Schönheit und Anmut entstehen unabhängig von unserem Wollen oder unserem Verstehen. Das Wenigste, was wir dabei tun können, ist der Versuch, da zu sein.
Annie Dillard, Pilgrim at Tinker CreekWarum nehmen die Weißen die Dinge nicht hin, wie sie sind, und
lassen die Welt in Ruhe?
Aunt Queen James, Indianerin
Was ist Natur
Die Beantwortung dieser Frage hängt ab von gesellschaftlichen und individuellen Einflüssen, von beruflicher Neigung und Erfahrung. Die meisten westlichen Menschen fassen heute unter Natur »alles, was draußen ist« zusammen, egal, was sie gerade vor Augen haben - einen Stadtpark, einen Universitätscampus oder einen Garten. Natur ist alles, vom Gebirgswanderweg bis zur »Biomasse«, Strände, Vögel und Bienen, das Strahlen der Sonne und die Petunien auf dem Balkon. Gelegentlich wird die Natur noch mit »Mutter Natur« in Verbindung gebracht, wiewohl diese Phrase ihre ursprüngliche Bedeutung längst verloren hat. Man findet sie dedeutungsschwanger in der Sprache der Wetterpropheten, wo »Mutter Natur« »ein strafendes Unwetter« entlädt. Dieselbe Phrase heizt die Eroberungsphantasien der Jäger an, die für sich in Anspruch nehmen, die Natur zu »lieben«, auch wenn sie ihre Geschöpfe umbringen. Und sie hat die Gehirne der Wissenschaftler besetzt, die die Natur zu Tode »lieben« beim Versuch, alle ihre Geheimnisse zu »durchdringen« und zu »verstehen«. Für Liebende ist »Mutter Natur« etwas anderes als für Wissenschaftler, Bauern, Maurer, Büroangestellte, Landschaftsplaner und so weiter. Offenbar definiert das Wort »Natur« nicht so sehr, was wir sehen, sondern wie wir sehen. Der Jäger liebt nicht die Natur, sondern das Gefühl in ihr, wenn er sich an seine Beute heranpirscht. Der Forscher in einem Tierversuchslaboratorium liebt nicht die Tiere, er liebt das Gefühl von Macht und Einfluß, das er aus seiner Herrschaft über die Tiere ableitet. Natur ist also ein Bewußtseinszustand und eine kulturelle Übereinkunft. Die äußere Welt besteht in und durch sich selbst, aber die Worte, durch die wir sie erkennen, bestimmen die Qualität unseres Verhältnisses zu ihr. In westlichen Kulturen ist dieses Verhältnis geprägt durch Nützlichkeitsdenken und Ausbeutungsmentalität. Außerdem neigen wir dazu, Natur gleichsam als die Antithese zur Kultur aufzufassen, und zwar auf der Basis: Natur schafft sich selbst, und Kultur ist das, was der Mensch schafft. Die Wildnis ist per definitionem das Unbekannte, das ungezähmte, das vom Menschen Unberührte, also die Antithese zu Kultur. Jedoch wird die Wildnis nach der Entdeckung durch den Menschen ein Teil der Natur, was gleichbedeutend mit der Aussage ist, daß sie eine Erscheinungsform der Kultur wird. Die Entdecker unbekannter Landstriche haben stets ein ganzes Bündel von Werten und Vorstellungen in ihrem Gepäck, und mit diesem Instrumentarium definieren sie die Wildnis. Das gilt gleichermaßen für alle Formen von Besiedlungen und Einzelexpeditionen wie auch für solche Unternehmungen wie die Eroberung der Neuen Welt, des »Wilden Westens« und des Weltraums. Wo die direkte Erfahrung des Neulands nicht möglich ist, zieht der Mensch seine kulturellen Bilder und/oder seine Phantasie zu dessen Beschreibung heran, wie das jene Dichter, Philosophen und Romanschreiber tun, die sich nie aus ihrer zivilisierten Umgebung herauswagen und sich dennoch in ihren Werken zu kühnsten Höhenflügen aufschwingen. Es ist genau die Projektion kultureller Werte auf die Welt außerhalb von uns, die auch den Umgang mit dieser Welt festlegt. Am Anfang und auch noch in einigen heutigen Gesellschaften hatten und haben die Menschen ein zutiefst ehrfurchtsvolles Verhältnis zur Natur. In allen Ländern der westlichen Einflußsphäre ist dieses Verhältnis indes zutiefst destruktiv. Wir übernahmen das Wort »Natur« aus jenen frühen Zeiten, inzwischen aber wurde dieses Wort in zahllosen Generationen breit- und weichgekaut zu einem Gummibegriff mit schalem Geschmack, und jetzt paßt es zu seinen »professionellen« Entsprechungen, die da heißen: Umwelt, Ökosystem, Biosphäre usw.
Natur und Namen
Im Anfang war das Wort.
(Johannes 1, 1)
Etwas einen Namen zu geben bedeutet, sich selbst in Beziehung dazu zu setzen, ihm einen Wert zuzuordnen und es zu gestalten. Ein Name ist ein existentieller Spiegel für die, die ihn erfunden haben. Wir sollten den Zusatmmenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und Sprache nie aus den Augen verlieren. Ansonsten laufen wir Gefahr, den Sprachtheoretikern in die Falle zu gehen, die ganz allgemein dazu neigen, Wörter und Syntax aus dem sozio-emotionalen Umfeld zu reißen, in dem sie entstanden sind. Dementsprechend werden Linguistikstudenten niemals dazu angehalten, bei ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit all ihrer Vorstellungskraft Fragen nach der Qualität des Lebens zu stellen, die sich in der Sprache, in unserem Fall in dem Wort »Natur« widerspiegelt.
Wahrscheinlich hatte das Wort »Natur" ursprünglich nicht seine heutige Bedeutung, sondern war ein Ausdruck für die Erfahrung mit der Außenwelt. Solche Ausdrücke nennt man Holophrasen. [1] So wie sich die Erfahrung des Menschen mit seiner Umwelt verändert und wandelt, so gibt es auch eine Reihe von unterschiedlichen Holophrasen, die uns eine Sichtweise von Natur vermitteln. Die Indianersprachen geben eine Vorstellung davon, wie sich eine solche Verbalisierung niederschlägt. Als eine alte Indianerin über die Bedeutung eines Berges in der gefährdeten kalifornischen Region Siskiyou sprach, sagte sie:
Du triffst auf einen Ort, wie du ihn nie vorher gesehen hast, und er hat eine furchteinflößende Schönheit, alles unter dir, über dir, um dich herum ist von einer solchen Reinheit - das ist die Schönheit, die wir nennen, und ein reiner Mensch ist ebenso merwerksergerh.[2]
Merwerksergerh ist eine Holophrase, die einen Aspekt des komplexen, lebendigen Verhältnisses zwischen den Ureinwohnern Amerikas und »Natur« beschreibt. Der Unterschied zwischen Holophrasen und der Syntax europäischer Sprachen ist von großer Bedeutung. Die Vergewaltigung der Natur, das unstillbare Verlangen, Natur zu beherrschen, indem man sie systematisch zerstört, ist unvorstellbar in Kulturen, deren Sprachschatz empirisch und nicht analytisch geprägt ist. Holophrasen entstehen nur in Gesellschaften, in denen die Bedeutung von »Wir« mehr ist als die Summe der einzelnen «Ichs«. In diesem »Wir-Gefühl«, das die Gesamtheit der Natur umfaßt, passen sich die Menschen der Natur an und behandeln sie nicht nur. Merwerksergerh ist ein Begriff, der Denken und Fühlen gleichzeitig ausdrückt. Was das Auge sieht (»ein Ort«), wird nicht als ein außenliegendes Objekt eingestuft, sondern ist eins mit dem Betrachter, der es gerade erfährt. Es gibt kein »Ich", das abgehoben von der reinen, furchteinflößenden Schönheit des Ortes existiert. Die englische Syntax, wie auch die aller anderen europäischen Sprachen, fordert einen Handelnden, der mit einem Objekt umgeht und ihm einen Wert zuspricht. Sie verlangt, daß das Objekt in einen Bezug zu dem Handelnden gesetzt wird. Somit ist das Objekt immer umständlich, in diesem wörtlichen Sinn, daß es um den Handelnden »herumsteht«. Gleichzeitig ist es von diesem durch etliche Bestandteile seiner Sprache getrennt: Der Ort befindet sich über »dir«, unter »dir« oder um dich« herum, und »du« bist kraft deiner Sprache der/die Handelnde/Betrachtende der/die alles zerlegt (analysiert) und wiegt, immer im entsprechenden Verhältnis zu deinem individuellen »Ich«.
Die Altphilologin Jane Harrison machte in ihren Ausführungen zu den Holophrasen den engen Bezug zwischen Sprache und sozialen Strukturen deutlich. Sie wies darauf hin, daß eine Holophrase eine mit Worten ausgedrückte Holopsychose darstellt (holo, ganz; psychosis, ein lebenspendender Vorgang). Das heißt: Die Holophrase formuliert die Art und Weise, in der ein gesunder Geist eine Erfahrung aufnimmt und sie wiedergibt, ohne dabei Emotion und Ratio, Fühlen und Denken, Selbst und Nicht-Selbst zu trennen.[3] Die hierarchischen Strukturen in den westlichen Gesellschaften - und damit auch ihre Sprachen - lassen die Darstellung einer solchen Gesamtbefindlichkeit nicht zu. Hierarchie teilt, zerstückelt. Sie ist nur möglich auf der Basis von geradlinigen, vernunftbestimmten Gesprächen. Aus diesem Grund ist es in westlichen Sprachen schwierig, eine Einheit mit dem Nicht-Selbst und andere ganzheitliche Erfahrungen auszudrücken. [4]
Natur als Mutter und Göttin
Natur ist ein modernes Wort aus dem rationalen Wortschatz der patriarchalen Gesellschaft. Wir haben es aus dem Lateinischen (nattis, geboren) übernommen, die begriffliche Grundlage aber stammt von den Griechen (physis, Natur - von phyein, gebären). Das, was geboren wird, hat auch eine Gebärerin - die Ur- oder Stammesmutter aus dem Paläolithikum (25 000 - 15 000 v. Chr.), die dann im Neolithikum (8 000 - 3 000 v. Chr.) zur Erdmutter wurde, der schöpferischen Kraft des Universums. Es herrschte die Überzeugung, daß allem, was die Erdmutter hervorbrachte, allem, was existierte, ihr Geist innewohnte. So entstand ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Menschen und der gesamten Schöpfung - den Pflanzen, den Tieren, den Elementen und anderen Planeten. Diese ganzheitliche Auffassung von Leben hatte vermutlich ihre Wurzeln in Mesopotamien und breitete sich von dort nach dem Nahen und Mittleren Osten, nach Europa, Afrika und Asien aus. Die Schöpfungslegenden der Indianer, quer durch ganz Amerika, beweisen, daß diese Weltsicht allumfassend war. In Europa dauerte die Verehrung der Erdmutter nachweisbar bis 500 v. Chr.[5] und sie besteht noch heute in den Indianerstämmen fort, die sich entscheiden, in ihren Traditionen weiterzuleben.
Die in Europa beheimateten Gesellschaften leiten ihre Auffassung von der Erdmutter von den vorhellenischen Griechen ab, die ihrerseits von Kreta, Frühanatolien und dem Nahen Osten beeinflußt waren, und aus der mächtigen keltischen Überlieferung, die sich in einem breiten Bogen von Nordirland bis Spanien zieht. Der Beitrag der Etrusker ist noch nicht ausreichend erforscht. Jedoch deuten ihre sehr ausgereiften Zeichnungen, ähnlich wie in der kretischen Kunst, die hervorragende Stellung der Frauen an. Die Verehrung der Erde als Göttin ist immer ein Anzeichen für eine matriarchale Gesellschaftsstrukthr. Ich möchte diesen unter Feministinnen bekannten und viel diskutierten Punkt besonders hervorheben, denn für uns Frauen ist die Erinnerung an die Vergangenheit außerordentlich wichtig. Als Wissenschaftlerin achte ich darauf, daß Women's Studies auch über die Geschichte der Frauen in der patriachalen Gesellschaft informieren. Das reicht freilich noch nicht. Die Geschichte der Frauenunterdrückung muß immer wieder dem gegenübergestellt werden, was davor war. Nur dann erhalten wir eine Vorstellung davon, was wir waren und was wir infolgedessen sein können. Ohne dieses Wissen neigen Frauen dazu, sich auf »gleichberechtigter« Basis einen Platz in der Welt des Mannes verschaffen zu wollen. Das bedeutet, daß frau seine Ideologien und Mythen, seine Geschichten usw. in sich aufnimmt und dabei jegliche Verwurzelung in der eigenen Tradition verliert. Anne Cameron sagte dazu: »Man kann die Dinge auf eine bessere Art und Weise tun. Manche von uns sind sich dessen bewußt«.[6] Zu dieser besseren Art und Weise gehören Wesensverwandtschaften, das Wissen um Gleichheit [7] und auf Pflege und Aufzucht gegründete Werte, Dinge, die Frauen erfahren hatben und die sie nicht nur auf ihre Göttinnen übertragen, sondern auf jedes Wesen um sie herum. Im Gegensatz dazu statten Männer die von ihnen geschaffenen Götter mit einem abgehobenen Individualismus aus, mit hierarchischen Beziehungsverhältnissen und machtbezogenen Werten, allesamt Dinge, die wir in den patriarchalen Gesellschaftsstrukturen wiederfinden. Verehrung der Erde entspricht dem, was in einschlägigen Lehrbüchern gemeinhin Animismus genannt wird, also der Glaube daran, daß alles, was lebt, eine Seele oder Geist hat. Animismus wird immer mit dem Etikett des Primitiven versehen, und »primitiv« ist negativ besetzt, weil es unsere sogenannte fortgeschrittene Zivilisation als Bezugspunkt hat. Animismus umfaßte auch Pflanzen und Tiere wegen der spirituellen Kraft (Mana), die ihnen - wie man glaubte - als Kindern der Erdmutter innewohnte. Als die Entwicklung des Ackerbaus (etwa um 7 000 v. Chr.) mehr Erfahrung mit der Tier- und Pflanzenwelt vermittelte, schlug sich die damit einhergehende Bewußtseinserweiterung ebenso in einem erweiterten Wortschatz wie in einer umfassenden Vorstellung der Göttin nieder. Während die Erdmutter weiterhin in den älteren Formen wie Vogel und Schlange angebetet wurde, dehnte sich ihre Verehrung gleichzeitig auch auf Oliven und Gerste, auf Kühe und Schweine aus.
Für uns so unterschiedliche Kreathren wie das Schwein, der Delphin und das menschliche Kind wurden als »Gebärmutter-Lebewesen« begriffen: Lebewesen, die derselben Mutter entstammten, von derselben Quelle ernährt wurden, denselben Gesetzen unterlagen. Den Namen »Lebewesen« (engl.: animals) erhielten sie, weil sie beseelt waren. Das Wort animal kommt vom lateinischen anima (Seele). Desgleichen kommt das griechische Wort zoion (Lebewesen) von zoe Leben - jegliches Leben. In jeder Sprache versteht man unter der Seele das Lebensprinzip an sich, die Grundlage für alles Wachstum. Wenn sie sterben, kehren Menschen und Tiere zum »Lebens«-Ursprung in den Schoß der Erde zurück, aus dem sie geboren wurden.
Vor und während der Entwicklung des Ackerbaus gab es überall im Vorderen Orient »Pflanzenfeste« - für und mit eßbaren Wurzeln, Nüssen und Wildfruchtbäumen. Das setzte sich in die Bronzezeit hinein (etwa bis zum 2. Jahrtausend v. Chr.) in den Gesellschaften fort, die sich den Glauben an die Erdmutter bewahren konnten. Hülsenfrüchte heißen im Englischen legume (»das, was aufgelesen wird«). Darin steckt das griechische Wort logos, das in seinem ursprünglichen Sinn »das Wesen des Seins« bedeutete. Das Wort »Frucht«, englisch fruit, (»das, was Freude macht«) hängt mit den Vorstellungen von Freude und Ernte zusammen. Im Englischen haben die Wörter »Gemüse« und »wachsen« (vegetable, to vegetate) dieselbe Sprachwurzel: das Gemüse wächst, erwacht, regt sich. Aus seiner etymologischen Entstehung heraus drückt das Wort vegetable den Wachstumsprozeß aus, das Reifen von Mais und Getreide, das Erwachsenwerden. Das Mädchen wird Mutter. Das ist die Bedeutung von Demeter (»De« ist eine sprachliche Abwandlung von »Ge«, was »Erde« bedeutet; »meter« heißt »Mutter«). Ihr lateinischer Name lautet Ceres, die, die das Getreide gibt. Hinter den Wörtern legume, fruit und vegetable, finden wir dieselben Wechselwirkungen, die auch bei der Benennung von Tieren eine Rolle spielen. Diese Wechselbeziehung zwischen den Menschen und dem benannten Ding weist darauf hin, daß vegetables als etwas angesehen wurde, das ebenso in Erregung herauskam, wie es auch erregend war; fruit wurde für etwas gehalten, das sich am Wachsen freute, aber auch erfreulich war; legume las Leben auf und gab Leben, sobald es aufgelesen wurde; und animals waren beseelt und beseelten, wie alles über die Erd-Mutter eine gemeinsame Seele mit den Menschen teilte. Diese teilnehmende, ehrerbietige Haltung gegenüber Natur war in höchstem Maße moralisch, weil sie gebräuchlich war (»moralisch« kommt vom lateinischen mos, Brauch, Sitte), vor allem aber war sie moralisch in unserem Sinn, weil Menschen den Wert jeder Form von Leben anerkannten und achteten.
Die dreifache Göttin
Alte Kulturen sprachen gewissen Zahlen eine magische Kraft zu. Diese enthüllten, bargen und umfaßten gleichzeitig das Wesen der Phänomene, die für sie am wichtigsten waren. Bei den Indianern scheint es die Zahl Vier zu sein, im Mittelmeerrau die Drei.
Dort wurde die von den Frauen geschaffene Göttin Erde in den drei Stadien des weiblichen Lebenszyklus verehrt. Daraus entsprang dann der Gedanke der Dreifaltigkeit, der schließlich die zentrale Aussage des christlichen Dogmas werden sollte. [8] Die Göttin verkörperte die geachtete Stellung der Frau als Jungfrau (Nymphe), Mutter und Greisin. Die Frauen empfanden sie als eine real gegenwärtige und greifbare Erscheinung. Sie war »alles, was ist«, denn sie brachte alles Leben hervor. Somit war sie ebenso untrennbar verbunden mit den drei Mondphasen (die vierte ist unsichtbar) wie mit ihren Erscheinungsformen in der Tier- und Pflanzenwelt. Sie war Hekate, Selene und die weitschießende Mondgöttin Artemis. Sie war Helena, Phoebe und die weitwandernde Eurynome. Und sie war gleichzeitig Erde, Wind, Wasser usw., unter den verschiedensten Bezeichnungen, je nach den Sprachen der Völker, die sie verehrten. In der Pandora, die in der patriarchalen Version ihres Mythos so übel verleumdet wurde, verkörpert sie auch die Urmatriarchin, die Allgebende, die Allwissende, die von allen Geliebte, In ihrer Brust verbirgt sie zahlreiche Erdgeister, die menschlichen Gefühlen entsprechen Freude, Liebe, Trauer, Einsamkeit. Ihr Heiligtum ist der Herd, der ei- oder bienenkorbförmige Mutterleib, in dem die heilige Schlange als Schutzgeist wohnt.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich daran zu erinnern, wie die Verehrer der Göttin sich selbst genannt haben. Wir stellen uns die Giganten und Titanen der Mythologie als angriffswütige, überlebensgroße Wesen vor, weil sie in der Überlieferung Homers so erscheinen. Jane Harrison dagegen hat nachgewiesen, daß Gigant »Erdling« bedeutet, desgleichen Titan, nämlich Wesen, die von Ge (Gaia) und Titaia, alten Namen für die Erdmutter, geboren wurden.
Erinnerung an die Vergangenheit
Was können die Frauen unserer Zeit aus diesen alten Begegnungen, Festen und Personifizierungen der Göttin lernen? Wir könnten vernünftigerweise daraus schließen, daß die Bestimmung einer Frau aus ihr selbst heraus und von anderen Frauen kommt, nicht aber irgendwelchen Jugend- und Schönheitsidealen unterworfen ist, die Männer aus ihrer Selbstgefälligkeit heraus aufgestellt haben. In jenen frühen Gesellschaften wären MakeUp und Mode mit dem Ziel, einer Frau auch noch »nach ihren besten Jahren« ein jugendliches Aussehen zu verleihen, unvorstellbar gewesen. Anzeichen von Alter hätten keines der Traumata ausgelöst, mit denen das Älterwerden in patriarchalen Kulturen einhergeht. Vielmehr hätte eine Frau ihr Selbstwertgefühl durch ihre Bedeutung in der Gemeinschaft gewonnen, sowie durch ihre Aufgaben, die sich im Alter verändert hätten, ohne daß damit eine Geringschätzung verbunden gewesen wäre.
Des weiteren könnten wir vernünftigerweise daraus schließen, daß die Selbstachtung einer Frau damals eng mit ihrem Gefühl für den eigenen Körper und seine Funktionen verknüpft war. Das griechische Wort für Mond ist men, was auch Monat bedeutet. Es ist die Wurzel für die Menses, Menstruation, Menopause einer Frau. Frauen, die, durch ihren Menstruationszyklus ausgezeichnet, mit dem Einfluß des Mondes auf den Ablauf der Jahreszeiten, auf die Folge von Ebbe und Flut und von Ernten im Einklang stehen, schämen sich nicht wegen ihres Körpers. Sie würden sich auch nicht über den Körper anderer Frauen lustig machen, nach Mängeln schauen, die es nicht gibt, die sie aber dennoch finden, weil sie danach suchen, nicht mit ihren eigenen Augen, sondern mit dem tadelsüchtigen Blick des Mannes.
Und schließlich können wir daraus ableiten, daß die Stärke einer Frau ihrem Handeln entspringt. Dort, wo es keine strenge Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gab, entwickelte die Frau ihre Fähigkeiten auch jenseits ihrer vielgerühmten Duldsamkeit und ihrer fürsorglichen Bereitschaft für das Wohlergehen anderer. Sie lernte aus dem Verhalten der Pflanzen. Sie lernte aus dem Verhalten anderer Lebewesen zu Wasser, zu Land und in der Luft. Sie lernte von ihnen in einem Geist der Anerkennung und Achtung. Und mit der gleichen Geisteshaltung nahm sie Anteil an ihnen. Wir können uns unschwer ein Bild davon machen, was für eine Rolle die Aufteilung der vorhandenen Nahrungsmittel in Gesellschaften spielt, in denen aber eine gemeinsame Mutter, die große Göttin, die Quelle des Universums, alles zueinander in Beziehung steht. Wirtschaftlicher Raubbau und Verschwendung hätten keinen Platz in einer Gemeinschaft, für die das, was sie verbraucht, heilig ist.
Die archetypische Mutter
Unter welchem Namen sie erscheint, die Muttergottheit Mutter ist das archetypische Weilichkeitssymbol. Beeindruckend finde ich dabei das Alter und die Ausbreitung der mit ihr verbundenen Religion wie auch die Vorstellungskraft, Geschicklichkeit und Zeit, die die Menschen des Paläolithikum, 25 000 Jahre v. Chr., in Europa und Asien dafür aufbrachten, sie in kleinen Tonfiguren darzustellen. Ich entdeckte aus jener Zeit ausschließlich weibliche Figuren, ein Zeugnis für Gesellschaften, in denen die Frau im Mittelpunkt stand, oder für Matriarchate. Unter Matriarchat verstehe ich nicht, daß Frauen das »herrschende Geschlecht« waren - die Vorstellung von Herrschaft ist patriarchaisch - sondern daß weibliche Erfahrung die Kultur bestimmte.
Das meiste, was wir über die archetypische Mutter wissen, stammt von den »Jungianern« und den Mythenschreibern, die sie so lange verdrehten und verzerrten, bis sie wieder in ihre Sicht des »Ewig Weiblichen« paßte. Dieselbe Einstellung ist unter den Anthropologen verbreitet, die diese kleinen Tonfiguren als Kultobjekte bei Fruchtbarkeits- und Pubertätsriten einstuften und sie »Venus-Statuetten« nannten. Ob nun Venus oder das ewig Weibliche: Erotik und Mutterschaft werden jedenfalls als die grundsätzlichen weiblichen Attribute angesehen, alles andere spielt keine Rolle.
Die »Venus«-Figur ist vor allem rund. Ihre Brüste gleichen zwei Vollmonden, in ihrem Bauch scheint die Welt eingeschlossen. Sie ist die personifizierte Üppigkeit, ihr Körper ist bis zum Rand voll mit Leben und Lebensenergie. Sie verkörpert ein Bild der Familie, nicht die Spur ähnlich jenem anderen Bild von dem haarigen prähistorischen Mann, der mitten im »Überlebenskampf« steht. Der aber ist nur ein Phantasiegebilde, in Lehrbüchern als Wahrheit präsentiert, gemeinsam mit dieser armseligen Theorie, daß Leben nichts anderes als Entwicklung von Überlebens- und Fortpflanzungs-»Strategien« sei.
Leben ist eine Erfahrung, keine Übung im Kriegführen. Wie sehr Fruchtbarkeits- oder Pubertätsriten in diesen alten Gesellschaften auch im Mittelpunkt gestanden haben mögen, so darf doch nicht übersehen werden, daß Leben, egal wie »primitiv« es ist, in seiner Fülle auch Erfahrungen beinhaltet, die nichts mit Nachkommenschaft und dem Organisieren von Nahrung zu tun haben. Spielelemente, unvorhersehbare Veränderungen, ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen Lebensformen, ritualisierte Geburten, Todesfälle und der Ahnenkult sind um nichts weniger lebensbestimmend als Fruchtbarkeitsriten. [9] So versinnbildlichen die «Venusfiguren« wahrscheinlich die Gesamterfahrung der Menschen, die sie gestaltet haben. Und genau das ist für mich die Bedeutung der archetypischen Mutter.
Die Göttin in ihrer Darstellung
Merlin Stone setzte sich in When God was a Woman umfassend mit der Urgöttin im Nahen und Mittleren Osten auseinander. In dem Buch finden sich Abbildungen von Skulpturen und Gravierungen der Göttin aus den Jahren 25 000 bis 300 v. Chr., die die Entwicklung der Mutterreligion nach dem Aufkommen des Ackerbaus im Patriarchat zeigen. Die umfangreichsten Arbeiten jedoch über die Bedeutung der Ur-Göttin stammen von der Altphilologin Jane Harrison. In ihren Büchern Prolegomena to the Study of Greek Religion (1903), Themis: A Study of the Origins of Greek Religion (1912) und Epilegomena to the Study of Greek Religion (1921) untersuchte sie hauptsächlich das vorhellenische Griechenland. Vom Standpunkt einer feministischen Theoretikerin aus sind diese Werke ziemlich zaghaft. [10] Dessen ungeachtet enthalten sie eine Fülle von Informationen und Abbildungen, Zeugnisse für eine erstaunlich hochentwickelte Kultur, in deren Mittelpunkt die Erdmutter und die Frau stehen. Ich erwähnte bereits die heilige Stellung, die Pflanzen und Tiere in der Verehrung der Erde einnahmen. Das spiegelt sich auch in der alten Kunst wider, am mannigfaltigsten in Kreta, wo die Schlange das vorherrschende Symbol, das heilige Tier schlechthin war. [11] Eine frühe Figur zeigt die Urgöttin »sitzend auf dem Katzenthron« (5750 v. chr.; Stone, When God was a Woman, Abb. 4). Die Figur ist in Anatolien gefunden worden und ähnelt mit ihrer runden Gestalt der 20 000 Jahre älteren berühmten »Venus Statuette«. Ihre Hände ruhen auf den »Katzen,« die wahrscheinlich nur so heißen, weil die genaue Tierart nicht eindeutig zu bestimmen ist. Sie ist klar ersichtlich als der allesspendende Lebensquell, und ihre würdevolle Erscheinung wirkt sehr ehrfurchtgebietend. Aus dem frühen dritten Jahrtausend ist ein altes Steinbild erhalten, das eine sumerische Göttin zeigt, die in jeder Hand etwas hält, das wie eine Palme aussieht oder wie ein stilisierter Obstbaum, während zu beiden Seiten dicht an ihrem Gewand ein unbestimmbares Tier steht (Stone, Abb. 7). Eines meiner Lieblingsbilder ist auf einem spätmykenischen (zweites Jahrtausend v. Chr.) Goldsiegelring zu sehen (Harrison, Themis, Abb. 36). Harrison beschreibt es so:
Unter einem großen Obstbaum ist die Erdgöttin oder ihre Priesterin zu sehen; sie hält Mohnblumen in der Hand Verehrerinnen bringen ihr Blumen und Zweige; hinter ihr pflückt eine Frau Obst, über ihr Uranos, Sonne und Mond und die Milchstraße in all ihrer Herrlichkeit, und die Mächte des Himmels fahren hernieder, der Donner in seiner Doppelgestalt als Schildgeist und Streitaxt.[12]
Bei dieser rituellen Szene fällt besonders auf, daß sich die Göttin in ihrer Erscheinung nicht nennenswert von den sie umgebenden Frauen absetzt, während wir aus unserer heutigen Sicht unverhältnismäßig große und beherrschende Gottheits- oder Heldendarstellungen gewohnt sind. Sie ist lebensgroß dargestellt und steht weder in einem Abstand zu ihren Verehrerinnen noch turmhoch über ihnen. Sie sieht so natürlich aus wie die Frauen, die ihr Früchte und Blumen opfern. Sie strahlt keine autoritäre Strenge oder Zorn aus, sondern lächelt, ebenso wie ihre Dienerinnen, auf eine Art, für die die Kunsthistoriker den Begriff »archaisches Lächeln« geprägt haben, rätselhaft und unergründlich. In Gruppenszenen begegnen sich Göttin und Frauen mit gelassenen, anmutigen Gesten, die unbefangene Zufriedenheit und innere Harmonie erahnen lassen.
Korrektur am Frauenbild
Diese alte gynozentrische Lebensweise ist vorbei, doch ist sie für alle in Museen und anhand von philosophischen, religiösen und archäologischen Büchern nachzuvollzielien. Sie ist auch in zahlreichen Mythen und Erzählungen aus Nord- und Südamerika überliefert. Doch die männlichen Volksaufklärer, die die bekannten Theorien über die Entwicklung der menschlichen Rasse verbreiten, ignorieren das. Ob das Thema nun in speziellen Bildungsprogrammen im Fernsehen oder in populärwissenschaftlichen Massenprodukten abgehandelt wird, stets strahlt das Bild des Mannes als Schaffer und Macher der Kultur. Er beherrscht die »nachgestellten« Szenen aus der Jäger- und Sammler-Zeit oder aus der Ackerbauperiode. Das Buch Origins von Richard Leakey und Roger Lewin gibt ein gutes Beispiel für diese Tendenz ab. Es gewann 1977 den Buchpreis »der Mensch in seiner Umwelt« und wurde hochgelobt als gelungene Verbindung von grundlegender Information und phantasiereicher Illustration und wegen seiner Bedeutung »als eine Art von Roots (eine populäre Bewegung in den USA auf der Suche nach den Wurzeln der eigenen Geschichte; A. d. Ü.) nicht nur für Leakey, sondern für uns alle«. Origins war auch ein Bestseller zu dem Thema »Wie der Mensch zum Menschen wurde«. [13] Tatsächlich ist es ein Buch über Männer, für Männer, die Kernfamilie und patriarchale Hierarchien. Eine Frau, die Origins liest, würde sich nicht wenig über ihre Wurzeln wundern und sich schließlich fragen, ob wir Frauen überhaupt jemals als eigenständige Wesen existiert haben. In diesem Buch wird der nackte Mann als einziger Vertreter seiner Gattung in den verschiedenen Entwicklungsstufen dargestellt. Gut aussehend natürlich, jung und hellhäutig. Kommt doch einmal, selten genug, eine Frau vor, dann als Mitglied in einer gemischten Gruppe oder Teil eines Paares, sie hält Säuglinge auf dem Arm oder hilft ihrem forschenden, tüchtigen Mann. Diese »phantasiereichen Illustrationen« gehen dann langsam über in Photographien von ausgewählten heutigen »Jägern und Sammlern«, die, wie nicht anders zu erwarten, die herrschende Meinung stützen, daß die Jagd ein Schwerpunkt der Zivilisation und ein exklusives Betätigungsfeld des Mannes ist. [14] Als Grund für diese ursprüngliche Arbeitsteilung wird das Kinderkriegen angeführt, dessentwegen Frauen viele Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit hinnehmen mußten, obwohl »selbst bei einer geringer entwickelten räumlichen Sehfähigkeit Frauen sicher erfolgreiche Jägerinnen hätten werden können«. [15]
Schwangerschaften und Geburten haben weitaus größere Auswirkungen als eventhelle körperliche Einschränkungen. Sie sind die Verbindung der Frau zur Welt der Natur, und auch die gejagten Tiere sind Teil dieser Welt. In Gemeinschaften, deren Überleben teilweise oder gänzlich von tierischen Erzeugnissen abhängt, waren Frauen, offensichtlich ungehindert durch ihre Fähigkeit, Kinder zu kriegen, voll in den Vorgang integriert, den wir fälschlicherweise Jagd nennen (ein unzutreffendes Wort, wenn damit das gelegentliche Fangen eines Tieres zur Sicherung des Überlebens gemeint ist. Der folgende Auszug illustriert die Beteiligung von Nootka-Frauen am Walfang. Die Nootka, ein Stamm auf Vancouver-Island, existieren seit Jahrhunderten von Walfangprodukten.
Keine Frau würde einen Wal töten. Wale bringen lebendige Junge zur Welt, sie legen keine Eier wie die Fische. Sie ziehen ihre Jungen mit Muttermilch auf, wie Frauen, und wir brachten sie niemals um. Der Mann, der die Wale tötete, aß von dem Zeitpunkt seines ersten Fangs bis zu seinem Rückzug als Fänger kein Walfleisch. Ebensowenig seine Frau, denn er mußte gereinigt und wieder mit dem Wal in Verbindung gebracht werden, und das geschah durch das Blut und die Milch der Frau. Einer, der so mit ihnen verbunden ist, wird sie nicht essen. Das ist ein Versprechen. [16]
Die physische und spirituelle Verbindung zwischen Frauen und Tieren, die in diesen Sätzen zum Ausdruck kommt, findet ihre Entsprechung in der Ehrfurcht vor Natur und Tieren, wie sie sich in den über 15 000 Jahre alten Steinbildern, Malereien und Gravierungen zeigt, die wohl überwiegend von Frauen geschaffen wurden. Den Frauen ihre Gebarfähigkeit als Schwäche auszulegen und sie gleichzeitig als Wurzel für die männliche Jäger- und Killertradition zu betrachten, leugnet und verwischt diese frühen Verbindungen. Es schiebt den Frauen auch die Verantwortung für die Entstehung von Gewalt in menschlichen Gesellschaften zu. Ich behaupte, daß die Gründe für das räuberische Verhalten des Mannes gegenüber der Natur anderswo gefunden werden können und auch müssen.
Die Erniedrigung der Natur in der Sprache
Keiner weiß genau, wann die Männer anfingen, sich gegen die Macht der Göttin aufzulehnen und eine lange Geschichte weiblicher Unterjochung, Entweihung von Tempeln und Vernichtung der ihr heiligen Tiere einzuleiten. Männliche Götter verehrende Männer tauchten nachweilich etwa vor 6000 Jahren im Mittleren Osten auf. Man nennt sie unterschiedlich Indo-Europäer, Indo-Arier oder Arier; sie sollen aus dem Norden des Kaukasus gekommen sein. Das legt die Vermutung nahe, daß die Anfänge noch weiter zurückliegen. Jedenfalls ist ihre Sprache von großer Bedeutung, weil sie sich zusammen mit der Assimilation einer Vielzahl sprachlicher Substrate zum Sanskrit entwickelte, das als eine der ältesten Schriftsprachen über Griechisch und Latein den Großteil unserer Wurzelwörter stellt.
Was im Laufe dieses langen Kampfes mit der Natur geschah, hat in Sprache, Mythos und Literatur Eingang gefunden. Die Bedeutung der Sprache kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil man sich mit der Aneignung einer Sprache auch ihre geistigen Ausrichtung zu eigen macht. Im Sanskrit zeigen sich die Kräfteverhältnisse, die zur Ablösung der weiblichen Kraft in der Welt, der in der Natur verankerten Göttin, führten. In der neuen Sprache des Sanskrit und unter der neuen Ordnung des Patriarchats wurden Natur und Frauen aus ihrer überragenden Position in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt. In Indien, wo sich das Sanskrit entwickelte, gingen Sprachgebrauch und Rassendiskriminierung Hand in Hand. Wie Merlin Stone herausfand, bekamen die Wörter »hell« und »dunkel« erstmals im Sanskrit die Bedeutung von gut und böse. In ihnen spiegelte sich das entstehende Kastensystem und die Verachtung der Arier gegenüber den dunkelhäutigen Stämmen wider, die Indien vor deren Ankunft bevölkerten. [17]
Das Sanskrit-Wort für Natur lautet prakriti, »die natürliche Beschaffenheit oder der natürliche Zustand von allem, Natur, der Urquell der materiellen Welt«. Manchmal verkörpert es auch die höchste Schöpfungskraft im Universum. Es ist weiblich und wird mit anderen weiblichen Energieprinzipien gleichgesetzt, so mit shakti (Kraft, Energie) und mit maya (die trügerische Natur der materiellen Welt). Aus derselben Wortwurzel wie prakriti leitet sich prakrit ab, was »natürlich, unbedeutend, geringfügig« bedeutet. Prakrit ist auch die Sprache des gemeinen, des besiegten Volkes. Im Gegensatz dazu bedeutet das Wort sanskrit »vollkommen, redegewandt, verfeinert«; es ist die Sprache des Volkes, das an der Macht ist, die Sprache der Einwanderer und Eroberer, die prakrit, die Eingeborenensprache, abwerten, indem sie sie als roh, unvollkommen, ungebildet usw. abqualifizieren. In dieser gedanklichen Verbindung wird Natur (prakriti) ebenfalls als etwas Unvollkommenes abgetan.[18]
Im Buch Genesis (erstes Jahrtausend v. Chr.), in dem in verschlüsselter Form viele Einzelheiten aus älteren mündlichen Überlieferungen niedergelegt sind, tritt der Versuch, die Große Mutter (Ishtar, Inanna, Tiamat usw.) abzuschaffen, klar zutage. Einige Kulthandlungen zu ihren Ehren werden offen mißbilligt, weil sie nicht zu der monotheistischen, männlichen Tradition der Hebräer paßten. Die meisten werden einfach unterschlagen. In einer frühen Beschreibung des Schöpfungsmythos in der Genesis wird der ersten Frau, Lilith, ein aufbegehrendes Wesen zugeschrieben. In der späteren Version, die wir alle kennen, wird Lilith durch Eva ersetzt, die in einer Geschichte (Gen.1,26) gemeinsam mit Adam aus Lehm erschaffen wurde, in einer anderen (Gen. 2,23) aus Adams Rippe entstand und ihm untertan sein sollte.
Die Genesis vermittelt die Sichtweise, daß Gott alles erschuf und es dem Menschen überließ, damit er darüber herrsche. Die Abstufungen dieser Herrschaft reichen dabei von gnädiger Verwaltung bis hin zur Eroberung (Gen. 1,28) und totaler Unterdrückung.
Furcht und Schrecken vor euch sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel unter dem Himmel, über alles, was auf dem Erdboden kriecht, und über alle Fische im Meer. (Gen. 9,2)
Weil außerdem Gott die Natur erschuf, ist Natur alles, was auf der Erde existierte, bevor der Mensch in Erscheinung trat. Umgekehrt ist sie alles, was der Mensch nicht erschaffen kann. Neid auf die Erdmutter kommt darin zum Ausdruck, daß, man Gott die Fähigkeit zusprach, Leben zu erschaffen. So war es die beste Lösung, die Göttin einfach verschwinden zu lassen. Vor »dem Anfang« auf den sich die Genesis bezieht, »war die Erde wüst und leer« (Gen. 1,1-2).
Gut tausend Jahre später holten sich die Evangelisten aus dem Alten Testament, was zum Christentum paßte. Natur und Frauen beließen sie in ihrer Stellung, die dem Mann untergeordnet war. Der Evangelist Johannes begriff die Macht, die in dem Akt der Namensgebung liegt, wie er in der Genesis beschrieben wird: »Er (Gott) brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen« (Gen. 2,19). Bei Johannes heißt es: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« (Joh. 1,1). So gesehen existiert jedes Ding nur, weil und wenn es im Bewußtsein Gottes existiert. Gott ist die Gewalt der Sprache gegeben, er erschafft etwas aus dem Nichts heraus und gibt ihm einen Namen. Dieses »Im Anfang« bezieht sich eindeutig auf den Beginn der Verehrung Gottes und tilgt alles, was davor war (die Verehrung der Göttin) durch Nichterwähnen.
In der Zwischenzeit waren auch die Griechen nicht untätig gewesen, die alten Kulte auszurotten und die Natur umzubenennen. Wie im heutigen Sprachgebrauch, so hatte auch für Aristoteles physis (Natur) nichts mehr mit der weiblichen Kraft des Universums zu tun, obwohl es sich von einem Verb ableitet, das eigentlich »gebären, hervorbringen« bedeutet. Für ihn ist ein weltliches Wort, das er auf die »physikalischen« (natürlichen) Abläufe anwendet, die die menschlichen Sinne beobachten und messen können. Physis ist der techne - das Wort »Technologie« kommt daher - untergeordnet, die die kunstfertige Nachahmung eines Objekts bezeichnet. Solche Kunstprodukte werden höher eingestuft als alles, was physis in ihrer Irrationalität hervorbringen kann. Genau wie im Sanskrit das prakrit »verbessert« und »verfeinert« wurde, so verbessert und verfeinert auch techne die physis. Auf diese Weise erhoben die Griechen den Mann zum Beherrscher der Natur (und der Frau) und begründeten die Vormachtstellung von Vernunft und Technologie.
Die Konsequenzen für uns aus der Haltung, sich nicht mehr mit Natur zu identifizieren, sondern eine von ihr losgelöste Stellung einnehmen zu wollen, lassen sich gar nicht ermessen. Vom Europa des 17. Jahrhunderts nahm man an, es sei der Wendepunkt in der Entwicklung der westlichen Denkweise, die sich seitdem der wissenschaftlichen »Objektivität« verschrieben und damit den Tod der Natur beschlossen hätte. [19] In Wahrheit aber zeigten sich damals die Machtverhältnisse und die Abwertung der Natur, die schon im Sanskrit offenkundig geworden waren, nur in ihrer deutlichen Ausformung. »Vervollkommnung, Verfeinerung und Verbesserung der Natur« war die Devise, unter der sich die Barockkunst zu ihrer vollen Blüte entfaltete. In anderen Bereichen führten »Verbesserungswille« und »Erfindungsgeist« zu technologischen »Fortschritten« die wiederum dem Menschen die Grundlage seines Glaubens an das gottgegebene Recht lieferten, Natur nach eigenem Gutdünken zu benutzen. So führte schließlich eines zum anderen: Das Bestreben, Natur in ein »höherwertiges« Produkt in Menschenhand umzuwandeln, führte zur Kultur der Kunstprodukte, zu der künstlichen Kultur, in der wir heute leben und die die Welt zerstört.
Reduzierte Sprache
Der zweite Schritt nach der Loslösung ist die Reduzierung. Er ist das Ergebnis der Unfähigkeit, dem Leben mit ästhetischem Gefühl zu begegnen. Auf die Sprache angewandt führt dieser Schritt zu einer mathematischen Wissenschaft, die auf der Technik der Informationsübermittlung zu manipulativen Zwecken basiert und eben nicht auf der ganz realen Kunst des Erfahrungsaustausches, der jedem echten Wissen zugrunde liegt. Es kommt nicht von ungefähr, daß gerade die »Comutersprache« aus solchen Untersuchungen hervorgegangen ist.
Wenn sich der Geist daran gewöhnt hat, Dinge (und Worte) ihrer Realität zu entkleiden, dann kann er sie schließlich mit jeder beliebigen Realität versehen, auch mit einer, die das genaue Gegenteil von dem ist, was das Wort ursprünglich ausdrücken sollte. Das ist der Mechanismus von Orwells Newspeak, und er ist auch sonst gebräuchlich. So sinnt beispielsweise Lewis Thomas in seinem preisgekrönten Buch »das Leben überlebt« über die etymologischen Zusammenhänge zwischen den Wörtern »Gen«, »Natur«, und »Physik« nach.
Heutzutage ist es beruhigend zu wissen, daß wir in unseren Köpfen in all den Jahren schon aufgrund irgendeines Gefühls einen Zusammenhang herstellen zwischen Natur und Physik in ihren jetzigen Bedeutungen. Die anderen Wörter, die eng zu ihnen gehören, sind ein Puzzle-Spiel, aber hübsch anzusehen. Wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen, werden all diese Wörter in liebenswürdiger Unsinnigkeit ineinander verfließen. [20]
Diese anderen Wörter des "Puzzles« sind die englischen Ausdrücke für »Sippe« »Art« und »freundlich«. Wie kaum etwas anderes verleitet das Studium der Etymologie zur detektivischen Spürarbeit rund um das Wort. Wie kamen diese Verbindungen zustande? Worauf bezieht sich die Wortansammlung? Wer sagte die Worte? Wer sollte sie hören? In unserem Fall beziehen sich die Wörter »Gen« »Natur« »Sippe« »Ar« und »freundlich« allesamt auf die Erdmutter. Wenn wir Thomas glauben, daß Wörter »in der Sprache einfach auftauchen, wenn sie gebraucht werden, [21] dann kommt immer irgend etwas heraus, selbst wenn es der ungeheuerlichste Wortwiderspruch ist. Es ist haarsträubend, die Leser zu gemütlichen Sofa-Spinnereien einzuladen, während zur gleichen Zeit die Physik die Natur (physis) bis zum Exitus, verstrahlt.
Worte bilden sich nicht von selbst und schaffen aufs Geratewohl ihre eigenen Assoziationen. Worte leben als Antwort auf ein Phänomen zumindest im Unterbewußtsein ihres Urhebers. Der schafft dann auch die Assoziationen und spricht das neue Wort aus. Im Falle der »Physik« ist es so, daß damit nur das Bemühen gemeint ist, die Dinge in der Natur zu erkennen. Im reduzierten Sinn der Information, die daraus gewonnen wird, daß man diese Dinge in Stücke zerhackt, ist Physik eine ständige Neuinszenierung der Vergewaltigung von Natur.
Wie Virginia Woolf glaube ich, daß gute Worte eine Aura haben, eine beschwörende Kraft. Mir gefällt die Art, wie Louise B. Young in ihrem Buch über die Zerstörung der Ozonschicht, die die Erdatmosphäre vor der Radioaktivität der Sonneneinstrahlung schützt, die Aura von Lebensformen beschreibt, wobei ich die Aura von Worten noch hinzufügen würde.
Jede Lebensform hat eine ihr entsprechende Aura; ein Hauch, ein Geruch, ein Strom von Energie geht von ihr aus. Diese leuchtende Wolke kann duftend und strahlend, sauer und trüb sein, je nach dem inneren Leben des Organismus. [22]
Und obwohl sie die Wörter »man« und »Mensch« in dem allgemeinen Sinn gebraucht und ich ganz spezifisch, um damit die Männer und Frauen zu kennzeichnen, die patriarchale Werte aufrechterhalten, stimme ich mit ihr überein, »daß die Aura des Menschen von Jahr zu Jahr dunkler und bitterer wird«.
Die Erniedrigung der Natur als Göttin
Die Literatur, die sich während des Eindringens der Indo-Europäer in Mesopotamien entwickelte, beschreibt in aller Brutalität das Schicksal von Natur, Tieren und Frauen. Die Göttin, in der sie alle geborgen sind, ist vernichtet. Das Gilgamesch-Epos, das um 2000 v. Chr. verfaßte Nationalepos der babylonischen Semiten, gibt ein gutes Beispiel für diese Literatur. Wie alle Erzählungen dieser Art stellt auch das Gilgamesch-Epos das Endprodukt einer mündlichen Überlieferung dar. Es verbindet Fakten und Phantasie und verändert den ursprünglichen Inhalt so, daß er zu den Ereignissen der Zeit paßt. Generationen von Babyloniern erzählten die Geschichte von Gilgamesch, einem König der ersten Dynastie in Uruk, und sie sprachen ihm alles zu, was ihnen als edel und der Erinnerung wert galt. Weil das Epos unstrittig auf viel ältere gynozentrische Quellen der Sumerer zurückgeht, ist es von unschätzbarem Wert als Zeugnis für den Niedergang der Göttinnenverehrung und die Installierung der patriarchalen Ethik »Gewalt geht vor Recht«. An diese Stelle paßt Harrisons Erkenntnis, daß die Göttin, »die alle Dinge schuf, Götter und Sterbliche, zuerst verstoßen und dann wieder hervorgeholt wird, als Spielzeug des Mannes, als seine Dienerin und Lustsklavin. [23]
Gilgamesch erwirbt sich seinen Ruf durch Kriege und Raubzüge. Seine Herrschaft ist durchwegs unterdrückerisch, aber die Hauptlast seiner Gewalttätigkeit müssen vor allem die Natur, die Tiere und die Frauen ertragen. Er wird als Held dargestellt, von ungebärdiger Wildheit und sexueller Lust (er läßt »keinem Vater seinen Sohn«, »keinem Liebhaber seine Jungfrau«), der dennoch für sein Volk, das er unterdrückt, der »starke, schöne und weise Hirte« ist. [24] Die einst mächtige Göttin Ishtar nimmt in Uruk eine untergeordnete Stellung ein: Ihr Tempel bleibt unbenutzt. Die Göttin Aruru (ein anderer Name für die Urmutter) ist dem Schutzgott (Patron) von Uruk unterstellt, der sie beauftragt, einen starken Mann zu erschaffen, der Gilgamesch auf Ersuchen der Stadtväter hin in seine Schranken weisen soll. So entstand Enkidu, der »Tiermensch«. Enkidu gehört zweifellos in eine andere gesellschaftliche Ordnung als Gilgamesch. Er ist behaart wie ein Tier, das Haar auf seinem Kopf »sprießt ihm wie Korn«, es gleicht dem einer Frau. Er »frißt Gras mit den Gazellen«, löscht mit ihnen seinen Durst an derselben Wasserstelle und ist ihnen überhaupt herzlich zugetan. Er lebt auf dem freien Feld. Für die Jäger ist er eine Plage, er füllt ihre Gruben auf, zerstört ihre Fallen und schützt überhaupt alle Tiere vor den Nachstellungen durch Gilgameschs Leute. Dabei tritt das Phänomen auf, daß ein bewaffneter Jäger, der diesem friedfertigen, unbewaffneten Geschöpf begegnet, bei seinem Anblick vor Furcht erstarrt«. Es hat den Anschein, als verletze man mit dem Jagen ein Tabu und lade Schuld auf sich, ja als hätten die älteren Gesetze (die Enkidu repräsentiert) immer noch eine solche Kraft, daß man sich gehemmt fühlt, sie zu übertreten.
Jedenfalls hat sich bei diesem beunruhigenden Treffen zwischen Enkidu und dem Jäger die Jagd als die Aktivität herauskristallisiert, die die beiden gesellschaftlichen Systeme trennt. Enkidu verkörpert die gewaltlose soziale Ordnung »aus dem Garten Eden«, in der die Menschen in Harmonie mit der Natur und den Tieren leben. Die Natur erfreut das Gemüt, die Tiere leben ungestört, Frauen und Männer sehen sich ähnlich. Die soziale Ordnung des Gilgamesch basiert auf Aggression gegenüber den Tieren und Trennung von der Natur, und sie kommt durch eine offene Ablehnung von Ishtar zustande. Mit anderen Worten: Die Stadt Uruk befindet sich in einem politischen Übergangsstadium, und das daraus resultierende Chaos wird sich nur verringern, wenn die alte Ordnung in die neue integriert wird.
Enkidus Rolle wirft ein Licht auf den Mechanismus der Kooptation: Die Männer sind aufgerufen, mit der neuen Herrschaft gegen die frühere Kultur zusammenzuarbeiten. Ihrer Treue gegenüber der Göttin, den Frauen, den Tieren und dem Land sollen sie abschwören. Im Gegenzug haben sie dafür am Ansehen des Patriarchen teil, in der Geschichte wird Enkidu aus seinem friedvollen Dasein, aus seiner Existenz als »Tiermensch« herausgerissen. Das geschieht zuerst dadurch, daß er eine Priesterin aus Ishtars Tempel vergewaltigt, [25] die ihm der Jäger, unterstützt durch seinen Vater und Gilgamesch, aufgezwungen hat. Danach kostet er vom »Krafttrank« der Männer, ißt Fleisch von Tieren und partizipiert schließlich als rechte Hand des Königs an der Macht und am Ruhm von Gilgamesch. Freilich gehören Jagd und Vergewaltigung, Alkohol- und Fleischgenuß nicht zum natürlichen Leben der Menschen, aber es sind die an Männer gestellten Bedingungen für ihre Eingliederung in die »zivilisierte« (herrschende) soziale Ordnung.
Die Jagd ist ein Grund, warum Enkidu seine Unschuld verliert (Unschuld bedeutet: nicht schädlich, nicht gefährlich), und die Jagd steht auch in Zusammenhang mit dem frühesten Verbrechen, das in der babylonischen Schöpftingsgeschichte Enûma elish erwähnt wird, der Zerstückelung der Göttin Tiamat durch den Gott Marduk. [26] Wie ein Jäger stürmt Enkidu gemeinsam mit Gilgamesch auf »den Zedernberg, den Wohnort der Götter, die Thron-Empore« der Göttin, fällt den ihr geweihten Zedernbaum und tötet den Wächter ihres heiligen Waldes. Und es ist Enkidu, der Ishtar beleidigt. Er riß dem Himmelsstier das rechte Bein aus und warf es ihr (Ishtar) vor die Füße und schrie sie an: »Könnte ich deiner habhaft werden, ich würde an dir handeln wie an ihm; ich würde seine Eingeweide dir zur Seite binden.«
Kooptation und Männerbündnis machen stark im Kampf gegen den gemeinsamen Feind. In dem Epos ist Freundschaft als Teilung von Macht beschrieben, gegen die Göttin gerichtet folglich auch gegen die Natur und die Tiere, unter denen sie wohnt. In Freundschaft verbunden sonnen sich Enkidu und Gilgamesch im gegenseitigen Spiegelbild. Doch wie schon Virginia Woolf herausfand: Männliche Eitelkeit braucht weibliche Spiegel, nur in ihnen sieht sich der Mann in doppelter Größe. Kaum hat jeder sich die Fähigkeiten des anderen einverleibt, da reiten Gilgamesch und Enkidu schon Hand in Hand durch die Straßen von Uruk und fragen die jungen Mädchen: »Wer ist der Glorreichste unter den Helden? Wer ist der Größte unter den Männern?« Jetzt, wo ihre Göttin erniedrigt, ihre Priesterinnen geschändet sind, bleibt den verängstigten Mädchen keine andere Wahl als zu antworten: »Gilgamesch ist der Größte unter den Männern.«
Der Siegesrausch verfliegt rasch. Ishtars Fluch bringt Enkidu den Tod. Gramgebeugt wandert Gilgamesch umher und klagt um seinen Freund. Schließlich macht er sich auf die Suche nach der Pflanze der Unsterblichkeit. Aber eine Schlange »schnappte sich die Pflanze und streifte bei ihrer Rückkehr ihre Haut ab« während Gilgamesch in einem Teich badet. Da ergibt sich der König in seine Sterblichkeit und kümmert sich nach seiner Rückkehr nach Uruk darum, daß die Befestigungen der Stadtmauer verstärkt werden.
Das Epos ist von vielfältiger Bedeutung. Die Wissenschaftler betrachten es meist nur als Quellenmaterial für die Bibel. Das Streben der Menschen nach Unsterblichkeit und ihr schließliches Sich-Fügen in die Unvermeidlichkeit des Todes werden als die zentralen Aussagen des Epos angesehen. Für mich ist das Gilgamesch-Epos ein außergewöhnliches Dokument, in dem der Charakter von Enkidu als Verbindung zwischen der alten und der neuen Ordnung gelten kann, zwischen unterschiedlichen Auffassungen von Stärke und Weisheit und zwischen unvereinbaren Wertesystemen. Das Epos zeigt, daß die Verehrung der Großen Göttin, bezeichnend für die Lebensart auf »dem freien Feld« (dem Geburtsort von Enkidu), in Städten wie Uruk als Folge der patriarchalen Unterdrückung im Schwinden war. Die Göttin nahm in den Städten eine vorwiegend untergeordnete und defensive Stellung ein - sie bestraft Enkidu für seinen Verrat, und ihre Schlange durchkreuzt Gilgameschs Suche nach der Unsterblichkeit. Das Epos weist die neuen Götter und Könige in ihrem Individualismus, in ihrer Stellung als Oberbefehlshaber, in ihrer Macht und Gier als Einzelgänger aus. Die verstärkte Stadtmauer eignet sich gut als Metapher für den Verfolgungswahn, der sich aus einer solchen Position heraus entwickelt und der mit der Zeit eskalieren sollte bis zu dem gegenwärtigen atomaren Wettrüsten, das uns alle zu vernichten droht.
Gilgamesch - Die Mörder der Göttin leben noch
Grob gesagt, entsprechen die Werte, die von Gilgamesch auf der einen und Enkidu auf der anderen Seite verkörpert werden, denen der europäischen Eroberer, Eindringunge oder Einwanderer, die auf den amerikanischen Kontinent kamen, einerseits und denen vieler Eingeborenenstämme, auf die sie stießen, andererseits.
Häuptling Seattle vom Stamm der Duwamish-Indianer sah sich 1855 in der Zwangslage, Land an die Weißen verkaufen zu müssen oder es gewaltsam (mit Gewehren) weggenommen zu bekommen. Er verkaufte. Aber er hielt aus diesem Anlaß eine Rede, in der er den weißen Mann mit Worten beschrieb, die diesen als modernen Gilgamesch darstellen: ein gewalttätiger, unbarmherziger Jäger, der das Land behandelt, als wäre er Gott und es wäre sein eigen, ein zerstörerischer Selbstzerstörer, dessen Maschinen die Erde vergewaltigen, dessen lärmende Städte »die Ohren beleidigen« und die Sinne abstumpfen (»wie ein Mann, der seit Tagen stirbt, ist er abgestumpft gegen den Gestank«). Es ist eine schöne Rede; auch wenn der Stil die glättende Hand eines weißen Anhängers verrät, ist der Inhalt doch unzweifelhaft Seattles Werk. Er steht im Einklang mit allen Indianerschriften, die ich gelesen habe. [27] In seinen Ausführungen stellt er die beiden Kulturen einander gegenüber, und aus den im folgenden zitierten Abschnitten wird deutlich, daß seine eigene viele Berührungspunkte mit dem erdorientierten Wertesystem aufweist, in das wir durch die Kurzschilderung von Enkidus Leben vor seiner Eingliederung in die herrschende Ordnung Einblick nehmen konnten.
Wie könnt ihr den Himmel kaufen oder verkaufen, wie die Wärme des Landes? Die Vorstellung ist uns fremd. Wenn ihr die Kühle der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzt, wie könnt ihr es dann von uns kaufen? ... Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig. Jede glänzende Kiefernadel, jeder sandige Uferstreifen, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung und jedes summende Insekt ist in der Erinnerung und in der Erfahrung meines Volkes heilig. Im Saft der Bäume kreisen die Erinnerungen des roten Mannes. Die Toten des weißen Mannes vergessen das Land ihrer Geburt, wenn sie dahingehen, unter den Sternen zu wandern. Wenn wir sterben, vergessen wir niemals die Schönheit dieser Erde, denn sie ist die Mutter des roten Mannes. Wir sind Teil dieser Erde, und sie ist Teil von uns...
Wir wissen, daß der weiße Mann unsere Art nicht versteht. Für ihn ist ein Stück Land wie das andere... Die Erde ist nicht sein Bruder, sondern sein Feind, und wenn er sie erobert hat, zieht er weiter. Er läßt die Gräber seiner Väter hinter sich und kümmert sich nicht drum. Er nimmt die Erde seinen Kindern weg. Er kümmert sich nicht darum... Er behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder, den Himmel, wie Dinge, die zu kaufen sind, zu rauben oder zu verkaufen gleich Schafen oder schimmernden Perlen. In seiner Gier wird er die Erde verschlingen und nur eine Wüste zurücklassen.
Die Luft ist dem roten Mann kostbar, denn alle teilen sich denselben Atem, die Tiere, die Bäume, die Menschen, sie alle teilen sich denselben Atem... In der Prärie habe ich tausend verendete Büffel gesehen. Der weiße Mann ließ sie liegen, nachdem er sie aus dem fahrenden Zug heraus erschossen hat. Ich bin ein Wilder, und ich verstehe nicht, wie das rauchende Eisenpferd mehr wert sein kann als der Büffel, den wir nur töten, um am Leben zu bleiben. Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wenn alle Tiere fort wären, würden die Menschen an einer großen geistigen Einsamkeit sterben. Denn was den Tieren zustößt, wird bald auch dem Menschen zustoßen.
Alles steht miteinander in Verbindung. Was der Erde widerfährt, widerfährt auch den Söhnen der Erde... Wenn die Menschen auf den Boden spucken, spucken sie auf sich selbst... Der Mensch webte das Gespinst des Lebens nicht; er ist bloß ein Faden darin. Was er dem Gewebe antut, tut er sich selbst an.
Animistische Gesellschaften - Gesellschaften, in denen alles eine Seele in sich trägt streben nicht wie wir nach Unabhängigkeit von der Natur, sehen Natur auch nicht als eine Ansammlung von Organismen an, die nur mit dem »Problem« beschäftigt sind, zugunsten der Menschen am Leben zu bleiben. Wir andererseits halten uns nicht mehr für Kinder der Mutter Erde, sondern für Kinder der Kultur, und als solche suchen wir den Sinn unseres isolierten Daseins losgelöst von »den Tieren« und »allem, was ist«. Immerhin sind in den jüdisch-christlichen Kulturen, für die Natur lediglich im Dienst der Menschen steht, das Bedürfnis nach der Mutter und unsere Abhängigkeit von ihr so stark, daß wir sie immer wieder verleugnen müssen, indem wir uns verweigern und aufbegehren, Herrschaft und Kontrolle ausüben. Der westliche Mann hält seine Verbindung zur Lebensenergie (Mutter Natur) durch Ausübung von Macht aufrecht, was ihn zeit seines Lebens auf einer kindlichen Entwicklungsstufe festnagelt. Erwachsenwerden würde bedeuten, die Quelle der Kraft anzuerkennen und alles Leben als gleichwertig anzuerkennen und zu behandeln
Vom Tier zur Bestie
Den Tieren Geist und Seele abzusprechen, hat eine politische Sprengkraft, die die Eroberer bei ihrem Feldzug gegen die Verehrung der Erde als wirksame Waffe nutzten. Das Wort »Bestie« kommt eigentlich aus dem Sanskrit, wo es »das, was gefürchtet ist« bedeutet. Und genau diese Bedeutung ging allmählich auch auf das »Tier« über, so daß die beiden heute Synonyme darstellen. Sie drücken minderwertige Eigenschaften aus, besonders wenn sie als Metapher auf Menschen angewandt werden: Gewalt, Gier, verachtenswertes, gefährliches und unnatürliches« Verhalten - kurz: Eigenschaften, die bei Mensch und Tier gleichermaßen gefürchtet sind. Wir haben gesehen, daß Enkidu zuerst Ishtars Symbole angreift - die Tiere, die man ihm zu essen gibt, den heiligen Wald, den Himmelsstier, ehe er die Göttin selbst bedroht. Wenn ein Volk seine Symbole verliert, ist es demoralisiert und leichter zu manipulieren. Wenn Schwester-Tiere, mit denen sich die eroberten Völker identifizierten, als »Bestien« verächtlich gemacht werden, ist die Indoktrinierung mit der neuen Ordnung wirkungsvoller durchzusetzen. Unter diesem Druck verinnerlichen die Eroberten und Unterdrückten das negative Bild ihrer früheren »Verwandten« und haben schließlich ein niedriges Selbstwertgefühl. Und genau das ist notwendig, um sie in der neuen Ordnung oder in der Knechtschaft festzuhalten.
Die Schlange ist ein frühes Beispiel für eine solche Umpolung.
Jane Harrison schreibt:
Bei den Griechen war die Schlange das Inbild von Mana, zutiefst heilig, nicht weil sie als Nahrungsmittel Leben ermöglicht hatte, sondern weil sie selbst ein Lebens-Daimon war, ein Geist der Fortpflanzung, ja der Unsterblichkeit. [28]
Und Merlin Stone:
Es scheint so, daß in einigen Ländern am Anfang allen Lebens eine Schlange stand. Trotz der hartnäckig, vielleicht auch hoffnungsvoll vertretenen Ansicht, die Schlange müsse ein Phallus-Symbol dargestellt haben, wurde sie offenbar doch im Nahen und Mittleren Osten in erster Linie als Symbol der Frau verehrt und im allgemeinen eher mit Weisheit und prophetischen Ratschlägen in Verbindang gebracht als - wie so oft behauptet - mit Fruchtbarkeit und Wachstum. [29]
Die Verwandlung der Schlange von der göttlichen Erscheinung (Tier) zum Sinnbild des Bösen (Bestie) gibt nur einen Sinn, wenn man den politischen Zusammenhang sieht. Die Schlange, die in einem großen Teil der Welt in so vielen gynozentrischen Gesellschaften eine tragende Rolle gespielt hatte, wurde zum Brennpunkt der neuen Mythologie und nützte der Teile- und Herrsche-Politik, die dem Patriarchenkult den Rückhalt gab.
Die menschliche Sterblichkeit ist ein Begriff, der erst mit den neuen Göttern eingeführt wurde. Weil die Schlange die Unsterblichkeit symbolisiert hatte, mußte sie zu einer verachtenswerten »Bestie« herabgewürdigt werden, von nun an gefürchtet. Daher verfluchte sie der christliche Gott, er trennte sie von der Frau und zerschnitt das Band, das sie zusammenhielt.
In der Genesis erscheint Eva die Schlange im Baum der Erkenntnis, der auch der Baum des Lebens ist. Eva vertraut der Schlange (»Nein, du wirst nicht sterben«) und ißt die Frucht vom verbotenen Baum. Gott zwingt dann Eva, mit ihrer Herkunft zu brechen, und verflucht die Schlange:
Verflucht, seist du vor allem Vieh... und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe, und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.(Gen. 3,14-15)
Das wirkte. In der christlichen Ikonoaraphie ist die Jungfrau Maria häufig abgebildet, wie sie mit ihrer Ferse den Kopf der Schlange zertritt. Es wirkte so gut, daß die Furcht vor Schlangen weitverbreitet ist und als gegeben hingenommen wird. Manche halten sie sogar für eine Art Atavismus, der sich in unserem Hirn eingegraben hat. [30]
Die neuen Götter
So wie der Göttin weltweit dieselben charakteristischen Eigenschaften zugesprochen wurden, so weist auch der Gott überall ähnliche Züge auf. der Mann benannte sich nach seinen Göttern und trug ihre Bilder bei sich, wohin er auch ging. Die Frau hatte sich als Geschöpf der Natur begriffen; der Mann betonte seinen Unterschied zur Natur. Die Göttin repräsentierte das Leben, so wie es war; der Gott stand für das Leben, so wie der Mann es haben wollte, und dieser verehrte nur das, was er mit eigenen Händen, aus eigenem Willen heraus schuf. Sie hatte sich in ihrer dreifachen Erscheinung gezeigt und sich in dem ständigen Kreislauf von Leben und Tod immer wieder erneuert; er stand allein, ein Bild altersloser Kraft. Sie hatte den Tod als Teil des Lebens anerkannt; er war unsterblich. Glück war für die Göttin ein Geschenk, eher ein Wohlbefinden als eine ekstatische Erregung, denn es scheint das Ziel all ihrer Bemühungen gewesen zu sein. Dieser Zustand des Wohlbefindens drückt sich auch in der Fülle von Namen für die Göttin aus, die allesamt mit Vorstellungen von gut und fröhlich verhunden sind. Natürlich kannte sie Schmerz und Wut, aber nur als Reaktion auf das Schlimme, das den Müttern von Mann oder Gott angetan wurde. Der Gott andererseits litt nie; er fügte Leid zu. Sein Wohlbefinden kam aus der unmittelbaren Befriedigung seiner Lust am »Schöpfen« an der Ausübung von »Gerechtigkeit« an Rache und Vergewaltigung. Das GlUick, das der Mann in all seinen Geschichten über Gott verkündete, war ein Verdienst oder, schlimmer noch, eine Belohnung für den Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz.
Der Mann ernannte sich selbst, indem er sich von der Natur, den Tieren und Frauen trennte und Macht über sie ausübte. Seine Vormachtstellung sicherte er dadurch, daß er alles zu seinem Eigentum erklarte. Haus (domus) und Besitz ( familia) hat er nunmehr zu schützen und zu verteidigen. Er ist der Herr (dominus), er dominiert und domestiziert. Das bedeutet, Natur wird nicht mehr als eine Gesamtheit von Organismen behandelt, die sich unter einem »Gesetz« von gemeinsamer Verwandtschaft selbst lenken, sondern sie ist nun »dem Gesetz« eines einzigen Königs unterworfen, den einsamen Herrschern der Monarchie und des Monotheismus. Verantwortung (die Fähigkeit zu antworten) weicht jetzt Verpflichtung, die Moral wird willkürlich mehr Funktion eines Willens als aus der Realität entstandenes Prinzip. Die Begriffe von »gut« und »böse« werden durch die Normen von »richtig« und »falsch« ersetzt, mit denen nicht übereinzustimmen politisch gefährlich ist. Die Vater-Herrschaft nimmt die Moral aus dem Gefüge des sozialen Gewissens heraus, das der Mutter-Ordnung ihren Zusammenhalt gegeben hatte. Moral wird zu einer politischen Kategorie, von außerhalb, von oben diktiert und überwacht. Mit anderen Worten: Die Vater-Herrschaft zerstört die für die Mutter-Ordnung charakteristische moralische Bindung an Natur, indem sie an die Stelle des Begriffs Natur den Begriff Nation setzt, die wie der Besitz des Mannes (Familie) der Verteidigung und des Schutzes bedarf.
Das Bedürfnis nach Krieg ist in die Konzeption der Nation eingebaut. Während Natur eine gemeinsame Identität aller schafft, die von der Erdmutter abstammen, treibt eine Nation ihre Individuen dadurch, daß sie sie vom Ganzen abspaltet, in die Isolation. Die einzelnen schließen sich dann wieder in lockeren Gemeinschaften zusammen, die durch die gemeinsame Feindschaft gegen »Außenseiter« zusammengehalten werden. Freud erfaßte diesen Kriegszustand sehr treffend, als er schrieb, daß »ein menschliches Zusammenleben nur möglich ist, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jedes Einzelwesen und gegen jedes Einzelwesen zusammenhält«. [31] Der menschliche Geist hat nach wie vor ein Bedürfnis nach gemeinsamer Identität, nur wird es vom inneren Organismus der Gruppe nicht mehr genährt. Die Identität ergibt sich vielmehr, wie die neue Sittenlehre, willkürlich - die Menschen scharen sich um unbeständige Symbole wie Flaggen und Führer, Ideen und Helden.
Patriarchale Götter reflektieren die männliche Entfremdung von der Natur und der Gruppe. Sie sind Spiegelbilder von Kulturen, die ein Männlichkeitsmuster hervorbrachten, unter dem zuerst die Erde und die Tiere zu leiden hatten, das uns aber alle in Mitleidenschaft zieht, so daß Wohlbefinden gar nicht aufkommen kann. In ihrer Abhandlung über die Agonie der »totemistischen« Denkweise hob Harrison die schrecklichen Folgen der Loslösung von der Natur hervor, die mit dem Auftauchen der patriarchalen Götter einherging. Mit Bedauern stellte sie fest, daß
die Abkehr von Tieren und Pflanzen (durch die patriarchalen Götter) natürlich das Ende solcher Phänomene besiegelt, wie sie das totemistische Denken und Fühlen darstellen. Das ist in vieler Hinsicht ein vollständiger Verlust... Es gibt wenige Dinge, die häßlicher sind als die Mißachtung von Tieren... Mit einem intellektuellen Trick wird dieser Ausschluß des Tier- und Pflanzenlebens aus dem Kreislauf des Göttlichen manchmal als Fortschritt reklamiert. Doch er hinterläßt ein Gefühl von Kälte und Einsmkeit. [32]
Nur wenige haben heute noch ein Gefühl für die »Kälte und Einsamkeit«, die aus diesem Ausschluß folgt. Das gilt besonders für die jüngeren Generationen, die durch Großstadtleben und Maschinenwelt geprägt sind. Für viele von ihnen ist Natur »des Menschen Ausschuß« [33] etwas Übriggebliebenes, das der Mensch nicht verwenden kann - noch nicht. Und weil es nichts gibt, das einen abhält, einen Baum zu pflanzen oder Tiere zu erwerben, gibt es auch keinen Grund zur Aufregung. Umweltschätzer, die vor einer Krise warnen, die überhaupt nicht existiert, hält man schlicht für hysterisch. Der Mensch ist heute in der Lage, Pflanzen ohne einen Krumen natürlicher Erde wachsen zu lassen, und er kann sie mit künstlichen Chemikalien ernähren. Er kann Wolken »säen« und Regen oder Schnee machen. Er kann seinen Körper mit Konserven vollstopfen und seinen Geist mit Fernsehen und elektronischen Spielen aufladen. Er kann Gene vermischen und fast allen Arten von Lebewesen, auch seiner eigenen Gattung, spezifische Merkmale hinzu- oder wegzüchten. Für die, die ihr zukünftiges Leben solchen technologischen »Wunderwerken« verschrieben haben, existiert Natur nicht, es sei denn, Menschen haben sie geschaffen. So ist das menschliche Bedürfnis, über persönliche, intime und unbeeinflußte Kontakte mit der Erde, fern jeder Kultur, nach dem Selbst zu suchen und es zu regenerieren, zugrunde gegangen. Vermittelte eindimensionale Bilder dringen in Wohnungen, Büros und Autos ein und besetzen den Verstand der einzelnen Menschen, indem sie ihre Denk- und Sprechweise, ihre »Gefühle« und ihr Verhalten steuern und damit beherrschen. Unter solchen Voraussetzungen ist das Unterfangen, in der Natur nach den Wurzeln zu suchen, sinnlos.
Entfremdet, zersplittert und beherrscht ist der heutige Mensch wurzellos wie eine in keimfreiem Boden »gewachsene Pflanze - und oft auch genauso leblos. Die menschliche Abhängigkeit von den Vorgängen in der Natur ist durch die Abhängigkeit von wahnwitzigen Erzeugnissen von Menschenhand ersetzt worden - Erzeugnissen, deren Entwicklung und Herstellung mit der Qual von Pflanzen und Tieren bezahlt wurde und mit der Würde des Menschen. Die neuen Götter »unserer« unpersönlichen und inhumanen Gesellschaften sind die Praktiker und Werbefachleute der isolierten Wissenschaft und Technologie. Ihre »Leistungen« werden durch die Medien verhökert und in den Schulen gerechtfertigt. Der erste Schritt Zur Rettung der Erde und aller Arten vor der Vernichtung ist, daß wir die Verwandtschaftsbande zu der nicht-menschlichen Welt um uns herum neu knüpfen. Doch wenn der Mensch nicht bereit ist, seinen Halt in den Rationalisierungen fahren zu lassen und sich der Realität seiner Handlungen wider das Leben zu stellen, wird das »Schließen des Kreises« - wie Barry Commoner dieses Wiederanknüpfen genannt hat ein ökologischer Traum bleiben. Eine Kultur, die das Erwachsensein eines Menschen nach der Fähigkeit beurteilt, sich von Mutter und Natur ablösen zu können, und die seine geistige Gesundheit danach beurteilt, wie reibungslos diese Trennung vor sich geht, ist eine Kultur, die ihre Lebensader verleugnet. Das Verhältnis einer solchen Kultur zum Subjekt und zur Natur kann nur zerstörerisch sein.