stund...Wie viel litte nicht mein Stolz, da mir meine Sinnen, als meine bisher so getreue Unterthann den Gehorsam aufsagten, mich verwirrten und der Macht meiner Vernunft trotzdem...ach nichts...Nein gar nichts will ich mit diesen ungestümmen Geschöpf zu thun haben — fort mit ihnen; ich will lieber fortfahren, meiner Freundin Abentheuer dir zu beschreiben.« (Karoline, S. 1O1f.)

Das Schreiben als Fluchtlinie: als sei das Abenteuer der Schrift allemal spannender als die Befragung der eigenen Situation, der eigenen Identität. Die Heldinnen verschwinden, als die Autobiographin aufhört zu schreiben; der Roman bricht ab, weil die Schriftstellerin im Ehestand nicht schreiben darf. Karoline karikiert selbst die neue Identität als »Hausfrau, Gattin und Mutter«, indem sie sie den außerordentlich fiktiven Begebenheiten ihres Schreibens gegenüberstellt: »... eine matte Geschichte...Es wird heißen: Nanette und Karoline zwey Schwestern von ehrlichen Aeltern sind, die eine Anno 1761, die andere Anno 1763 geboren worden, haben gegessen und getrunken, sind groß gewachsen, haben beyde an einem Tag Anno 1771 geheyrathet, und sind Anno - das weis ich jetzt noch nicht, gestorben.« (Karoline, S. 302f.)
Karoline redet von sich in der 3. und in der 2. Person: »Arme Karoline, wie wird es um dich aussehen, wenn der Karl nicht der beste von allen Männern ist...« (Karoline, ebd.) Sie gibt die Frage nach dem Ich an den Roman, an seinen Ursprung im Tagebuch zurück.
Im Schreiben, im Text kann die Frage »Wer ist sie?« auf eine andere Weise ins Spiel gebracht werden. Der Roman von Maria Anna Sagar ist dafür ein Beispiel. Er ist die kunstvolle Ineinanderschachtelung des Schreibens und zugleich Diskurs über das Schreiben. Er öffnet einen Raum der Schrift, in dem das Subjekt, auch das schreibende, bereits verschwunden ist. Dem Ich in der poetischen Immanenz der Schrift entstehen gerade dadurch erst Möglichkeiten. Während die Gestalt der Titelheldin und die Instanz der Autobiographie die Existenz eines empirischen Ich bzw. die eines realen Subjekts des Textes suggeriert, spricht der Roman von sich als »Nichts«, weist damit auf die andere Ordnung der Schrift hin. Am Ende wird die Geschichte von Karolines Verlobung und Heirat als lediglich »matte Geschichte« karikiert; in der Vorrede hatte es bereits geheißen: »...wollen sie (meine lieben Leserinnen, HM) mit Nichts und was ist ein Tagebuch ohne
ausserordentliche Handlungen änderst, ihre Zeit versplittern?« (Karoline, Vorrede) Aber im Schutz dieses Nichts kann sich das Schreiben entfalten. Die Autobiographin, reales Subjekt des Schreibens, räumt der Schriftstellerin ihren Platz ein; Karoline, als Heldin Subjekt auf der Ebene der Darstellung, tritt ihn der Herzogin ab. Das Abenteuer der Schrift mündet in ein unendliches Schreiben, ohne Anfang und Ende, einen offenen Text, der andere in sich aufnimmt, voraussetzt, inszeniert. In dieser Praxis dokumentiert sich die Lust zu schreiben, die Autorin spricht von »Schreibsucht«, (Karoline, S. 6) davon, daß sie »in das Schreiben ganz verliebt sei«. (Karoline, S. 39)
Vom »Kahos« des Tagebuchs geht sie allmählich zur systematischen literarischen Produktion über, zur »Erfindung von Romanen«. (Karoline, S. 256) Die Frage nach der Identität der Heldinnen wird dabei immer wieder verschoben — durch die Perspektive auf eine neue Heldin.
Durch das Labyrinth, das so entsteht, führt bei Maria Anna Sagar der Diskurs über das Schreiben. Er taucht auch in den anderen Frauenromanen auf, nicht nur Li den erwähnten, wird aber bei keiner Schriftstellerin des 18. Jahrhunderts so weit getrieben wie hier. Die Autorin benutzt die literarische Form des Romans für die Formulierung eines ästhetischen Programms, das Weiblichkeit und Schreiben zusammendenkt, zusammenführt. »Karolines Tagebuch ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine« macht zum einen die Abwesenheit zum Thema, die mit der »Bestimmung des Weibes« gesetzt ist. Der Roman markiert aber darüberhinaus in der Schrift das Verhältnis von An- und Abwesenheit selbst und zeichnet die Spuren der Frauen, ihre Selbstentwürfe auf. Die Frage »Wer ist sie?« muß offen bleiben.

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