In den Netzen des Sinns

Eine Untersuchung der diskursiven Zwänge im semantischen Feld »menschlicher Bindungen«*

  • * Übersetzung und Bearbeitung von H. Woetzel und M. Geier
    (Wir danken Otto Winkelmann vom Rom. Seminar der Univ. Mannheim für
    wertvolle Übersetzungshilfen.)

»Widerstrebend werdet ihr zurückkommen
Denn während ihr frei und gefangen geht
Bleibt ihr in meinen Netzen.«
Lope de Vega

1. Vorbemerkung

»Der Linguist berücksichtigt den Wunsch nicht. Auch wenn er im Diskurs des begehrenden Subjekts die Gesetze seiner Wissenschaft wiedererkennen kann und in den Wirkungen des Primärprozesses alle Arten von Formen, die er selbst gut kennt, etwa die assoziativen Beziehungen des 4. Typs von de Saussure, so kann er sich dafür doch nicht in der Weise des Analytikers interessieren. Er sollte es auch garnicht versuchen. (...) Wenn der Linguist etwas zu sagen hat, dann allein über die Worte eines Subjekts, von dem man nicht zu wissen braucht, ob es etwas zu sagen hatte.« (Octave Mannoni 1969, 55)
Die folgenden Überlegungen sind in bestimmter Hinsicht gegen diese Behauptung eines Psychoanalytikers gerichtet. Sie stehen im Rahmen einer linguistischen Forschung, die sich seit den ersten Arbeiten von Emile Benveniste breit entwickelt hat und auf die Äußerungen des Subjekts zielt. Untersucht werden die Spuren des Subjekts in seinem Diskurs, die Wirkungen der Subjektivität in der Sprache. Gegenstand ist also gerade jenes »etwas-zu-sagen-haben«, über das Mannoni zufolge der Linguist nichts zu wissen braucht. Es ist ein Sagen, das sich in den Grenzen des Sprachssystems bewegt, mit ihrer gesicherten Unterstützung oder gegen sie. Hat der Linguist also nicht allen Grund, das geregelte Sagen zu untersuchen und seine möglichen Verzerrungen?
Obwohl die Auffassungen der Linguisten über das »sprechende Subjekt« sich im allgemeinen von denen der Psychoanalyse über das »begehrende Subjekt« sehr unterscheiden, so gibt es doch auch viele Möglichkeiten der Begegnung. Besonders angesichts der bekannten sprachlichen Mechanismen, die Roman Jakobson als »shifter«, personalpronominale »Verschieber« analysiert hat, ist die implizite oder explizite Anwesenheit eines Äußerungssubjekts unübersehbar geworden. Der Linguist hat auch etwas zu sagen über das Subjekt, das »etwas zu sagen hat«.
Ich werde im folgenden Beispiele für gestörte Mechanismen untersuchen, als Anzeichen dafür, daß etwas vom Subjekt in ein- und derselben Bewegung sprachlich sich maskiert und enthüllt. Dabei gehe ich von der Annahme aus, daß sich Subjektivität notgedrungen durch die Zwänge der Sprache hindurch »ausdrücken« muß, sei es, daß der Sprecher sich ihnen zu entziehen versucht (mit den Risiken des Idiolekts), wie es z.B. Apollinaire getan hat, sei es, daß er sie, wie z.B. Roland Barthes, mehr oder weniger beabsichtigt unterläuft, der die Sprache zu betrügen aufruft, oder sei es schließlich wie bei Mannoni selbst, der von den Psychoanalytikern weiß, daß »sie ihre Interpretationen in der Umgangssprache geben«, der sie nicht entkommen können. (Eine linguistische Analyse dieses Phänomens gibt. F. Gadet 1981).
Die Fälle, die uns beschäftigen werden, entstammen der Alltagsrede. Sie präsentieren sich wie eine Bastelei, ein manipulierendes Spiel mit den Zwängen der Sprache. In fehlerlinguistischer Perspektive mag man sie als Nicht-gut-Gesagtes, Falsch-Gesagtes, Unpassendes oder Inkorrektes betrachten, als Verstöße gegen die Grammatikalität. Grundsätzlich entspringen sie sprachlichen Substitutionen und Syntagmatisierungen, die gegenüber der sprachlichen Ordnung als »bizarr« oder seltsam erscheinen und dabei semantische Abweichungen produzieren, die nur in ihrer Spannung zu sprachlichen Beschränkungen möglich und erkennbar sind. Lapsus und »Kofferwörter«, zuerst von der Psychoanalyse thematisiert, können dabei als die klassischen Modelle solcher Abweichungen gesehen werden, die oft nach De Saussures 4. Typ von analogischen Relationen gebildet sind (vgl. Saussure 1967).

2. Drei Beispiele

Betrachen wir zunächst drei Beispiele, deren syntagmatische Anomalie etwas vom latenten Diskurs des Subjekts signalisiert:

  • (1) Pour combien de temps vous mariez-vous?
    (Für wie lange heiratet ihr?)
  • (2) Quand je realise combien tu es marie (union libre evidemment, mais pour moi c'est indem) je me dis que je dois cesser de l'aimer puisque tu n'es pas libre. (Wenn ich daran denke, wiesehr du verheiratet bist, (zwar in wilder Ehe, aber für mich ist das das Gleiche), dann sage ich mir, daß ich aufhören muß, dich zu lieben, weil du nicht frei bist.)
  • (3) Elle m'a conjugue toute la nuit.
    (Unübersetzbar; gemeint war: Sie hat mir die ganze Nacht beigeschlafen.)

(Dieses dritte Beispiel muß kontextuell erläutert werden: es wurde von einem Deutschen geäußert und die Anapher »eile« (sie) bezeichnete eine Katze, die jene Nacht in seinem Bett zubrachte.) Man bemerkt ohne weiteres, daß diese Sätze eines mehr oder weniger normalen Diskurses in einem priviligierten Feld der Subjektivität angesiedelt sind. Ich bezeichne es als semantisches Feld der (Ver-) Bindungen (champ sémantique du lien). Anhand der sprachlichen Ungewöhnlichkeit der drei Beispielsätze (semantische Unvereinbarkeit, Agrammatikalität, Ambiguität, Polysemie bzw. kontradiktorischer Gebrauch bestimmter Ausdrücke) will ich zu zeigen versuchen, wie in der Sprache institutionelle Zwänge widergespiegelt werden, und zwar weder auf eine rein mechanische Weise noch als ein rein historisches Verhältnis. Was mich interessiert, ist das Netz des sprachlichen Sinns, in dem sich jedes Diskurssubjekt als solches konstituiert, davon ausgehend auch als Subjekt des Wunsches. Es geht um die (Ver-) Bindungen (liens), die das Subjekt an die Institutionen in einem Diskurs knüpfen, ohne daß es ihnen entkommen kann.

Satz (1) — »Für wie lange heiratet ihr?« — erscheint unakzeptabel durch die Dauer, auf die fragend intendiert wird. Gänzlich unannehmbar wäre es als Äußerung eines Standesbeamten, dessen Wort die Ehe als solche für gültig erklärt. Man würde ihn wohl aber ebenso für unangemessen halten, wenn ihn etwa die Mutter vor oder nach der Feierlichkeit der Eheschließung zu ihrer Tochter äußern würde. Auch wenn jeder Bescheid weiß über die Möglichkeit und Häufigkeit von Scheidungen, so verhindert der institutionelle Charakter der Ehe doch eine »normale« Frage nach ihrer vermeidlichen Dauer. Zu Recht hätte die Verlobte/Verheiratete, wenn die Frage an sie gestellt würde, den Eindruck, daß hierein »sprachlicher Mißbrauch« (Strawson 1952) vorliegt. — Es bedürfte schon des zynischen Diskurses Don Juans, der die Institutionen verhöhnte, um, wie Sganarelle, solche Sätze konstruieren zu können wie: »Nein, Ihr braucht keine Angst zu haben, er heiratet Euch, soviel Ihr nur wollt« oder: »Aber, wenn man so sieht, wie Ihr Euch alle Monate verheiratet...«. Selbst wenn heutzutage eine Aussage wie: »Ich heirate für eine bestimmte Zeit« vielleicht belegbar ist, so kann sie doch kaum der alltäglichen Rede entnommen sein, trotz des gern zugestandenen Abbaus der Ehe als dauernder Institution. Im Sprechakt der Eheschließung geht man noch immer von ihrer Dauerhaftigkeit aus.

Auch Satz (2) ist seltsam, sowohl hinsichtlich seiner Syntax wie seiner Logik. Dabei muß man nicht einmal wissen, daß der/die Adressat/in dieses Satzes nicht verheiratet ist, sondern in »wilder Ehe« lebt. Man wird bereits irritiert durch die exklamative Wendung — »wie sehr du verheiratet bist« — , die nach dem Vorbild: »Ich merke, wie schön (intelligent, verlogen usw.) du bist« gebildet ist. Offensichtlich unterliegt der Gebrauch von »verheiratet« besonderen Einschränkungen. — Auffällig ist ferner die Konfusion des scheinbaren Schlusses, der formal so dargestellt werden kann:
1. eine Äquivalenz: p1 = p2
2. eine Implikation: wenn (p1 = p2), dann nicht — q, wobei p1 = verheiratet sein
p2 = zusammenleben in wilder Ehe (être en union libre)
q = frei sein (être libre).

Fürs erste muß ich mich hier mit dem Hinweis begnügen, daß die Semantik von frei sich als äußerst komplex herausstellen wird. Ich werde darauf noch näher eingehen.
Satz (3) — »Elle m'a conjugue toute la nuit« — ist offensichtlich ungrammatisch, gleichgültig, ob der Fehler beabsichtigt und als Wortspiel wohlüberlegt war oder der Zweisprachigkeit des Sprechers zuzuschreiben ist. Man erkennt, daß die zwei französischen Formen conjoindre (sich ehelich verbinden) und conjuguer (sich verbinden, paaren; konjugieren), die aus demselben Etymon conjungere hervorgegangen sind, sich in ihren Gebrauchsweisen spezifiziert haben. Wichtig geworden sind die Merkmalskategorien (+menschlich/ — menschlich), die besonders für die mit (+menschlich) markierten
Elemente der Reihe conjoindre entscheidende Restriktionen bedeuten.

3. Analyse des Verbindungs-Feldes

Um die signifikanten Unterschiede im Innern des semantischen Feldes von (Ver-)Bindungen zu analysieren, werde ich mich an die folgenden drei Reihen von Ausdrücken halten:
- s'attacher (sich anhängen), se lier (sich liieren), se marier (sich verheiraten) — als Ausdruck von Handlungen;
- attachement (Bindung), lien (Band, Fessel; — als Ausdruck affektiver Zustände;
- mariage (Heirat), liaison (Verbindung) — als Ausdruck eines sozialen Status bzw. Halb-Status;
- sowie an die entsprechenden Adjektive: attaché (anhänglich), lié (liiert) und marié (verheiratet).

Mit diesen Wörtern werden bestimmte lexikalische Manipulationen durchgeführt: welche Adjektive lassen sich anfügen? welche Adverbien? welche Präpositionalphrasen? Auch syntaktische Proben werden angestellt: welche Möglichkeiten der Steigerung gibt es? welche exklamativen Konstruktionen sind möglich? Das linguistische Basteln soll uns Einsichten in das syntaktische Funktionieren der (Ver-) Bindungswörter liefern und in die damit zusammenhängenden semantischen Eigenschaften der Sprache. Ich werde auch zu klären versuchen, in welchem Ausmaß die feststellbaren Unterschiede auf ein (»transzendentes«) Element bezogen werden können, das deren Spiel bestimmt. (Vgl. Gross 1968).
Die Adjektive des Korpus lassen sich in zwei Klassen aufteilen, insofern sie steigerungsfähig sind oder nicht und die exklamative Konstruktion erlauben oder verbieten (vgl. Nique 1974, 39 ff. und Vendler 1968):

i)    er hängt sehr (oder mehr oder wenigeren) an ihr (attaché)
ii)    er ist sehr (mehr oder weniger) gebunden (lié)
iii)    * er ist sehr (mehr oder weniger) verheiratet (marié).
vi)    er hat sich sehr liiert (lié)
v)    * er hat sich sehr verheiratet (marié)
vi)    wie (an-)gebunden er doch ist! (quill est attaché/lié)
vii)    * wie verheiratet er doch ist! (quill est marié).
Das Sternchen (*) charakterisiert das grammatisch Ungewöhnliche der Sätze und liefert einen ersten Hinweis auf die besondere Struktur des Verheiratet-Seins. Das kann unterstützt werden durch die Art und Weise möglicher Negationen:
viii) ich bin nicht liiert/gebunden (lié)
ix) ich bin nicht gänzlich gebunden (je ne suis pas lié absolument)
x)  ich bin nicht verheiratet (je ne suis pas marié)
ix) * ich bin nicht völlig/ganz verheiratet (je ne suis pas marié absolument)

Man erkennt, daß verheiratet sein (être marié) von einem definiten Ja und Nein abhängt und Modifizierungen verbietet. Auch der formelhafte performative Sprechakt bei der Trauung verlangt eine klar bestimmte Aussage und untersagt ein »ja, vielleicht« oder ein »nein, aber«. In dieser Hinsicht gleichen institutionsgebundene Handlungen wie Eheschließung oder Scheidung, aber auch Taufe oder Verbeamtung, bestimmten Naturakten und unterliegen vergleichbaren Einschränkungen, z.B. in Bezug auf ein Vorher und ein Nachher. Man kann sich so wenig ein bißchen verheiraten (se marier un peu) wie man ein bißchen sterben oder ein bißchen geboren werden kann. Nur bestimmte Redewendungen wie: »Abschiednehmen ist immer ein bißchen Sterben« oder ironische Wendungen gegen geheiligte Formen wie: »Fluch doch ein bißchen« (Sganarelle in Molieres Don Juan) sind als Ausnahmen möglich, deren Reiz gerade aus der Spannung zum allgemein Normalen und Geregelten stammt.
Auch die Verben des (Ver-)Bindungsfeldes zeigen einen ähnlich dichotomischen Aufbau. Auch wenn die Abspaltung von verheiraten (marier) gegenüber sich binden (s'attacher) und sich liieren (se Her) nicht so augenfällig ist wie im Falle der Adjektive, so unterscheidet sich der Status von marier doch beträchtlich von dem der beiden anderen Verben. Linguistische Experimente mit Pronominalisierungsformen liefern dafür erhellende Hinweise. Besonders die Analyse der reflexiven, der reziproken, der medialen und der inhärent-passivischen Lesarten pronominaler Konstruktionen läßt die besondere Stellung von marier linguistisch evident werden.
Die reflexive Lesart scheint unmöglich zu sein für se marier und zumindest zweifelhaft für s'attacher (sich an jemanden hängen) und se Her (sich liieren). »Ich verheirate mich selbst« ist sicherlich ungrammatisch und »Ich binde mich selbst« ist denkbar nur mit einer Ergänzung wie »durch einen Schwur«. Reziproke Lesarten sind möglich mit se Her und s'attacher,weitgehend ausgeschlossen bei se marier. »Sie hängen sich aneinander« ist sicherlich grammatikalischer als etwa »Sie verheiraten sich miteinander/gegenseitig« (»Ils s'attachent Tun à l'autre« contra »*ils se marient Tun à l'autre«). Als mediale Verben interpretiert, scheinen nur bewußt abwertende Wendungen der Art: »un homme, 9a se marie, ca s'attache« möglich zu sein. Schließlich bleibt noch die inhärent passivische Lesart zu untersuchen. Sie ist sicher möglich für se marier. Man verheiratet sich, wie man in Ohnmacht fällt, wo es ja auch keinen entsprechenden Aktivgebrauch gibt (»comme on s'evanouit...«).
Die hier nur kurz angedeutete linguistische Analyse läßt sich in ihrem Ergebnis durch folgendes Schema übersichtlich abbilden:

  reflexiv reziprok medial inhärent passivisch

s'attacher ? + ?   +
se lier                ? + ?   +
se marier - - ?   +

Die Nomen verteilen sich auf dieselbe Weise. Besonders ihre mögliche oder unmögliche Verbindung mit bestimmten Adjektiven liefert die linguistische Evidenz. So gibt es, im Rahmen des normalen Sprachgebrauchs, eine begrenzte Reihe institutioneller Adjektive, die sich ausschließlich auf die Ehe beziehen: z.B. standesamtlich, kirchlich, katholisch etc. Diese Adjektive lassen sich weder steigern noch können sie in exklamatorischen Sätzen vorkommen. In der Regel ist
»*eine sehr standesamtliche Heirat« (un mariage très civil) ungrammatisch, es sei denn, man versteht diese Wendung in einem (vielleicht ironisch) bewertenden Sinn, wie etwa bei:
»eine sehr christliche Heirat« (un mariage très chrétien). Andere evaluative Adjektive lassen sich sehr klar einteilen hinsichtlich der Nomen, mit denen sie verbunden werden können. So kann z.B. eine Ehe als glücklich oder unglücklich charakterisiert werden, als geglückt (réussi) oder mißglückt (raté), was man von einem attachement (einer Anhänglichkeit) nicht sagen kann. Hier heißt es vielmehr: zärtlich, leidenschaftlich, oberflächlich, heftig, treu, tief, usw. — Es ist nicht verwunderlich, daß man bei den mit Ehe verbindbaren Adjektiven solche wiederfindet, die Austin zur Kennzeichnung performativer Sprechakte benutzt hat: Glücken und Mißglücken hängen mit bestimmten Institutionen zusammen, deren Regeln öffentlich gefolgt werden muß. Dagegen sind die Adjektive der zweiten Reihe (zärtlich, leidenschaftlich, heftig usw.) bevorzugt für den privaten Bereich reserviert. Auch wenn es hier bestimmte metaphorische Verwendungsweisen gibt, die sich dem klaren Schema nicht einordnen lassen, so gliedert sich das Lexikon doch nach der wohlbekannten ideologischen Dichotomie zwischen »privat« und »öffentlich«.
In beiden Bereichen finden sich Adjektive, welche die Dauer und Festigkeit der jeweiligen Beziehungen bewerten. Das ist im Falle der Institution Ehe nicht verwunderlich, ist sie doch, falls sie glücken soll, auf Dauer angelegt und gescheitert, falls sich das gegebene Eheversprechen (»bis daß der Tod euch scheidet«) nicht einlösen läßt. Aber auch Verbindungen (lien) und Anhänglichkeiten (attachement) sind hinsichtlich ihrer »solidité« bewertbar. Das Begehren, das sich in ihnen manifestiert, tendiert zur Institutionalisierung. »Feste Bindungen« und »dauerhafte Beziehungen« nähern sich der institutionellen Gewalt der Ehe, auch wenn sie im »privaten« Bereich verbleiben. — Auch andere bewertende Adjektive lassen sich beiden Nomina-Klassen gleichermaßen zuordnen, öffentlich wie privat. Hier gibt es einen großen Spielraum von Bewertungen, der es weder verbietet, eine Ehe als gefährlich, unerträglich oder erstaunlich «zu bewerten, noch eine Verbindung oder Anhänglichkeit.
Der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Bereich zeigt sich dagegen deutlich angesichts möglicher und unmöglicher Präpositionalsyntagmen: Hochzeits- (-feierlichkeit, -kleid, -foto, -essen, -termin, -anzeige) beziehen sich auf ein öffentliches Ereignis und verbieten sich im privaten Sektor. Es gibt keine *Photographie d'attachement (Freundschaftsphotographie), auch keine *faire-part de lien (Verbindungsanzeige). Und eingeladen kann man zwar werden zu einer Hochzeit (invité à un mariage) oder zu einer Beerdigung, nicht aber zu einer Beziehung oder zu einer Liasion (* invité à un attachement/à une liasion).
Es lohnt sich in unserem Zusammenhang, die semantischen Eigenschaften von liasion genau zu betrachten, spielt dieses Wort doch im Grenzgebiet von Privatheit und Öffentlichkeit und wirft ein besonderes Licht auf die semantischen Netze im Beziehungsfeld. Obwohl nämlich heimlich und verborgen, so hat sich in die liaison doch auch die Institution eingeschlichen. Feststellbar sind syntaktische Eigenschaften, die liaison mit mariage (Heirat/Ehe) gemeinsam hat: mit jemandem verheiratet sein (être marié avec quelqu'un), mit jemandem eine Liaison haben (avoir une liaison avec quelqu'un). In beiden Fällen spielt das Merkmal (+menschlich) eine markierende Rolle. Man ist mit Menschen verheiratet und hat mit ihnen eine Liaison. Dagegen lassen attachement und lien nur das Merkmal (—menschlich) zu, das bei liaison ausgeschlossen ist. So kann man zwar von einer starke Beziehung zu einem Haus (un attachement très for à cette maison) und einer gefühlsmäßigen Bindung zu einem Hund reden (un lien affectif avec ce chien), aber kaum von einer Liaison (mit dem Haus oder dem Hund). Auch spricht man von einer glücklichen Liaison wie von einer glücklichen Ehe. Und in einer Äußerung wie: »Er war verheiratet und hatte zudem noch ein Verhältnis; so führte er einen doppelten Haushalt« (il êtait marié et il avait une liaison; il avait un double ménage) wäre es äußerst schwierig, liaison (Verhältnis) durch lien (Verbindung) oder durch attachement (Beziehung) zu ersetzen. Deutlich erkennbar ist also auch hier wieder der halb-institutionelle Charakter der Liaison. Sie steht auf der Grenze zur Institution, vergleichbar der wilden Ehe (concubinage) oder dem eheähnlichen Zusammenleben (concubinage notoire).
Damit soll dieser Punkt abgeschlossen sein. Die Untersuchung der syntaktischen und lexikalischen Eigenschaften sowie der pronominalen Funktionen teilt das semantische Feld der (Ver-)Bindungen in zwei Bereiche auf, in den öffentlichen und den privaten, entsprechend ihrer unterschiedlichen institutionellen Bindung und Orientierung. Mehrdeutig, ambig, ist dabei besonders der Ausdruck liaison. Seine Mehrdeutigkeit läßt auch die entsprechenden Verb-Formen nicht unbeeinflußt: se lier (sich liieren) und être lié (liiert sein) zeigen die gleiche Ambiguität und verweisen damit auf die Mehrdeutigkeit des »freien Zusammenlebens« (union libre), auf das ich nun näher eingehen werde. Der schematische Zusammenhang läßt sich so skizzieren: (s. Schema unten).

  Öffentlicher Bereich Privater Bereich
(Institution)    
se marier
(sich verheiraten)
etre marie
(verheiratet sein)
mariage
(Ehe/Heirat)
+ _
se lier
(sich liieren)
etre lie (liiert sein)
liaison
(Verbindung)

             +                 union libre
                                (Zusammenleben)

                              -

+
se lier
(sich binden)
ètre lié
(gebunden sein)
lien (Band/Bindung)
- +
s'attacher
(sich anhängen)
être attaché
(jdm/etw anhängen)
attachement
(Anhänglichkeit)
- +

4. Zur Ambivalenz der »Freiheit«

Die schillernde Bedeutung von liaison läßt sich jetzt auf einen Ausdruck hin befragen, der explizit noch nicht zur Sprache gekommen ist, auch wenn er in den untersuchten Ausdrücken immer impliziert war: Freiheit (liberté).
Deutlich erkennbar sind zunächst die Beschränkungen der Freiheit im Feld der Ehe. *Mariage libre wäre im Französischen kaum akzeptabel, obwohl man oft von erzwungener Ehe (mariage force) hören und lesen kann. Dieses Ungleichgewicht verweist auf die ganze Geschichte dieser Institution, die durch keine Prädikate der Freiheit bestimmt werden kann, selbst wenn sie, von einem juristischen Standpunkt aus betrachtet, freie Subjekte vorauszusetzen scheint (niemand kann, juristisch, gegen seinen Willen zur Ehe gezwungen werden). Indem die Alltagssprache mariage als einen Zustand fixiert, hält sie am Bewußtsein der Unfreiheit fest: »er/sie ist verheiratet, also ist er/sie nicht mehr frei.«
Deutlicher noch sind die Ausdrücke attachement, lien und selbst liaison durch Unfreiheit gekennzeichnet. * Un lien libre / * une liaison libre wären offensichtliche Widersprüche, contradictio in adiecto. Um hier ausdrücken zu können, daß man trotzdem frei ist, müssen persönliche Erklärungen hinzugefügt werden wie: »Ich bin diese Verbindung freiwillig eingegangen.« Damit scheint dann etwas von der vertrauten Dichotomie vor, die zwischen einer scheinbar vernünftigen, freien Entscheidung und den vielfältigen Zwängen besteht, die nicht zuletzt in der »Herrschaft der subjektiven Leidenschaft« zum Ausdruck kommen.
Der widersprüchliche Charakter des Freiheits-Ausdrucks wird besonders evident in der union libre, dem Ausdruck eines freien Zusammenlebens (in »wilder Ehe«). Das Wort libre, das die Beziehung offen als frei manifestieren soll, unterliegt strengen codifizierten Regeln, welche die ausgedrückte Freiheit illusionär werden lassen. So wenig eine * mariage tres civil (eine sehr standesamtliche Heirat) möglich ist, so wenig gibt es eine *union tres libre (ein sehr freies Zusammenleben, eine sehr freie wilde Ehe). Die Unmöglichkeit der Steigerung verweist auf den institutionellen Charakter dieser union libre, die als ein festes Syntagma lexikalisiert ist und in einem vielsagenden Verhältnis sowohl zur Ehe (mariage) als auch zur Liaison steht.
Im Unterschied zur liaison, wenngleich ihr durch den »privaten« Charakter verwandt, die sich gegen jede längere Dauer sperrt, impliziert die union libre einen Moment von Verläßlichkeit und Ausdauer, das sie mit der mariage teilt. Sie gewinnt dadurch einen institutionellen Charakter, auch wenn sie nicht staatlich oder kirchlich abgesegnet ist. Auch wenn es keinen bestimmten Zeitpunkt gibt, auch keine besondere Festlichkeit oder Festkleidung, um die union libre beginnen zu lassen, so hält der allgemeine Sprachgebrauch doch den »institutionellen« Charakter dieser Beziehung fest, etwa in der Form der vergleichenden Bevorzugung: »Ich lehne die Ehe ab, ich bevorzuge das Zusammenleben (die Ehe ohne Trauschein).« Je refuse le mariage, je prefere l'union libre. Auch findet sich hier die gleiche syntaktische Beschränkung wie bei der Ehe: sie kann nur durch das Merkmal (+ menschlich) ergänzt werden. Noch gibt es keine union libre mit einem Hund oder einem Esel.
Obwohl also durch union libre eine Institution bezeichnet wird, so spielt das Prädikat libre doch auch auf deren besonderen Charakter an und expliziert ihre Differenz sowohl zur Ehe wie zur Liaison. Sie ist »frei« im Verhältnis zu den Zwängen des bürgerlichen Gesetzbuches oder kirchlichen Gesetzes. Sie ist aber auch »frei« von der normenlosen und willkürlichen Herrschaft der Leidenschaft, die sich in variablen Liaisons durchsetzt. Libre prädiziert den besonderen Charakter einer union, die das Gesetz der kirchlich/staatlichen Institution ebenso ablehnt wie die Launen eines rein privaten Verhaltens. Der soziale Zwang der Ehe ist ersetzt durch eine Entscheidung, die unter dem Zeichen der Freiheit zu stehen scheint und die Existenz eines Gesetzes leugnet, obwohl der institutionelle Ausdruck union libre doch nur neue Regeln und Verpflichtungen signalisiert, die oftmals von stärkerer Wirkung sein können als die Zwänge der öffentlich sanktionierten Verbindung.

5. Der Lapsus als Subjektiver Spielzug

Vor dem Hintergrund dieser linguistischen Klärungen können nun auch die drei Beispielsätze, die uns als Ausgangsmaterial gedient haben, präziser interpretiert werden. Sie dokumentieren Möglichkeiten des Subjekts im Spiel mit den Regeln des Diskurses.
Die semantische Anomalie von Satz (1) »Für wie lange heiratet ihr?« ist leicht zu durchschauen als plumpe List eines Subjekts, das aus bestimmten Gründen die Institution der Ehe in Frage stellt und, in ironischer oder zynischer Brechung, ihren dauernden Zwang deutlich macht.
Die Agrammatikalität von Satz (2) »Elle m'a conjugue toute la nuit« drückt auf spaßhafte Weise einen Heiratswunsch aus, begünstigt durch die phonetische und etymologische Ähnlichkeit von conjuguer und conjoindre.
Interessanter und komplexer ist der Satz (3): »Wenn ich daran denke, wie sehr du verheiratet (marié) bist (zwar in wilder Ehe (union libre), aber für mich ist das das Gleiche), dann sage ich mir, daß ich aufhören muß, dich zu lieben, weil du nicht frei (libre) bist.«
In dieser komplexen Beziehung zwischen dem/der ausgesprochenen Geliebten (A), ihrem oder seinem Partner (B) und dem verliebten Subjekt (C) zeigt sich deutlich die Ambivalenz der Freiheit, die im semantischen Feld der (Ver-)Bindungen herrscht: einerseits wird die union libre (wilde Ehe) als Institution anerkannt, andererseits hält sich das sprechende und begehrende Subjekt durch die Verwendung von libre sein Begehren offen, selbst wenn es sich dazu zu überreden versucht, es aufgeben zu müssen. Denn eigentlich bleibt am »Trotzdem-Gesagten« festgehalten: ich kann dich lieben, weil du ja frei bist. Scheint im offen Gesagten »frei« nur in Bezug auf das Gesetz bestimmt zu sein (vermittelt durch die ausgedrückte Äquivalenz »mariage = union libre), so wird trotzdem an der Freiheit der/des Geliebten festgehalten, auch wenn sie wiederum durch etwas Nicht-Gesagtes, jedoch impliziert Ausgedrücktes eingeschränkt wird: A ist mit B zusammen, auch wenn das nicht aus Liebe, sondern aus Zwang geschehen mag (»wie sehr du verheiratet bist« bezieht sich steigernd auf das Gesetz und stellt das Liebesobjekt als unfrei vor).
So wird zur gleichen Zeit sowohl der Zwang des Liebesverhältnisses anerkannt und geleugnet: die union libre gilt als Verheiratetsein, aber dennoch als gesetzlich ungebunden, obwohl eine starke Bindung (attachement) zwischen A und B bestehen mag. Die ganze Aussage erhellt das Begehren des Subjekts C: A ist frei (ist nicht verheiratet und hat zu einer dritten Person eine bestimmte Bindung); A ist nicht verliebt in B (denn A ist »sehr verheiratet« und nur einem institutionellen Zwang unterworfen). In ein- und derselben Bewegung enthüllt die Aussage, daß das Begehren des sprechenden Subjekts auf Hindernisse trifft (A ist eine Bindung eingegangen), sich dadurch aber nicht verneinen läßt (A ist nicht verheiratet, also frei). Dieses mehrdeutige Spiel ist möglich, weil die Kofferkonstruktion attache und marie zugleich funktionieren läßt. Es wird unterstützt durch die widersprüchliche Semantik von libre, das im Netz gesetzlicher und begehrlicher Repräsentationen eine mehrfache Funktion erfüllen kann.
Vielleicht wird dabei auch deutlich, daß weder frei (libre) noch Bindung (lien) die geeigneten Begriffe sind, um jenes besondere Etwas des Begehrens auszudrücken, das außerhalb des staatlichen und kirchlichen Gesetzes liegt.[1] Mit diesen Wörtern kann sich das begehrende Äußerungssubjekt nur einiger Fixpunkte versichern, die es in seiner Unsicherheit und widersprüchlichen Situation unterstützen. Wenn A gegenüber B frei ist, ist A auch frei gegenüber C (oder wird es sein können). In dieser Perspektive trifft C schließlich die Wahl, auf die Unfreiheit von A hinzuweisen, auch gegen seine trotzdem bestehende Absicht, A als frei anzusprechen. Letzten Endes besteht die Wahl nur zwischen der Bindung und dem Nichts (entre le lien et le rien).[2] Dazwischen spielt die Freiheit ihre verwirrende Rolle.