Ich lerne zu unterscheiden: es gibt manche Türen in die westliche Welt, die sich von selbst öffnen; andere Türen gehen nur langsam und nach vieler Mühe auf; schließlich gibt es auch noch Türen, die mir wohl immer verschlossen bleiben werden.
In den Wohnungen und Häusern, in denen ich hier zu Besuch war, gibt es einen Raum, den der Gast nicht betritt - das Schlafzimmer. In zweistöckigen Häusern liegt das Schlafzimmer meistens im oberen Stockwerk, vom Hauseingang so weit wie möglich entfernt.
Viele Jahre lang war unser Schlafzimmer zugleich mein Arbeitszimmer; und in unserer letzten Moskauer Wohnung mußten wir im Schlafzimmer auch unsere Gäste empfangen. Sie saßen auf unserer Schlafcouch. Und wenn sie nicht einfach formlos in die Küche kamen, bewirtete ich sie im Schlafzimmer. Im Laufe der Zeit spürte ich immer dringender die Notwendigkeit, einen, wenn auch noch so kleinen, Raum für mich allein zu haben.
In Deutschland haben viele Häuser eingezäunte Gärten, in die Fremde nicht hineingehen, oft nicht einmal hineinschauen können. Nach einem langen Spaziergang durch Hamburg waren wir müde und hätten uns gerne ein wenig auf einer Bank ausgeruht, doch es gab keine Bänke auf den Straßen. In den russischen Städten steht fast vor jedem Haus am Haupteingang eine Bank, auf der meistens alte Leute sitzen und tratschen: Wo Anna wohl das neue Kleid ergattert hat... Wer das wohl sein mag, der eben zu Nina hinaufgegangen ist, noch dazu, wo ihr Mann nicht zu Hause ist?... Wie kommt es bloß, daß Iwanows mit ihrem Sohn nicht fertigwerden können? Schon wieder hat er getrunken und randaliert... Auf diesen Bänken werden Lebensmittelpreise durchgehechelt, Nachrichten aus dem Ausland erörtert, Resultate von Fußballspielen diskutiert.
Die Moskauer Bänke sind in mancher Hinsicht ein Gegenstück zu den Hausgärtchen von Köln. Mir scheint, indirekt tragen sie zu den Unterschieden bei, die ich im Verhalten der Menschen hier und dort, in ihren Sitten und Gewohnheiten konstatiere, und die wohl auch ihr inneres Leben betreffen. Hier begegne ich mehr Zurückhaltung. Es wird weniger von eigenen Mißerfolgen, Kümmernissen, Unstimmigkeiten am Arbeitsplatz oder auch im Familienleben gesprochen.
Einer unserer Bekannten kam aus einer anderen Stadt, um seinen Vater, der einen Herzinfarkt erlitten hatte, zu besuchen. Über seinen Zustand war noch kein Wort nach außen gedrungen.
«Aber wieso denn nicht?» «Vater will nicht, daß jemand von dem Infarkt erfährt, das schadet dem Geschäft.»
Auf die Frage: «Wie geht es Ihnen?» kommt unweigerlich die Antwort: «Danke, ausgezeichnet!» Ein Freund von uns sagte halb im Scherz: «Wenn jemand statt <ausgezeichnet> einfach <gut> sagt, muß man sich besorgt fragen, ob ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist.» Solchen Antworten liegen oft praktische Erwägungen zugrunde: Spricht jemand davon, daß es ihm schlecht geht, verringert er seine Chancen, befördert zu werden, eine bessere Wohnung zu finden, bei einer Wahl mehr Stimmen zu bekommen. Dieser «Optimismus» ist nicht nur Berechnung. Denn eine solche zuversichtliche Haltung, oftmals wiederholt, wird zur festen Gewohnheit.
Ich schaue auf die geschickten Hände der Verkäuferin in einem Blumenladen. Alle Sträuße gleichen sich. Hier wird ein prächtiger Blumenkult getrieben, und fast immer bringt man Blumen mit nach Hause. Aber gleichzeitig fehlen mir andere Blumen, die nicht zu kaufen, nicht hübsch
eingewickelt sind, ich möchte Feldblumen haben, einen ganzen Arm voll, nicht kunstvolle Buketts. So wie mir manchmal das Unvorhergesehene, nicht Eingeplante fehlt, die nicht der Etikette entsprechende Gefühlsregung.
Nach einer Einladung erwarten die Gastgeber am anderen Tag den telephonischen Dank «für den reizenden Abend». Menschen, die sich zufällig begegnen, wünschen einander: «Angenehmes Wochenende!» - «Danke, gleichfalls!»; «Schönen Urlaub!» - «Danke, gleichfalls!» Die Verkäufer sagen es zu den Kunden, die Zugschaffner zu den Reisenden.
In Österreich, in Bayern und anderen Gegenden Süddeutschlands sagt man statt «Guten Tag» «Grüß Gott». Man sagt es zu Freund und Feind, auch Atheisten sagen es.
Was steht hinter diesen allgemein gebräuchlichen Redewendungen? Bedeuten sie, daß die Menschen einander wirklich wünschen, was sie aussprechen?
Die Diskrepanz zwischen innerer Verfassung und höflichen Redensarten kann auf Heuchelei beruhen, auch auf gefühlloser Konvention. Doch allmählich und mit nicht geringem inneren Widerstreben entdecke ich in den hier üblichen Floskeln auch ein stützendes Korsett, ein Gerüst, das den Menschen das Leben erleichtert, und zwar auf verschiedene Weise. Dazu gehört auch der Wiederholungsautomatismus, der anfangs so aufreizend auf mich wirkte. Wohlmeinende Distanz macht manches leichter.
Seit Jugendtagen hege ich den Wunsch, die Menschen verschiedener Länder - natürlich auch die Bewohner innerhalb eines Staates - sollten sich verbrüdern, und ich möchte mich mit ihnen geschwisterlich verbünden. Dieser Wunsch ist nicht geschwunden, und wo ich ihm heute bei anderen Menschen begegne, freue ich mich. Doch damit ein solches Miteinander nicht pervertiert wird in der erzwungenen Gemeinschaft von Kasernen, Kolchosen, Kommunalwohnungen (ganz zu schweigen von der der Konzentrationslager), ist auch die von mir mühsam errungene Erfahrung der Vereinzelung notwendig. Ein gewisser Abstand ist nötig, ein Platz, an dem man allein sein kann. Das haben Jäger, Förster, Fischer, Dichter und andere Einzelgänger schon immer gewußt. Aber fast alle Menschen brauchen einen solchen Raum, um die eigenen und die fremden Grenzen zu spüren und zu respektieren. Hier liegt eines der Geheimnisse langer glücklicher Ehen und dauerhafter Freundschaften: Achtung vor dem seelischen «Territorium» des anderen: bis hierher und nicht weiter.
In einem Buch mit Erinnerungen an den in den zwanziger Jahren populärsten sowjetischen Schriftsteller, Michail Soschtschenko, wird folgende Episode geschildert: Soschtschenko und der Leningrader Germanist Wladimir Admoni reisten einmal im selben Eisenbahnabteil. Während der ganzen langen Fahrt wechselten sie kein Wort miteinander. Beim Aussteigen verabschiedete Soschtschenko sich mit den Worten: «Haben Sie vielen Dank dafür, daß wir die Zeit so angenehm miteinander verbracht haben.» Er scherzte nicht. Er war so erschöpft von all dem Trubel, mit dem das Publikum ihn bedrängte, ihn als öffentliches Eigentum behandelte - wie es heute bei Filmstars und Fußball-Assen üblich ist -, daß er Admoni für seinen Takt dankbar war. Zu zweit schweigen zu können, gehört zu den kostbaren Geschenken, die Freundschaft, Liebe und der einfache menschliche Umgang gewähren können. Unantastbarkeit des seelischen Territoriums - welch unschätzbares Recht des Menschen! ...
Mich fragt ein Student:
«Welche von den westlichen Freiheiten schätzen Sie am meisten?» «Die Freiheit, sich in sich selbst zu suchen und zu finden und danach zu streben, den <Winken> des eigenen Schicksals zu folgen. Damit kann das ganze Leben hingehen.»
Diese Freiheit und dieses Recht und damit zugleich die Pflicht ist weder in Deklarationen noch in Gesetzen verankert, aber sie erscheinen mir als das Wichtigste, was der Mensch braucht.
In fremden Ländern wie im eigenen Land, in fremden Seelen wie in der eigenen Seele gibt es Türen, an die nicht geklopft werden darf.
*****
Es gibt eine Menge Türen, die man unbedingt öffnen sollte, die aber verschlossen bleiben, weil gar nicht versucht wird, sie zu öffnen, denn man weiß nicht, was dahinter ist.
Im Oktober 1962 hatte Anna Achmatowa einen Brief aus dem Ausland erhalten mit der Bitte um die neueste Ausgabe ihres «Poem ohne Held». Doch damals war diese Dichtung in der Heimat der Dichterin überhaupt noch nicht veröffentlicht worden; sie hatte nur im Westen erscheinen können. Lydia Tschukowskaja vermerkt in ihren Aufzeichnungen: «...Ob wir wohl die Zeit noch erleben, in der man im Westen wenigstens einige, wenigstens vage Vorstellungen von unserem Lande haben wird, von unseren Menschen und von unserer Literatur? Vielleicht wissen wir genauso wenig über sie wie sie über uns?»
In den zwanzig Jahren seither hat sich daran nicht allzuviel geändert.
In Deutschland und in der Schweiz, in Frankreich und in den USA gibt es hervorragende Kenner der russischen Geschichte und der russischen Literatur. Das ist sehr viel schwieriger, als, sagen wir, ein bedeutender Spezialist für französische Literatur zu sein. Der deutsche Professor für französische Literatur kennt nicht das Problem, mit dem der Slawist zu tun hat: «Wenn ich das schreibe, wird man mir das nächste Mal das Einreise-Visum verweigern.» Trotz solcher Hindernisse teilen die besten Slawisten unsere seltenen, wundervollen Freuden und nehmen an unseren überreichlichen Nöten teil.
In Moskau schloß ich Bekanntschaft mit dem englischen Slawisten Geoffrey Hoskin. Er besuchte uns häufig. Als er zum ersten Mal kam, war er noch Student. In Köln trafen wir uns wieder. Er hatte dort an der Universität eine Gastdozentur. Ich las seine Arbeiten über russische Dorf-Prosa, über die Bücher von Alexander Sinowjew und Jurij Trifonow und über die neueste nationalistische Bewegung der «Russiten». Ich staunte über die Tiefe und Feinheit dieser Arbeiten, über das echte Verständnis ihres Autors. Er sagte daraufhin: «Es ist schon fünf Jahre her, daß mein russischer Freund, Konstantin Bogatyrjow, umgebracht worden ist, und doch berate ich mich ständig mit ihm, frage ihn, teile mich ihm mit, streite manchmal auch mit ihm.»
Und jetzt streite ich mit Hoskin. Ich teile bei weitem nicht alle seine Standpunkte. Aber ich bin überzeugt, daß jedes seiner Urteile genau dem entspricht, was er tatsächlich zu wissen glaubt, daß sich bei ihm keinerlei Neben-Überlegungen einmischen. Er liebt Rußland, und das verträgt sich gut mit seiner Liebe zu England, mit seinem Stolz auf all das, was dort gut ist.
Der französische Slawist Georges Nivat ist Professor an der Universität Genf. Es herrscht dort eine Atmosphäre wissenschaftlicher Zusammenarbeit, gegenseitigen Wohlwollens, die nicht in allen akademischen Einrichtungen anzutreffen ist. Seine Bücher zur russischen Literatur gehören zu den gründlichsten und besten, die ich kenne; besonders frappierend sind seine Sprachanalysen. Denn so hervorragend er auch die russische Sprache beherrscht, ist sie für ihn immerhin Fremdsprache; und doch: es gelang ihm, die Besonderheiten der Sprache Alexander Solschenizyns so genau und eindringlich zu charakterisieren, wie ich es bisher noch bei keinem russischen Forscher gelesen habe. Nivat lebt das normale Leben eines westlichen Intellektuellen. Er reist viel, kennt keine Entbehrungen, schätzt die Freiheit hoch, liebt es, intensiv zu arbeiten und sich fröhlich zu erholen. Für ihn gibt es kein «nebulöses» Rußland. Er kennt russische Menschen und russische Bücher, die untrennbar zur europäischen Kultur und zur Weltkultur gehören. Er kennt auch die Verbrechen und Mängel des Systems, menschliche Schwächen, Lasterhaftigkeit und Heiligkeit. Meine Heimat ist für ihn weder Hölle noch Paradies. Er ist ein Fachmann hohen Grades. Aber er liebt Rußland auch.
Es ist gut und wichtig, daß in den verschiedenen Ländern immer wieder neues Material zur russischen Geschichte entdeckt und publiziert wird. Dank sei denen, die die Werke jener Schriftsteller herausgaben, die in Ungnade gefallen waren. In den Bücherregalen unserer Moskauer Wohnung standen die im Westen erschienenen Werke von Anna Achmatowa, Nikolaj Gumiljow, Ossip Mandelstam, Nikolaj Rljujew, die beginnende Sammlung der Werke von Wjatscheslaw Iwanow, Marina Zwetajewa, Michail Bulgakow, Jewgenij Samjatin, Welemir Chlebnikow, Wladislaw Chodassewitsch. Die Qualität dieser Ausgaben läßt zu wünschen übrig. Aber daß sie überhaupt erscheinen, ist unendlich wichtig. Wichtig auch deswegen, weil sie Anstoß geben zu sowjetischen Editionen.
Dank sei den Verlegern, die die Bücher meiner Zeitgenossen publizieren, vor allem Carl und Elendea Proffer, die in Ann Arbor den Verlag Ardis aufbauten, ohne den man heute keine Vorstellung von der jüngsten russischen Literaturgeschichte hätte. Tausende von vergessenen Seiten unserer Vergangenheit, mehr als 3O0 Bücher, sind durch sie wiedererstanden. Mandelstams «Stein», Achmatowas «Rosenkranz» -zitternd, aufgeregt-zärtlich nahmen wir und unsere Freunde diese allerersten, kleinen Reprints in die Hand, durchblätterten sie sorgsam, vorsichtig, Seite für Seite. Wir lasen die Gedichte damals in Samisdat-Ausgaben - auf hauchdünnem Durchschlagpapier, damit die Schreibmaschine möglichst viele Kopien auf einmal «packen» konnte. (Sind diese Samisdat-Ausgaben bei den zahlreichen Hausdurchsuchungen verschwunden oder einfach so zerlesen, daß nichts mehr von ihnen übrig blieb und künftige Historiker sie nicht wiederentdecken werden?). Oder wir lasen die Gedichte in den später erschienenen gefällig kommentierten Ausgaben der «Dichterbibliothek». Ich gehöre nicht zur Familie der Bibliophilen, aber die Faszination einer Erstausgabe empfinde auch ich.
Gut, daß es das biobibliographische Lexikon der russischen Schriftsteller des Kölner Slawisten Wolfgang Kasack gibt. Interessant ist auch das Projekt einer Enzyklopädie der Weltliteratur mit einem umfangreichen russischen Teil, das der Herausgeber von «Text und Kritik», Heinz-Ludwig Arnold, in Göttingen initiierte. Sehr gewichtig ist das auf vier Bände angelegte Unternehmen von Vittorio Strada, «Geschichte der russischen Literatur». Ungemein ergiebig sind die Almana-che der Slawisten in Wien. In der Bundesrepublik erschien ein Band ausgewählter Gedichte von Anna Achmatowa im Piper-Verlag, der auch einen Sammelband «Russische Lyrik» veröffentlichte. Schon der Vater des jetzigen Verlagsinhabers brachte Bücher von Anton Tschechow und die Romane von Fjodor Dostojewskij heraus.
Vieles wurde getan. Aber weit mehr muß noch geschehen. Zahlreiche bedeutende russische Schriftsteller sind außerhalb ihrer Heimat noch immer unbekannt. Es fehlt ein tieferes Verständnis für die komplizierten Prozesse innerhalb der sowjetischen Gegenwartsliteratur. Nicht nur aus Gründen «akademischer Vollständigkeit» ist es notwendig, diese Prozesse zu erkennen, sondern auch, weil vom richtigen Verständnis Rußlands in vieler Hinsicht das Schicksal der Menschen im Westen abhängt. Vielen russischen Schriftstellern ist es unerhört wichtig, ihre Arbeiten veröffentlichen zu können. Die Aufzeichnungen von Lydia Tschukowskaja über Anna Achmatowa und der große Roman «Leben und Schicksal» von Wassilij Grossman sind außer in russisch nur auf französisch erschienen. Noch immer liegen die unterschätzten Bücher von Fasil Iskander, Jurij Dombrowskij, Wladimir Rornilow in den Verlagen oder wandern von Verlag zu Verlag. Es bekümmert mich nicht nur um ihretwillen. Es bekümmert mich auch im Interesse der westlichen Leser; denn diese Bücher erzählen gewiß nicht weniger von Rußland - dem vergangenen und dem gegenwärtigen — als die Arbeiten der berühmtesten westlichen Spezialisten es vermögen. In den menschlichen Seelen gibt es Schlupfwinkel, in die nur die Kunst Einlaß findet.
Im Hörsaal einer amerikanischen Universität lausche ich einer Vorlesung. Der Dozent hat eine Unmenge von Büchern gelesen, kennt unzählige Fakten, viel mehr als ich auf diesem Gebiet: Es geht um den Bürgerkrieg in Rußland (1918-1921). Ich höre ihm mit wachsendem Unwillen zu. Später erfahre ich, daß auch einige seiner amerikanischen Kollegen ähnlich unmutig reagierten wie ich.
Warum? Der Dozent ist rechtschaffen, ist ein vorzüglicher Kenner seines Faches. Möglicherweise liegt es daran, daß unser Schmerz, unsere Not, unser Schmutz und unsere Tragödie für diesen Gelehrten nur Scharmützel irgendwelcher exotischer Lebewesen zu sein scheinen, die er mit gelassener Aufmerksamkeit untersucht - wie ein Biologe, der unter dem Mikroskop Bakterien beobachtet. Deutlich vernehmbar war der Unterton: Wir, die normalen Bewohner der westlichen Hemisphäre, können uns nicht so verhalten, können so nicht leben. Die Russen haben all das verdient, was ihnen widerfahren ist...
Ich weiß, daß echte russische Patrioten ihr Vaterland durchaus nüchtern einschätzen. Sie lieben es und urteilen streng über seine Sünden, seine Mängel. So war es bei Pjotr Tschaadajew, so war es bei dem Westler Alexander Herzen, bei dem Slawophilen Iwan Kirejewskij. Aber es ist nicht einfach, harte Urteile von Außenstehenden zu hören, die sich zwar auf russische Forschungen stützen, aber ihr Diktum kategorisch und von oben herab abgeben.
Hier muß ich mir allerdings vorhalten: Warum verlange ich innerlich von anderen Menschen, unsere Erfahrungen gemacht zu haben? Gut, es gibt auf der Welt vergleichsweise normale Länder, in denen die Menschen friedlich leben, sich freuen, ihren Beruf ausüben, Geige spielen, sich ihren Gärten widmen können. Dabei fällt mir Stefan Zweig ein. Er schrieb: «Dickens' Romane enden mit Hochzeiten, und die Helden lassen sich in Häuschen mit Gärtchen nieder. Welcher Dostojewski] sehe Held hätte das gebraucht?» Die Unterschiede zwischen den Welten stammen also schon aus der Vergangenheit, und sie vertiefen sich seit langem auf verhängnisvolle Weise.
Zweigs Feststellung gilt natürlich nicht absolut: Auch meine Landsleute hätten ein Haus mit einem Gärtchen bitter nötig.
Im Verlaufe eines halben Jahres haben wir die temperamentvollen Bundestags-Debatten im Fernsehen verfolgt. Nein, ein Parlament ist durchaus keine «Schwatzbude», wie man uns in der Schule und auf der Universität jahrelang eingetrichtert hatte. In den meisten deutschen Häusern sehen und hören die Bewohner die Reden und Äußerungen von Kohl, Strauß, Vogel und Petra Kelly und bilden sich ihr Urteil. Die Menschen sind verschieden. Die Programme sind verschieden. Die Zuschauer von heute und Wähler von morgen überlegen, denken nach, vergleichen das Gesehene und Gehörte mit ihrer Erfahrung. Selbstverständlich gibt es auch Intrigen hinter den Kulissen, allerlei Korruption. Politiker sind beileibe keine Engel. In der großen Politik hat es offenbar noch nie und nirgends Engel gegeben. Aber dem Menschen wird eine Möglichkeit eingeräumt, die von Achtung ihm gegenüber zeugt. Es ist nicht die einzige, auch nicht die wichtigste, aber doch eine Möglichkeit, darüber mitzubestimmen, wie das Land regiert werden soll und was aus seinen Kindern werden soll.
Ich hörte es zu Hause, und ich las es oft in der Emigrantenliteratur: Rußland braucht so etwas nicht. In Rußland ist das unmöglich. Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Rußland braucht so etwas, und ich hoffe, daß es eines Tages möglich werden wird.
Als im August 1980 der Liedermacher und Sänger Wladimir Wyssotzkij starb, geschah ein Wunder. Es war während der Olympiade. Moskau hatte man fürsorglich gesäubert. Nicht nur als Dissidenten verdächtige Personen, auch Schüler und Studenten waren aus der Stadt entfernt worden. Ohne jede offizielle Bekanntmachung versammelten sich 50 000 Menschen, zusammengerufen von jenem drahtlosen Telegraphen, der in Moskau schon in den Tagen vor Pasternaks Beerdigung funktioniert hatte. «Es war keine Menschenmenge, es war ein Volk.» Als der Trauerzug, aufgehalten vom Strom derer, die am Sarg defilierten, um Abschied von dem Toten zu nehmen, sich endlich in Bewegung setzte, wurde der Sarg aus dem Theater an der Taganka die Sadowaja entlang getragen. Über den Köpfen schwankten Blumen; wer selber nicht nahe genug an den Sarg herankonnte, gab seine Blumen dem vor ihm Stehenden, damit er sie auf den Sarg lege. Es gab keine Betrunkenen, keine Ausfälle, keine Zusammenstöße. Die Miliz überwachte nur die von selbst entstandene Ordnung.
Gewiß, es gibt eine Menge anderer, geradezu entgegengesetzter Gesichter der Moskauer Straßen: traurige, sogar entsetzliche. Aber auch dieses Gesicht existiert. «Ein Volk ist unverletzbar, wenn der Schmerz um den Sänger gemeinsam ist», schrieb Bella Achmadulina. Die Moskauer hatten Wyssotzkij zu ihrem Sänger erkoren. Sie wollten ihm ihre Liebe und ihren Schmerz zeigen, und sie taten es. Auch das war eine Wahl, eine hochgeistige.
Meine Landsleute brauchen normale Lebensbedingungen genauso nötig wie alle anderen Menschen. Dazu gehört die Möglichkeit, zu wählen. In Rußland werden - seiner Geschichte und seinem Charakter entsprechend - diese Lebensbedingungen in anderer Weise verwirklicht werden. Auch das ist natürlich. Ich weiß nicht wann, und ich weiß nicht wie - aber ich weiß, daß es auch in Rußland möglich ist.
Ich kann niemandem das Recht streitig machen, sich mit Rußland als seinem Fachgebiet zu beschäftigen, sozusagen von acht bis fünf. Aber es zieht mich zu jenen Ausländern, die eine Freundin «Russen honoris causa» nannte. Es zieht mich zu denen, die eine Zeitlang bei uns gelebt haben und dadurch eine tiefe Erschütterung erfuhren. Für sie bedeutete der Aufenthalt in der Sowjetunion eine Lebenswende, eine Veränderung ihrer Wertmaßstäbe. Ihnen ist jetzt der eigene Überfluß peinlich, die Empfänge in den gepflegten Salons öden sie an. Es blieb etwas «Moskauisches» in ihnen zurück - auch ein wenig Nostalgie. Mit ihnen verkehre ich auch hier gerne und überzeuge mich stets aufs neue, wie wichtig für sie unsere gemeinsame Erfahrung ist.
Es gibt - und dies besonders bei jungen Leuten - den Drang zum Abenteuer, zur Gefahr. Das Leben am Rande ist mitunter auch für die Ausländer voller Risiko. Aber da ist noch etwas viel Tieferes. Wer sich - wenn auch nur in Gedanken auf die russischen Nöte einläßt, begibt sich seines seelischen Komforts. Und der ist im Westen eines der höchsten Güter, besonders in den
USA. Nicht umsonst ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung das einzige staatliche Dokument der Welt, das außer den unveräußerlichen Rechten des Menschen auf Leben und Freiheit noch ein drittes Recht anführt: das Streben nach Glück. In Europa ist dieses Streben nicht viel anders.
Es gibt auch eine andere Möglichkeit: Solange ein Besucher aus dem Westen in der Sowjetunion lebt, teilt er Kummer und Leid des Gastlandes. Kehrt er nach Hause zurück, sperrt er diese Erfahrung aus. So - vergessend, ausstreichend - verhalten sich auch manche Emigranten.
*****
Was weiß die Mehrheit der Menschen, die keinerlei Kontakt mit uns hat, über die Sowjetunion? Was wollen die Menschen wissen, was wollen sie nicht wissen? Für die heranwachsenden deutschen Kinder gehört der Zweite Weltkrieg kaum noch in die Zeit ihrer Väter, sondern schon in die ihrer Großväter.
Schulfunksendung für Schüler der Oberklassen. Der Moderator ist empört über das verlogene Bild, das die deutschen Massenmedien von Rußland vermitteln. («Der Bolschewik mit dem Messer zwischen den Zähnen, auf dem Sprung, Deutschland zu überfallen» wurde ersetzt durch «den Kommunisten mit der Atombombe»). Der Moderator sagt treuherzig: «Ich kenne kein einziges Buch von einem russischen Schriftsteller, habe überhaupt keine Vorstellung von den Russen. Ich weiß nicht, was ihr Fernsehen ihnen vorsetzt, welche Einstellung sie zur Innenpolitik ihrer Regierung haben... Ich weiß überhaupt nichts von ihnen...» Ein ehrliches Eingeständnis. Aber hätte er sich nicht, ehe er sich an die Arbeit machte, ein wenig informieren können, sei es auch nur anhand der Lektüre einiger Übersetzungen zeitgenössischer sowjetischer Literatur?
Es gibt allerdings auch unter sowjetischen Journalisten eine ganze Anzahl, die über Deutschland berichten, ohne je ein Buch eines deutschen Schriftstellers gelesen zu haben. Hier muß ich jedoch einschränkend hinzufügen, daß mir kein einziger russischer Intellektueller begegnet ist, der nicht mindestens einen Roman von Heinrich Böll gelesen hat.
Im Januar 1982 erfuhr ich vom Tod des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow. Ich erfuhr davon im Kreise hiesiger Freunde, die seit langem die russische Kultur lieben. Jeder unserer Gesprächspartner hatte einige Jahre in der Sowjetunion gelebt. Doch keiner von ihnen kannte auch nur Schalamows Namen, obwohl seine Erzählungen zweimal in renommierten deutschen Verlagen erschienen sind. (Einmal unter dem Titel «Paragraph 58», das zweite Mal «Kolyma - Insel im Archipel».) Schalamow überstand 17 Jahre in den Goldfeldern von Kolyma, also nicht im ersten, sondern im neunten Kreis der Lager-Hölle. Nach Schalamows Rehabilitierung kursierten Gedichte von ihm im Samisdat, später erschienen einige gedruckte Gedichtsammlungen. Von einer Publikation seiner Kolyma-Erzählungen konnte jedoch nicht einmal in der liberalen Chruschtschow-Zeit die Rede sein. So entschloß sich der Autor - nicht ohne Bedenken und Skrupel -, seine Arbeiten im Westen herauszubringen. Doch hier wurden sie nicht zur Kenntnis genommen.
Ein weiterer bitterer Kelch für Schalamow. Er entrüstete sich über den Westen, verdammte ihn, nicht nur in privaten Gesprächen. Er veröffentlichte sogar in der «Literaturnaja gaseta» einen Artikel, in dem er Autoren anprangerte, unter ihnen Solschenizyn, die ihre Werke im Westen publizierten. (Noch 1964 hatte Solschenizyn über Schalamow gesagt: <Der hat die ganze Wahrheit über die Lager berichtet. Ich habe bloß den glücklichen Tag des Iwan Denissowitsch beschrieben)
Seine letzten zehn Lebensjahre verbrachte Schalamow in einem Altersheim. Er war krank und hatte fast alle Verbindungen zu Freunden, Lesern und Bewunderern abgebrochen. Es war ihm nicht gelungen, sich in der <normalen> Welt wieder zurechtzufinden. Gefängnis und Lager hatten seine physische Gesundheit, nicht aber seine große Begabung zerstören können. Ich hoffe, daß auch die deutschen Leser einen Weg zu Schalamows Erzählungen finden werden, obwohl es für jeden - Deutsche wie Russen - unerhört schwer ist, soviel Entsetzliches in sich aufzunehmen. Es betrübt mich, daß man hier Schalamow nicht kennt. Aber wie viele Bücher, die meine deutschen Freunde lieben, kenne ich? Ich hörte, wie drei leidenschaftliche Büchernarren ihre Eindrücke austauschten, über geliebte Bücher sprachen und mit Freude, ja Begeisterung außer deutschen Autoren auch alte japanische und alte chinesische anführten. Geliebte Bücher — Zeichen der Zugehörigkeit zu einer geistigen Heimat. Aber mir, zu meiner Schande sei es gesagt, waren nicht einmal die Namen geläufig. Ich kannte den Nobelpreisträger Elias Canetti ebensowenig wie die Bücher von Manes Sperber. Beiderseitiges Unwissen.
Für meine Landsleute gibt es eine Entschuldigung, die hier keine Gültigkeit besitzt: Verbote. Sie dürfen nicht reisen, sie dürfen nicht sehen. Sie dürfen auch vieles nicht lesen. Bis heute gibt es in der Sowjetunion noch keine vollständige Ausgabe des «Ulysses» von James Joyce, obwohl der begabte Übersetzer Viktor Hinkis buchstäblich sein Leben einsetzte, damit seine Übersetzung publiziert würde. Auch von Vladimir Nabokov ist nicht ein einziger Roman bei uns erschienen. Die russischen Leser kennen weder die «Blechtrommel», noch die «Hundejahre», noch das «Tagebuch einer Schnecke», noch den «Butt» von Günter Grass.
Die Wirkung von Verboten ist unterschiedlich. Verbote können den leidenschaftlichen Drang zum Verbotenen wecken. Wohin es führen würde, wenn alles erlaubt wäre, ist für mich schwer zu beurteilen.
Natürlich nutzen meine Landsleute das ihnen Zugängliche bei weitem nicht vollständig und bei weitem nicht immer aus. Auch das ist normal. Wenn sich doch der Prozeß des Austauschs wie das Atmen vollziehen könnte, im natürlichen Rhythmus - ohne politische Sensationen und ohne kommerzielle Berechnungen!
...Ich schaue zu, wie ein Rheindampfer eine Schleuse passiert und denke an die Wolga: vor mir eine leere Fläche, sie füllt sich mit Wasser, das Niveau gleicht sich langsam aus. So müßte der Austausch geistiger Kostbarkeiten, der Austausch von Büchern vonstatten gehen...
Im Freud-Museum in Wien gibt es Vitrinen mit fremdsprachigen Ausgaben seiner Werke. Hier wird der weltweite Einfluß dieses großen Gelehrten deutlich. Auf dem Regal «Slawische Sprachen» stehen vier 1969 in London erschienene Bändchen in russischer Sprache. Aber wo ist die sowjetische Ausgabe der Gesammelten Werke Freuds aus den Jahren 1923-1927? Diese Ausgabe hatte seitdem manches zu erdulden: sie wurde in die sogenannten Giftschränke der Bibliotheken eingesperrt, nach Stalins Tod wurde sie wie Hunderttausende ehemaliger Häftlinge «rehabilitiert». Man gab sie den Lesern zurück. 1927 hatte Michail Bachtin eine grundlegende Arbeit über Freuds Lehre veröffentlicht. Ein halbes Jahrhundert später, 1978, fand in Tbilissi ein internationales Psychologen-Symposion über das Unbewußte statt. Die Diskussionsbeiträge wurden mit Resümees in den anderen nichtrussischen Kongreß sprachen in drei Bänden veröffentlicht. Auch diese Bände vermißte ich in dem Museum.
Auf die Frage, warum diese Publikationen fehlen, erwiderte der Mitarbeiter des Museums: «Uns besuchen sehr viele Amerikaner, Russen kommen kaum.» So etwa erklärt der Verkäufer einer Polaroid-Kamera oder einer französischen Hautcreme, warum unter den Beschriftungen in sechs bis acht Sprachen die russische fehlt. Ein einfaches Marktgesetz: keine Käufer, keine Übersetzung. Ein Museum ist aber doch kein kommerzielles Unternehmen. Freuds Wirkung in Rußland ist nicht nur für die russische, sondern für die gesamteuropäische Kulturgeschichte wichtig, und zwar ebenso in der Anziehungskraft seiner Lehre wie im Widerspruch gegen sie.
*****
Türen in eine andere Welt bleiben auch dort verschlossen, wo man so tut, als wisse man genau, was sich hinter ihnen befindet. Halbwissen fällt weniger auf als offene Unkenntnis. Darum ist Halbwissen gefährlicher, und es ist auch schwerer zu überwinden. Du beginnst, dich mit einer dir bisher fremden Materie zu beschäftigen, einer Fremdsprache beispielsweise. Zunächst freust du dich über jedes dir verständliche Wort, greifst es auf, pickst es heraus und versuchst nun, das übrige zu enträtseln und den ganzen Satz zu verstehen. Du erkennst Wörter an ihren lateinischen Wurzeln und stößt auf Begriffe, die die russische Sprache als Lehnworte aus der deutschen übernommen hat: Freudig überraschten mich «Jahrmarkt» (russisch: jarmarka), «Halstuch» (galstuk), «Maler» (maljar) - ich hatte diese Wörter bisher für echt russisch gehalten. Doch nach dieser verfrühten Freude gerätst du bald ins Stocken. Es kommen Zweifel, und es wird immer schwerer. Nein, du weißt tatsächlich überhaupt nichts. Das bißchen, das du verstehst, ist ein Nichts im Ozean des dir Unverständlichen. Wie leicht, wie verführerisch ist es doch, auf dieser Stufe stehenzubleiben, auf der dir scheint, du verstündest fast alles und damit alles Notwendige. «Prächtige Menschen sind die Bauern, prächtige Menschen sind die Gelehrten, das ganze Elend kommt nur von der Halbbildung», schrieb Montaigne. Gerade durch Halbbildung entstehen und festigen sich Klischees: Alle Deutschen sind pedantisch, alle Franzosen sind leichtsinnig, alle Amerikaner sind geistlos, alle Russen haben die «weite slawische Seele», und so weiter.
Am schlimmsten ist die Selbstzufriedenheit. Zu wissen oder zu vermuten, daß man nichts weiß, gibt Hoffnung: später werde ich wissen. Jeder Lehrer kennt die Sorte von Schülern oder Studenten, die zum Unterricht kommen, nicht, weil sie etwas Neues, bisher Unbekanntes lernen wollen, sondern um mit den eigenen Kenntnissen zu glänzen und den Lehrer irgendwie in Verwirrung zu bringen.
Ich traf in Paris, in New York, in Deutschland einige Landsleute, die schon länger in der Emigration leben als wir. Ich höre ihnen zu und wundere mich: Es ist, als sei nicht ein Jahrzehnt vergangen, als befänden wir uns nicht im Jahre 1981/82 im Ausland, sondern im Jahre 1971/72 im Klub des Schriftstellerverbandes in der Worowskij Straße oder im Hof der Schriftstellerhäuser in der Krasnoarmejskaja. Hat ihre neue Erfahrung wirklich nichts an dem Bild geändert, das einige sich schon zu Hause gemacht haben?
Durch Halbwissen entstehen unsinnige Fehler. Ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal die Zensur loben würde. Auf Befehl der sowjetischen ideologischen Behörden, die Bücher und Leben der Schriftsteller verstümmeln, gibt es in jedem Verlag, in jeder Zeitschriftenredaktion eine Abteilung, die Fakten und Daten in jedem Manuskript überprüft. Erst im Westen habe ich begriffen, wie wichtig es ist, Lexika zu Rate zu ziehen, Daten, Fakten, Namenschreibung, geographische Begriffe zu prüfen; wie wichtig es ist, sich mit dieser mühsamen Kleinarbeit zu befassen, wie notwendig für die Qualität jeder beliebigen Edition.
Es erschien die erste große Monographie über Pasternak. Der Verfasser, ein bekannter amerikanischer Slawist, teilt unter anderem mit, Chruschtschow habe 1957 Ehrenburg, Jewtuschenko und Sinowij Roshdestwenskij beschimpft. Ich schreibe mit Rotstift an den Rand: 1957 hat Chruschtschow Margarita Aliger gescholten, Ehrenburg schalt er 1962. Es war nicht Chruschtschow, der 1963 Jewgenij Jewtuschenko attackierte, es waren Jurij Shukow und andere. Verblüfft war ich über den nicht existierenden Sinowij Roshdestwenskij. Man kann nur mutmaßen, wie er zustande gekommen ist: 1. Chruschtschow beschimpfte Andrej Wosnessenskij; 2. Wosnessenije (Himmelfahrt) ist ein christlicher Feiertag, Roshdestwo (Weihnachten) ebenfalls; 3. Es gibt den Dichter Robert Roshdestwenskij; 4. Es gibt den Schriftsteller Sinowij Papernyj, der aus der Partei ausgeschlossen wurde wegen seiner Satiren auf offiziöse Literaten. So wirkt sich Halbwissen aus, wenn der Autor zwar die besten Absichten hat, die Fakten aber nicht gründlich überprüft werden.
«Niemand erschien, um Ehrenburgs Sarg aus dem Haus der Literaten hinauszutragen», schreibt ein Emigrant und setzt damit alle und alles herab - Ehrenburg und viele andere. Viele von uns gingen in der Sadowaja im langen Zug der Leser mit, die gekommen waren, um von Ehrenburg Abschied zu nehmen. Die einen dachten an seine Romane aus den zwanziger Jahren, vor allem an den «Julio Jurenito». Andere, vielleicht die meisten, dachten an den Krieg («Ehrenburg wird nicht verraucht» - an der Front benutzte man zum Zigarettendrehen alle Arten von Zeitungen ohne Rücksicht auf den Inhalt, ausgenommen Ehrenburgs Artikel); die dritten schätzten sein gutes Gedächtnis. Nach dem vieljährigen Verbot der Verse von Ossip Mandelstam und Marina Zwetajewa haben Hunderttausende sie in Ehrenburgs Memoiren «Menschen, Jahre, Leben» gelesen. Man kann sich zum Leben und Schaffen Ehrenburgs verhalten, wie man will. Aber man sollte statt der alten Lügen keine neuen verbreiten.
Es gab tatsächlich den Fall, daß sich niemand eingefunden hatte, um einen Sarg hinauszutragen. Es war der Sarg des Kritikers Wladimir Jermilow. (Ich befand mich im Zimmer nebenan in einer Versammlung, als jemand zu uns kam und bat: «Leute, helft bitte, den Sarg hinauszutragen.») Aber Ehrenburg und Jermilow sind zwei verschiedene Menschen, zwei verschiedene Schicksale.
Halbwissen gehört im Westen zu den Konsequenzen einer Welt der Halbfertigware, die der Hausfrau so unendlich viele Erleichterungen bringt. In einer halben Stunde läßt sich alles Nötige einkaufen und das Mittagessen zubereiten. Alles ist schon geputzt und kleingeschnitten, schüttet es in die Pfanne oder den Schnellkochtopf - fertig! Genauso gut kann man sich beim Camping oder auf Bootsfahrten mit allem Komfort versorgen.
Auch in den Massenillustrierten und in den Fernsehprogrammen ist alles wie geputzt, kleingeschnitten, vorgekaut. Mach den Mund auf, man schiebt dir alles hinein.
Als wir fünf Monate in Deutschland waren, setzten sich in einem Restaurant in Bad Münstereifel ein paar Leute an unseren Tisch. «Wir haben Sie schon mal irgendwo gesehen... Ach, natürlich, im Fernsehen... Ja klar, Sie sind ja hier geboren, es wurde ja neulich Ihr Geburtstag gefeiert...» Empört bastele ich ein paar Sätze aus den wenigen mir verfügbaren Worten zusammen: «Mein Mann ist nicht jung, aber er ist auch noch nicht 200 Jahre alt. Hier ist Doktor Haass geboren.» Fernsehsalat, ein paar Bruchstücke zusammengemixt - Haass, Kopelew, 200 Jahre,
Deutschland, Moskau, deutscher Arzt, russischer Literat...
Fernsehinterview in Holland. Direkte Verbindungen zur holländischen Kultur haben wir nicht viele, aber an eine Sache erinnere ich mich: Es war 1955, nicht lange nach Kopelews Entlassung aus dem Gefängnis. Zu seinen ersten Arbeiten für das Literatur-Museum gehörte die Übersetzung eines holländischen anonymen antijesuitischen Buches aus dem 17. Jahrhundert. Aus dem Holländischen zu übersetzen, war schwierig, es glückte mit Hilfe von Wörterbüchern, die Arbeit wurde fertig, wenn auch nicht veröffentlicht. Der Interviewer hört gelangweilt zu und fragt dann: «Und was denken Sie über die Entwicklung der Beziehungen zwischen Ost und West?» Die Frage kam zum hundertsten Mal, wurde zum hundertsten Mal beantwortet. Und mir scheint auch heute noch, daß für die holländischen Fernsehzuschauer viel interessanter gewesen wäre, von eigenartigen russischen Schicksalen, verschlungenen Wegen der Kulturgeschichte zu hören: Da sitzt der Häftling von gestern mit einem seltenen Buch in der Lenin-Bibliothek, vertieft sich in die Leidenschaften, die heute so gegenwärtig sind wie vor dreihundert Jahren: Glaube und Vernunft, Reformierung und starres Dogma, das Streben nach Erkenntnis und das Bestreben, Erkenntnis zu verhindern. Moskau, das beginnende Tauwetter, Übersetzung vom Holländischen ins Russische. Die Erzählung darüber ein Vierteljahrhundert später. - Oder wäre ein Schwarz-weiß-Klischee wirklich besser gewesen?
Nein, ich stoße nicht ins selbe Horn wie die vielen Ankläger des Fernsehens, nicht allein deshalb nicht, weil es nutzlos wäre, sondern weil die Nachrichtensendungen meist gut sind und weil im Programm immer wieder ausgezeichnete Sendungen angeboten werden.
Daß Massenmedien in gewissem Sinne zur Massenhalbbildung beitragen, weiß ohnehin jeder.
Ich spreche nicht von der strengen Zensur im sowjetischen Fernsehen, ihre Rolle liegt auf der Hand. Ich meine vielmehr jenes Fernsehen, in dem es keine staatlichen Verbote gibt, wo statt dessen aber eine strikte Skala vom «Wichtigen» zum «Belanglosen» existiert. Diese besondere Wertskala entspricht bei weitem nicht immer der Wahrheit. Das habe ich im Westen als Fernsehzuschauer und auch gelegentlich als «Mitspieler» erfahren. Daß es diese Wertskala in Funk und Fernsehen gibt, wußte ich bereits zu Hause. Viele Dissidenten wurden seit 1968 international bekannt. Ihre Namen erklangen im Rundfunk, standen in ausländischen Zeitungen.
Lange glaubten wir, diese Art der Öffentlichkeit sei die wichtigste Form zur Verteidigung der Verfolgten: Ausländische Rundfunkstationen nannten die Namen sowjetischer Bürgerrechtler. Das trug dazu bei, daß Gefängnisse, Lager, psychiatrische Anstalten ihre Türen vorfristig öffneten. Heute leben viele Dissidenten im Westen, die dank der Einmischung der Weltöffentlichkeit freigelassen wurden.
In dieser Hinsicht hat die Geschichte für die heutigen Dissidenten unvergleichlich leichtere Bedingungen geschaffen, als ihre Vorgänger zu ertragen hatten - die jungen Oppositionellen der zwanziger Jahre und später all die Hunderttausende, die, obwohl sie sich politisch überhaupt nicht exponiert hatten, spurlos im Archipel Gulag verschwanden.
Heute bleibt eine Verhaftung oder eine Hausdurchsuchung selten unbemerkt. Es sei denn, sie fände in der tiefsten Provinz statt, oder der Betroffene selbst will nicht, daß sie bekannt wird. Allerdings ist zur Zeit die Wirkung der «Publicity» geringer als noch vor wenigen Jahren, aber ich hoffe, daß sie nicht völlig wirkungslos wird. In der Sowjetunion hören Millionen Menschen ausländische Rundfunksender. Sie hören von allem, was in der Welt vorgeht, in erster Linie aber das, was über die Sowjetunion gesagt wird. Für viele Sowjetbürger ist der ausländische Rundfunk außer ihrer eigenen Erfahrung die einzige seriöse Informationsquelle. Viele meiner Landsleute hegen wie ich Dankbarkeit gegenüber «BBC», «Deutsche Welle» und «Stimme Amerikas». Aber es genügt nicht, Fakten mitzuteilen. Wichtig ist auch deren Interpretation. Und die Interpretation provoziert Fragen und Widerspruch. In der Regel kehrt durch den Äther in die Sowjetunion zurück, was die in Moskau akkreditierten Korrespondenten nach Washington und Paris, nach London und Köln melden. Sie denken dabei nicht an die sowjetischen Rundfunkhörer, das ist ganz natürlich, sondern an ihre eigenen Hörer und Leser, für die sie ja arbeiten. Hörer und Leser, die wie sie selbst in einer intellektuellen und politischen Atmosphäre aufgewachsen sind, die von der sowjetischen sehr verschieden ist. Ich spreche nur von integren und engagierten Journalisten; in Moskau ist diese Qualität geradezu eine Berufsnotwendigkeit.
1978 reiste Andrej Sacharow mit seiner Frau Jelena Bonner und seinem Stiefsohn nach Mordowien, um Eduard Kusnezow im Straflager zu besuchen. Kurz nachdem Sacharow nach Potjma abgereist war, besuchten uns ausländische Korrespondenten. Und ich fragte schon an der Türschwelle: «Warum wird über diese Reise so wenig und so kärglich berichtet? Begreifen Sie denn nicht, was es für Tausende von Häftlingen bedeutet, daß das Akademie-Mitglied Sacharow in ihrer Nähe weilt?» Erst am Vortag hatte ich versucht, einer Freundin klarzumachen, daß die ausländischen Korrespondenten in der Regel keinen direkten Einfluß auf die Programmgestaltung von «BBC», «Deutsche Welle» oder «Stimme Amerikas» haben. Doch in diesem Augenblick verkörperten die Besucher für mich den mythischen unteilbaren Westen.
Die Gäste antworteten kühl:
«Sacharow - das ergibt keine <Meldung> und keine <Story>.» Mir verschlug es vor Empörung die Sprache.
Seitdem habe ich einige führende Mitarbeiter jener Supermacht kennengelernt, die Massenmedium genannt wird. Diese Männer haben ihre eigenen Vorstellungen davon, was eine «Meldung» ist, was die Abonnenten ihrer Zeitungen lesen, was Rundfunkhörer und Fernsehzuschauer hören und sehen wollen. Sacharow wurde im Herbst 1981 aufs neue zur «Meldung», damals, als er in Hungerstreik getreten war und buchstäblich in Lebensgefahr schwebte. ...In einem Zimmer kommen abends kurz nach sechs Uhr ein paar Leute zusammen. Achtzehnuhrzwanzig: «Hier spricht die Deutsche Welle in Köln! Hier spricht die Deutsche Welle in Köln!» Lange habe ich diesen Ruf nicht mehr gehört, aber seine Intonation habe ich noch heute im Ohr. Es krächzt jetzt und knattert; jemand dreht den kleinen Hebel einen Millimeter nach links, dann nach rechts. Meinungsverschiedenheiten:
«Geh auf 51.» «Nein, probier es auf 25.»
Manchmal kommt es mir so vor, als hätte sich die Art, wie westliche Nachrichten gebracht werden, an den Krankheiten der sowjetischen Massenmedien infiziert, vor allem am Monologismus.
Diskussion ist ein unverzichtbarer Teil des intellektuellen Lebens im Westen. Doch echte Rundfunkdiskussionen sind äußerst selten zu hören. Das trifft für den deutschen Rundfunk ebenso zu wie für den englischen und amerikanischen. Dabei ist Diskussion wahrscheinlich eins der wirksamsten direkten Mittel zur Weitergabe demokratischer Erfahrung. Der Hörer nimmt verschiedene, einander widersprechende Gesichtspunkte zu ein und derselben Frage auf. Er wählt bewußt oder unbewußt den ihm am meisten zusagenden, formuliert ihn, erarbeitet sich, akzeptierend oder ablehnend seinen eigenen Standpunkt.
Um die Mitte der sechziger Jahre kam es vor, daß die Putzfrau im Schriftstellerhaus in Peredelkino sagte: «Ihren Bi-Bi-Ssi habe ich auf den Schrank gestellt...» Diese idyllischen Zeiten sind vorbei. Heute kann es sogar gefährlich werden, ausländische Sender zu hören. Auch die Störungen verstärken sich, es wird immer schwieriger, sich durch das Geknatter in die weite Welt durchzuzwängen. Ich wünsche inständig, daß die Sendungen, die zu empfangen den Moskauern so viel Mühe macht, sie nicht enttäuschen.
*****
Immer wieder haben wir auf die Frage zu antworten: «Was hat sich in der Sowjetunion in letzter Zeit verändert? Ist es besser oder schlechter geworden?»
Auf Anhieb ist die Antwort leicht: Der Druck hat sich verstärkt, wird schlimmer. Es stimmt, daß die Verhaftungen zunehmen, Andersdenkende immer härter bestraft werden. Aber gleichzeitig mehren sich die Samisdat-Zeitschriften (ihre Erscheinungsdauer ist meist nur kurz, aus Gründen, die nicht von den Redakteuren abhängen).
...An einem Septembertag des Jahres 1974 ging ich einen Weg im Ismajlowskij-Park entlang zur Ausstellung Moskauer Maler, die für wenige Stunden erlaubt worden war. Ich brauchte mich nicht zu erkundigen, wo die Ausstellung stattfand: Vor mir und hinter mir gingen Leute einzeln und in Gruppen, von deren Gesichtern abzulesen war, daß sie genau dorthin gingen, wohin ich auch wollte. Auf einer großen Lichtung waren Stricke gespannt, an denen Bilder hingen, so wie bei Salvador Dali die «Trocknenden Uhren». Es gab Exponate fast aller Richtungen zeitgenössischer bildender Kunst vom Realismus bis zur Pop-Art. Um jeden Künstler hatte sich ein Häufchen Betrachter geschart. Sie fragten, fragten eindringlich, leidenschaftlich. Es wurde hitzig, manchmal gar schreiend, diskutiert - mit dem Maler, aber auch untereinander. Und man freute sich. Es war ein Festtag. Ich sage nicht ein Festtag der Kunst. Für mich und viele andere war es eher ein Festtag der Freiheit. Es war jene halbphantastische Atmosphäre freien Selbstausdrucks und freier Diskussion, die dem Entstehen großer Kunst förderlich ist, was nicht unbedingt bedeutet, daß sie auch entsteht. Die Menschen verhielten sich so, als habe es das Gestern nicht gegeben. Als hätten zwei Wochen vorher nicht wild gewordene Hilfspolizisten auf Bildern herumgetrampelt, sie verbrannt, in Stücke gerissen, hätten nicht mit Bulldozern die Künstler vertrieben, hätten nicht Hohn gelacht über den verrückten Korrespondenten einer englischen Zeitung, der auf die Motorhaube eines Traktors gesprungen war und vergeblich gerufen hatte: «Schämt ihr euch nicht! Lenin würde euch bestrafen!» Selbst einige der Maler schüttelten die Köpfe über ihn. Jetzt war es, als sei dies alles nicht eben erst geschehen und als könnte es morgen nicht wieder geschehen. Es war eine Bresche geschlagen. Seitdem finden alljährlich, meistens in Moskau und Leningrad, Ausstellungen «nichtoffizieller» Kunst statt.
Fünf Jahre später, 1979, gaben Schriftsteller und Lyriker den Almanach «Metropol» heraus. Im Vorwort heißt es: «Der Traum des Obdachlosen - ein Dach über dem Kopf... Die Autoren des <Metropol> sind voneinander unabhängige Literaten. Das einzige, das sie miteinander verbindet, ist ihre Obdachlosigkeit und das Bewußtsein, daß nur der Autor selbst die volle Verantwortung für sein Werk trägt. Das Recht auf diese Verantwortlichkeit ist uns heilig. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Stärkung dieses Bewußtseins unserer gesamten Kultur nützlich sein wird.» Die Autoren des Almanachs trafen mit Freunden zusammen, nachdem «Metropol» verboten worden war. Auf allen Gesichtern lag trotz des Verbotes der siegesbewußte Ausdruck errungener Freiheit, das Gefühl der Erfüllung, wie es mich während der Ausstellung in Ismajlowo durchdrungen hatte.
«Freunde, reicht euch die Hände,
damit wir nicht einzeln untergehen», schrieb Bulat Okudshawa.
Und 23 Menschen reichten sich die Hände.
Westliche Leser des Almanachs «Metropol» (er erschien in französischer und englischer Sprache) können fragen: Was ist in diesem Almanach denn so Gefährliches? Doch nicht etwa der Inhalt? So gut wie keine Politik - wenn man davon absieht, daß in der Sowjetunion alles politisch aufgefaßt wird. Romane, Erzählungen und Gedichte, wie sie der Almanach publizierte, findet man — mit wenigen Ausnahmen - auch in den zugelassenen sowjetischen Zeitschriften. Ein großer Teil der Beiträge im Almanach war zuerst auch Zeitschriften angeboten worden, aber aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt worden. Die ideologischen Behörden empörte der Versuch der «Metropol»-Mitarbeiter, sie zu umgehen, der Versuch, ohne Zensur auszukommen. Es empörte und erschreckte sie die freie Zusammenarbeit der Autoren.
Sind die Bedingungen für das Entstehen wahrer Kunst in der Sowjetunion leichter oder schwerer geworden? Nach Stalins Tod begann das Leben des Landes, seine Kultur sich zu erneuern. Doch 1956 hätte sich auch in kühnsten Träumen niemand vorzustellen gewagt, daß eine sowjetische Zeitschrift Romane würde drucken können wie Tschingis Ajtmatows «Ein Tag länger als ein Leben» oder «Abschied von Matjora» von Valentin Rasputin, daß Filme von Andrej Tarkowskij oder Otar Josse-liani gezeigt werden könnten; daß man auf offiziellen Gemäldeausstellungen Arbeiten von Wladimir Weissberg sehen würde; daß Michail Bulgakows Roman «Der Meister und Margarita» und Gedichte von Ossip Mandelstam herausgebracht werden würden. Weder Geist noch Stil dieser Werke waren damals vorstellbar. Aber die Menschen lebten von Hoffnungen: Morgen wird es um so viel besser sein, wie es heute besser als gestern ist.
Die Illusionen zerstoben. Von den Hoffnungen blieb fast nichts mehr. Es sei denn eben die Unvorhersehbarkeit in der Entwicklung der Gesellschaft und besonders in der Kunst. In den vergangenen Jahren wechselten kurze Tauwetterperioden mit langen Frösten. Jeder neue Angriff der «Bulldozer» weckte das Gefühl: Jetzt ist Schluß, nun ist alles zu Ende.
Nach dem Gerichtsurteil über Andrej Sinjaws-kij und Julij Daniel (1966), nach der Festnahme und Ausweisung von Alexander Solschenizyn (1974) hörte ich immer wieder: «Jetzt wird keiner mehr wagen, den Kopf zu heben.» Die Pessimisten behielten nicht recht. Die Ausstellung in Ismajlowo, der Almanach «Metropol», die Zeitschrift «Auf der Suche» und andere AufbKüche zur Freiheit beweisen es.
In Rußland sind, wie überall in der Welt, nur wenige fähig, die spezifischen Formen des einsamen Widerstandes gegen allgewaltige Machthaber auszuhalten, unter den Bedingungen einer Ratakombenkultur zu arbeiten. Dazu braucht man außer Talent Furchtlosigkeit und eisernen Willen - beides besitzt nicht jeder schöpferische Mensch.
Die Nachrichten aus Rußland sind nicht erfreulich. Die Risse zwischen gestern noch Gleichgesinnten vertiefen sich. Die einen werden zu Zynikern, andere verzagen, die dritten sondern sich in sektiererischen Gruppen ab, die vierten gehen in den Westen.
Doch auf einem anderen niedergewalzten Feld grünen neue Reime. Noch vor kurzem sprach man über die Werke des Komponisten Schnitke fast mit den gleichen Worten, mit denen Stalin Schostakowitsch verdonnerte: «Chaos statt Musik.» Doch im Januar 1981 wurde im Tschaikowsky-Saal in Moskau Schnitkes zweite Symphonische Messe aufgeführt. 1982 gastierte er in Deutschland: ein Festtag großer Kunst. Die seltenen Festtage wechseln mit trübem, manchmal schrecklichem Alltag. Alle Merkmale lassen erkennen, daß es schlechter geworden ist. Hoffnung besteht nur darauf, daß der Gesichtsausdruck, der von unermüdlichem, nicht unterdrückbarem Streben nach Freiheit zeugt, nicht verschwindet. Für die Pragmatiker, die Skeptiker, sind diese Hoffnungen illusorisch. Aber die Kunst selbst wird aus solchem irreal-realen Stoff gewebt.
*****
Über die Wirksamkeit des ausländischen Rundfunks begann ich zur Zeit der «Bulldozer-Ausstellung» von 1974 nachzudenken. Von ihr war in vielen Ländern berichtet worden. Seitdem erfuhren wir oft aus Radiosendungen, daß in Moskau oder in Leningrad eintägige Ausstellungen von Werken bisher verbotener Maler stattfanden. Wir erfuhren davon meistens erst durch die Meldung, daß die Ausstellung schon wieder verboten worden war und die Miliz die Besucher auseinandergejagt hatte. Aber jedenfalls waren die Bilder nicht zerstört worden. Bei vielen sowjetischen Menschen hat sich im Verlauf langer Jahre bewußt oder unbewußt das Gefühl und mit ihm die Überzeugung entwickelt: «Alles Verbotene ist gut.» Und das durchaus nicht ohne Grund. Lange Jahre waren Dichter wie Anna Achmatowa, Boris Pasternak, Ossip Mandelstam, Michail Bulgakow, Andrej Platonow, Alexander Solschenizyn verboten, einige sind es heute noch. Doch es gab auch unter den Schriftstellern, die in den Terrorjahren verfolgt wurden, manche, die mittelmäßig oder schlecht schrieben. Und unter den bildenden Künstlern, die heute verfolgt werden, sind die wirklichen Meister ebenfalls in der Minderheit. Von vornherein anzunehmen, das Verbotene sei bestimmt gut, schafft Verwirrung der ästhetischen und damit auch der ethischen Kriterien. Eine in der Sowjetunion erlaubte Publikation beweist keineswegs unbedingt den Konformismus des Autors, bedeutet auch nicht ohne weiteres, daß der Leser Pseudo-Literatur, Pseudo-Geschichte, Pseudo-Philosophie vor sich hat. Ein erlaubtes Buch, das offizielle Anerkennung gefunden hat, ist kein Synonym für ein verlogenes, schlechtes Buch. Doch das ist ein anderes Thema.
Die Situation hat etwas von einer Sackgasse: Jenes kulturelle Feld, das keine Bulldozer plattwalzen, liegt außerhalb der Sphäre, die den Moskauer Auslandskorrespondenten zugänglich ist. So bleibt es der überwiegenden Mehrheit der Menschen im Westen unbekannt, selbst vielen, die sich für die Kultur in der Sowjetunion interessieren. Viele sowjetische Schriftsteller und Historiker, die ihre Arbeiten publizieren können, wollen oft ihre Namen nicht in den Spalten von «Le Monde», «Die Zeit», in der «New York Times» oder der «Neuen Zürcher Zeitung» gedruckt sehen. Wer weiß zum Beispiel davon, daß zum ersten Mal seit 1917 «Heiligen-Viten»- Denkmale altrussischer Kultur - veröffentlicht worden sind? Oder davon, daß eine Neuausgabe der «Geschichte des russischen Staates» von Nikolaj Karamsin vorbereitet wird oder «Ausgewählte Werke» des Philosophen Nikolaj Fjodorow. Derartige Editionen sind für das Geistesleben wichtiger als irgendwelche kurzlebigen Ausstellungen, denn das Bild der gegenwärtigen Kultur in der Sowjetunion ist in seiner Ganzheit, in seiner Vielseitigkeit im Westen noch immer unbekannt.
Ich kam nicht nur an verschlossene, sondern auch an gastfreundlich weit geöffnete Türen: In der Universität Yale fand 1981 ein Seminar über russische Memoiren statt. Zwei Dutzend Studenten beschäftigten sich mit Jewgenija Ginsburgs Büchern «Marschroute eines Lebens» und «Gratwanderung», mit Nadjeshda Mandelstams «Das Jahrhundert der Wölfe» und «Generation ohne Tränen», mit Lydia Tschukowskajas «Aufzeichnungen über Anna Achmatowa».
Ich hatte 1964 fast gleichzeitig das Manuskript von «Marschroute eines Lebens» und das vom «Jahrhundert der Wölfe» gelesen. Mit Jewgenija Ginsburg freundeten wir uns an, als wir Wohnungsnachbarn geworden waren. Jedes Kapitel des zweiten Bandes ihrer Memoiren, «Gratwanderung», las sie uns entweder selbst vor, oder ich las es für mich in ihrer kleinen Küche. 1977 ging ich hinter ihrem Sarg. Lydia Tschukowskajas «Aufzeichnungen über Anna Achmatowa» ist mir eines der liebsten und wichtigsten Bücher.
Seit 1966 las ich die Seiten der Reihe nach, so, wie sie sie aus ihren alten Tagebüchern hervorholte. Im Mai 1982 sah ich in Paris ein Schauspiel «Das verbrannte Heft». Es war eine Dramatisierung dieses Buches. 1938 lebten Anna Achmatowa und Lydia Tschukowskaja in großer Sorge. Achmatowa bangte um ihren verhafteten Sohn, Tschukowskaja um ihren Mann. Im Hintergrund: vor den Gefängnistoren in langer Reihe die wartenden Angehörigen der Verhafteten. Anna Achmatowa schrieb damals ihr «Requiem». Wenn Lydia Tschukowskaja sie besuchte, plauderten sie Unverfängliches. Während des Gesprächs erhält Lydia Tschukowskaja einen Zettel in die Hand gedrückt - Strophen des «Requiems». Lydia lernt die Strophen auswendig und verbrennt dann den Zettel im Aschenbecher. In dieser selben Zeit hatte Lydia Tschukowskaja eine Novelle geschrieben, die sie Anna Achmatowa vorlas. In den Denunziationen beim NKWD wurde diese Erzählung damals «Dokumentation über das Jahr 1937» genannt. Das trifft ziemlich genau zu. Das «Requiem» wie die Novelle «Ein leeres Haus» konnten nach vielen Jahren veröffentlicht werden - nicht in der Heimat, sondern im Westen.
Die amerikanische Ausgabe der Memoiren von Nadjeshda Mandelstam konnten wir der Verfasserin in Moskau zum Neujahrstag 1970 im russischen Original bringen.
Diese sehr verschiedenen Bücher, die in jener Zeit nur im Manuskript existierten, wurden in der Yale-Universität dank der Initiative der ausgezeichneten Pädagogin Rita Brakman zum Studiengegenstand. Ich wurde zu diesem Seminar eingeladen.
Die Studenten fragten: «Warum spielen im russischen Geistesleben Gedichte eine so große Rolle?» «Schreiben eigentlich nur Frauen Memoiren?» «Wie steht es in diesen Erinnerungen mit dem <Abweichungswinkel> von der Faktenwahrheit?» «Wie verhalten sich die persönlichen, unvermeidlich subjektiven Erinnerungen zur dokumentarischen Genauigkeit?» Anders ausgedrückt: «Inwieweit hilft dichterische Darstellung, die Wirklichkeit zu erkennen?»
Die Studenten fragten mich nach den Charakteren der Autorinnen, nach ihren persönlichen Eigenarten. Sie baten mich, die äußere Erscheinung einer jeden zu beschreiben, so ausführlich wie möglich von ihnen zu erzählen. Und ich erzählte, erzählte. Die Wißbegier dieser jungen Leute entsprang keineswegs einem Nützlichkeitsdenken. Es ging ihnen nicht um die gute Prüfungsnote, sondern darum, etwas für sie Wichtiges zu erfahren - nicht nur über Rußland, sondern auch über sich selbst, um zu entscheiden, wie sie weiterhin leben wollten. In zahllosen Diskussionen, vor verschiedenen Auditorien, auf verschiedenem Niveau sprechen wir, wiederholen, versuchen darzustellen, zu berichten, daß die russische Kultur existiert. Heute. Unter sehr schwierigen Bedingungen. Trotz allem.
*****
Die Aufklärer glaubten noch an die unerschöpfliche Kraft der Persönlichkeit. Auch meine Altersgenossen hingen diesem Glauben an: der Mensch kann alles! Heute versetzt mich dieses Empfinden der Grenzenlosigkeit manchmal in die Jugend zurück. Es kehrt wieder als Wunder der Kunst, als Wunder der Liebe, als Wunder uneigennütziger Nächstenliebe, als Wunder der polnischen Solidarität. Aber Wunder sind selten. Und wir leben in nüchterner Alltäglichkeit. Nein, der Mensch vermag nicht alles. Weder in der Erkenntnis, noch in der Liebe, noch in der Freundschaft. Und am wenigsten im Umbau einer Gesellschaft. Es gibt Grenzen.
Wir stehen in Hamburg vor dem Schaufenster einer Buchhandlung. Was dort alles ausgestellt ist! Man könnte schier verzweifeln. Nicht einmal einen Teil von all dem kann ich lesen. Dazu reicht mein Leben nicht aus! Aber ich freue mich für jene, die das Leben noch vor sich haben, die ihre Wahl treffen können: dieses Buch brauche ich unbedingt, auf jenes kann ich verzichten... In Moskau wird die Aufmerksamkeit durch die Kärglichkeit der Information geschärft. Hier im Westen herrscht Überfluß an allem, Überfluß auch an geistigen Gütern. Es gibt in der Welt nicht nur Erkennbares, sondern auch absolut Unerkennbares. Lew Tolstoj schrieb: «...Man muß sich mit dem uns umgebenden Geheimnis abfinden, seine Undurchdringlichkeit anerkennen und wissen, wo man aufhören muß, Fragen zu stellen und Antworten auf sie zu suchen.
Es gibt nur eine wahre Wissenschaft, sie besteht in dem, was der Mensch wissen muß; er muß wissen, wie er möglichst gut in dieser Welt jene kurze Lebensfrist verbringt, die ihm von Gott bestimmt ist, vom Schicksal oder von den Naturgesetzen - wie Sie wollen.»
Ich will hier nur vom vollständig Erkennbaren sprechen. Genauer: von dem, was in Büchern, Zeitschriften, Zeitungen zu uns kommt, was der Bildschirm uns bietet, was die wunderbaren Museen uns zeigen, was in Klangkaskaden in Konzerten auf uns herabrauscht, was auf Reklameschildern prangt. Wichtig ist, wie mir scheint, dem verführerischen Überangebot inneren Widerstand entgegenzusetzen. Man kann quantitativ nicht alles aufnehmen, ohne in Oberflächlichkeit zu verfallen. Man muß entscheiden, was für den eigenen geistigen Habitus, die eigene seelische Struktur wichtig ist, und worauf man besser verzichtet.
Schon seit langem unterscheide ich (unabhängig von literaturwissenschaftlichen Kriterien) zwischen «meinen» und «nicht meinen» Büchern. Und heute glaube ich, ohne solche «Auswahl» könnte ich nicht leben. Selbstbeschränkung verlangt ein eigenes Verhältnis zur Welt; das kann die «Deutsche Welle» für mich nicht leisten, nur meine eigenen «Wellen»; auch nicht die «Stimme Amerikas», es muß meine eigene Stimme sein; ebensowenig «Radio Liberty», es muß meine eigene innere Freiheit sein.
Türen in ein anderes Land können auch verschlossen bleiben, weil du selber nicht anklopfst.
Meinen ersten Aufsatz «Die Türen öffnen sich langsam», den «Die Zeit» abdruckte, hatten manche Leser (ich bekam mehr als sechzig Zuschriften) so aufgefaßt, als verurteilte ich verschlossene Häuser, die ich im Westen vorfand, und priese geöffnete, die ich in meinem Rußland zurückgelassen hatte: «Tritt ein, wenn du willst und wann du willst.»
Sicherlich habe ich selbst Anlaß zu dieser Fehldeutung gegeben, darum möchte ich jetzt eingehender von der Notwendigkeit und der Fruchtbarkeit einer gewissen Abgeschlossenheit und Abgrenzung sprechen.
Die furchtbare Erfahrung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert fordert gebieterisch: Verbietet die Verbote! Staatliche, kirchliche, selbst gesellschaftliche Zensur ist unzulässig. (Aus einigen amerikanischen Schulbibliotheken wurden 1981/82 nicht nur Salingers «Der Fänger im Roggen» entfernt, sondern auch Mark Twains «Abenteuer des Huckleberry Finn», und zwar auf Grund einer demokratischen Prozedur: einer einstimmigen Entscheidung der Elternbeiräte. Das Erschreckendste dabei ist wohl die Einstimmigkeit - das Buch kann man in jeder anderen Bibliothek bekommen.)
Zensur ist nicht zulässig - weder die streng totalitäre noch die sanft-gesellschaftliche. Aber der Mensch selber hat das Recht, sich gewisse Verbote aufzuerlegen, den Radius des von ihm Aufzunehmenden zu begrenzen. Wenn man versucht, sich damit abzufinden, nicht alle Kontinente und Länder zu sehen, viele Bücher nicht zu lesen, viele bedeutende Menschen nicht kennenzulernen, dann kann man sich den Raum, den man ausschreitet, möglicherweise tiefer und gründlicher aneignen...
Und noch etwas: Es gibt ganze Schichten geistiger und seelischer Erfahrung, die durch den Versuch, sie zu benennen, sie auszudrücken, entstellt werden oder ganz schwinden.
Vor mehr als hundert Jahren schrieb der Dichter Fjodor Tjutschew: «Ein Gedanke, kaum ausgesprochen, wird zur Lüge.» Das Aussprechen kann die Erfahrung einengen, ihre Vieldeutigkeit kann verlorengehen. Selbst wenn ein Mensch gar nicht versucht, Brücken zu bauen zwischen Welten, die eine grausame Geschichte getrennt hat, sondern nur solche zwischen «ich» und «nicht-ich», können Worte ebenfalls Brücken zerstören. Wer es nicht fertigbringt, mit sich allein zu sein, wer nicht versucht, ganz in der Stille sich selbst verstehen zu lernen, der wird niemals einen anderen Menschen verstehen können, erst recht nicht eine fremde Welt.
Aber wie können Menschen mit ungleichen, manchmal sogar mit widersprüchlichen Erfahrungen einander verstehen? Rönnen Länder mit unterschiedlichen Lebensformen und Lebensbedingungen, statt sich feindselig voneinander abzugrenzen, in anteilnehmend-differenzierende Beziehungen zueinander treten? Läßt sich eigene, unwiederholbare Erfahrung über Zeiten hinweg an andere Länder weitergeben? Oder stehen zwischen verschiedenen Generationen und zwischen verschiedenen Ländern undurchdringliche Türen?
Der polnische Schriftsteller Tadeusz Konwicki sagte: «Ich bin eine Person, die von ihren Mitbrüder-Menschen» an den Ufern des Tigris, der Seine, des Hudson nicht verstanden wird. Meine mehr oder weniger bedeutenden Sätze können sie exakt übersetzen, sie können auch den Sinn meiner Metaphern erahnen, meine schwankenden Stimmungen erkennen. Doch sie können ihre Schicksale nicht mit dem meinen identifizieren, können nicht die Vernunftwidrigkeit meiner Begriffe spüren. Sie erscheinen ihnen unrealistisch, fremd, bar jeder Motivierung und daher vollkommen unbegreiflich.»
Wie oft habe ich Ähnliches erfahren. In wichtigen Dingen wie auch in Kleinigkeiten. Wir wollten nach Italien reisen. Es war Ostern. Wir hatten nicht rechtzeitig an Hotelreservierungen gedacht. Wir schauten uns nach Hilfe um. Eine freundliche Dame rief uns an: «Ich habe schlechte Nachrichten für Sie.» Ich erschrak: Was ist in Moskau passiert? Daß die Dame gar nichts aus Moskau wissen konnte, war mir in dieser Schrecksekunde nicht bewußt. Sie fuhr fort: «In Florenz ist tatsächlich alles besetzt, kein Zimmer mehr zu bekommen, nur noch in Venedig...»
Weder in Florenz noch in Venedig waren wir jemals zuvor. Es sind Namen aus Büchern, Bildern, Märchen. Wie kann man es eine «schlechte Nachricht» nennen, daß in irgendeiner Stadt die Hotels ausgebucht sind? Die Wendung «schlechte Nachrichten» bedeutet in der Übersetzung vom Deutschen ins Russische, vom Westlichen ins Sowjetische: Verlust des Arbeitsplatzes, schwere Krankheit, Verrat, politische Denunziation, Verhaftung, Tod. Verschiedene Wertskalen. Dieses Beispiel ist bei weitem nicht das einzige. In solchen Minuten scheint es, als lasse sich wirklich nichts übersetzen, nichts übertragen. Im Slawischen Institut einer deutschen Universität sprach ich über neue sowjetische Bücher. Eines davon war eben erst (April 1982) erschienen: Boris Moshajews Erzählung «Anderthalb Quadratmeter».
In dieser Geschichte leben vier Familien in einer Kommunalwohnung. Der «Held» kann am Morgen sein Zimmer nicht verlassen, weil auf dem Korridor - gerade vor seiner Tür - der schwere Körper eines total betrunkenen Nachbarn liegt. Um seine Tür auch nur 30 Zentimeter aufzuschieben, bedarf es unerhörter Anstrengung. Durch eine äußerst komplizierte Bürokratie muß er Demütigungen und sogar Verfolgungen erleiden. Wie soll man deutschen Hörern oder Lesern diese lächerliche, bittere und böse Geschichte nahebringen?
Ich frage: «Wer von Ihnen weiß, was eine Kommunalwohnung ist? Und wer kennt sie aus eigener Anschauung?»
Zwei Hände von fünfzig hoben sich. Ohne Kenntnis der Wirklichkeit, die dieser Fabel zugrunde liegt, bleibt der facettenreiche Sinn ebenso unverständlich wie konkrete sowjetische und allgemeingültige menschliche Probleme. Zum Beispiel, wie Menschen einander verstehen können, die im selben Lande leben, von derselben Geschichte erzogen wurden, in derselben Stadt, in derselben Wohnung wohnen und einander dennoch unendlich fern sind...
Die Verzweiflung darüber, nicht verstanden zu werden, kann auch durch schriftstellerische Begabung überwunden werden. Die von mir zitierten Worte Konwickis stammen von einem bedeutenden Schriftsteller, aber es gibt eine Menge Beweise dafür, daß man ihn nicht nur an der Weichsel, sondern auch an der Newa versteht.
Homer, Dante, Shakespeare werden in anderen Ländern, in anderen Zeitaltern verstanden. Heute werden Graham Greene, Heinrich Böll, Jerome David Salinger, Albert Camus, Michail Bulgakow und Alexander Solschenizyn von Lesern verstanden, die unter ganz anderen Verhältnissen und Bedingungen aufwuchsen als diese Schriftsteller.
Ich kann Ronwicki nicht zustimmen. Die «Mitbrüder-Menschen» an der Seine, am Tigris und am Hudson können einander verstehen, wenn das Wort «Mitbrüder-Menschen» aufhört, eine Metapher zu sein.
Ein österreichischer Universitätsprofessor hörte ein Gedicht des Moskauer Lyrikers Wladimir Kornilow, betitelt «Abende in der Küche»:
Auch im Winter saßen wir
Abends in der Küche Sacharows.
Hoffnung war noch nicht geschwunden,
Und wir saßen dichtgedrängt im Kreis.
...
Alle, die in dieser Küche saßen,
Manchmal bis zum Morgengraun,
Alle, die noch nicht das Lager hat verschlungen,
Alle, die verbannt sind nah und fern,
Alle, die ihr Wissen aus New York verkünden
Oder die erblinden im RZ von Perm,
Alle sind wie Worte im Gedichte
Unverbrüchlich festgebannt
In die beste Zeit unsrer Geschichte,
Die die Sacharowsche wird genannt.
Der glückliche Bürger eines freien Landes sagte anschließend: «Ich beneide alle, die dort in Sacharows Küche zusammensaßen. Ich weiß, sie zahlten dafür einen hohen Preis (wie hoch, das weiß er vielleicht nicht). Aber bei ihnen allen war das Leben von einem hohen Sinn erfüllt...»
Er vergleicht, und ich vergleiche.
Man darf sich aber nicht in die eigenen Nöte verkapseln. Man muß versuchen, fremdes Leid und fremden Schmerz wahrzunehmen.
Vielleicht gehört heute zum Wichtigsten in der Welt all das, was mit den Begriffen «international», «Solidarnosc», «religere» ausgedrückt wird.
Es ist nicht leicht, einen gemeinsamen Maßstab zu suchen und zu finden.
Unterdessen entwickeln sich ringsum Tendenzen zu Absonderung und Separatismus. Es verschärfen sich die Gegensätze zwischen Basken und Spaniern, zwischen Iren und Engländern, zwischen Abchasiern und Georgiern. Es ist gefährlich, jene Besonderheiten zu festigen und zu rühmen, die mit Feindseligkeiten gegenüber dem Nachbarn einhergehen. Auf diese Weise werden Türen nicht nur von außen, sondern auch von innen zugesperrt.
Verschlossene Türen bedeuten für die Bewohner totalitärer Staaten: Grenzen, Verbote, Überwachung. Doch auch in Westeuropa, wo man ohne Visum von Land zu Land reisen kann, wo es eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ein europäisches Parlament gibt, verschließen sich Türen.
Wahrscheinlich brauchen die Menschen ebenso wie die Nationen das eine wie das andere - die Absonderung von und die Verbundenheit mit anderen Menschen und anderen Völkern. Jeder Mensch ist einmalig. Darum braucht er die Möglichkeit, sich zu isolieren, sich in sich selbst, in die Vergangenheit, in sein Volk, zu vertiefen. Weder der Mensch selber noch seine Umgebung können eine derartige Isolierung als anstößig oder gar als verbrecherisch ansehen. Ebenso notwendig ist aber auch das Offensein gegenüber den anderen. Man muß sich als Teil der Menschheit empfinden und darüber hinaus -wem außer den großen Gelehrten und Dichtern dies gegeben ist - als Teil des Alls.
Aus Moskau erfuhren wir, daß dort im Winter 1982 ein Vorlesungszyklus «Kantianische Variationen» gehalten wurde. Zu diesen sprachlich und gedanklich äußerst komplizierten Vorträgen kamen die Hörer aus der ganzen Stadt wie zu einem besonderen Konzert. Kant spricht von den beiden großen Wundern: vom gestirnten Himmel über uns und dem moralischen Gesetz in uns. Mir ist es nur für Augenblicke gegeben, mich als Teil des gestirnten Himmels zu empfinden. Es sei denn, ich denke: Zu diesen Sternen, zu dieser Sonne schauen auch meine Töchter, meine Enkel, meine Freunde empor... Ohne das moralische Gesetz kann niemand auskommen, nicht der Mensch und nicht die Menschheit. Es wäre das Ende von allem und allen.
Von Jugend auf glaubte ich an den Internationalismus. Nach einem Jahrzehnt bitterer Enttäuschungen glaube ich dennoch, daß die Menschheit mehr Gemeinsames als Trennendes besitzt.
Der Begriff «international» offenbarte sich mir hier in der Realität als Beiwort zum Substantiv «Amnesty». Amnesty International ist eine bewunderungswürdige Organisation. Ich traf viele opferbereite Menschen, die helfen und retten, ohne die Hilfsbedürftigen zu kennen. Sie sorgen für sie so, wie es in eine alte französische Klostermauer eingemeißelt ist: «Hier fragt man nicht nach deinem Namen. Hier fragt man nur nach deinem Leid.»
In Bremen erhält eine Amnesty International-Gruppe Briefe von Verbannten aus Sibirien. Aus Bremen schickt man dorthin: Briefe, Pakete, Kleidung, Kaffee, Vitamine. Eine Amnesty-Gruppe in Bonn. Wir, Leute aus Rußland, besuchen sie, hören Deutschen zu, die von ihren Schützlingen erzählen - einem Russen und einem Marokkaner. Den Vorsitz führte Sonja Berg, eine der ältesten und aktivsten Mitarbeiter. Ich fahre nach Kevelaer. Die kleine Amnesty-Gruppe besteht aus Schülern höherer Klassen. Sie trifft sich im Haus von Irene Klein, die, wenn sich die Möglichkeit ergibt, Russisch-Unterricht erteilt. Schützling dieser Gruppe ist der russische Schriftsteller Anatolij Martschenko, der zum sechsten Mal verurteilt wurde, jetzt zu zehn Jahren Lager und fünf Jahren Verbannung.
Irene Klein hat noch im Sommer 1982 mit Martschenkos Frau, der Bürgerrechtlerin Larissa Bogoras, telefoniert und Pakete geschickt. Das September-Paket kam zurück. Ich erzähle von Larissa und Anatolij. Jungen und Mädchen hatten sich eingefunden, die genausogut wie die meisten ihrer Altersgenossen in Diskotheken oder vorm Fernseher sitzen, Sport treiben, Wein trinken, flirten könnten. Selbstverständlich gibt es all das auch in ihrem Leben. Aber heute, an diesem warmen Sommertag, hatten sie sich versammelt, um von unseren Nöten zu hören, Wege zu suchen, wie sie unbekannten Menschen helfen können. Zum ersten Mal sprach ich deutsch. Irene Klein half mir, wenn ich nicht die richtigen Vokabeln fand.
*****
In der Pariser Zeitschrift «Alternative» wurde ein Aufsatz veröffentlicht, dessen Verfasser die beiden wichtigsten gesellschaftlichen Bewegungen des Jahres 1968 gegenüberstellte: die Studentenunruhen in Paris, New York, Berlin und den «Prager Frühling». Sie entwickelten sich nicht nur isoliert voneinander, sondern auch in einem gewissen Gegensatz zueinander. Darin liegt einer der Knoten der zeitgenössischen Tragödie.
Seit ich im Westen lebe, hat sich in mir das Gefühl verstärkt, daß sich zwei blanke Enden elektrischer Drähte in mir berühren. Und ich kann weder den einen noch den anderen ausschalten.
Viele Menschen meinen, es gebe nur ein Übel in der Welt: den Kommunismus. Und das bedeutet: Jeder Schriftsteller, Student, Politiker, der sich erkühnt, andere Formen des Bösen, die vom Westen oder einer anderen Supermacht herrühren, zu bemerken, jeder Mensch, der das «eigene Übel» bekämpfen will, gilt diesen Leuten als Narr oder als bezahlter Agent des KGB.
Junge Menschen in Westberlin, in Göttingen, Nürnberg und anderswo wollen preiswert wohnen. Die Probleme ihrer Wohnverhältnisse sind für sie gravierender als die Nöte, denen die Menschen jenseits der Berliner Mauer ausgesetzt sind. Sie besetzen große leerstehende Häuser und verteidigen ihre Eroberung in Schlägereien mit der Polizei.
Fred Bogner, der Held in Heinrich Bölls frühem Roman «Und sagte kein einziges Wort», kommt in
ein Haus, in dem das Zimmer für den Hund größer ist als der Wohnraum für seine zerfallende Familie. Wie sehr wünschte man, die Bogners in einem großen Haus unterzubringen! So ist es leichter, zu wünschen, daß Romanhelden Gerechtigkeit geschieht, als wirklichen Menschen.
Sommer 1981. An den Göttinger Universitätsgebäuden kleben Plakate: «Die Raketen der NATO richten sich gegen dich!» «Es lebe die Anarchie!» «Nieder mit dem Patriarchat!» Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte klebte Flugblätter an mit den Biographien von Jurij Orlow, Tatjana Welikanowa und Anatolij Martschenko. Am andern Tag waren diese Flugblätter abgerissen. Schmerz und Zorn — wer konnte so etwas getan haben? Studenten erklärten mir: «Diese Gesellschaft besteht aus Reaktionären, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Wir wollen keine falschen Freunde.» Dieselben Studenten sammelten Unterschriften gegen die Verbannung von Andrej Sacharow nach Gorkij. Das Schicksal unserer Helden, unserer Märtyrer läßt sie nicht gleichgültig, aber sie haben ihre Sorgen, ihre Wertskala, ihre Feinde. Mir schrieb eine junge Friedenskämpferin, die meinen Artikel in der «Zeit» gelesen hatte:
«Korsika, 18.10.1981
...Ich begann zu lesen, skeptisch und mit einem festen Bild von Euch (mit Euch meine ich die russischen Regimekritiker): Ich kenne Euch, Ihr seid die Helden und Märtyrer unserer Eltern. In wieviel politischen Diskussionen mußtet Ihr herhalten, wie oft wurde uns vorgehalten, wie man mit politisch Andersdenkenden in Rußland umgeht. Euer Mut wird hier bewundert; wir, mit unserer Kritik an unserem eigenen Land - wir sind Chaoten, sind «unerwünscht». ... Aber wieso ist die Existenz eines anderen Deutschland, einer Sowjetunion, eines Archipel Gulag und eines Solschenizyn berechtigt, Kritik in unserem Land aber nicht mehr zu ertragen?»
Ernste Fragen. Die junge Frau schrieb diesen Brief in Korsika. Was kann ich tun, damit ihre Seele - die Seele und das Bewußtsein eines Menschen, der sich mitverantwortlich für das Schicksal der Welt fühlt - das schlichte Verständnis dafür durchdringt, was ihre Moskauer Altersgenossin, wenn sie an einer von den Machthabern nicht gebilligten Demonstration teilnimmt, erwartet: Ausschluß aus der Universität, Entlassung von der Arbeitsstelle, vielleicht auch psychiatrische Klinik und Gefängnis. Sie könnte nicht an einen Meeresstrand fahren, geschweige denn ins Ausland.
Der amerikanische Geistliche Daniel Barrigan brach mit einigen Gleichgesinnten in ein Militärdepot ein, sie zerstörten symbolisch einen Kernkraftsprengkopf. Barrigan sollte verurteilt werden (schon des öfteren war er wegen seiner Proteste gegen den Vietnamkrieg, wegen seiner Antikriegs-Aktivitäten inhaftiert worden). Das Urteil wurde suspendiert. Ich bin seit langem Leserin und Verehrerin der Brüder Barrigan. Im Winter 1981 lernte ich Daniel in Amerika kennen. Damals sagte er: «Dissidenten aller Länder, vereinigt euch!» Im Juni 1982 las ich in Tübingen die Ankündigung eines Vortrags von Daniel Barrigan. Ich bin froh, daß er die Möglichkeit hat, ins Ausland zu reisen. Aber ich möchte auch - und wir sprachen darüber -, bei ihm und seinen Freunden die Kenntnis verbreiten, daß in der Sowjetunion kein Mensch auch nur in die Nähe eines Militärdepots gelangen kann, es sei denn, er ist dort angestellt. Die Standorte werden geheimgehalten, sie sind von Stacheldraht umzäunt, werden von bewaffneten Wächtern streng bewacht. Aber wenn dennoch, allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz, sich etwas Derartiges ereignen sollte, wenn jemand einen solchen Einbruch wagen würde, dann würde er unter die schwerst-mögliche Anklage gestellt werden: Landesverrat, konterrevolutionäre Rebellion.
Selbst seine Angehörigen würden sagen: «Er hat den Verstand verloren, er gehört ins Irrenhaus.»
Man muß vergleichen, aber ohne Leiden gegeneinander aufzurechnen, besser: ohne sich mit den eigenen Leiden zu brüsten. Auch die russischen Dissidenten müssen mehr über andere Länder erfahren und andere Lebensbedingungen berücksichtigen. Zum Beispiel: Als wir im November und Dezember 1981 um Sacharow bangten, der sich im Hungerstreik befand (gerade in diesen Tagen lernte ich die Barrigans kennen), wurden in der Türkei mehrere Todesurteile an Gewerkschaftlern vollstreckt.
Dieses Entsetzliche müssen wir nicht deshalb wissen und uns bewußt machen, um den Schmerz um Sacharow geringer zu bewerten. Wir werden unsere Schmerzen nicht vergessen, sie werden nicht schwächer. Aber wir müssen von den Schmerzen anderer wissen, um zu erkennen: Bußland ist nicht allein auf der Welt. Wir müssen wissen, daß argentinischen Müttern ihre Kinder geraubt worden sind, müssen wissen, daß in Südafrika Geistliche eingekerkert werden, daß in den iranischen Gefängnissen gefoltert wird.
Amnesty International teilte mit, daß im Jahre 1981 in der Welt insgesamt eine Million Menschen verschwunden sind. Hier in Deutschland verteilen junge Leute an vielen Straßenecken Flugblätter, Proklamationen, Aufrufe. Die Passanten nehmen sie ihnen manchmal ab, öfter weisen sie sie zurück. Meldung aus Iran: Für die Verbreitung von Flugblättern wird dem Verteiler die Hand mit dem Flugblatt abgehackt. Seither sehe ich, wenn man mir ein Flugblatt hinstreckt, unweigerlich die mir unbekannten Teheraner vor mir. Die aus dem Iran hinausgeschmuggelte Zeitung mit der erwähnten Meldung brachte auch Fotos von den Gehenkten. So rechnet Rhomeini mit seinen politischen Gegnern ab.
Im April 1982 begann in Rom der Prozeß gegen Mitglieder der «Roten Brigaden». In Moskau hatte ich seinerzeit vom Mord an Aldo Moro im Radio gehört, auch seine flehentlichen Bitten: «Helft! Rettet!» Man half ihm nicht, man rettete ihn nicht. Nun saßen Mitglieder seiner Familie im Verhandlungssaal. Die Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord an Aldo Moro und anderen. Die Tat der Angeklagten war nach monatelangen Recherchen nachgewiesen worden, und die Angeklagten bestritten sie nicht einmal, fanden für ihre Verbrechen nur verschiedene ideologische Begründungen. Am ersten Verhandlungstag verlangten alle Angeklagten, man solle ihnen ihre konfiszierten Schreibmaschinen zurückgeben.
In derselben Zeitungsausgabe befanden sich Nachrichten aus der Sowjetunion: Neue Hausdurchsuchungen - fünfzig an einem einzigen Tag. So etwas war seit Stalins Tod nicht mehr vorgekommen. Neue Verhaftungen.
Zu den Verhafteten gehörte Gleb Pawlowskij. Der Ausbildung nach ist er Historiker, aber er weigerte sich, in der Schule Geschichtsunterricht zu erteilen: «Ich will nicht lügen.» Er versuchte, sich der Gesellschaft zu entziehen, suchte - ähnlich wie seine Altersgenossen im Westen - alternative Wege, arbeitete als Heizer, Holzfäller, Hausmeister, Lastträger. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gab er die Samisdat-Zeitschrift «Auf der Suche» heraus. Zwischen 1978 und 1980 erschienen acht Nummern. Die Redaktionsmitglieder gaben auf dem Umschlag ihre Namen an, sie lehnten jede Form von Untergrund prinzipiell ab. Das Redaktionsprogramm erklärte: «...Wir laden alle zur Mitarbeit an der <Suche> ein, die für gegenseitiges Verständnis eintreten... Dahin kann man nur durch gemeinsame Gedankenarbeit gelangen, die nicht eingeengt ist durch eine einzige Position, einen festgelegten Gesichtswinkel, ein einziges mögliches Mittel, Fragen zu stellen und zu beantworten... Kein Volk kann frei sein oder seiner Zukunft vertrauen, das für sich allein - auf Grund seiner Errungenschaften, der Tiefe seiner Verzweiflung - beansprucht, die universale Zukunft zu bestimmen.» In der Zeitschrift wurden Fragen gestellt, Fragen beantwortet. Es gab Artikel über die russische Geschichte und über die Weltgeschichte, darüber, was heute in der Welt und vor allem, was in Rußland vorgeht. Gleb Pawlowskij reflektierte über die neue sowjetische Verfassung von 1977, über sozialpolitische Probleme, über die «Russi-ten». Er war ein Sucher, ein begabter Denker, erkannte keine Autoritäten an, er wollte sich mit allen Problemen auf eigenen Wegen auseinandersetzen.
Nach der dritten Nummer der Zeitschrift begannen die Hausdurchsuchungen, dann folgten Verhaftungen; zunächst wurden Walerij Abramkin und Jurij Grimm verhaftet. Viermal wurde Pawlowskij die Schreibmaschine konfisziert; alle seine Manuskripte, alle ausländischen Bücher, selbst Lyriksammlungen, nahm man ihm weg.
Als Walerij Abramkin und Jurij Grimm schon im Gefängnis saßen, wurde Pawlowskij von der Staatsanwaltschaft vorgeladen, wo man ihm drohte und nahelegte, zu emigrieren. Wir beschworen ihn: «Gleb, fahren Sie! Davon, daß hier im Gefängnis ein Mensch mehr sitzt, hat niemand einen Nutzen.» Ich hatte Angst um ihn. Er weigerte sich kategorisch, auszureisen: «Mein Platz ist hier.» An einem Apriltag in Italien erfuhr ich, daß es in Rußland einen Häftling mehr gibt. Übrigens haben weder er noch irgendeiner der mir bekannten russischen Dissidenten einen Mord verübt. Seine Position und die seiner Gesinnungsgenossen ist: Radikale Reformen, Dialog mit der Macht, gewaltloser Widerstand.
*****
Ostern in Rom. Am Vortag waren wir im Vatikanischen Museum gewesen. Um Michelangelos Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle zu betrachten, muß man den Kopf zurücklegen und zur Decke schauen, die Säle nehmen kein Ende. Dazu muß man jung sein, viel Kraft und Zeit haben. Ich bin weder jung, noch habe ich Kraft und Zeit.
In der Villa Borghese hängen drei Gemälde von Raffael: «Junge Frau», «Bildnis eines Mannes» und «Grablegung Christi». Vor diesen Gemälden stehe ich lange, schließe die Augen und bemühe mich, sie mir ins Gedächtnis einzuprägen, in die Seele einzugraben, ich möchte meine Freude an ihnen den Verwandten und Freunden in Moskau vermitteln. Aus dem Sprachengewirr in den italienischen Museen höre ich kein Russisch heraus...
Raffaels Kunst ist mehr als 400 Jahre alt. Und noch heute brauchen alle Menschen sie - die Italiener, die Franzosen, die Deutschen und die Russen. Wie jede große Kunst verbindet sie die Menschen. Auch die Religion verbindet - das vom Lateinischen religere kommende Wort ist hier entstanden und bedeutet verbinden. Ich gehe in den Garten der Villa Borghese, setze mich auf eine Bank und lese Zeitungen. In diesem italienischen Paradies sind, ähnlich einer erdachten Fabel, Zeit und Raum - Ostern und Rom, die Villa Borghese, das frische Gras, die blühenden Bäume in allen Schattierungen von Lila - und jene quälenden Fragen zusammengepreßt. Und die grauen Seiten Zeitungspapier. Gibt es wirklich gemeinsame Maßstäbe? Gerichtsverhandlung gegen die italienischen Terroristen, Verhaftung von Gleb Pawlowskij. Auf dieser Bank im Borghese-Garten lese ich auch Simone de Beauvoirs Buch: «Zeremonie des Abschieds». Es handelt von Jean-Paul Sartres letzten zehn Lebensjahren, seinem Kampf gegen die Krankheit, Erblindung, Sterben, Tod. Simone de Beauvoir berichtet davon, wie Sartre 1974 den deutschen Terroristen Andreas Baader im Untersuchungsgefängnis besuchte. Für Sartre als einen Schriftsteller, den besonders die extremen Situationen beschäftigten, war es notwendig, die Eigenart eines Menschen wie Baader unter den spezifischen Bedingungen der Einzelhaft kennenzulernen. Der Besuch war für Sartre aber auch notwendig, um der Welt seine Solidarität mit einem Häftling zu demonstrieren, den nahezu die gesamte öffentliche Meinung verurteilte. Ich lese über Sartre und denke an meine Freunde. Mit trauriger Gewißheit stelle ich mir vor, was die neuen Gefangenen erwartet: eine Gerichtsverhandlung, die nur dem Namen nach öffentlich ist. Von den Verwandten werden nur die Ehefrauen zugelassen. Und es gibt nicht mehr jenen Trost, jene Kraftquelle, die Sergej Kowaljow, Jurij Orlow, Anatolij Scharanskij und Mustafa Dshemiljew besaßen: vor der verschlossenen Tür des Gerichtssaales stand Akademiemitglied Sacharow. Jetzt ist Sacharow selbst eingesperrt, in Gorkij, kann zu keiner Gerichtsverhandlung gehen. Andere Akademiemitglieder und Schriftsteller, die schon früher nicht zu Gerichtsverhandlungen gingen, werden jetzt erst recht nicht gehen. Ich habe nicht das Recht, jemandem deswegen Vorhaltungen zu machen. Ich bin selber auch nicht zu Verhandlungen gegangen. Hauptsächlich deshalb nicht, weil ich Angst hatte.
... Im römischen Gerichtssaal, in dem der Prozeß gegen die italienischen Terroristen begann, können die Angeklagten - obwohl sie mit Handschellen gefesselt sind und in Käfigen sitzen - frei miteinander sprechen, können miteinander, mit ihren Verteidigern, mit dem Publikum scherzen. Ihre Angehörigen, ihre Freunde und Gesinnungsgenossen füllen den Saal. Das Gerichtsgebäude ist von einer riesigen Menschenmenge umlagert. Die vielen hundert Polizisten sind nicht nur deshalb anwesend, um mögliche Schießereien, neue Attentatsversuche zu verhindern, sondern auch, um den Ansturm der Einlaß Begehrenden einzudämmen, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wie wenige ausländische Geistesschaffende haben darum ersucht, Andrej Sacharow besuchen zu dürfen. Von Einheimischen ganz zu schweigen. Ich kann nicht umhin, die italienischen Terroristen, den deutschen Terroristen Andreas Baader und den russischen Nicht-Terroristen Gleb Pawlowskij, die so sonderbar auf der grünen Bank im Borghese-Garten in mir zusammengetroffen sind, miteinander zu vergleichen. Ich kann nicht umhin, das Verhalten ihnen gegenüber hier und dort zu vergleichen. Selbstverständlich will ich nicht, daß es den anderen schlechter ergeht. Man soll ihnen ihre Schreibmaschinen zurückgeben, sie sollen Besuch haben dürfen von Verwandten, Freunden, Schriftstellern und Akademiemitgliedern. Ich will nur sagen, daß die Menschen, die bei uns im Gefängnis sitzen, ebenfalls Verständnis, Anteilnahme, Mitleid brauchen. Ich will, daß es für die unseren ein ganz klein wenig leichter werden soll. Statt dessen wird es immer schwerer für sie.
*****
Im Sommer 1982 wurde in Moskau Soja Krachmalnikowa verhaftet, eine der ganz großen Schönheiten der fünfziger Jahre. Ihre Schönheit kann ich nicht vergessen, und auch jetzt noch erscheint sie mir sehr schön. Im Februar 1980 traf ich sie zum letzten Mal. Damals unterzeichneten wir einen Protestbrief gegen die Verbannung Andrej Sacharows nach Gorkij. Sie und ihr Mann hatten überlegt, wer von ihnen beiden unterschreiben sollte, und sie entschieden sich dafür, daß er unterschrieb. Sie redigierte seit einigen Jahren die Sammelbände «Hoffnung. Christliche Lektüre». Im Samisdat erschienen zehn Ausgaben, im Westen sechs.
Ich lernte Soja Krachmalnikowa vor einem Vierteljahrhundert kennen, wir sahen uns nur selten. Sie hatte das Studium am Literaturinstitut absolviert, arbeitete in der «Literaturnaja gaseta», im Schriftstellerverband, veröffentlichte Aufsätze und Bücher, übersetzte auch. Sie war ungewöhnlich gütig und freigiebig. Als ich erfuhr, daß Soja wie viele andere Intellektuelle neuerdings in die Kirche ging, erschien mir das für sie vollkommen natürlich. Sie hatte auch vorher schon (einerlei, wie sie selbst heute ihre Jugend beurteilen mag) christlich gelebt, hatte alles mit allen geteilt.
...1957. Wir sitzen in einer endlosen Diskussion. Warten auf einen italienischen Film. Soja schaut auf die Uhr. «Oje, ich komme noch zu spät, ich muß laufen!» «Was ist denn los? Wir sind doch gerade wegen des Films hergekommen?» «Ja, weißt du, meine Freundin hat ein Rendezvous. Aber sie besitzt kein einziges gutes Kleid. Da habe ich ihr versprochen, ihr meins zu borgen. Ich habe auch nur das eine, das ich jetzt anhabe.» (Wie ärmlich würde mir dieses Kleid heute vorkommen, angesichts all der Schaufenster hier, all der schicken Kölnerinnen und Pariserinnen. Zum Glück können meine Landsmänninnen sich heute auch besser anziehen als damals.) «Ich gehe ungern weg, aber versprochen ist versprochen. Vielleicht entscheidet sich heute ihr Schicksal, da muß sie doch gut aussehen.»
Soja - im Gefängnis. Wie kann man ihr helfen? Wie wenige werden in sich aufnehmen, was ich hier über sie schreibe? «Wir werden mit unseren Nöten der Welt noch lästig werden», sagt man in Moskau.
*****
Bei einem sehr geliebten Schriftsteller, dem großen Kosmopoliten Alexander Herzen, stieß ich auf einige Zeilen, die mir seiner gesamten Tätigkeit zu widersprechen schienen: «...Wir sind Fremdlinge in dieser Welt. Wir leben nicht hier, sondern zu Hause. Es gab eine Zeitspanne, in der wir glaubten, daß wir unter anderem dazu berufen seien, vor dem Westen Zeugnis abzulegen von der entstehenden russischen Welt. Diese Zeit ist vorüber. Wir bleiben nur deswegen fern von Rußland, weil dort das freie Wort unmöglich ist, wir aber an die Notwendigkeit glauben, es auszusprechen ...»
Ich weiß, daß diese Zeilen von der Verzweiflung diktiert worden sind. Jeder - noch dazu in der Emigration - erlebt Minuten der Verzweiflung. Man muß sie durchstehen... Man könnte aus Herzens Werken viele gegenteilige Aussprüche zitieren. Hat er nicht mehr als alle anderen für die Verbindung Rußlands mit Europa getan? Ehe sich ihm die oben zitierten Worte entrangen (1864) und auch danach hat Herzen unzählige Male Rußland dem Westen erklärt und den Westen Rußland.
Auch alle, die nach ihm emigrierten, gleichgültig, ob freiwillig oder nicht, sind Zeugen. Jeder Emigrant erzählt - ob in der Presse, vom Rednerpult aus oder einfach durch sein Verhalten -, aus welchem Land er kommt, wie er sich im anderen Land zurechtfindet. Und es entstehen viele Mißverständnisse, wenn man die Länder danach beurteilt. Meine Bemerkungen sind ganz und gar subjektiv, ich habe dieses und jenes so erfahren, der neben mir Lebende erfährt etwas anderes.
Seit Nina Berberowa, eine Schriftstellerin der ersten Emigrantenwelle, sagte: «Wir sind nicht im Exil, wir sind Sendboten», vergingen sechzig Jahre. Ob sich jemand als Sendbote empfindet oder nicht, ist eine Sache der Selbsteinschätzung.
Ich bin im Exil. Mit der inneren Verpflichtung, Zeugnis abzulegen, von meiner Heimat zu berichten, Türen zu suchen, welche die getrennten Welten verbinden. Die Diskrepanz in den Zeugenaussagen ist erschreckend - von Ziffern und Fakten bis zu verallgemeinernden Schlußfolgerungen. Manchmal werfe ich unwillig die neue Nummer einer Emigrantenzeitschrift oder -zeitung beiseite (ich lese sie in Stichproben) in dem Gedanken: «Das ist nicht über das Land geschrieben, in dem ich lebte.» Ich bezweifle keinen Augenblick, daß man gerade so auch über mich sprechen kann. Jeder von uns hat sein Rußland mit sich fortgetragen, seinen Freundeskreis, seine Vorstellung von Land und Leuten. Die Optik der Menschen ist verschieden. Das trifft ebenso auf meine ehemaligen wie auf meine jetzigen Mitbürger zu. Ein hiesiger wohlwollender Leser meiner Arbeiten sagte mir: «Für uns ist das schwer zu verstehen. Wahrscheinlich aber werden Sie jetzt zwei Varianten schreiben müssen: eine für Rußland, die andere für uns.» Der Satz blieb wie ein Splitter in mir stecken. Als Schmerz und als Zweifel: Vielleicht hat er recht? Vielleicht geht die Aufgabe, so zu schreiben, daß man mich dort und hier versteht, über meine Kraft? Vielleicht ist diese Aufgabe überhaupt unerfüllbar? Doch ich widerspreche ihm und mir. Denn gäbe es kein gemeinsames Kriterium für die Einschätzung von Handlungen, Gedanken, Gefühlen - in welchem Winkel des Erdballs die Menschen auch wohnen mögen -, dann gäbe es überhaupt keine Hoffnung, einander zu hören und zu verstehen. Wenn es, bei allen Unterschieden im Detail, einen gemeinsamen Maßstab gibt, wenn er keine relative Größe ist (wie «Sommer» für meinen Kurskollegen aus Malaysia), wenn wir zu ein und demselben Menschengeschlecht gehören, dann bedeutet dies: man kann Erfahrung weitergeben und vermitteln.
«Wir sind keine Ärzte, wir sind Schmerz»,
schrieb Alexander Herzen über die Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts.
Die Wahrheit und Allgemeingültigkeit dieser Worte empfinde ich heute eindringlicher denn je.
Der Schmerz, den ich mitteilen kann, und so wie ich ihn mitteilen kann, existiert nur in meiner Version. - Wie die wahnwitzige Welt zu heilen ist, weiß ich nicht. Ich werde weiterhin versuchen, Türen zu öffnen, wenn auch in dem traurigen Bewußtsein, daß mir viele verschlossen bleiben müssen. Werde ich einmal die Zeichen dieses geheimnisvollen Landes entschlüsseln können, aus dem Hansel und Gretel kamen, einer geheimnisvollen Welt, in der ich vielleicht bis zum Ende meiner Tage leben werde? Wird es mir gelingen, den Menschen hier das andere geheimnisvolle große Land näherzubringen, das für immer meine Heimat ist?