Schüsse im Dunkel

Jedes Wesen ist besser lebendig als tot, Menschen, Elche oder Pinienbäume,
und wenn einer das verstanden hat,
wird er ihr Leben erhalten und nicht vernichten.
Henry David Thoreau, Leben im Wald

der Mann ist keine natürliche Spezies: Er ist eine historische Entwicklung.
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht

Triebfeder der Kultur: Die Jäger

Männer sind Experten darin geworden, ihre Zerstörungssucht zu rationalisieren. Es gibt Beispiele für Jagen und Töten von Natur und Tieren, vor denen viele vernünftige Männer, die noch nicht völlig ihren Gefühlen entfremdet sind, vor Angst und Abscheu davonlaufen würden. Doch wenn Gewalt als hehres Ziel verkleidet daherkommt, bleibt jede Schandtat unerkannt, wird sie nicht selten sogar hochgelobt. Auf solche Weise wird auch die Jagd stilisiert.
Freilich ist es absurd, eine Handlungsweise aus der Gesamtheit menschlicher Erfahrung herauszulösen, nur um sie als Triebfeder der Kultur präsentieren zu können. Doch genau diese zweifelhafte Ehre ist dem ältesten Gewerbe des Mannes, dem Jagen, zuteil geworden. Folgt man der gängigen anthropologischen Theorie, dann ist die Jagd »das integrierte Leitmotiv der Kultur«, [1] sie ist »der Schmelztiegel, in dem sich über die natürliche Auslese die Grundsubstanz für den Geist und den Körper des Menschen herauskristallisiert hat« [2] So gesehen ist der Homo sapiens ein natürlicher Räuber, dessen jägerische Umtriebigkeit zu den Errungenschaften der Zivilisation gerechnet werden muß. Ohne die Jagd würden wir uns heute noch auf der Entwicklungsstufe des Affen befinden.
Solches Theoretisieren ist für diejenigen, die die darin implizierte Unvereinbarkeit von Gewalt und männlicher Dominanz nicht nachvollziehen wollen, rätselhaft. Die Annahme, daß »unser Intellekt, unsere Interessen, Gefühle und die Basis unseres sozialen Lebens« [3] sich durch die Erfahrung der Jagd herausgebildet haben, enthält einen grundlegenden Irrtum. Der Gebrauch des Possessivpronomens »unser« wirft Frauen und Manner aller Kulturen und aller Zeiten in einen Topf, in den gemeinhin nur Männer gehören. Andere Forscher haben längst nachgewiesen, daß die Jagd keineswegs global verbreitet war. Außerdem ignorieren solche Spekulationen jegliches anthropologische Wissen, das deutlich macht, daß das Überleben weitaus mehr von den für das Sammeln und den Verzehr pflanzlicher Nahrung nötigen Voraussetzungen abhing als vom Töten von Tieren und vom Fleischessen. [4]
In Anbetracht der Häufigkeit, mit der Männer Krieg führen und Gewaltverbrechen begehen, wären die Befürworter der entwicklungsgeschichtlichen Jägertheorie glaubwürdiger erschienen, wenn sie sich auf ihre Erkenntnis beschränkt hätten, daß »Männer Freude am Jagen und Töten haben«. [5] Denn es ist nicht das Jagen, das unsere Gefühle usw. geformt hat, vielmehr haben diese Jäger, die aus Vergnügen auf die Jagd gingen, die alten Sühnerituale nicht mehr gepflegt, die das Töten von Tieren zur Ernährung ursprünglich begleitet haben. So entwickelten einige Jäger in einigen Teilen der Welt eine Form von Macht, bei der die Jagd als Vorlage diente. Diese Jäger-Könige verbreiteten ihr Wertesystem mit Hilfe von Kriegsgewalt, Naturzerstörung, dem Töten von Tieren, der Vergewaltigung von Frauen und ganz allgemein der Mißhandlung derer, die sie versklavten. Das ist der Zusammenhang, innerhalb dessen sich der menschliche Intellekt, die Interessen, Gefühle und die Basis des sozialen Lebens im Patriarchat entwickelten.
Mit der Glorifizierung der Jagd als einem gewaltigen entwicklungsgeschichtlichen Schritt rechtfertigen viele Sozialwissenschaftler eine Kultur der wachsenden Brutalität und der Vergewaltigung all dessen, was als »Freiwild« angesehen wird. Außerdem eignet sich das Jagen als Sport zum Paradebeispiel dafür, wie die Inszenierung der Jagd und des Tötens die Normalisierung eines gewalttätigen Vorgangs unterstützt. Mit dem Jägerspiel ritualisiert der Mann das, was er als seine größte Glanztat betrachtet: seine Entwicklung vom Affen zum Menschen und in der Folge die Etablierung einer Herrschaftsklasse, eine Politik, die das Gesicht der Erde und unser Leben verändert hat.
Wenn die Theoretiker nachweisen können, daß der Mann durch seine evolutionäre Entwicklung unweigerlich mit Jagen, Töten und Gewalt verbunden ist, dann kann der Mann auch von der Verantwortung für seine Kultur der Gewalt entbunden werden, in der er Natur als Freiwild und rechtmäßiges Objekt seiner räuberischen Neigungen ansieht. Aus diesem Grund ist es notwendig, die entwicklungsgeschichtliche Jägertheorie zu überprüfen, ihre Annahmen anzuzweifeln und ihre Folgen für all die nachzuvollziehen, die im Patriarchat zur Klasse der Opfer zählen. Die Jägertheorie der menschlichen Entwicklung wurde erstmals Anfang dieses Jahrhunderts aufgestellt.

Waffen

Eine besondere Bedeutung bei dieser Theorie kommt der zeitlichen Einordnung von Werkzeugen, von der Wissenschaft gemeinhin als Waffen eingestuft, zu. Je weiter solche Gerätschaften als Werkzeuge der Gewalt zurückdatiert werden können, desto mehr Glaubwürdigkeit gewinnt die Theorie über den Einstieg der Menschen in eine Jägerkultur. Hinzu kommt, je weiter der Fund zeitlich zurückliegt, desto mehr ist man auf Mutmaßungen angewiesen, was den Anwendungsbereich dieser Geräte betrifft. Die Möglichkeit einer Beweisführung wird immer geringer, die Möglichkeit, Herrschaft auszuüben, dagegen wächst. [6]
Die Meinungen von Paläoanthropologen und Archäologen über die Datierung frühgeschichtlicher »Werkzeug«-Herstellung gehen beträchtlich auseinander. Während sie mit Millionen von Jahren herumjonglieren, wissen wir immer noch nicht, wem wir nun die Ehrennadel an die behaarte Brust heften sollen für das Verdienst, uns auf den Weg zur Kultur gebracht zu haben. Jedenfalls war es ihrer Ansicht nach unzweifelhaft eine behaarte Brust, wenn gleichwohl angenommen wird, daß es Frauen waren, die all die Nüsse, die Früchte und die Blätter sammelten, wofür sie sich landwirtschaftliche Geräte fertigten, und das lange bevor der Mann sich auf die Jagd machte. Dennoch beharren die Wissenschaftler darauf, daß die Vorgänger des Homo sapiens keine vollwertigen Menschen gewesen seien, auch wenn sie sich bemerkenswert gut an ihre jeweils neue Umwelt, wie sie sich durch Klimaveränderungen und Erdverwerfungen ergeben hatte, anzupassen vermochten. Richtige Menschen wurden sie erst, als es dem Mann dämmerte, daß er Steine behauen und große Tiere töten könnte und es gleichgültig wäre, ob er die Kadaver aß oder sie am Boden verfaulen ließ.
Folgt man Jacques Bordaz, einem Experten in der Bestimmung von »Werkzeugen« (sprich »Waffen«) aus dem Pleistozän, so »konnten sich die Menschen nun (vor 300 000 bis 400 000 Jahren) in kleinen Gruppen in einem größeren Gebiet und mit größerer Sicherheit bewegen, um Tier- und Pflanzenvorkommen besser für sich zu nutzen«. [7] Der Archäologe R.E. Leakey (Sohn der der berühmten Mary und Louis Leakey, denen zufolge der erste Mensch vor zwei bis drei Millionen Jahren in Afrika aufgetaucht ist - was immer noch umstritten ist) schreibt, daß der Homo erectus »im Einklang mit seiner Umwelt jeden Teil des Tier- und Pflanzenreichs ausbeutete, so wie es die Jahreszeit gerade vorschrieb.[8] Louis Leakey trieb seine Begeisterung an Werkzeugen aus der Frühzeit so weit, daß er sie ausprobierte, d.h. er tötete Tiere damit, wohl um die Wirksamkeit der Technologie des Urmenschen zur Ausbeutung seiner Umwelt zu überprüfen. So werden Handlungen, die darin gipfeln, fühlenden Lebewesen tödliche Verletzungen beizubringen, als Demonstration menschlicher Harmonie (»im Einklang«) mit seiner Umwelt gewertet, und seine Werkzeuge sollen die grundlegende Erfindung gewesen sein, die ihn in den Stand versetzte, die Erde »besser" auszubeuten.

Arbeitsteilung

Der Schritt von der Sammler- zur Jägerkultur hatte in der Tat gewaltige Folgen für die Entwicklung der menschlichen Art. Was man sich dabei fragen kann und muß, ist, ob diese Entwicklung von Vorteil war. Wie R.E. Leakey festgestellt hat, gibt es einen Zusammenhang zwischen der wachsenden Bedeutung fleischlicher Nahrung und der wachsenden Dominanz von Männern über Frauen. Als Rechtfertigung für diese Dominanz soll die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern herhalten. Sie stellt den Eckpfeiler der Evolutionstheorie dar, die die Jagd verherrlicht. Mit dieser Teilung wird das Urbild vom Mann als dem Aktiven und der Frau als der Passiven festzementiert in einer Zeit, die Hunderttausende von Jahren zurückliegt. Mit dem Töten großer Tiere und der daraus folgenden »Arbeitsteilung« (sprich »Dominanz des Männlichen über das Weibliche«) hat angeblich die kulturelle Evolution begonnen, für das menschliche Verhalten bestimmender zu werden als die genetischen Voraussetzungen. [10] Zu dieser seltsamen Schlußfolgerung gelangte der Anthropologe John Pfeiffer. Denn für ihn, wie übrigens für alle Jagdbegeisterten, schuf das Jagen neue Situationen, die das Gehirn des Mannes nur mit Hilfe der Entwicklung kooperativer Strategien und einer Sprache bewältigen konnte, die eine Abstimmung mit seinen Jagdgenossen ermöglichte. Um diesen neuen Aufgaben gerecht zu werden, bildeten die männlichen Hominiden größere Gehirne aus und die Frauen ein breiteres Becken für die grobköpfige Nachkomnenschaft. Kaum ein anderer hat diese Situation naiver beschrieben als Pfeiffer, für den aus den größeren Gehirnen ein »fundamentales Problem der Körpergestaltung« erwuchs, »ein Problem, das die optimale Ausdehnung des weiblichen Beckens zur Folge hatte« [11]  Er schreibt weiter:

Sollen Kinder mit einem größeren Gehirn geboren werden, ist es von einem rein technischen Gesichtspunkt her klar, daß sich das Becken der Frauen öffnen und vergrößern und die Hüftknochen weiter auseinanderstehen müssen. Die evolutionären Kräfte, die am Werk waren, b günstigten auch tatsächlich diese Lösung. Das Problem dabei ist nur, daß Menschen mit breiteren Hüften und anderen damit zusammenhängenden Veränderungen ein gewisses Maß an Beweglichkeit einbüßen. Was die Schnelligkeit anbelangt, haben Manner ein ideales Becken. Frauen können im allgemeinen nicht so schnell laufen wie Männer, ein Nachteil in prähistorischer Zeit, als die Fähigkeit zur Flucht eine große Rolle spielt. [12]

Da also die Frauen nicht mehr länger imstande waren, mit den Männern mitzurennen, wurden sie immer abhängiger von ihnen, weil sie auf Schutz vor »Räubern« und auf die Beute männlicher Jagdausflüge angewiesen waren. Laut Pfeiffer verhalf das Jagen dem Mann auch zu einer sexuellen Revolution, denn »er (sic) wurde unabhängig von einem großen natürlichen Rhythmus, dem inneren Rhythmus der Brunst, und so wurde es möglich, Zeit und Ort des Geschlechtsverkehrs festzulegen. [13] Als Psychologin setzte Joyce Contrucci dem entgegen: »Das ist eine raffinierte Art, möglichst gebildet auszudrücken, daß die Frau die Bestimmung über ihre eigene Sexualität verloren hat.« [14] In dieser neuen sozialen Ordnung konnten Frauen je nach Lust und Laune des Mannes vergewaltigt werden, der ja »Ort und Zeit festlegte«, speziell dann, wenn sie nicht so schnell rennen konnten wie er. Sie hatten ihm zur Verfügung zu stehen. Kurz: Wie die Tiere bei der angeblichen Jagd waren auch sie jetzt zum Freiwild geworden. [15]
Mit der Jagd wird erreicht, was ihre Verfechter rechtfertigen wollen: die Abhängigkeit der Frauen von Männern aus Gründen der Versorgung und des Schutzes - eine Abhängigkeit, die Frauen zu Krüppeln macht, die aber in der patriarchalen Kultur als »natürlich« begriffen und hingenommen wird. Daher lernen Studentinnen und Studenten in Einführungskursen für Psychologie:

»Bis vor nicht allzu langer Zeit war es in der Geschichte des Menschen für alle von Vorteil, daß Männer männlich und Frauen weiblich handelten. In den primitiven Gesellschaften ... hing das Überleben von der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ab. Die Frauen brachten ein Kind nach dem andern zur Welt, mußten es stillen und konnten sich deshalb nicht weit von zu Hause entfernen. Die Männer dagegen hatten die Freiheit, weit umherzustreifen und Tiere zur Nahrungsbeschaffung zu jagen. Außerdem schützten sie aufgrund ihrer größeren physischen Stärke ihr Heim gegen wilde Tiere und feindliche Fremde. Diese Rollenverteilung war schon früh eingeführt worden, und sie war zweckdienlich. Frauen waren abhängig. Männer waren dominant.« [16]

Gewalt

Die Wunder der Jagd, so scheint es, nehmen kein Ende. Der »Fortschritt« der Menschen, der aus einer gewaltätigen Handlung entstanden war und in der Herrschaft eines Geschlechts einer bestimmten Art über die Gesamtheit allen Lebens auf dieser Welt gipfelte, führte schließlich dazu, daß Menschen andere Menschen töteten, d.h. zu Krieg und Totschlag.

Aber nicht jede einzelne Population des australopithecus fertigte und gebrauchte Werkzeuge (Waffen); und wahrscheinlich taten letztlich nur wenige erfolgreich den Schritt vom Werkzeuggebrauch zur Vertreibung oder Vernichtung anderer Populationen des Australopithecus, die nicht eine vergleichbare Stufe in der kulturellen (sic) Entwicklung erreicht hatten. [17]

Vermutlich kam dieser »erfolgreiche Schritt« durch den männlichen »Aggressions«-Trieb zustande, der theoretisch im Gehirn festgelegt ist (»verdrahtet« - ein Ausdruck, der das Gehirn mit einem Computer vergleicht) oder in den Genen (phylogenetisch programmiert). In beiden Fällen sind angeblich die männliche Gewalt und Herrschaft über Natur, Tiere und Frauen unvermeidbar und von zentraler Bedeutung auf dem Weg zur Zivilisation. (Es ist interessant festzustellen, daß Kriegführen als ein Zeichen höherer kultureller Entwicklung angesehen wird. Vor mehr als 2 000 Jahren hat Aristoteles die Gerechtigkeit des Krieges mit derselben Argumentation begründet. Kriege waren notwendig, um sich Sklaven zu beschaffen (Menschen, die bereits, niedrig geboren wurden), und gute Soldaten lernten ihr Handwerk im Umgang mit Tieren (Jagen)). Paul MacLean, der frühere Leiter des Laboratory of Brain Evolution and behaviour am National Institute of Mental Health (Poolesville, Maryland), hat den biosoziologischen Ursprung der Gewalt (»Aggression«) im Reptiliengehirn lokalisiert - ein knotenartiges Gebilde, eingehüllt in Schichten des Neocortex (Hirnrinde), die sich im Lauf der Evolution darüber entwickelt haben. Als ältester Teil des menschlichen Gehirns ist es vermutlich auch der Sitz der angeborenen Impulse oder Instinkte, die verantwortlich sind für die männliche Intoleranz, das Territorialstreben, »den unablässigen Kampf um Position und Herrschaft«, die hierarchischen Gesellschaftsstrukturen wie auch für die Gewalt, die der Mann anwendet, um seine sozialen Übereinkünfte und Ziele zu erreichen. [18]
Angenommen, das Reptiliengehirn spielt eine solch entscheidende Rolle für das Gewaltverhalten, was hat es dann mit der Feststellung auf sich, daß Frauen von Natur aus passiv sind? Fehlt uns ein Reptiliengehirn, so wie den Männern ein ganzes X-Chromosom abgeht? Wenn Intoleranz, Gebietsstreitigkeiten und Gewalt Funktionen des Nervensystems in einem geheimen Teil des menschlichen Gehirns sind, wie erklärt man sich dann die historische und gegenwärtige Existenz von menschlichen Gesellschaften, die ein friedliches Zusammenleben anstreben, die sich in unzugängliche Gebiete zurückziehen, wenn sie überfallen werden, die keine Machtgelüste schüren und keine Männlichkeitsbilder von Tapferkeit und Gewalttätigkeit entwerfen? [19] Bewegt sich deren »präfrontaler Neocortex ... der geistige Stoff, aus dem unserer Vorstellung nach die Engel gemacht sind, [20] auf einer schnelleren Entwicklungsschiene, als das beim Rest der Menschheit der Fall ist? Sind ihre Reptiliengehirne verkümmert? Was ist mit ihnen »falsch gelaufen«? Derart klaffende Unterschiede im sozialen Verhalten und Übereinkommen lassen Madeans »Entdeckungen« auf wackligen Füßen stehen. Sie sind zu glatt und zu eigennützig, um wahr zu sein.
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bewertet die »Aggression« des Mannes als einen »Restposten«, der noch aus seinen tierischen Anfängen stammt. Doch im Unterschied zu anderen Lebewesen fehlt dem Mann der phylogenetisch programmierte Bremsmechanismus als Kontrollorgan für seinen Jagdtrieb, den er sich irgendwann einmal in prähistorischer Zeit plötzlich erworben hat. Was Lorenz versäumt zu erklären, ist, warum unter allen Lebewesen allein der Mann so ungenügend ausgestattet ist, daß ihm dieser Bremsmechanismus fehlt, mit dem andere Tiere geboren werden. Lorenz behauptet, daß das Problem des Tötens für Manner durch die Anonymität und die physisch-emotionale Distanz, die ihm »künstliche« und ferngesteuerte Waffen ermöglichen, verschärft wird. Er merkt an, daß »ein gesunder Mann zum Vergnügen nicht einmal auf Hasenjagd gehen würde, wenn ihm über die Notwendigkeit, seine Beute mit natürlichen Waffen zu töten, vom Gefühl her klar zu Bewußtsein kommen würde, was er tatsächlich tut«. [21] Eindeutig »natürliche Waffen« sind die Hände. Hände heben Steine auf, fassen Speere, halten Hochleistungsgewehre usw., mit denen der Mann seine Beute zum Vergnügen tötet, und diese Hände werden gelenkt durch ein bewußtes menschliches Gehirn. Das Problem aber ist genau die Tatsache, daß unabhängig von den benutzten Waffen keiner klar und emotional seine Handlung nachvollziehen kann, wenn er ein fühlendes Wesen als Objekt (Beute) ansieht. Die tiefe emotionale Distanz oder Gleichgültigkeit ermöglicht erst den Prozeß der Objektivierung, der dem Jägersyndrom zugrunde liegt.
Die Lösung ist also, »das Beste« aus einer schlechten Situation zu machen. Lorenz empfiehlt »gefährliche Unternehmungen wie Polarexpeditionen und an erster Stelle die Erforschung des Weltraums«, bei denen die Nationen »sich in hartem und gefahrvollem Wettstreit bekämpfen, können, »ohne nationalen oder politischen Haß aufkommen zu lassen. [22] Solche Lösungen spiegeln die Denkart von Gewalt und Herrschaft wider, die wesentliche Bestandteile einer Vergewaltigerkultur sind. Es sind Beispiele für die Vergewaltigung der Natur. Wieder einmal soll Natur objektiviert, erforscht, benutzt und unter Kontrolle gebracht werden durch den fruchtlosen Versuch des Mannes, seine »Aggressionen« in eine »bessere« Richtung zu lenken. Natürlich halten diese Theoretiker solche Versuche mitnichten für fruchtlos. Sie stellen offensichtliche Gewalt als Fortschritt hin und fortgesetzte Verletzung der Integrität allen Seins als Errungenschaft. In diesem Sinne glaubt der Verhaltensforscher Richard Dawkins, daß der »moderne Mann« seine prähistorische Vergangenheit hinter sich gelassen hat und nun imstande ist, nicht nur seine Umwelt, sondern auch sein genetisch programmiertes Verhalten zu verändern.« [23]  Jetzt, wo »wir« genug Wissen über uns selbst erworben haben, können »wir« diese destruktiven Eigenschaften beherrschen, die uns an den Rand des Verderbens brachten.
Dabei sehen wir, wenn wir die Entwicklung der Wissenschaft verfolgen und futuristische Visionen von Männern nachlesen, daß  von immer weniger Menschen immer mehr Herrschaft über viele ausgeübt wird, sei es auf dem Weg der Kybernetik, durch Stimmungs- und Verhaltenskontrollen oder durch pränatale Vererbungsmanipulation und Änderungen des Gedächtnisspeichers. Diese »Errungenschaften« und die radioaktive und chemische Bedrohung der Umwelt, die Roboterisierung der Arbeit, die Abstumpfung gegenüber allem Leden, die chemische Behandlung von Nahrungsmitteln, die Zunahme von Krankheiten, die durch die Medizin erst erzeugt werden, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, die wachsende Unbeweglichkeit politischer Strukturen, die Verarmung der Phantasie - all das liefert Gründe genug, sehr nachdenklich zu werden. Wenn all diese »Errungenschaften« das Optimum einer »menschlichen« Entwicklung darstellen, haben wir allen Grund anzunehmen, daß die Jäger, die das ausgelöst haben, verrückt sein müssen.

Triebfeder der Kultur: Die Samlerinnen

Virginia Woolf hat es einmal gesagt: »Wir sehen dieselbe Welt, aber wir sehen sie mit anderen Augen. Zu lange Zeit haben wir die Welt mit den Augen des Mannes gesehen. Frauen mußten seine Version der Vergangenheit lernen, seine Werte wurden ihnen eingeimpft, die Werte aus dem Jagdrevier. Und dabei ist wahrscheinlich das Sammeln die Triebfeder der Kultur gewesen, das der »Geschlechterkampf« die Gesellschaft revolutionierte. Der Übergang vom Mutter- zum Vaterrecht dauerte Tausende von Jahren, und er vollzog sich mehr oder weniger durchschlagend je nach Größe und Stärke der über die Welt verstreuten Matriarchate. Vor dieser Zeit bewältigten offenbar Frauen und Männer die Anforderungen des täglichen Lebens gemeinsam, ihre Verbundenheit mit der Natur war vielfältig. Die Aufteilung der Menschen nach Geschlechtern spielte erst dann eine gewichtige Rolle, als ein Geschlecht die Oberherrschaft über das andere begehrte - als es mit dem Töten heiliger Tiere der Göttin und der Erniedrigung der Mutter Erde seinen Anfang nahm.
Es ist leicht, die Frühzeit der Menschen zu verklären und sich eine gesellschaftliche Wirklichkeit auszumalen, die mit der eigenen Vorstellung von einem guten Leben übereinstmimt. Viele Archäologen haben das getan. Ihre Rekonstruktion der Frühzeit stützt sich auf eine äußerst bruchstückhafte Beweisführung - einige Knochensplitter, ein paar Zähne und offenbar massenhaft bearbeitete Steine (»Werkzeuge« genannt), die man überall in der Welt gefunden hat. Beredt lassen sie sich darüber aus wie unsere Anfänge gewesen sein mögen, wenn sie auch zugeben müssen, daß ihre Entwürfe »ein vollendetes Märchen, ein Gespinst mehr oder weniger einfallsreicher Vermutungen« sind. [24] Aber eine Vermutung einfallsreich oder nicht - läßt die Möglichkeit anderer »Vermutungen« offen, anderer Interpretationsmöglichkeiten der gesammelten Fakten und Erkenntnisse. Vermutungen werden gültige Theorien, wenn sie vor der Gilde der Wissenschaftler einleuchtend genug erscheinen, daß sie sie akzeptieren können. Diese Gilde aber setzt sich vorwiegend aus denen zusammen, die an der Macht sind. Damit ist von vornherein klar, daß die Theorien eine größere Chance haben, anerkannt zu werden, die deren gesellschaftliche Position stärken, als jene, die eine andere Sicht vermitteln. Man kann auch feststellen, daß die Zurückweisung der Alternative, um so heftiger ausfällt, je dedrohlicher diese für den Status quo ist. Oder daß sie, wie bei der These, Frauen könnten die Triebfeder der Kultur gewesen sein, einfach übersehen, ignoriert, abgetan wird.
Wenn alternativen Auslegungen die Gültigkeit oder auch nur das Zurkenntnisnehmen versagt wird, bleibt der Zugang zu alternativen Werten und Anschauungen, mit Hilfe derer eine Gesellschaft von ihrer Selbstzerstörung loskommen könnte, verschlossen. So werden »Vermutungen« zu Theorien und »Theorien« zu eigennützigen Dogmen eines in sich geschlossenen Denksystems. Die Auswertungen archäologischer and anthropologischer Funde müssen als das genommen werden, was sie sind: »Erklärungen, ersonnen im Licht persönlicher Anschauung.« [25] Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht verwunderlich, daß die Funde des Archäologen James Mellaart in Catal Hüyiük in der Türkei, die die Existenz einer mindestens 10 000 Jahre alten Ansammlung von gynozentrischen Siedlungen belegen, [26] bagatellisiert worden sind. Trotz der Funde von »Werkzeugen«, Darstellungen der Göttin und religiösen Gegenständen, die Mellaarts Theorie von einer Gesellschaft unter dem Primat von Frauen untermauern, erzählen uns Kulturanthropologen geschickt ausgewählte Geschichten von den »polierten Obsidianspiegeln, die man in Catal Hüyük entdeckt hat und die vermutlich einen frühen Hinweis (sic) auf die weibliche Eitelkeit geben« [27] Dieser Kommentar paßt zwar gut zum patriarchalen Frauenbild, gibt aber wohl kaum einen »Hinweis« auf die Mentalität der realen Frauen, die diese hochentwickelte Gemeinschaft aufgebaut und geformt haben. Was in den polierten Spiegeln von Catal Hüyük sichtbar werden kann, ist nur, wieviel von unserer  prähistorischen Vergangenheit verschüttet ist. Für Frauen ist es wichtig, sich bewußt zu sein, daß die Theorien des Mannes Vermutungen sind Erklärungen, die ihm passen und seine Stellung stärken. Ebenso wichtig ist das Bewußtsein, daß die Vermutungen von Frauen Theorien sind, die Interpretationen der Vergangenheit liefern können, welche unsere Werte widerpiegeln, unsere Überzeugungen und die Bedeutung unseres Lebens.

Eine Vision

Als Vision und Traum haben Matriarchate die Phantasie vieler beschäftigt, die nach sanfteren, vernünftigeren Alternativen suchten. Schon bei oberflächlicher Betrachtung vieler sogenannter primitiver zeitgenössischer Gesellschaften, archäologischer Stätten und prähistorischer Werkzeuge wird die geschichtliche Existenz von Matriarchaten glaubhaft. Nur verstockte und ängstliche Wissenschaftler können sich damit nicht anfreunden.
Unter Matriarchaten verstehe ich nicht jene mutterrechtlichen Kulturen, die von allen Anthropologen anerkannt werden. Diese Gruppen, so sie noch existieren, sind durch den Einfluß der Weißen verseucht. Sie werden zur Rechtfertigung der kulturellen Jägertheorie benutzt, denn sie pflegen eine Arbeitsteilung nach Geschlechtern. Freilich hat schon die Anthropologin Margaret Mead beobachtet, daß die Männer des Stammes, wenn sie die Siedlung unter dem Vorwand, auf die Jagd zu gehen, verlassen, meistens unter irgendeinem Baum landen und höchstens noch in die Luft schießen. [28] Robert Graves karikierte Matriarchate als die Lebensform, in der "Frauen das herrschende Geschlecht waren und Männer ihre verschreckten Opfer«. [29] Höchstwahrscheinlich entstand ein Bewußtsein für Dominanz erst mit der Etablierung der Führungsrolle von Männern als Herren im Haus. In einem echten Matriarchat treffen Frauen wichtige Entscheidungen in allen Bereichen, nicht bloß bei der Bestimmung der Erbfolge, als Köchinnen oder Opfer permanenter Schwangerschaften.
Die Existenz von Matriarchaten auf der ganzen Welt ist ein Hinweis darauf, daß Gruppen von Menschen auf Grund unterschiedlicher Erfahrungen und Wertvorstellungen sich verschieden organisieren und eigenständige Kulturen entwickeln konnten. Es scheint so, daß in früheren Zeiten kriegerische Völker neben friedfertigeren gelebt haben, die sie dann aber mit Krieg überzogen und schließlich vernichteten. Matriarchate haben höchstwahrscheinlich ein solches Schicksal erlitten.
Eine bestimmte Art des Australopithecus verschwand so vor etwa 500 000 Jahren, genau wie die Neandertaler vor 10 000 oder 13 000 Jahren. Wissenschaftler vertreten die Ansicht, daß beide durch ihre gewalttätigen Verwandten (Cro-Magnons) ausgerottet wurden, die ihnen technologisch überlegen waren. Carl Sagan stellt die Vermutung auf, daß sich die Gehirne von Neandertalern und Cro-Magnons - die beiden Zweige des Homo sapiens - unterschiedlich entwickelten, was schließlich dazu führte, daß der überlegene Cro-Magnon »unsere kräftigen und intelligenten Vettern vollständig vernichtete. [30] John Pfeiffer bemerkt, daß die Neandertaler »gegen diese Leute und diese Strukturen keine Chance hatten«. [31]
Wie aus ihren Begräbnisstätten und Tierkulten hervorgeht, besaßen die Neandertaler ein ausgeprägtes religiöses Bewußtsein. Wie weit ihre Kultur entwickelt war, beweisen viele der berühmten Höhlenmalereien von Tieren in Spanien und Südfrankreich. Einige behaupten, sie seien nicht durch Kriege umgekommen, sondern als Folge ihrer »Überspezialisierung« d.h., sie hatten sich biologisch und von ihrem Verhalten her zu gut an das harte Klima im Europa der Eiszeit angepaßt, als daß sie bei wärmerem Wetter hätten überleben können. [32] Andere wiederum vermuten, daß der sapiens Neandertalis, da er sich fast über die ganze Welt ausgebreitet hatte, überlebte und sich weiterentwickelte, wo immer die klimatischen Bedingungen günstig waren. In einigen Fällen, besonders im Nahen Osten, soll er sogar in die Stämme des Sapiens sapiens (Cro-Magnons) »eingeheiratet« haben. [33]
Darüber läßt sich streiten. Ich persönlich neige dazu, die Neandertaler als die Begründer jener matriarchalen Traditionen anzusehen, die sich im ganzen Mittleren Osten hartnäckig bis in die geschichtliche Zeit hinein gehalten haben. Das läßt auch die Annahme vernünftig erscheinen, daß die physischen, psychischen und sozialen Entwicklungen, die dem männlichen Beruf des Jägers zugeschrieben werden, durchaus aus dem weiblichen Beruf des Sammelns bervorgegangen sein können. Anstatt Waffen könnten viele Gerätschaften aus unserer Frühzeit genauso gut sinnreiche Grabgeräte und Stampfer für eßbare Wurzeln gewesen sein oder Nußknacker, Schneideinstrumente und Geräte zum Holzsammeln für Herd und Hütte.
Wenn ein großes Gehirn das Ergebnis von geistiger Übung ist - Denken, Vorstellen, Mitteilen von den Geist anregenden Erfahrungen - dann dürfte das gezielte Sammeln von Nahrung, unabhängig davon, ob dabei hin und wieder auch ein kleines Tier gefangen und getötet wurde, die Entwicklung des Gehirns wie auch der manuellen Geschicklichkeit beschleunigt haben. Das Erwerben und Weitergeben von Kenntnissen über die Eßbarkeit und die Nähr- und Heileigenschaften von Pflanzen, über ihr Vorkommen und ihr Wachstum erfordern den aktiven Gebrauch von Gedächtnis, Intelligenz und Sprache und darüber hinaus die Herstellung von Werkzeugen (Geräten), um die Pflanzen zu sammeln, zu behandeln, sie zu lagern und zuzubereiten.
Es ist wahrscheinlicher, daß, die Kräfte, die eine Gesellschaft Zusammenhalten, aus der Mutter-Kind-Verbindung erwachsen sind und aus der Erfordernis, das Kleine zu schützen und zu nähren, als aus den Mannerbünden, die sich bei gelegentlichen Jagdausflügen in die Wälder ergeben haben. Das gemeinsame Hegen und Pflegen und das spielerische Element bei der Betreuung der Kinder schaffen wahrscheinlich eine Sprache, die reich ist an emotionalen Nuancen, und einen weitaus bildhafteren, komplexeren und an Gefühlen reicheren Wortschatz als den der Jägersprache, in der es kein Vertrauen, keine Herzlichkeit gibt, bloß Nervenkitzel. Das Sammeln und die Zubereitung von Nahrung ebenso wie die Kinderpflege verlangen unendlich viele Beobachtungen und Urteile, die für das Wohlbefinden entscheidend sind. In meinen Gedanken und Träumen sehe ich, wie allmählich ein geistiger Zusammenhang entsteht, Grundlage für die Schöpfungsgeschichten, aus denen später Ritus und Anbetung werden sollten. Aus praktischen und ästhetischen Angelegenheiten wie dem Weben von Kleidern, dem Mischen von Farben und dem Gestalten von Material (Ton, Holz, Stein) entwickelten sich Technologie und Kunst. Ich kann Geistesverwandtschaft und Anteilnahme erkennen. Nicht von ungefähr bedeutet das englische Wort company, Gesellschaft, ursprünglich »zusammen Brot essen«, (aus dem Lateinischen: cumpane, mit Brot). Wenn das Teilen von Fleisch so lebenswichtig gewesen wäre, wie uns das einige Wissenschaftler weismachen wollen, dann gäbe es ein Wort, in dem sich das widerspiegelt.
Doch beim Teilen von Fleisch haben wir die Assoziation »Opfer«, nicht Gesellschaft.
Es gibt viele Beispiele für die patriarchale Befangenheit bei der Interpretation von archäologischen and anthropologischen Funden. Beim Anblick einer großen Ansammlung von 300 000 Jahre alten Elefanten-, Pferde-, Nashornknochen usw., die man in einem ehemaligen Sumpfgebiet bei Torralba in Spanien gefunden hat, würde ich an die Flucht der Tiere vor einem natürlichen Waldbrand denken und an ihr tragisches Ende, als sie im Sumpf steckenblieben und nicht mehr fliehen konnten. Ich würde nicht an »spektakuläre Jagdexpeditionen« denken oder an von Mannern inzenierte Buschbrände, »um ihre Beute zu überrumpeln«. Der Umstand, daß man an dem Platz dieses Massentiersterbens auch »Acheuléen-Werkzeuge« (Handäxte, die wie Dreschflegel aussehen) fand, deutet darauf hin, daß hier Menschen lebten, aber nicht notwendigerweise auf Männer, die diese Tiere in den Sumpf trieben, sie umbrachten und dann unter Hinterlassung ihrer »Werkzeuge« davonliefen.
Die Überreste von etwa fünfzig Flefanten bei Ambrona in Spanien könnten ein Massengrab bezeichnen, weil Elefanten, wenn sie ihren Tod herannahen fühlen, lange Wanderungen unternehmen, um sich dort zum Sterben niederzulegen, wo ihre Artgenossen gestorben sind und wohin sich noch weitere zum Sterben begeben werden. Oder wieder könnte eine Naturkatastrophe eine ganze Herde auf einmal getötet haben. Man muß schon wie ein Jäger denken, um sich auszumalen, daß Männer fünfzig Elefanten auf einmal niedergemacht haben. Die Pygmäen, die mit großer Jagdlust Elefanten nachstellen, zum Vergleich heranzuziehen, führt zwangsläufig schon deshalb in die Irre, weil die heutigen Pygmäen den weißen Mann und seine Gier nach Elfenbein kennengelernt haben. Das Wissen um den Preis, den er für die Stoßzähne zahlen wird, macht sicher einen Teil dieser Jagdlust aus. Außerdem bleiben bei Vergleichen zwischen heutigen Jäger- und Sammlerstämmen und Stämmen des vor 300 000 Jahren lebenden Homo erectus die Veränderungen unberücksichtigt, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben. Die heutige Pygmäenkultur unterscheidet sich erheblich von der, die es einmal gegeben hat.
Einen weiteren beispielhaften Fall stellt die bekannte Hütte im sowjetischen Modavia dar bei der eine Mauer aus Schädelknochen, Stoßzähnen und Schulterblättern von Mammuts errichtet worden ist. Die Wahrscheinlichkeit, daß diese Knochenreste durch natürliche Ereignisse angehäuft worden sind, ist genauso groß wie die, daß hier eine Massenjagd stattgefunden hat, die gängige und allgemeine Erklärung. Am Ende der Eiszeit gerieten die Gletscher in Bewegung, sie schmolzen und gefroren wieder zu Eisplatten, und überall veränderte sich die Flora und Fauna, besonders rund um die Eisplatten. Die Klimaerwärmungen und die Veränderungen der Vegetation bedeuteten das Ende für das Mammut. Es ist also einleuchtend, daß eine Gruppe von Menschen auf ein paar tote und schon verweste Mammuts stieß und die Gelegenheit nutzte, um mit den Knochen als Rohmaterial ihre Hütten zu bauen. Das bedeutet noch nicht, daß die Männer keine Mammuts jagten - auch sie mußten sich warmhalten, und auch sie brauchten etwas zu essen in jenen wilden Zeiten. Es bedeutet ganz einfach, daß, das Töten aus Überlebensgründen nicht gleich zu Massenabschlachtungen führt.

Mir liegt es nahe, Frauen als die Triebfeder der Kultur anzusehen. In der westlichen Kultur bezeichnet man uns herkömmlicherweise als konservativ, was soviel heißt wie: dem Fortschritt abgeneigt. Im allgemeinen wehren wir uns gegen alles, was uns und alles, was wir lieben, zerstört. Wir glauben nicht an die rationalen Erklärungen derer, die in Zerstörung Gewinn sehen. So sind wir beispielsweise gegen territoriale Expansion, weil sie den Tod von Söhnen bedeutet, die Vergewaltigung von Töchtern, die Verwüstung von Land, die Mißhandlung derer, die nicht unmittelbar an den Kampfhandlungen teilnehmen (die Zivilisten), und die Zerstörung all dessen, was uns teuer ist.
Daher wird den Frauen keine bedeutende Rolle auf dem evolutionären Pfad zugebilligt, der die Hominiden in die Menschheit führte. Wir sind nicht gegen den Fortschritt als solchen, aber unsere Auffassung von Fortschritt ist mehr ökologisch, also konservativ in dem Sinn, in dem der Begriff heute im Umweltschutz verwendet wird. Wann immer es uns gelungen ist, ein Gespür für unser eigenes Wesen aufrechtzuerhalten, das absolut nichts mit dem kulturellen Muster von Weiblichkeit zu tun hat, wann immer wir fähig waren, unsere Werte und unseren Nonkonformismus ohne das Gefühl, uns in nichts aufzulösen, durchzusetzen, haben wir eine grundsätzliche und umfassende Liebe zum Leben entwickelt und entwickeln sie weiter. Und diese Liebe ist es, die ich als Triebfeder der Kultur ansehe.
Die Art alternativer Theorienbildung, die ich hier anhand unserer frühen Vergangenheit betrieben habe, ist nicht nur ansprechend und einleuchtend, sie ist lebenswichtig. Lebenswichtig, weil in dem Prozeß, in dem wir Frauen uns unsere Geschichte vor Augen führen, die Möglichkeit liegt, unsere Werte zu erkennen, und in diesen Werten liegt unsere Hoffnung für die Zukunft.

Das älteste Gewerbe des Mannes

Ich habe keine Sympathie für Jäger. Das, was sie tun, empfinde ich als gefühllos und brutal, und es stößt mich ab. Ihre Sprache beleidigt, sie klingt jämmerlich unreif. Sie erinnern mich an verantwortungslose kleine Jungen, die aus Langeweile herumtollen, einer so verzweifelten Langeweile, daß sie nur der Nervenkitzel der Jagd mit dem Höhepunkt des Tötens vertreibt. Jäger müssen zum Leben »angetörnt« werden. Einer von ihnen ließ seine Unfähigkeit, Natur anders zu begegnen als mit Herrschen und Töten, durchblicken, als er zu mir sagte: »Nur im Wald herumspazieren turnt mich nicht an, es muß einen Zweck haben. Bäume markieren. Rehe schießen. Das heißt wirklich leben.« Dieser Mann mittleren Alters, wohlhabend, mit ansehnlichem Äußeren und sanftem Tonfall, verdient sein Geld mit der Jagd nach Häusern, er ist Immobilienmakler, ein Beruf, der ihn langweilt. Die Jagd ist für den Jäger der »Schuß«, der ihm die Eintönigkeit seiner gefühllosen Existenz als Rädchen in der Kulturmaschinerie erträglich macht.
Es ist jedoch nicht mein Ziel, die Jäger zu verstehen, sondern das Jagen in der Kultur, in der es ausgebrütet wurde, richtig einzuordnen. Jagen ist der modus operandi der patriarchalen Gesellschaften in allen Lebensbereichen - einen Bereich zu stärken heißt dabei, alle zu stärken. Wie harmlos die Sprache auch klingen mag - wir jagen alles, von Häusern über Posten bis hin zu Rekorden - sie offenbart eine kulturelle Denkart, in der das Rauben so zu Hause ist, daß uns nur noch der Untergang der Welt in Schrecken versetzt, den die atomaren Waffen heraufbeschwören. Jagen läuft immer nach dem gleichen Schema ab: Man identifiziert und benennt die Beute, pirscht sich an sie heran, macht sie sich gegenseitig streitig, und jeder will den ersten Schuß abgeben. Eklatant tritt das Jagdfieber zutage, wenn die Beute eine Frau ist [34], ein Tier oder Land, aber es kann zu jeder nur denkbaren Phobie werden und eine Nation ergreifen und heimsuchen, wenn die Beute eine andere Nation ist oder eine Rasse, die nicht zu denen gehört, die die Macht in Händen halten.
Der Natur ist vorgeworfen worden, verführerisch (und gefährlich) oder gleichgültig gegenüber Männern zu sein. Sirenengleich lockt sie, zieht die Angeln der Fischer und die Gewehre der Jäger magisch an, wie angeblich auch Frauen Männer verführen und sich nach Vergewaltigung sehnen. Oder sie reagiert wie ein kaltes, unnahbares »Biest« nicht auf die männlichen Treueschwüre und muß daher bestraft werden. Verführung und Gleichgültigkeit existieren nur im Kopf des Betrachters, der beides auf die Natur projiziert, um eine Rechtfertigung für seine Handlungen zu haben, und die Rechtfertigung tut ihre Wirkung, weil die Kultur sie akzeptiert. Wir wissen, daß Frauen genauso gern vergewaltigt wie Rehe und Löwen erschossen werden wollen, und auch die Erde, das Meer und der Himmel schreien danach, ausgebeutet, verdreckt und erforscht zu werden. Aber seit der Zeit, als Gott sagte, wir seien alle erschaffen worden, um dem Willen des Mannes untertan zu sein, ist es rechtens, Frauen, Tiere und Natur zu Objekten zu machen und ihnen Eigenschaften und Verhaltensmuster zuzuschreiben, die viel über den Geisteszustand des Patriarchen aussagen, aber nichts über uns.

Sadomasochismus: Das »unüberwindliche Problem«

Etwas Lebendiges als ein Objekt wahrzunehmen, ist Teil des sadomasochistischen Syndroms, in dem der Pulitzer-Preisträger Ernest Becker die schöpferische und heroische Lösung für das »unüberwindliche Problem« sieht, das das Leben für den Mann darstellt. In The Denial of Death beschreibt Becker »das Problem« simpel als die Aufgabe, mit einem Körper leben zu müssen, der von Natur aus Beschränkungen und letztlich dem Tod unterworfen ist. So ist der Mann genötigt, in der Angst vor der Sinnlosigkeit zu leben, und sieht sich immer wieder gezwungen, um des Überlebens willen brutal zu handeln. Diejenigen, die es nicht annehmen können, Teil des Lebenskreislaufs, zu sein, müssen im Reich sadomasochistischer Phantasie leben und Selbstverwirklichung in der Gewalt suchen. Der Natur die eigene Beschränkung (als Lebewesen) vorzuwerfen, ist das gleiche wie der Mutter vorzuwerfen, geboren worden zu sein, und beide zu hassen wegen der eigenen Unfähigkeit, mit dem Leben fertig zu werden. Genauso überträgt Becker seinen Haß auf die Natur, die er gefühllos und unbeteiligt nennt, »sogar in verwerflicher Weise feindlich gegenüber menschlichen Zielen«. Da überrascht es nicht, daß er eine gefühllose und verwerfliche Lösung in schamlos widernatürlichen Handlungen gegen das Leben findet und damit »Natur zwingt, sich zu fügen«, und sich selbst über sie erhebt. Genau das ist der Wesenskern der Jagd. Sie ist die Machtausübung eines Mannes, der sich überfordert, zerrissen und verängstigt fühlt, und so erklärt sich auch sein pathetisch geäußerter Trieb, alles töten zu müssen, was sich erdreistet, lebendig zu sein.
Die wirkliche Bedeutung einer Philosophie, wie Becker sie hat, liegt darin, daß, sie den Sadomasochismus in jedem Teilaspekt einer Kultur erkennt, die uns schamlos zur Ausbeutung der gesamten Natur führt und diese Ausbeutung »Transzendenz«, »Fortschritt« nennt. (Es ist interessant, daß Becker eine nationale Auszeichnung erhalten hat und daß in vielen Kritiken seine »mutige« Erforschung der existentiellen Zwangslage des Mannes gelobt wurde. Dabei hat er den alten Körper-Geist-Dualismus nur noch verschärft.) Eine Weltanschauung, die uns anhält, unsere Körper aus der Beschränkung durch die Natur herauszulösen, reißt uns aus dem Lebenszusammenhang heraus und läßt uns dann allein mit unserer Sehnsucht nach den wirklich lebensbejahenden Verbindungen, die man uns gelehrt hat abzulehnen. Blind für die darin liegenden Widersprüche und Trugbilder zerlegt der Mann die Wirklichkeit in voneinander getrennte, unabhängige und antagonistische Begriffe - Natur/ Kultur, Körper/Geist, Gefahr/Vernunft - beansprucht sie alle für sich und bezeichnet sich selbst als gesund, ganz und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Unerschütterlich glaubt er an seine Tier-»Liebe«, er tritt Umweltvereinigungen bei und nimmt entlaufene Hunde und Katzen bei sich auf. Zur gleichen Zeit aber spießt er Fische auf Haken auf, jagt dem Rehwild Kugeln in den Leib und schießt irgendwelche Nagetiere nieder, die wagten, in seinem Garten am Gemüse zu knabbern. Großmütig verzeiht er das Niederknüppeln von Robbenbabys und die Schinderei und unerträgliche Tierquälerei in Versuchslaboratorien. Zu Tausenden walzt er Kaninchen, Eichhörnchen, Igel, Stinktiere und Oppossums platt, wenn sie sich auf seine Autobahnen wagen. In seinem totalen Krieg »gegen die Feinde der Menschheit« macht er sich daran, alle Arten von Insekten und »niederen« Lebensformen auszurotten, die seine Bequemlichkeit und seine Besitztümer bedrohen. Selten, daß ein Mann in einem solchen Verhalten einen Widerspruch erkennt. Und noch viel seltener, daß er sich damit auseinandersetzt. Diese Widersprüche und Trugbilder sind die Eckpfeiler des romantischen Weltbildes - eines Weltbi1des, in dem sich der Sadomasochismus höchst kultiviert im Bereich der »normalen« menschlichen Gefühle und Beziehungen festsetzt, indem er der Brutalität die Maske der »Liebe« überstülpt. Es ist eine verdinglichte »Liebe«, die ein »Liebesobjekt« braucht.

Jagdromantik

Romantik ist, einfach ausgedrückt, eine Funktion des Idealisierungsprozesses, statt brauner Pappe nimmt man feines Geschenkpapier. Ein Romantiker holt das »Liebesobjekt« aus der Wirklichkeit seines Seins heraus, bewahrt es in einem geheimen Winkel seines Herzens und zwingt es gleichzeitig in ein Macht- oder Herrschafts-Verhältnis. Zwischen dem romantischen Liebhaber und dem »Liebesobjekt« kann es keine Wechselbeziehung, keinen gegenseitigen Austausch geben. Alles, was zählt, ist die Suche (Pirsch), denn sie gibt seinem Leben durch die Machtausübung einen tieferen Sinn. Romantiker treiben sadomasochistische Spiele mit ihren Opfern, vor einem Hintergrund aus Hindernissen, potentiell bedrohlichen Situationen und großartigen Szenerien. Weil aber keiner dem Wirbelsturm von Gefühlen auf der Jagd nach einem - von vornherein unerreichbaren Ideal gewachsen ist, ist das Endziel des romantischen Spiels der Tod. Die Jagd, so wie sie in der Idealisierung der Pirsch, des Tötens, des Jägers und seines Opfers aufscheint, ist die tragende Säule der Romantik.
In den Geisteswissenschaften und in den Medien tauchen zahlreiche romantische Vorstellungen vom Jäger und der Jagd auf. Ein Beispiel für die unkorrigierten Widersprüche und Trugbilder, die solche Romantisierungen noch bestärken, ist bei dem derühmten Kunsthistoriker Sir Kenneth Clark nachuulesen, der die mittelalterliche Institution der Jagd in Animals and Men beschrieb, ein Werk, das zugunsten des World Wildlife-Fund in Auftrag gegeben worden war.

Die Jagd wurde als ein festliches Ereignis angesehen, bei dem der Verfolgung und dem Tod einiger Tiere geringe Bedeutung zukam im Vergleich zu dem Vergnügen, das eine Menge Menschen dabei hatte. Daraus entstand das vielzitierte Paradoxon, daß Jäger die einzigen Menschen seien, die Tiere wirklich lieben. [35]

Jagd - festlich - Verfolgung - Tod - Tiere - Vergnügen - Menschen - Jäger - Liebe. Gewiß eine merkwürdige Assoziationskette, verblüffend für eine Leserin, die das Leben bejaht. Irgendwo in dem Buch ist das Gemälde Jagd im Wald von Paolo Ucello abgebildet. Es zeigt ein Reh, umstellt von gelassen wirkenden Männern mit Waffen, Hunden und Pferden, die im Begriff sind, sich von allen Seiten auf das Tier zu stürzen. (Das Bild wird in einer Szene von Ingmar Bergmans Film Die Jungfrauenquelle wiederholt. In der Szene wird ein junges Mädchen gezeigt, das fast in derselben harmonischen Weise mit der Landschaft in Verbindung steht wie Ucellos Reh. Und wie in Ucellos Gemälde bemerkt auch sie die beiden abstoßenden Männer nicht, die im Dickicht lauern und sie dann überfallen und vergewaltigen.) Folgt man Clark, so gibt es in Ucellos Bild »kein Anzeichen von Brutalität oder Tod ... Hier kommt die Verbindung zwischen Mann und Natur der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter seltsam nahe. [36] Gesehen durch die Brille des Romantikers löst sich die Anspannung, verursacht durch die Brutalität, mit der das Reh überwältigt wird, in Nichts auf. Statt dessen sind wir aufgefordert, den Einklang des Mannes mit der Natur und die Harmonie des Goldenen Zeitalters nachzuempfinden
Clark kommentiert außerdem das Bild von Lukas Cranach, auf dem nur wenige Meter von einer Familie entfernt, die sich gerade auf einem Bootsausflug vergnügt, Tiere niedergemetzelt werden. Die Familienmitglieder merken davon offenbar nichts, nicht einmal das Hündchen der Kinder. Der Gegensatz zwischen der Brutalität der Jagd und der frivolen Gleichgültigkeit der wohlhabenden Bootsfahrer, die sich an ihrem Geigenspiel erfreuen, müßte eigentlich das Grauen vor Jägern und Bootsfahrern gleichermaßen wachsen lassen. (Man könnte dieses Bild mit einer Szene in dem Film Cabaret vergleichen, in der eine Gruppe deutscher Spießer selbstzufrieden ein üppiges Mal genießt, während eine Straße weiter die Nazis Menschen quälen und übel zurichten.) Clark sieht das anders: »Bis in die Neuzeit war es üblich, seinen Spaß daran zu haben, und ein Schauspiel, wie Lukas Cranach es darstellt, wäre für die meisten normalen Männer und Frauen lediglich ein Vergnügen gewesen.[37] Hier wird Brutalität als Norm der Vergangenheit entschuldigt und, weil es sich ja um Kunst handelt, von den allgegenwärtigen Mustern der Zerstörungslust, von denen diese Kultur durchdrungen ist, abgetrennt. Die Norm bestimmt die Normalität von Männern und Frauen. Wenn die Norm zerstörerisch ist, dann handeln auch die normalen Männer und Frauen zerstörerisch, ob sie sich nun an der Jagd beteiligen, wie Cranachs Jäger, oder sich, wie seine Bootsfahrer, »vergnügen«, während um sie herum die Gewalttätigkeiten weitergehen, oder wie die Betrachter, auf die Clark anspielt, Freude an Cranachs Schauspiel haben.
Zu den Anstrengungen, die der heutige Mann unternimmt, um die Widersprüchlichkeiten und Trugbilder rund um Jagd und Jäger zu rationalisieren, gehören auch die romantisierten Bilder, mit denen er den primitiven Mann als den archetypischen Jäger verklärt, mit der Jagd als dem sine qua non seiner Existenz. Diese Vorstellungen wurden zum Teil von primitiven Höhlenmalereien mit ihren Abbildungen von Tieren und Menschen abgeleitet. Nach eingehender Betrachtung von Abbildungen der primitiven Originalzeichnungen sind mir ganz andere Vorstellungen von unserer frühen Vergangenheit und dem Leben und Treiben damals eingefallen.
In der primitiven Kunst schildern die Höhlenmalereien eine direkte Beziehung zwischen der Künstlerin oder dem Künstler und dem Tier als beseeltem Wesen. Tatsächlich steht das Tier selbst im Mittelpunkt der Höhlenkunst, nicht die Jagd und nicht der Jäger. Bei jenen seltenen Beispielen, bei denen das Tier verwundet abgebildet ist, kann man sich den »Jäger« hinzudenken, zu sehen ist er jedenfalls nicht. Außerdem ist das Tier nicht als Beute oder Opfer gekennzeichnet, sondern als eigenständige Energie, und zwar so ungewöhnlich naturgetreu und schön, daß Kunsthistoriker den Künstlern eine tiefe religiöse Motivation zuschreiben. Die primitiven Künstlerinnen oder Künstler, die durch diese Höhlenmalereien vor meinem geistigen Auge auftauchen, sind Menschen gewesen, die im Einklang standen mit dem Leben des Tieres und deren Spiritualität die Darstellungen belebt und beseelt. [38]
Im Gegensatz dazu taucht in modernen Abbildungen des archetypischen Jägers und der Jagd ein gemeinsames Merkmal auf: Das Tier muß als Spiegel für die unterdrückten und verbildeten Gefühle des Mannes herhalten, es verkörpert etwas anderes, als es eigentlich ist. Es dient dazu, die Macht, das Ansehen usw. des Jägers hell aufleuchten zu lassen. Stets ist es des Jägers Beute, und dieser steht unverrückbar im Mittelpunkt. Das Tier ist nichts als Objekt, und Brutalität wird als Heldentum hingestellt.
Diese Bilder scheuen vor keiner Plattheit zurück. Beispielsweise schmückte ein Supermarkt in Waltham, Massachusetts, die Wand über seiner Fleischtheke mit drei »gemalten« Jagdszenen. Ein Eskimo durchbohrt einen Seehund mit dem Speer, ein Indianer schießt gerade mit dem Pfeil auf einen Büffel, und ein Afrikaner rammt einem Löwen seine Lanze in den Leib. Dazu die Überschrift: »Für Sie ist der furchtbare Kampf ums tägliche Brot vorbei. Bei uns sind ihre fröhlichen Jagdgründe«. Im Angesicht dieses Wandgemäldes kaufen wirkliche und gewöhnliche Leute Fleischstücke, die nicht mehr an Tier und auch nicht mehr an Schlachthaus (die »JAgdgründe«) erinnern. Die Botschaft, die die Inschrift verkündet, ist eine Lüge. Ernährung ist ein Kampf, hervorgerufen durch Übervölkerung und eine Konsumhaltung, die auf einer Wirtschaft der Verschwendung basiert. Somit ist der »furchtbare Kampf« nicht vorbei; er ist nur getarnt oder verlagert. Getarnt, denn der weiße Mann tötet jetzt anonym, im Hintergrund. Verlagert, denn der Kampf findet jetzt in der Tierseele statt - ungesehen, ungehört und unausgesprochen. Das Tier muß »leben« obwohl über seine Bedürfnisse brutal hinweggegangen wird, wenn man es in zu enge Ställe pfercht und mit giftigen Chemikalien füttert, die sein Wachstum beschleunigen und seinen Körper unförmig aufschwemmen. Hinzu kommt, daß sich für die Käufer der »Kampf« verlagert hat vom physischen zum ökonomischen Streß - die Leute müssen nun nach Posten jagen, um sich die Seelenqualen der Tiere, die sie essen, leisten zu können. In Wahrheit ist es nicht nur Tierfleisch, das der Käufer in diesen plastikverschweißten Päckchen erwirbt, es ist auch der seelische Kampf des einst lebenden Tieres.
Ein weiterer besonders verwirrender Widerspruch, begleitet von romantisch verklärten Trugbildern, ist das Phänomen des Jagdkünstlers, der zuerst tötet und dann seine Opfer zeichnet oder malt. Der Jagdkünstler liebt die Natur - die Vögel, Tiere -, aber er hat keinen Austausch mit ihnen, keine wechselseitige Beziehung, bei der das andere als selbständiges Wesen begriffen wird. Gäbe es eine solche Wechselbeziehung, dann würde es den Jagdkünstler nicht geben. Das Leben und Werk des schwedischen Naturalisten Bruno Liljefors liefert deutliche Beispiele für die Neurose, die einer solchen »Liebe« zur Natur zugrunde liegt. Als Kind soll Liljefors nachts wachgelegen und »Pläne für Vogelfallen« entworfen haben, »Besessen davon, sie die Vögel - in der Hand zu halten und aus der Nähe zu studieren«. Seine erste Waffe waren Pfeil und Bogen, doch weil er nicht nahe genug an seine Beute herankommen konnte, »ging er notgedrungen zum Gewehr über«. Immer noch unbefriedigt warf er mit Steinen, und »nachdem er seine Opfer getötet und präpariert hatte, studierte und zeichnete er ihre Anatomie«. [39] Nachdem er Liljefors als einen glühenden Naturliebhaber vorgestellt hat, äußert Don R. Eckelberry die Vermutung, daß die Jagdbesessenheit von Liljefors »ihre psychologischen Wurzeln in der Bewunderung für den Machtkampf zwischen dem Jäger und dem Gejagten hat, eine Folge seiner Kränklichkeit in den Kinderjahren«. [40] Es mag dahingestellt bleiben, ob die frühe persönliche Erfahrung die Besessenheit gefördert hat oder auch nicht, jedenfalls ist es eine befremdliche Bewunderung, die den Tod dessen, was man liebt, zum Ziel hat und darüber triumphiert. [41] Die Kehrseite von Liliefors' Problem des Töten ist seine Identifizierung mit hilflosen Tieren. »Er konnte... genauso sentimental sein wie jene, die er kritisierte, wenn er verletzte und verlassene Tiere versorgte und alles liegen und stehen ließ, um sich um ein bedrohtes Nest mit Jungen zu kümmern. Er war gerührt, wenn ein verschrecktes Fuchsjunges unter seinem Hemd Zuflucht suchte.« [42] Diese Beschreibung gibt Anhaltspunkte für den sadomasochistischen Charakter des Jagdkünstlers und für die inneren Täuschungsmanöver, die ihn befähigen, ohne einen Konflikt zu spüren, sich selbst gleichzeitig als Tierfreund und und Tierkiller zu sehen und auch von anderen so wahrgenommen zu werden. Große Umweltschutzvereine wie die Audubon Society haben Leben und Werk des Jagdkünstlers in romantisierenden Abhandlungen gewürdigt und damit den unversöhnlichen Dualismus einer Liebe, die sich im Töten ausdrückt, endgültig autorisiert und verschleiert.

Vom Romantischen zur Realität

Jäger brüsten sich oft als Umweltschützer, die die Natur lieben, und offenbaren damit eine weitere Widersprüchlichkeit, die sich in dieser Kultur eingenistet hat. In Wirklichkeit lieben die Jäger nicht die Natur als solche, sondern vielmehr das Gefühl in der Natur, mit dem sie sich an deren Tiere anschleichen und sie umbringen. Je nachdem, was die Natur für ihren Nervenkitzel »liefert«, bringen sie beträchtliche Geldbeträge für die Sicherung von Naturschutzgebieten und die geregelte Versorgung von Tier- und Fischreservaten auf. Zwanghaft getrieben kehren sie immer wieder zurück zu Wäldern und Seen, Flüssen und Feldern, Marschen und Meeren, um durch die Macht ihrer Angelruten und Gewehre zu leben.
Wenn der moralische Hintergrund ihrer Liebhaberei ernstlich angegriffen wird, dann flüchten sich Jäger im allgemeinen in Rationalisierungen, die ihren Eigennutz, als »Sorge« für Tier und Mensch maskieren. Zum Beispiel: »Die Rehe würden verhungern, wenn Jäger ihren Bestand nicht dezimieren würden.« Oder: »Die Bären würden zuviel Schaden anrichten, wenn die Jäger sie nicht unter Kontrolle hätten.« Der natürliche Hauptfeind des Rehs ist der Wolf, den Jäger fast völlig ausgerottet haben. Was plündernde Bären betrifft: Die menschliche Überbevölkerung und die »Notwendigkeit« der Industrialisierung wiederum bewirken, daß sich die Vorstädte in die Natur hineinfressen und die Erde und alles, was auf ihr lebt, belasten. Tausende von unschuldigen, frei lebenden Tieren wurden aus ihrem Lebensraum verdrängt, und dann machte man sie für den Schaden verantwortlich, den sie in menschlichen Siedlungen anrichteten, und rottete sie aus. Den Rehen ging es gut, solange sie in Ruhe gelassen wurden. Genauso war es mit den Bären.
Vielleicht ist es vom Gesichtspunkt des Tieres aus belanglos, ob es von den Klauen eines Bären getötet wird oder durch die Kugel eines Jägers. Aber für den Fortgang und die Qualität von Leben macht es einen gewaltigen Unterschied, ob Menschen wie die Bären töten oder wie die Jäger. Bären töten nicht grundlos zum »Vergnügen«, aus Statusgründen, aus Gewinn- oder Machtstreben oder aus Männlichkeitsgehabe. Jäger wohl. Baren töten, weil sie fressen müssen, sie töten, um zu überleben. Die überwiegende Mehrheit der 20,6 Millionen »registrierten« Jäger in den Vereinigten Staaten tötet nicht zum Überleben. Bären töten den Schwachen. Jäger nehmen nur den Größten und Besten. Bären geben sich der Erde zurück. Jäger geben nichts zurück.
Nachdem er Zeuge einer Elchjagd geworden war, schrieb Henry David Thoreau:

An diesem Nachmittag war mir klar geworden, wie niederträchtig und gemein die Motive sind, die Männer im allgemeinen in die  Wildnis treiben. Die Waldläufer und Holzfäller sind käuflich, sie werden tageweise für ihre Arbeit bezahlt, und deshalb haben sie nicht mehr Liebe zur freien Natur als Borkenkäfer zum Wald. [43]

Thoreaus Erfahrung auf dieser Jagd hat ihm die Einzigartigkeit des Lebens ins Bewußtsein zurückgerufen, dieses seltene und schöne Gefühl, das man nur spürt, wenn man an der »Vollkommenheit« teilhat, die in jedem Stück Natur liegt. Mit anderen Worten: jedes Stück Natur ist in sich ein Geschenk. Für Thoreau bedeutet die Fähigkeit, um das Herz eines Pinienbaumes zu wissen, ohne hineinzuschneiden, die heilende Kraft der Natur zu lieben, ohne sie umzubringen. Diese nachdenkliche, uneigennützige, unmaterielle Liebe zur Natur wird oft für romantisch gehalten, weil sie emotional ist und solche Notwendigkeiten des Lebens wie Häuser bauen und sich warm halten zu ignorieren scheint. Thoreaus eigener Versuch zur Selbstversorgung - wozu er Bäume fällen mußte - hinderte ihn nicht daran, so innig, wie er nur konnte, an dem Geheimnis der Natur teilzuhaben.
Teilhabe an der Natur ist der romantischen Begierde, die sich in der Jagd verkörpert, diametral entgegengesetzt. Diese Begierde verschlingt das Objekt ihrer Liebe und ist unersättlich, denn sie entspringt einem neurotischen Bedürfnis nach Macht und Herrschaft. Teilhabe an der Natur erwächst aus dem Erkennen der Tatsache, daß Natur aus sich heraus existiert, für sich selbst und durch sich selbst; daß Prinzipien und Kräfte in ihr wirksam sind, die sich nicht manipulieren oder nutzbar machen lassen; und daß ein Verständnis für Natur daraus entsteht, daß wir sie erfahren, nicht erforschen, daß wir mit ihnen leben, nicht über ihr stehen. Teilhabe an der Natur verbindet Liebhaber und Geliebte in sich immer wieder erneuernden, sich gegenseitig stärkenden Kreisläufen von Leben und Sterben.