Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis
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1. Die Geschichte des 'anderen Geschlechts' in der männlichen Ordnung
Feministische Literaturgeschichtsschreibung untersucht die Folgen, welche die patriarchalische Ordnung für die ästhetischen Ausdrucksformen des 'Weiblichen' in der von Männern geschriebenen Literatur (d.h. für die 'Frauenbilder'), wie für die Möglichkeiten und Erscheinungen weiblicher Literatur (d.h. für die 'Frauenliteratur') hat. Diese Unterscheidung in 'Frauenbilder' und 'Frauenliteratur' ist eine begriffliche Hilfskonstruktion;[1] sie soll nicht zu einer schematischen Gegenüberstellung von 'männlicher' und 'weiblicher Kultur' führen, sondern eine genaue Untersuchung der Beziehungen zwischen beiden erst ermöglichen, so auch die Fragen danach,
- inwieweit die im männlichen Diskurs und in männlicher Poesie entworfenen Frauenbilder auf die gesellschaftliche und individuelle Realität von Frauen Rücksicht nehmen;
- und ob und wie die Literatur von Frauen diese Frauenbilder reproduziert bzw. sich daraus befreit.
Die in den letzten Jahren verstärkten Bemühungen, die Kulturgeschichte der Frauen zu rekonstruieren, sollten sich nicht länger damit begnügen, systematisch produzierte Defizite aufzuarbeiten, um die weißen Flecken auf der Landkarte literarischer Texte überall dort auszumalen, wo ein Frauenname »vergessen« wurde. Sie sollten sich nicht durch das Ziel eines Gegenbeweises gegen die angebliche Kultur- und Geschichtslosigkeit von Frauen leiten lassen und ein Museum weiblicher Vorbilder und Heldinnen - bzw. Opfer - errichten, in das dann alle »Schwestern von gestern«aufgenommen werden, die - männlichem Gerede zum Trotz - dennoch geschrieben, gedacht, gearbeitet, gefeiert oder gar politisiert haben.
Weil die so dürftige Überlieferung weiblicher Kultur nicht nur eine Folge geringerer kultureller Produktion von Frauen ist, sondern auch Ergebnis der männlichen Überlieferungsnormen und -verfahren, ist eine Aufarbeitung der weiblichen Geschichte notwendigerweise mit einer Kritik der bestehenden Literaturtheorie und -historie verbunden. Insofern sollten wir uns hüten, die mühsame Spurensuche nach Quellen zu trennen von der Theorie- und Begriffsbildung. Ein »gewisser positivistischer Impetus«[2] scheint mir da eher zu schaden als eine problembewußte Spurensuche zu fördern. Allzuviele Heldinnen, deren biographische Porträts mehr vom Wunschdenken ihrer Verfasserinnen als von der Lebensgeschichte der Frau, über die sie berichten, geprägt sind, werden uns heute präsentiert. Daneben gibt es inzwischen eine Fülle theoretischer Beiträge über weibliche Ästhetik, Produktivität, Schreibweise und Kulturgeschichte, die zum größten Teil von den wirklichen Texten absehen und eher programmatischen Charakter tragen. Die Antizipation einer befreiten weiblichen Kultur in der feministischen Theorie gerät in Gefahr, normativ zu werden, wenn sie ihren Weg nicht über die Kritik vorhandener künstlerischer Ausdrucksformen von Frauen nimmt. So kann es geschehen, daß beispielsweise von Ida Hahn-Hahn immer noch das - in der männlichen Literaturhistorie entworfene - Bild einer skurilen adligen Schriftstellerin existiert und daneben in der Theorie die Suche nach 'weiblichen Orten' um sich greift, ohne daß die Schreibstrategien Ida Hahn-Hahns, die um die Hervorbringung eben dieser Kategorie kreisen, beachtet worden wären.[3] Ihr durch einen 'male bias' (männlichen Untersuchungsblick) beeinflußtes Bild paßt nicht ins Bild feministischer Theorie. Diese Trennung von Theorie und positivistischer Quellenforschung ist für den deutschen Feminismus besonders kennzeichnend.
Die so oft beschworene Parteilichkeit feministischer Literaturhistorie darf aber nicht die Form von Aschenputtels (im Märchen aufgezwungener, hier selbsterwählter) Sortierarbeit annehmen: die guten ins (Frauenbewegungs-)Töpfchen, die schlechten werden den Netzen männlicher Geschichtsschreibung überlassen; produktiv wird diese Parteilichkeit vielmehr, wenn die Texte und Lebensgeschichten historischer Frauen - ihre Widersprüchlichkeiten, Probleme, ihre Fehler und auch ihr Scheitern eingeschlossen - als Lernmaterial für Frauen gelesen und untersucht werden. Ein Text, den wir im Staub der Archive wiederentdecken, ist nicht allein deshalb gut und interessant, weil er einen weiblichen Autornamen hat, sondern weil er uns weitere Aufschlüsse über die Tradition weiblicher Literatur ermöglicht: Erkenntnisse darüber, wie eine Frau ihre soziale Situation, die Erwartungen hinsichtlich ihrer Frauenrolle, ihre Ängste, Wünsche und Phantasien literarisch bearbeitet und welche Strategien sie entwickelt hat, sich trotz des Privatheitsverdikts öffentlich zu äußern.
Die Frauen sind nicht geschichtslos, sie stehen nicht außerhalb der Geschichte. »Sie sind in ihr in einer spezifischen Situation der Ausgegrenztheit, in der sie ihre Erfahrungsweise, ihre Sicht der Dinge, ihre Kultur entwickelt haben.«[4] Diese zu rekonstruieren, erfordert vor allem eine neue (feministische) Analyse- und Interpretationsanstrengung. Die theoretischen und methodischen Schritte hierfür müssen von dem historischen Phänomen ausgehen, daß die Frauen als das 'andere Geschlecht'[5] betrachtet werden und auch sich selbst als solches sehen, das 'andere' nicht im Sinne eines Vergleiches bzw. einer Nebenordnung verstanden, sondern als Unterordnung: Die Männer sind das erste, das eigentliche Geschlecht.
Die Frauen werden in ihren Eigenschaften, Verhaltensweisen etc. stets in Bezug auf die Männer definiert. In der männlichen Ordnung hat die Frau gelernt, sich selbst als untergeordnet, uneigentlich und unvollkommen zu betrachten.[6] Da die kulturelle Ordnung von Männern regiert wird, aber die Frauen ihr dennoch angehören, benutzen auch diese die Normen, deren Objekt sie selbst sind. D.h. die Frau in der männlichen Ordnung ist zugleich beteiligt und ausgegrenzt. Für das Selbstverständnis der Frau bedeutet das, daß sie sich selbst betrachtet, indem sie sieht, daß und wie sie betrachtet wird; d.h. ihre Augen sehen durch die Brille des Mannes. (Die Metapher 'Brille' impliziert die Utopie eines befreiten, brillenlosen Blicks.) Während sie die Betrachtung der Außen-Welt dem weitschweifenden Blick des Mannes überlassen hat,[7] ist sie fixiert auf eine im musternden Blick des Mannes gebrochene Selbst-Betrachtung. Ihr Selbstbildnis entsteht ihr so im Zerr-Spiegel des Patriarchats. Auf der Suche nach ihrem eigenen Bild muß sie den Spiegel von den durch männliche Hand aufgemalten Frauenbildern befreien.
Die Metapher des 'Spiegels' - ebenso dessen Kehrseite und Ränder, seine Zerschlagung und 'Verdoppelung' - ist inzwischen durchaus geläufig zur Beschreibung weiblichen Selbstverständnisses unter der Kontrolle des männlichen Blicks. Noch immer aber ist der »Versuch einer Beweisführung ... an einzelnen konkreten Texten«, den Silvia Bovenschen in ihrem Beitrag »Über die Frage: gibt es eine 'weibliche' Ästhetik?« 1976 postulierte, nur zögernd und spärlich unternommen worden. Es gibt noch sehr wenige Ansätze, dieses Spiegelverhältnis in der weiblichen Literaturproduktion, in der Schreibp/rras von Frauen zu untersuchen - diesen »komplizierten Prozeß von Neu- oder Zurückeroberung, Aneignung und Aufarbeitung, sowie Vergessen und Subversion«.8 Ich möchte deshalb im folgenden einige Beispiele historischer Frauenliteratur - in notwendigerweise etwas großen Schritten - unter dem Augenmerk betrachten, welche Beziehung die Autorinnen zu dem vorherrschenden Frauenbild eingenommen, welche Strategien sie im Umfang mit dem Spiegelbild entwickelt und wie sie sich zu ihrer Existenzweise als 'anderes' Geschlecht in der männlichen Ordnung verhalten haben. Doch zuvor noch einige Überlegungen zu methodischen Voraussetzungen eines solchen Verfahrens.
2. Frauenkultur und andere 'andere Kulturen'
Es gibt noch weitere 'andere Kulturen' außer die der Frauen; und so scheint es sinnvoll, zunächst zu überprüfen, ob von deren Erfahrungen, ob von deren Begriffen und der Analyse, ihrer Erscheinungen zu lernen ist und ob methodische Voraussetzungen verfügbar und übertragbar sind.
So gibt es z.B. die Theorie der 'Zwei Kulturen' (Lenin) zur Bestimmung der proletarischen im Gegensatz zur bürgerlichen Kultur; oder die Theorie der 'fremden Kultur' zur Untersuchung nationaler oder ethnischer Andersartigkeit, überwiegend angewendet auf die Betrachtung der Lebensweise von Völkern der 'Dritten Welt'; oder die Kategorie der 'Subkultur' als Bezeichnung für ausgegrenzte, unterdrückte Gruppen im zeitlichen und örtlichen Kontext einer herrschenden Kultur; oder auch den Begriff des 'Außenseiters'.
Die Unbrauchbarkeit der Kategorie des 'Außenseiters' für die Beschreibung weiblicher Kultur ist allein durch die Zahl der Betroffenen plausibel. Insofern ist es nur konsequent verkehrt, wenn Hans Mayer in seiner Untersuchung,[9] in welcher er Frauen, Homosexuelle und Juden unter diese Kategorie subsumiert, mehr Frauenbilder als Frauen behandelt, also vor allem mythische, kunstgeschichtliche und literarische Frauenfiguren vorführt, die er allerdings bedenkenlos mit Lebensgeschichten realer Frauen kombiniert.
Obwohl viele Äußerungsformen von Frauen ein ähnliches Schattendasein führen und die herrschende Kultur eine vergleichbare Abwehr gegen sie aufbaut wie gegen bestimmte Erscheinungen der 'Subkultur', sind sie auch mit diesem Begriff nicht beschreibbar, weil im krassen Gegensatz zur marginalen Existenz weiblicher Kultur ihre Bedeutung bei der Produktion und Reproduktion der materiellen und sozialen Existenz des Menschen steht. Diese Tatsache sowie die dialektische Beziehung zwischen den Geschlechtsrollen legt hinsichtlich der gleichfalls dialektischen Beziehung des Proletariats zur ihm entgegengesetzten Klasse [10] theoretische Bezüge zurmarxistischen Klassenanalyse nahe - ebenso zu Marx' Idee von der Entwicklung einer Klasse an sich zum Proletariat als Klasse für sich. Im Widerspruch zur sozialen Dichotomie der Existenz von Mann und Frau als Gesellschaftswesen steht aber ihre Verbindung als Geschlechtswesen. Die Komplizenschaft der Frau mit einem Repräsentanten der herrschenden Kultur in der Zweierbeziehung ist ein wesentliches Moment der schicksalhaften Einbindung der Frau in die patriarchalische Ordnung, welche den Aufbau einer (zweiten?) weiblichen Kultur unterläuft.
Am meisten Bezüge scheinen zur Theorie der 'fremden Kultur', genauer noch zur Beziehung zwischen Kolonisator und Kolonisiertem, zu bestehen. Auch diese ist das Produkt eines historischen Prozesses, der den Charakter eines Zwangszusammenhanges trägt. Ähnlich wie die »Kolonisierung der Köpfe« (F. Fanon) die andere Kultur verändert und zerstört, ist im Mechanismus einer Patriarchalisierung der Gedanken die Frau der Gefahr einer Assimilierung ausgesetzt, sobald sie in die (und innerhalb der) männlichen Ordnung aufsteigt. Das Mißtrauen der feministischen Geschichtsschreibung gegenüber methodischen Anregungen durch die neue Ethnoanthropologie oder -Psychologie kann jedoch nicht groß genug sein, sind doch deren Untersuchungen zum größten Teil verfaßt von Angehörigen der kolonisierenden Völker [11] und getragen von einer Faszination für die (Vor-)Kolonisierten, die an die Faszination der unzähligen männlichen Theoretiker des Diskurses über die »Bestimmung des Weibes« erinnert, welche alle verlorengegangenen, entfremdeten Fähigkeiten und Eigenschaften im anderen Geschlecht (bzw. im fremden Volk) zu entdecken glauben und die Frau so zum Naturwesen machen, deren einziger Kulturwert in ihrer angeblichen Natürlichkeit bestehe. Im Unterschied zu den Kolonisierten fehlt den Frauen die Widerstandsmöglichkeit der Erinnerung an ihre eigene, vorpatriarchalische Kultur. Sie haben keine Erinnerung an eine unabhängig vom Patriarchen/Kolonisator lebendige Existenzweise. Eine solche ist auch nur als irgendwie andersgeartete - nicht aber als gänzlich fehlende - Beziehung zum männlichen Geschlecht denkbar. Für die historische Existenz und Utopie eines gleichen, herrschaftsfreien Zusammenlebens von Mann und Frau gibt es wenig - vielleicht erst wenig entdeckte - Spuren.
Diese theoretischen Andeutungen zeigen, daß die feministische Wissenschaft von der besonderen Existenzweise der Frau - nämlich innerhalb der bestehenden Kultur als Teilhaberin dennoch ausgegrenzt und unterdrückt zu sein - ausgehen und gegenüber allen begrifflichen und methodischen Anleihen nicht-feministischer Herkunft ein gebührendes Mißtrauen aufbringen muß.
3. Von den Umwegen schreibender Frauen zur Frauenliteratur
Bei der Lektüre von Frauenliteratur ist das Phänomen der Existenzweise als 'anderes' Geschlecht als Problem der Perspektive (der Wahrneh-mungs- und Erzählweise der Autorin) zu berücksichtigen. Das im Text realisierte Frauenbild bzw. weibliche Selbstverständnis ist Ausdruck einer jeweils eingenommenen und gestalteten Beziehung zur männlichen Vorstellung von 'Weiblichkeit'. Bei der Interpretation von Frauenliteratur kann die Bearbeitung weiblicher Erfahrung nur unter Berücksichtigung dieses Umweges rekonstruiert werden.
Ihre Inhalte und Erzählformen sind nicht umstandslos als originäre weibliche Ausdrucksformen zu beschreiben, sondern als Bewegungsversuche innerhalb der männlichen Kultur und als Befreiungsschritte daraus. Die Anfänge einer weiblichen literarischen Tradition sind überwiegend uneigentliche Selbstäußerungen von Frauen im doppelten Sinne des Wortes: Äußerungen des uneigentlichen, anderen Geschlechts und uneigentliche, d.h. nicht wirklich eigene Äußerungen. Das Ziel einer unverstellten Frauenliteratur ist dann erreicht, wenn es Frauen möglich sein wird, öffentlich »ich« zu sagen, ohne Bezug nehmen zu müssen auf männliche Bestimmungen ihrer Geschlechtsrolle. Insofern ist die Geschichte einer weiblichen literarischen Tradition zu beschreiben als schrittweise Befreiung des Schreibens aus männlicher Perspektive hin zu einer authentischen weiblichen Schrift und Sprache.
In wievielen Gesprächen über die Frage, ob es eine spezifische 'weibliche Schreibweise' gäbe, wurde nicht schon im Kreise und ohne Ergebnis diskutiert, weil frau sich keine Rechenschaft über die Verwendung der Worte 'Frau' und 'weiblich' ablegte und in einer Vermischung der ideologischen, empirischen und utopischen Bedeutung von 'weiblich', also in völlig ahistorischer Manier über kulturelle Ausdrucksformen von Frauen sprach. Daß Frauen 'anders' schreiben ist durch zahlreiche Beispiele zu belegen und durch viele Gegenbeispiele zu widerlegen.[12] Die Frage, ob diese Gegenbelege Ausnahmen sind, überhaupt die empirische Feststellung des anderen Schreibens, scheint mir an sich ohne Bedeutung. Viel wichtiger ist mir die Frage, ob Frauen dadurch, daß sie anders schreiben als Männer, ihren eigenen kulturellen Ort finden, ob sie eine ihren Wünschen und Erfahrungen angemessene Sprechweise entwickeln oder aber den Zwängen und Verführungen des männlichen Frauenbildes erliegen. Die empirische Beobachtung, daß Frauen anders schreiben, ist also nur Ausgangspunkt für die Frage, ob diese andere Schreibweise einer Erfüllung der im Diskurs über die »Bestimmung des Weibes« definierten Muster gleichkommt oder eine Utopie einer anderen, dann eigentlichen Weiblichkeit anstrebt. Natürlich beinhaltet dieses »oder« nur in der Formulierung der Frage eine klare Trennung, nicht aber im untersuchten Text selbst. Denn niemals wird ein Text - solange die Autorin im Patriarchat lebt - nur das herrschende Frauenbild oder nur die 'neue Frau' imaginieren. Literatur, welche die Lage der Frau als uneigentliches Geschlecht zur Sprache bringt, kann (noch) nicht vollkommen sein.
In der Geschichte haben einzelne Autorinnen auf die herrschenden Vorstellungen von der 'Frau' affirmativ, kritisch, protestierend oder auch mit einem Gegenentwurf reagiert. Diese Beobachtung hat dazu verleitet, die Literaturgeschichte von Frauen in Phasen einzuteilen. Elaine Showalter spricht z.B. erstens von der Imitation und Verinnerlichung männlicher Normen ('feminine' Phase), zweitens von der Phase des Protestes ('feminist') und drittens der Selbstverwirklichung ('female')[13] Auch wenn man diese Phasen nicht als historische Chronologie versteht,[14] erweisen sie sich bei der Interpretation der meisten Texte als unzureichend, weil ein großer Teil der von Frauen geschriebenen Literatur hinsichtlich des darin ausgedrückten Frauenbildes äußerst ambivalent ist. Das Verhältnis von individueller Selbstverwirklichung und kultureller Selbstbehauptung von Frauen hat sich sehr widersprüchlich entwickelt und gestaltet. In dem, was Frauen seit dem 18. Jahrhundert geschrieben haben, lassen sich zahlreiche Ausdrucksformen dieses Widerspruchs entdecken, z.B. zwischen Öffentlichkeit und Befreiung, zwischen verschiedenen Gattungen des Schreibens, zwischen Emanzipationsprogramm und fiktionaler Phantasie, zwischen intellektueller Emanzipation und Liebesglück, zwischen äußerer Anpassung und subversivem Ausbruch ... Keiner der Frauen, aus deren Einzelbiographien wir uns heute die Geschichte der Frauen mosaikartig zusammenfügen (müssen), ist es gelungen, »Freiheit und Glück«[15] umfassend für sich zu verwirklichen - oder auch nur zu beanspruchen. Partielle Anpassung und Unterwerfung - als Strategie, als Schutz oder auch ganz un-problematisiert als verinnerlichte Verhaltensnorm - waren zumeist der Preis, der bezahlt wurde, um an einer oder mehreren Stellen aus der Rolle zu fallen. Entsagung und Aufbegehren, Selbständigkeit und Unterwerfung, Mut und Verzweiflung liegen häufig so nah beieinander, daß es notwendig ist, die darin verborgene Struktur weiblicher Ausdrucksmöglichkeiten in einer patriarchalischen Kultur zu entschlüsseln, bevor Bewertungen vorgenommen werden.[16] Diese Widersprüchlichkeit mag der Grund dafür sein, warum uns heute in verschiedenen Biographien so unterschiedliche Bilder ein und derselben Frau entworfen werden.
II
4. Aufbruch aus der Privatheit:
Vom Unterschied zwischen Schreiben und Veröffentlichen
Das Leben und die Briefe Caroline Schlegel-Schellings z.B., für die sich schon männliche Literaturhistoriker brennend interessierten, werden uns auch von vielen Frauen nahegebracht. Da erscheint Caroline bei Ricarda Huch (1901) als innerlich vollendete Persönlichkeit, deren Geist ihrer Leidenschaftlichkeit ebenbürtig sei, bei Helene Stöcker (1912) als Vorläuferin ihrer eigenen »neuen Ethik«, einer befreiten Sexualmoral, bei Gertrud Bäumer (1921) als intellektuell herausragende Frau, bei Sigrid Damm (1979, DDR) als Frau, die illusionslos ihre Lage historisch-politisch einschätzt und ihre Selbstverwirklichung als Partnerin »im Brecht'sehen Sinne« sucht, und bei Gisela Dischner (1979, BRD) als »Zentrum jener frühromantischen Kulturrevolution«, die die Autorin als Vorstufe der APO und Alternativbewegung versteht.
Caroline selbst aber, als wollte sie solcher Verherrlichung und Verklärung vorbeugen, bat darum, man möge in ihr »nur eine gute Frau, und keine Heldin« sehen.[17] Sie hatte die Öffentlichkeit fürchten gelernt. Nachdem sie aus dem Muster eines sittsamen Wittwenstandes ausgebrochen war und während der Mainzer Republik von einem Angehörigen des französischen Revolutionsheeres »ein Kind der Glut und Nacht«[18] empfangen hatte, und nachdem sie als Sympathisantin der Jakobiner verhaftet und eingekerkert worden war, formulierte sie ihre grundsätzliche Abneigung gegen Öffentlichkeit:
»Ein Stück meines Lebens gab ich jetzt darum, wenn ich nicht auf immer, wenigstens in Deutschland, aus der weiblichen Sphäre der Unbekanntheit gerissen wäre.«[19]
So hat sie denn auch darauf verzichtet, als Autorin eigene Texte zu veröffentlichen und sich derweil im Privattext des Briefes ausgedrückt oder aber Texte verfaßt und redigiert, die unter dem Namen ihres Mannes A.W. Schlegel erschienen sind - und hat die weitere Suche nach Unabhängigkeit, Freundschaft und Liebe im Hause erprobt. Selbst auf diesem Wege hat sie noch - wie so viele Frauen - Liebe und Intellekt trennen müssen. In der Ehe mit A.W. Schlegel war sie die geistige Partnerin, intellektuell und gesellschaftlich rege und angeregt, allerdings unter Verzicht auf eine sinnliche Beziehung; in der Liebe zu Schelling fand sie nach anfänglichen Verdrängungsversuchen [20] den Mann, den sie »mit (ihrem) ganzen Wesen«[21] liebte, dies aber um den Preis einer totalen Unterwerfung und Selbstaufgabe ihrer Eigenständigkeit. Ihre letzten Briefe lassen nichts mehr von dem erahnen, was ihr einst von F. Schlegel den Beinamen »selbständige Diotima« eingetragen hatte.
Solange es keine Ansätze einer weiblichen Gegenöffentlichkeit gibt, sind schreibende Frauen vor die Alternative gestellt, sich - von ihren eigenen Erfahrungen abstrahierend - männlichen ästhetischen Gepflogenheiten anzupassen oder aber im Schutze der Privatheit erst eine eigene Sprache zu erlernen, wollen sie sich nicht mit der Veröffentlichung eines Textes zugleich mit ihrer ganzen Person preisgeben. Die Scheu von Frauen, sich auf dem literarischen Markt zu präsentieren, ist durch die Erfahrungen im Privaten geprägt. Ihre Ausschließung aus den Bereichen der Ökonomie, Politik und Kultur impliziert, daß authentische Literatur von Frauen zunächst »nur« ganz persönliche, subjektive Empfindungen und Themen zur Sprache bringen könnte. Die Veröffentlichung ihrer Subjektivität ist aber für die Frau nicht ohne weiteres Befreiung, hat sie doch (häufig unliebsame) Auswirkungen auf ihr privates Glück. Denn bei Frauen unterscheidet man nicht zwischen der Schriftstellerin und der Person. Der Wille von Frauen zur öffentlichen Einmischung und zur Gleichberechtigung im kulturellen Bereich ist daher durch das Motiv des eigenen Persönlichkeitsschutzes gebrochen. Den Wunsch nach Anerkennung aus der Abhängigkeit von einem Mann zu befreien, stößt auf die Vergesellschaftung der privaten Existenz der Frau. Über welchen männlichen Autor würde in einer wissenschaftlichen Monographie ähnliches kolportiert, wie es Ernst Behler in seinem Schlegel-Buch über Sophie Mereau tut:
»... hatte Schlegel geantwortet: Aber doch eine reizende Kanaille, und Pölchaus Antwort: 'O sie ist eine bezaubernde Beischläferin'«?[22]
Nicht nur Caroline Schlegel hat sich für das Briefeschreiben entschieden. Ähnlich RahelLevin (Varnhagen), die sich vor allem um die Authentizität weiblichen Schreibens sorgt, wenn sie sich gegen das Publizieren wendet: »Ganz in der Art dieser zu verwerfenden Schmeichelei scheint es mir, wenn eine Frau, indem sie schreibt, für den Druck schreibt - also dann ganz gewiß etwas Gedachtes aufzuzeichnen meint - sich noch immer als ganz untergeordnet gegen einen Mann oder gegen Männer stellt und verstellt.« (Tagebucheintragung 1823)[23]
Dagegen empfiehlt sie ihrer Schwester in einem Brief 1819:
»Geh an Orte, wo neue Gegenstände, Worte und Menschen dich berühren, dir Blut, Leben, Nerven und Gedanken auffrischen. Wir Frauen haben dies doppelt nötig.«[24]
Orte, an denen Rahel selbst lebendig sein konnte, schuf sie sich in ihrem Salon - und in ihren Briefen. Ihre mündlichen und schriftlichen Äußerungen richten sich darin an einzelne Personen oder an eine kleine Gruppe. Neben dem privaten Charakter entspricht der Brief als Genre ihrer bildlichen, assoziativen Sprache, in der Spontaneität und Reflexion sich nicht ausschließen. In ihm sind die Hierarchien des männlichen Diskurses und der normativen Gattungspoetik ohne Geltung, in ihm reicht die männliche Ordnung der Dinge, die Rangfolge von Bedeutungen und Wichtigkeiten nicht hinein. Hier kann »die Zeit nach dem Takt ihrer Füße«[25] gehen. »Daß die Briefe der Rahel nicht als Ausweis 'weiblicher Bescheidenheit' auf dem Felde der Kultur, sondern daß sie als widerständige Artikulationen gegen herrschende kulturelle Muster gelesen werden können oder gar müssen«, bestätigt Marianne Schuller in ihrer Untersuchung zur Schreibweise Rahel Varnhagens und belegt ihre These mit Raheis eigenen Worten:
»Aber Schreiben ... kann ich doch nichts, was sie zum Druck gebrauchen könnten .. Ich bin doch ein Rebell ...«[26]
5. Im Schutze der Poesie zur weiblichen Utopie
Im 18. und 19. Jahrhundert sind viele veröffentlichte Texte von Frauen anonym oder unter einem (meist männlichen) Pseudonym erschienen. Solche Publikationswege sind formale Möglichkeiten, um den Widerspruch zwischen Selbstschutz- und Äußerungsmotiv zu bewältigen - als solche aber auch Scheinlösungen, vergleichbar mit der Funktion des Schleiers vor den Augen der Frau, der sie zwar schützt, aber gleichzeitig ihren Blick trübt. Eine wirkliche Lösung wäre erst auf der Grundlage einer veränderten Öffentlichkeit und Poesie erreicht, wenn diese den weibüchen Erfahrungen entsprächen. Auf dem langen und mühevollen Weg dorthin haben Frauen die vielfältigsten Strategien entwickelt, um trotz dieses Konfliktes zu sprechen und zu schreiben. Zunächst die Entfaltung im fiktionalen poetischen Text. Frauen veröffentüchten literarische Texte, bevor sie sich in philosophischer, journalistischer oder politischer Form über ihr Geschlecht äußerten. Vor der Revolution 1848 gibt es (in Deutschland) nur in Ausnahmefällen publizierte nicht-poetische Texte von Frauen. In den Revolutionsjahren und verstärkt dann seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wächst die Zahl der Erörterungen, Programmschriften und öffentlichen Briefe von Frauen über die Lage und Rolle der Frau. Auch Autobiographien, die als Gattung von der Veröffentlichung privater Erlebnisse leben, gibt es von Frauen erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.[27]
Literarische Verschlüsselung wirkt als Schutz und zugleich als Möglichkeit, die Grenzen des Realen zu überschreiten und Utopien zu entwerfen: die Fiktion als Raum zum Laufenlernen, Phantasieren und Experimentieren, um aus der Spannung zwischen der »Beschränktheit der Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche«[28] im realen Leben der Frau einen kreativen Aus-Weg zu eröffnen.
Insofern ist es literaturhistorisch plausibel, warum gerade zum Ende des 18. Jahrhunderts Frauen vermehrt zur Feder greifen: erklärbar auf Grund der Bewegung, die in die Entwicklung poetischer Möglichkeiten vor allem mit der romantischen Ästhetik kommt. Die Aufhebung des Nachahmungsprinzips, das Postulat des Fragmentarischen, die Auflösung des geschlossenen Werkes - überhaupt die Brüche in der Übereinstimmung von Wirklichkeits- und Erzählstruktur - öffnen den Frauen Türen, durch die sie in die Poesie eintreten können. Denn der Rhythmus weiblicher Erfahrung ist aus der gesellschaftlich sanktionierten Zeit- und Raumstruktur, aus der anerkannten Hierarchie von Themen und Empfindungen weitgehend ausgeschlossen. (Dies ist die Tatsache, weshalb der Begriff der 'männlichen Ordnung' für die Beschreibung der herrschenden, patriarchalischen Kultur angemessen ist.)
Erst eine Ästhetik, die sich bestimmt aus der Opposition zum »Naturschönen«, das eben nicht mehr schön, für Frauen häufig sogar ausgesprochen häßlich ist, läßt eine Entfaltung weiblicher Erfahrungssprache zu, ohne von ihr als Vorleistung eine Anpassung an die herrschenden Wahrnehmungs- und Redemuster zu verlangen. Nur dort, wo die widersprüchlichen Erfahrungen von Frauen gestaltet werden können, ohne daß sie noch im Rahmen des Textes/der Fabel in eine vernünftige, »realistische« Lösung überführt werden müssen, können die realen Beschränkungen des weiblichen Lebenszusammenhanges überwunden werden, kann weiblicher Protest entfesselt werden. Dies ist der Grund dafür, warum in der Frauenliteratur gerade in der Gattung des »Gesellschaftsromanes« die Übergänge zum affirmativen, trivialen Roman so fließend sind. Dies ist beispielhaft zu studieren an der Entwicklung des 'Frauenromanes' im 19. Jahrhundert.
Viele Romane im Vormärz erhalten ihren kritischen Charakter aus dem Widerstand gegen die »Konvenienzehe«, ihre epische Spannung lebt aus dem Motiv des Gegensatzes von Liebe und Ehe. Aber schon in diesen Texten taucht am Horizont hinter der Kritik an der »Konvenienzehe« die Ideologie von der wahren, innigen Liebe auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst dann die Fülle der Romane, die das Motiv der »Liebesheirat« positiv gestalten. In ihnen ist der Gegensatz harmonisiert, die Spannung ist verschwunden; an der Frauenrolle aber hat sich meist nichts geändert, nur daß die Heldin sich jetzt aus Liebe unterwirft. Trivial sind diese Romane nicht zuletzt deshalb, weil in ihnen die Klischees der Geschlechterrolle wieder ins vorgegebene Schema gerückt sind (vgl. These 9 zum Zusammenhang von Phantasie und Realität).
6. Maskierungen - Darstellungsprobleme von Schriftstellerinnen
Aber auch innerhalb der erzählenden Genres ist es für Frauen nicht ohne Doppelsinn (ästhetischen und geschlechtsspezifischen), wenn sie sich für eine bestimmte Darstellungsform und Schreibweise entscheiden. Vor allem in die Wahl der Perspektive geht das Problem ihrer Existenz als anderes Geschlecht mit Blick auf die beabsichtigte Veröffentlichung ein - nunallerdings nicht mehr als rein formales Problem. In der Erzählforschung ist die Perspektive (point of view) bisher vor allem auf den Ebenen der Zeit und des Raumes der erzählten Handlung behandelt worden. Eine geschlechtsspezifische Dimensionierung kann dem nun nicht einfach hinzugefügt werden, sondern muß zu einer neuen Deutung der Erzähltechnikbeitragen. Die Beziehung, die zwischen dem(r) Erzählerin), den Figuren und der Autorin im Text hergestellt wird, ist nicht allein als Realisierung ihres poetischen Konzeptes zu lesen, sondern auch als Funktion der Wahrnehmungs- und Erfahrungsstruktur der Frau als anderes Geschlecht. Sophie Mereaus erster Roman z.B. erschien anonym. Doch des Versteckspiels nicht genug, verbarg die Autorin ihre Identität noch hinter einer männlichen Maske. Der Roman »Blütenalter der Empfindung« (1794) ist die Ich-Erzählung eines männlichen Helden. In seinen Betrachtungen nun werden Liebeswünsche der Verfasserin [29] - die sich auf Grund der Kenntnis von Brief- und Tagebuchaufzeichnungen Sophie Mereaus als autobiographische, subjektive Elemente entschlüsseln lassen - auf ein weibliches Liebesobjekt gerichtet. Um ihre Gefühle vor den Lesern zu verstecken, nimmt die Autorin im Schreibprozeß an sich selber eine Geschlechtsumwandlung vor; sie setzt eine männliche Brille auf. Diese Geschlechtsumwandlung bleibt dem Publikum verborgen, sie spielt sich im vor-publizistischen Raum ab. Erst später (z.B. in Virginia Woolfs »Orlando« und in Texten von Christa Wolf, Irmtraud Morgner und anderen DDR-Autorinnen) wird dies Motiv zum expliziten Thema fiktionaler Literatur von Frauen.***468.5.29a***
Die Geschlechtsdiskrepanz zwischen der Schreiberin und dem Ich-Erzähler hat in Sophie Mereaus Roman Konsequenzen für die Darstellung, und zwar für die Fabel, die Charakterisierung der Figuren und die Syntax. Albert, der Ich-Erzähler, hat weiche, sensible Züge; er bleibt als Figur aber unkonturiert,[30] während seine Empfindungen und Gedanken überzeugend und differenziert beschrieben werden. Sehr viel plastischer wird der Freund Alberts, Lorenzo, geschildert; und als Charakter gewinnt die weibliche Hauptfigur - Alberts Geliebte und Lorenzos Schwester - Nanette die positivsten Konturen. Sie ist die heimliche Heldin des Romans. Aber erst im Verlaufe der Handlung entsteht dieser Eindruck. Zunächst wird sie mit den Augen und Ohren Alberts in den Text eingeführt und wahrgenommen. Die erste Betrachtung Nanettes, nachdem Albert auf ihre Worte in der Unterhaltung mit einem anderen Mann aufmerksam geworden ist, kann eindeutig als ein Frauenbild gewertet werden, wenn auch im Unterschied zu üblichen männlichen Betrachtungen hier die Gesichtszüge der Frau im Mittelpunkt stehen:
»Was ich hier sah, war mehr als Amor. Der ruhige sanfte Ausdruck ihres Gesichts, der geistvolle Zug, der um Mund und Auge schwebte, die zarte Frische ihrer Formen, die gefällige Anmut, die alle ihre Umrisse überfloß: Alles dies vollendete die Schönheit ihrer Augen. (...) Ich rief meinen vorigen Lieblingsbildern, aber keines wollte erscheinen. Wie auf einem verheerten Paradies schwebte das Bild der schönen Fremden einsam über den Trümmern meiner vollendetsten Schöpfungen. Zum ersten Mal war mir das Gefühl meiner Selbst zur Last.«[31]
Wesentlich ausführlicher und substantieller gerät dagegen die erste Beschreibung Lorenzos, mit der diese männliche Figur vorgestellt wird. Über drei Seiten werden seine Fähigkeiten und Schwächen, seine intellektuellen, sozialen und psychischen Züge und seine Anliegen und Enttäuschungen beschrieben. Zudem wird er nicht aus der Ferne, sondern in der konkreten Kommunikation mit dem Erzähler betrachtet.[32] Auch die syntaktische Struktur bestätigt die Differenz in der Perspektive. Lorenzo ist als »er« in der Beschreibung Subjekt der meisten Aussagesätze über ihn, während die Frau als Objekt der Betrachtung und Empfindung des männlichen Ichs fungiert - eben als Frauenbild.
Sophie Mereau hat sich in ihren folgenden Veröffentlichungen aus dieser Misere der männlichen Maskierung befreit. Ihr zweiter Roman »Amanda und Eduard« (1803) stellt eine Gleichberechtigung in der männlichen und weiblichen Erzählperspektive her. Es ist ein Text aus Briefen der Amanda (vorwiegend an ihre Freundin Julie) und des Eduard (vor allem an seinen Freund Burton), in welchem die Autorin ihre Erfahrungen aus dem Zusammenleben mit einem ungeliebten Ehemann und ihren Ausbruch in eine Liebesbeziehung bearbeitet. Viele Passagen des Romans sind aus ihrem Briefwechsel mit einem früheren Geliebten, dem Studenten Kipp, fast wörtlich übernommen.[33] Dennoch steht die Heldin, die sich begnügt mit einem »Seelenbund« mit dem Geliebten, hinter der Emanzipation ihrer Autorin zurück. Sophie Mereau war eine der ersten Schriftstellerinnen, die zeitweise ihren Lebensunterhalt für ihre Tochter und sich durch Veröffentlichungen bestreiten konnte. In ihrer kurzen Arbeitsphase - sie starb mit 36 Jahren - hat sie sich verschiedenster Genres bedient: sie schrieb Gedichte, Romane, Erzählungen und gab selbst Almanache heraus. Aber ihre persönlichsten Erlebnisse vertraute auch sie nur ihrem Tagebuch an. Ihr erster, noch nicht als Berufsschriftstellerin publizierter Text, »Das Blütenalter der Empfindung«, ist ihr subjektivster. Später allerdings verwendet sie auch Heldinnen, Frauenfiguren, in deren Gestaltung sie ihr eigenes Begehren verschlüsselt. »Ninon de Lenclos« beispielsweise ist eine Erzählung, in der sie - gegen den Strich der Überlieferung und der Legendenbildung über diese berüchtigte Hetäre - eine Frau beschreibt, die, »weil sie sich den Männern gleich rechnete«,[34] für sich das Recht der freien Liebe beansprucht.
Die Entscheidung einer Autorin für eine weibliche Hauptfigur und/ oder Erzählerin ist auch in jüngeren Entwicklungsphasen der Frauenliteratur nicht selbstverständlich und nicht immer der gewählten Thematik und Fabel angemessen. Eher aber wählen Schriftstellerinnen eine Held/n, als daß sie in der Erzählperspektive sich eindeutig als schreibende Frau zu erkennen geben. Viele auch, die aus einem Gefühl oder Bewußtsein für ihre Lage als 'anderes' Geschlecht schreiben, bringen dies zum Ausdruck, indem sie mit verschiedenen Kombinationen experimentieren. Daß dabei z.T. Brüche in einen Text hineingeraten,[35] ist nicht nur als Flüchtigkeit zu werten, sondern zeigt auch, wie schwer es Frauen z.T. fällt, die Tarnung durch eine scheinbar objektive, tatsächlich aber männliche, Instanz herkömmlicher Erzählhaltung durchzuhalten.
Auffällig ist, daß gerade dann, wenn als Hauptfigur eine Frau gestaltet ist, mit der sich die Autorin offensichtlich identifiziert, sehr oft eine erzählerische Distanzierung aufgebaut ist. Wenn Christa Wolf heute keine Schwierigkeiten mehr zu haben scheint, eine Ich-Erzählerin über Christa T. nachdenken zu lassen, so heißt das nicht, daß das hier skizzierte Darstellungsproblem für Frauen erledigt ist. Daß viele aktuelle Frauentexte - manchmal mit einer Kraftanstrengung, die man den Texten anmerkt - die Innenräume ihres Frauendaseins ausleuchten und daraus ihren Blickwinkel gewinnen, hat ihnen den Vorwurf falscher Innerlichkeit, weiblicher Engstirnigkeit u.a. eingebracht. M.E. ist diese Schreibweise nur in ihrer historischen Bedeutung als Befreiung aus einer Geschichte der Verstellungen, Maskierungen und Anpassungen richtig zu verstehen.
7. Die Sehnsucht nach der Vollkommenheit
Viele Frauen, die schreiben, waren und sind durch ihr Ungenügen mit der Frauenrolle dazu motiviert. Sie haben versucht, sich bei oder mit dem Schreiben aus dem Geschlechtsschicksal der Unvollkommenheit zu retten.
»Mir überwältigt diese immerwährende rastlose Begier nach Wirken oft die Seele und bin doch nur ein einfältig Mädchen, deren Bestimmung ganz anders ist«,[36]
schreibt Bettine v. Brentano 1804 an ihre Schwester Gundula und deren Mann Savigny. Sie formuliert damit ihr Wissen über das 'Anders'-Sein und die Unvollkommenheit des weiblichen Geschlechts. Es gibt vielfältige Wege, die von Frauen erdacht und erträumt wurden, um aus dieser Lage herauszukommen: den Ausweg in die Neutralität des kindlichen »es«, die Vervollkommnung in der Ergänzung mit einer anderen Person oder auch das Schlüpfen in die Männerrolle, in die Haut sanktionierter Vollkommenheit und Eigentlichkeit. Dies alles sind individuelle Versuche, aus der Rolle zu brechen, Strategien zur Lösung - sprich Tilgung - der erlebten Widersprüche.
Den erstgenannten Weg geht die junge Bettine, indem sie in die Rolle schlüpft, die ihr frei zu sein scheint von den erlebten Zwängen: »Kein Mädchen und kein Bub«[37] will sie sein, sondern Bettine, das Kind. Später in der Freundschaft mit Karoline v. Günderrode phantasiert sie eine Vollkommenheit in der Ergänzung der zwei verschiedenen Frauen. Einen ähnlichen Gedanken formuliert Rahel 1818 in einem Brief an ihre Freundin Pauline Wiesel:
»Eine hätte die Natur aus uns machen sollen. Solche wie Sie hätte mein Nachdenken, meine Vorsicht, meine Vernünftigkeit haben müssen! Solche wie ich Ihren Lebensmut und ihre Schönheit.«[38]
Im »Günderrode-Buch«, welches Bettine 34 Jahre nach dem Tod ihrer Freundin veröffentlicht, stilisiert sie die Beziehung zu einer solchen Vollkommenheit, komplementär zusammengesetzt aus der philosophischen Dichterin und ihr, dem natürlichen, spontanen Wesen. Eine männliche Verkleidung braucht dieses ideale Paar aus Bettines Phantasie nur dann, wenn es eine Reise macht:
»Und im Frühjahr nähmen wir unsere Stecken und wanderten; denn wir wären als Einsiedler und sagten nicht, daß wir Mädchen wären. Du mußt Dir einen falschen Bart machen, weil Du groß bist; denn sonst glaubt's niemand, aber nur einen kleinen, der Dir gut steht, und weil ich klein bin, so bin ich als Dein kleiner Bruder, da muß ich mir aber die Haare abschneiden.«[39]
So haben sich Frauen tatsächlich in Männerkleidern Räume erschlossen, die ihnen ansonsten nicht zugänglich waren: Kleists Schwester Ulrike z.B. die Reise nach Paris mit ihrem Bruder, George Sand das Theaterparkett anstelle der Loge als angestammten Platz für die feineren (natürlich begleiteten) Damen; andere Frauen nahmen so an Vorlesungen der Universität teil. Karoline v. Günderrode selbst aber, die im Phantasie-Spiel Bettines derart als Paar-Hälfte vereinnahmt ist, vermochte ihre Zerrissenheit nur zu bewältigen, indem sie in die Richtung männlichen Vermögens schielte:
»Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Gänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd und so uneins mit mir.«[40]
In ihrer Dichtung versucht sie, männlichen Vorbildern nachzueifern und unterwirft sich dafür strengsten ästhetischen Formgesetzen. Nur durch biographische Kenntnisse sind viele ihrer Texte als durchaus subjektive Entäußerungen ihres Lebens und Leidens zu entschlüsseln.
»... denn immer rein und lebendig ist die Sehnsucht in mir, mein Leben in einer bleibenden Form auszusprechen, in einer Gestalt, die würdig sei, zu den Vortrefflichsten hinzutreten, sie zu grüßen und Gemeinschaft mit ihnen zu haben.«[41]
So begründet sie 1804 ihren Wunsch, ihre Texte zu veröffentlichen, in einem Brief an Clemens v. Brentano.
Fanny Lewald hatte sogar den Ehrgeiz, man möge ihren Produkten deren weibliche Handschrift nicht anmerken:
»Alles, was ich für den weiblichen Schriftsteller fordere, ist, daß man von ihm absehen und sich an seine Leistung halten möge; mit einem Worte, daß man den weiblichen Schriftsteller dem männlichen gleichberechtigt an die Seite stelle, was noch lange nicht genug geschieht bei uns.«[42]
Dieser Anpassungs-Ehrgeiz fordert seinen Preis. Es wimmelt in ihren Texten von männlichen Erzählern und Frauenbildern, die der Männerliteratur entlehnt sind. Da gibt es das »reine Weib«, die Heilige, die als Mutter ihren einzigen Beruf erfüllt, dann die Schauspielerin, die Hure, und die Frau, die sich ganz ihrem Mann/ihrem Gott hingibt und unterwirft - neben all den Frauengestalten, die Fanny Lewalds eigener bürgerlicher Lebenserfahrung entsprungen sind. Ihren Frauengestalten ist die Brille des Mannes teils derart auf die Nase gedrückt, daß sich das sogar auf ihr Gemüt auswirkt: »Ich sehe mit Deinen Augen, ich empfinde durch Dich«,[43] läßt die Autorin Mathilde an Edmund schreiben.
Das Postulat der Gleichberechtigung, wenn dabei die tatsächliche Ungleichheit voluntaristisch übersprungen wird, ist nicht dazu angetan, Frauen zu einer eigenständigen Kultur zu verhelfen. Es ist das Gegenstück zur Rede über die Natürlichkeit des Weibes: hier die Beschränkung im gesellschaftlichen Schattendasein, dort die Zwangsjacke der schlechteren Alternative.
8. Entzauberung, Destruktion des Frauenbildes und die Geburt der neuen Heldin
Es gibt andere Schreibkonzepte, die diese Widersprüche in die Literatur e/wbeziehen: sie nicht tilgen oder ignorieren, sondern gestalten, um sie zu bearbeiten. Es gibt Texte, welche die Suche nach einer neuen Identität und Lebensmöglichkeit der Frau als Befreiung aus dem Leben im Muster der Frauenbilder entwerfen. Diese Befreiung scheint radikal nur möglich zu sein aus der Erkenntnis der Abhängigkeit. Die Frau als das 'andere' Geschlecht, die weiß, daß sie sich selbst als Spiegelung männlicher Wünsche und Reflexionen wahrnimmt, kann Selbstbewußtsein entwickeln, indem sie ihre Selbstbetrachtung als Ent-Spiegelung organisiert. Daß diese Entspiegelung auch Entzauberung beinhaltet, hat seine Ursache darin, daß die männlichen Frauenbilder - im Unterschied zur sozialen Realität der Frau - diese nicht nur als unterprivilegiertes Geschlecht imaginieren, sondern sie auch überhöhen, daß diese Bilder nicht nur Demütigung, sondern auch Verehrung beinhalten, oder auch Furcht vor der angeblichen Allmacht der Frau. Der Weg der Entzauberung führt häufig durch die Erprobung und Durchquerung der Bilder erst zu ihrer Zerstörung bzw. Desillusionierung.
Emanzipation also auch als Entzauberung. Dies ist das unausgesprochene Motiv der ersten beiden Romane von Louise Aston. In der Vorbemerkung zu ihrem ersten Roman »Aus dem Leben einer Frau« (1847) verwahrt die Autorin sich gegen ästhetische Ansprüche und den Illusionsgehalt von Kunstprodukten:
»Das Leben ist fragmentarisch; die Kunst soll ein Ganzes schaffen! Diese Blätter gehören in Dichtung und Wahrheit dem Leben an, und machen nicht Anspruch auf künstlerischen Werth! Darum sind sie fragmentarisch ... Wir schreiben flüchtige Zeilen, aber wir schreiben sie mit unsrem Herzblut! Findet dies Fragment Anklang, hat der Kern dieses Lebens und sein Schicksal eine allgemeine Bedeutung; so schließt sich vielleicht ein zweites Fragment daran, das manche Entwicklung weiter führt, und manche 'confessions' vollendet.«[44]
Männliche Literaten haben das Gefühl ihrer Zerrissenheit vielfach kompensiert in der Imagination von Frauenfiguren, die dem Mythos vom harmoniespendenden Naturwesen Frau entsprechen, die dies aber allzuoft mit ihrem Tode bezahlen mußten.[45] Der Lebensanspruch Louise Astons wird hier realistisch als Verzicht auf poetische Einheit formuliert, was sich im Text in der Doppelexistenz der Heldin im 'nicht mehr' und im 'noch nicht' ausdrückt. Die Handlung des Romans enthält eine Bearbeitung der Ehe- und Scheidungsgeschichte der Autorin, erzählt als Geschichte der Figur Johanna Oburn.[46] Im Buch wechseln Szenen, in denen sie vom Zauber der »hohen Frau« umgeben ist (z.B. »ein Engelsbild«), mit solchen, in welchen sie die Erniedrigung als Objekt der sexuellen Begierde und ökonomischen Kalkulation des Mannes erlebt (die Ehe wird z.B. als »ununterbrochenes Opferfest« bezeichnet). Als Johanna Oburn hinter dem geselligen Schein der Lebensweise ihres Mannes deren Wesen in der extremen Ausbeutung seiner Arbeiter und sich selbst als Komplizin dieses Mannes entdeckt, und als sie anläßlich seines Vorhabens, sie an einen Geldgeber zu verkuppeln, in ihrer eigenen körperlichen Ausbeutung ihren Status als Besitz erlebt, befreit sie sich in einem Schritt aus dieser doppelten Entwürdigung: »... und fuhr, ohne Abschied von Oburn zu nehmen, aus dem Hause.«[47]
Die Aufspaltung der Johanna Oburn in die überhöhte, verehrte Frau und in das Objekt gewaltsamer männlicher Begierde kommt auch in der Erzählweise zum Tragen. Die trivialen Festszenen, die Andeutungen und Beschreibungen männlicher Gewalt und die politischen Reflexionen ergeben einen erzählerisch sehr uneinheitlichen Roman. Die in die Sprache eingeflossene Gespaltenheit ist in den Kategorien konventioneller Literaturkritik nur als »Stilbruch« - und damit als Merkmal der schriftstellerischen Inferiorität der Frau - beschreibbar.
Diesem Roman waren schon zwei kleinere Veröffentlichungen vorausgegangen: eine Broschüre, in der Louise Aston 1846 gegen ihre Ausweisung aus Berlin protestiert. Sie hatte mit ihrer im Roman anklingenden Sympathie für sozialutopische Theorien Ernst gemacht und sich in Berlin den »Freien« angeschlossen. Im selben Jahr erschien ein Gedichtband, in dem sie - nach der Scheidung aus der Zwangsgemeinsamkeit befreit - ihre ambivalenten Empfindungen zwischen Autonomiestreben und Hingabewunsch ausdrückt. Als viertes Fragment aus der Feder der Autorin erscheint schließlich 1848 der Roman »Lydia«. In ihm gestaltet sie zwei Frauenfiguren: Lydia, das Bild des jungfräulichen, unschuldigen Weibes, und Alice, die emanzipierte Frau. Aus der gespaltenen Frau des ersten Romans ist das aufgespaltene Frauen-Paar des zweiten Romans geworden.
Der Schritt von der Ambivalenz der Johanna-Figur zur getrennten Gestaltung der zwei Pole von 'Weiblichkeit' in Alice und Lydia, zu deren beider Darstellung die Autorin Stoff aus ihrem eigenen Leben schöpfen kann, beinhaltet für Louise Aston das Erlernen des schielenden Blicks (vgl. These 10). - Im Text wird Lydia unmißverständlich als Verkörperung eines Frauenbildes dargestellt. Sie ist Instrument im Plan des Mannes Landsfeld, der - auf Grund der Einsicht in seinen eigenen unmoralischen Charakter resigniert - in ihr ersatzweise erproben will, ob das Ideal des reinen Menschen, d.h. der unschuldigen Frau, realisierbar sei. Die patriarchalische Bedeutung des Unschuldbegriffes in der Gleichsetzung von unschuldiger und nicht-wissender Frau wurde von der Autorin schon in ihren Gedichten thematisiert,[48] hier wird sie gestaltet zum Zwecke der Entlarvung. jUm seinen Plan in die Tat umzusetzen, heiratet Landsfeld Lydia, entsagt aber der körperlichen Liebe mit ihr. Sein Verzicht dient dem höherenZweck, das Idealbild der Jungfrau sein nennen zu können. Die naive, unwissende Lydia wird wegen seiner nie auf den Punkt kommenden Umarmungen zunehmend verwirrt. Als sie als Opfer einer Intrige von einem anderen Mann vergewaltigt werden soll, gerade aber noch von Alice gerettet wird, und als sie wenig später von ihrem Mann überwältigt wird und so in der Parallele eheliche Liebe als Vergewaltigung erlebt, wird Lydia wahnsinnig. Sie erkennt, daß sie ihm »nichts als eine Puppe, mit der er gespielt, »als ein Instrument« war. Sie erlebt den Augenblick als »vierfachen Mord an ihrer Unschuld - ihrer Liebe - ihrem Stolz - ihrer Vernunft.«[49]
In diesem Mord wird aber nicht nur die Figur Lydia getötet, sondern auch das Frauenbild der Jungfrau zerstört, welches sie repräsentiert. Im gleichen Moment, in dem der Mann das Bild in Besitz nimmt, zerstört er es notwendigerweise. Was hinter dem Bild zum Vorschein kommt, ist die Frau ohne Bild. Im Roman Louise Astons vollzieht sich die Geburt der neuen Frau über den Tod des Mannes: Als Lydia ein Kind gebärt und das Kind stirbt, verzweifelt ihr Mann an den Folgen seiner Wünsche und begeht Selbstmord - einem Rat Alices folgend. Beim Anblick des toten Landsfeld kommt Lydia wieder zu Bewußtsein, gelangt aber als Person zu keiner (neuen) Kontur mehr. Beide Frauen fahren zusammen nach Italien. In der Gegenfigur Alice sind die Leiden und Freuden der Emanzipation gestaltet. Diese äußerlich autonome Frau erlebt die subtileren Formen der Abhängigkeit: daß sie Zuwendung nur um den Preis der Unterwerfung erhält, daß ihre Freiheitswünsche mit ihrer eigenen Geborgenheitssehnsucht kollidieren - und vor allem, daß es keinen Mann gibt, der als Partner einer emanzipierten Frau taugt.[50]
Der Entzauberung im ersten Roman folgt also die Destruktion des Frauenbildes im zweiten Roman, hier auf dem Wege, daß der Schöpfer des Frauenbildes stirbt. Wohlgemerkt: nicht der Mann wird getötet, sondern der Urheber des tödlichen Frauenbildes ebenso wie dieses selbst.
Daß soviel Entzauberung, Ernüchterung und Desillusionierung nicht ganz ohne den Preis eines neuen Zaubers abgehen kann, zeigt der dritte Roman Louise Astons »Revolution und Conterrevolution« (1849). Schon in dem Lydia-Roman war Alice äußerst vorteilhaft ausgestattet die heimliche Heldin, nicht als Titel/Hauptfigur der Fabel, wohl aber als Zentralfigur der Handlung. In diesem Roman nun wird sie zur Figur stilisiert, mit der die Autorin weibliche Omnipotenzwünsche im Raum literarischer Fiktion realisiert. Dazu dient ihr eine sehr realistische Darstellung der Revolutionsereignisse in Berlin, Frankfurt/Main und Schleswig-Holstein. Während in Wirklichkeit die Revolution den Frauen nur sehr begrenzt Bewegungsräume erschlossen hat, schöpft Alice im Roman jede Handlungsebene der Revolution aktiv und offensiv aus: Sie ist Präsidentin eines konspirativen politischen Klubs, sie kämpft auf den Barrikaden, im Schleswig-Holstein-Krieg als führende Freischärlerin - und unterstützt diese Praxis durch geschickte Bündnispolitik im Salon, welche sie virtuos beherrscht, ohne jemals den Durchblick zu verlieren.
Diese strahlende Heldin entsteht erzähltechnisch aus der konsequenten Gestaltung einer weiblichen Hauptfigur auf allen Handlungsebenen des Textes. Sie nähert sich als Figur einem neuen Bild: der Superfrau. Die ist allerdings in diesem Roman aus realistischen Momenten zusammengefügt und insofern nicht Mythos, sondern konkrete Utopie. Vielleicht verkörpert sie die Idee vielfältigen weiblichen Vermögens, hier literarisch vereinigt in einer Figur, real denkbar auf viele Frauen verteilt. Immerhin leistet Alice nicht so Unmögliches wie etwa »Penthesilea« oder »Johanna von Orleans«. - Solche Heldinnen wie bei Louise Aston sind in der Literatur von Frauen selten. Sie sind zu verstehen als Opposition gegen undankbarere Varianten: gegen den Helden-Tod der Frauenbilder einerseits und andererseits gegen die Heldinnen der Romane von Frauen, die als Opfer gestaltet sind, weil nur dafür Stoff genug aus den Erfahrungen ihrer Autorinnen geschöpft werden kann.
9. Von phantastischen Träumen und von Entsagungen
Die Phantasieproduktion von Schriftstellerinnen ist nicht unabhängig zu betrachten vom weiblichen Lebenszusammenhang. Die Ent-Fesselung weiblicher Phantasie scheint für bürgerliche Pädagogen schon immer eine bedrohliche Vorstellung gewesen zu sein. Im Alltag ist die Kreativität von Frauen mittels des begrenzten Erfahrungs- und Tätigkeitsfeldes Familie gebunden an die Nützlichkeit und Kleinlichkeit dieses Ghettos (das tendenziell konkrete, sinnvolle Arbeit ermöglicht, der Form nach aber die dort Tätige isoliert und gesellschaftlichen Sinnzusammenhängen entfremdet). Doch diese strukturelle Zurichtung wurde offenbar von den Verfassern der zahllosen Erziehungsbücher als nicht ausreichend sicher empfunden. Im 19. Jahrhundert sind diese Ratgeber für die Erziehung von Mädchen voller Ideen, Vorschläge und Pläne zur Kanalisierung weiblicher Phantasie: Grammatik als Ordnungsinstrument der Sprache und Gedanken, alle Arten von Handarbeiten, die durch ihre gleichförmige, Geduld erfordernde Arbeitsweise in die Normen bürgerlicher Arbeitsethik einüben (»ohne Fleiß kein Preis«) und die dazu angetan sind, kreative Lust in nutz- und gefahrlose, gefällige Produkte zu investieren, die darüber hinaus, wenn sie der Herstellung von Aussteuer dienen, die Gedanken ihrer Produzentinnen mit ihrer späteren Bestimmung als Ehefrau und Mutter beschäftigen.[51]
Der Stundenplan für Fanny Lewald, den sie in ihrer »Lebensgeschichte« referiert, ist ein beredtes Beispiel einer solchen Dressur.[52] Trotz solcher Brachialmaßnahmen gelingt es nicht, die Phantasie vollständig zu domestizieren. Sie schafft sich in märchenhaften, phantastischen Tagträumen ein Ventil. In Träumen vom erlösenden Märchenprinzen oder anderen unrealistischen Begebenheiten. Daß in solchen Tagträumen die Konflikte mit einem Male von einem deux-ex-machina vom Tisch gefegt werden, liegt an der Funktion der Phantasie im weiblichen Lebenszusammenhang. Die Entwicklung konkreter Utopie setzte die Konfrontation von Wünschen, Bedürfnissen und Erfahrungen mit gesellschaftlichen Realitäten voraus. Auf Grund der Kanalisierung im Hause und der Abgeschlossenheit gegenüber gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kann die Phantasie der Frau eigentlich nur in das Reich phantastischer Träume entweichen - ein Beitrag zur Infantilisierung der Frau.
Fanny Lewald hat einige Erzählungen geschrieben, die derart märchenhafte Züge tragen.[53] Den Heldinnen dieser Literatur wird durch Wesen aus einer anderen Welt geholfen. In ihren Gesellschaftsromanen, die Stichworte der zeitgenössischen sozialen Problematik aufgreifen (Konvenienzehe, Scheidung, Mischehe), ist die Phantasie der Autorin dagegen wieder in die Schranken geltender Lösungsstrategien bzw. ihres Vorstellungsvermögens über solche Möglichkeiten verwiesen. Und den Frauenfiguren dieser Romane bleibt wiederum nichts anderes übrig, als im Tagoder Nachttraum die unterdrückten Sehnsüchte unterzubringen - genau wie die Autorin, die eben dafür ihre Literatur hat. Diese Struktur macht die eigentümliche Ambivalenz der Lewald'schen Romane aus.[54]
Z.B. Clementine aus dem gleichnamigen Roman (1843) trifft, nachdem sie gegen erhebliche innere Widerstände einen begüterten, älteren Mann geheiratet hat, ihren Jugendfreund wieder und verliebt sich erneut in ihn. Nach einer längeren Zeit der Spannung und des Versteckspiels zu dritt entdecken Clementine und der Jugendfreund Robert einander ihre Liebe - und entsagen. Als Clementine später ihrem Ehemann ihren phantasierten Ehebruch gesteht, verzeiht er ihr, und es folgt als Happyend eine friedliche Ehezeit. Dieses angepaßte Ende der Fabel paßt nicht zu den vehementen Ausbrüchen Clementines zu Beginn der Handlung, als sie ihre Verweigerung einer Eheschließung mit heftiger Kritik an der Institution Ehe verband: Ehe ohne Liebe sei verwerflicher als Prostitution. Die Handlungsentwicklung des Romans paßt sich den Erwartungen des anständigeren Publikums an - vor allem aber der Moral von Fanny Lewalds Vater, dem sie mit größter Mühe die Erlaubnis zu schreiben und zu publizieren abgerungen hat, der aber dennoch über die Texte der über 30jährigen Tochter wacht, unterstützt durch seinen Sohn, der weniger die ideologische als die grammatikalische Überprüfung übernimmt. Später wird die redaktioneile Hand des Ehemannes Adolf Stahr dergleichen Aufgaben ausführen.
Ein anderes Ende der Fabel hätte Fanny Lewald sich nicht zumuten können, weil sie es vor der Familie und Öffentlichkeit nicht hätte vertreten können. »Clementine« ist ihr erster Roman; in ihm sind die Widersprüche der Entsagungsideologie zu einer dennoch im Text ausgebreiteten Ausbruchsphantasie am deutlichsten. Man darf wohl davon ausgehen, daß die Leserinnen die Träume und die »zügellosen Schöpfungen der Phantasie und des Herzens« der Clementine [55] mit weit mehr Beteiligung gelesen haben als die entsagungsvolle Moral von der Geschichte. Schon 1838 hatte Fanny Lewald in ihr Tagebuch geschrieben:
»Vor keinem Feinde sollte man sich so sehr fürchten, als vor der eigenen Phantasie. Jedem äußeren Feinde tritt man mit Härte und Energie entgegen. (...) Wer aber kämpft so ernstlich gegen sich selbst, als gegen einen anderen? - Wen schmerzt der Sieg nicht über das verzogene Kind des eigenen Wesens?«[56]
Die Phantasie wird im Laufe von Fanny Lewaids schriftstellerischer Entwicklung immer mehr den herrschenden Frauenbildern angepaßt, die Brüche werden geringer, die Darstellungsweise perfekter. Fanny Lewald wird zur schreibenden Gallionsfigur des preußischen Feminismus, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der bürgerlichen Frauenbewegung viele Anhängerinnen fand.
Die Uneindeutigkeit in der Emanzipationsaussage vieler Romane von Frauen wird in der Sekundärliteratur meist nur hilflos oder abschätzig konstatiert.[57] M.E. beruht der Widerspruch zwischen weiblichem Aufbegehren und affirmativer Entscheidung der Frauengestalten im Text auf einer spezifischen epischen Spannung, die einer ambivalenten Haltung der Verfasserin entspricht. Im fiktiven Raum des Romangeschehens werden Ausbrüche phantasiert, wird Widerstand erprobt und Empörung formuliert. Aus der Verantwortung für die Gedanken und Taten ihrer Heldin stiehlt die Autorin sich aber durch deren Bestrafung oder einsichtsvollen Verzicht, ohne sich selbst die Lust am Phantasieren zu untersagen. - Und möglicherweise wird so auf subversivem Wege die Botschaft dennoch an die Frau gebracht. Ich vermute, daß zeitgenössische Leserinnen die Geschichten der Luise Mühlbach, Fanny Lewald und anderer Autorinnen derart gegen den Fabel-Strich gelesen haben. Wie sonst hätte diese Literatur in den Verruf kommen können, in der Tradition George Sands zu stehen, deren Name für die emanzipierte Frau schlechthin stand.
III
10. Feministisches Vermögen: der schielende Blick
Dies alles mag thematisch und begrifflich eng anmuten. Es dreht sich alles nur um - das andere, die Entwicklung weiblicher Kultur und Utopie, vor allem um die Beziehung zwischen Frauenbildern und weiblichem Selbstverständnis! Frauen sollten sich ruhig mit einem Auge diesen engen, konzentrierten Blick gönnen, um mit dem anderen Auge in die Fülle und Weite gesellschaftlicher Thematik zu schweifen. Um ihre spezifische Rolle als Frau in allen Bereichen und auf allen Ebenen durchschauen zu können, werden sie den starren Blick auf die sogenannte Frauenfrage wenigstens mit der Hälfte ihres Sehvermögens benötigen. Diesen schielenden Blick werden sie erst korrigieren können, wenn sich die Frauenproblematik als Thema erübrigt, nämlich erledigt hat - wenn die lebende und schreibende Frau ihre Doppelexistenz im Muster der herrschenden Bilder und in der Antizipation der befreiten Frau überwunden hat.
»Und da Befreiung die Aufhebung der wirtschaftlichen Ungleichheit und der sozialen Ungerechtigkeit voraussetzt bzw. einschließt, hat der neue Feminismus sozusagen den doppelten, einen gespaltenen Blick.«[58]
Die Italienerin Lidia, die hier vom gespaltenen Blick spricht, meint damit die Unvereinbarkeit ihrer feministischen und ihrer politischen Biographie. Sie drückt damit die Erfahrung vieler Frauen aus, die überall dort, wo sie ihre Einsichten in Handlungen umsetzen wollen, auf Strukturen stoßen, denen sie sich partiell unterwerfen müssen, wollen sie etwas ausrichten. Anpassung oder Verweigerung (bzw. Verzicht) ist die bittere Alternative für Frauen, die das Ghetto weiblicher Aufgaben durchbrechen wollen - und dies bei jedem Schritt in männlich kontrollierte Räume (in Institutionen, etablierten Parteien ebenso wie in politischen Organisationen und auch Bürgerinitiativen).
»Dies ist also der typische weibliche Gegensatz:
Konformismus/ Überspanntheit
Übernahme der männlichen Werte /Ablehnung sämtlicher Werte.
Welche Verhaltensweise die Frau auch wählte, sie überläßt sich doch immer dem
Schweigen oder dem Geschwätz, solange sie keinen neuen Wert hervorbringen
kann. - Wie können wir aus dieser Sackgasse herausfinden?«[59]
Es gibt zahlreiche Versuche, die Analyse der politischen Fragen und die der Geschlechterbeziehung im Verhältnis zueinander theoretisch zu fassen. Die Haupt- und Nebenwiderspruchsdebatte ist eine der zähesten und unergiebigsten Varianten dieser Bemühungen. Die in letzter Zeit populär gewordene Parole »Das Private ist politisch« versucht den Gegensatz rhetorisch zu versöhnen. Das Motto ist insofern brisant, als es eine massenhaft bekundete Willensäußerung enthält, die bestehenden Trennungen nicht länger erdulden zu wollen, weil es als enttabuisierende Rede das eben nur zum Privaten deklarierte, die Gewaltverhältnisse im Innern des Hauses, veröffentlicht.
»Das Private ist politisch« enthält aber auch eine Täuschung, wenn es die politische Lösung privater Leiden verspricht. Nämlich eine politische
- sprich organisierte, formale - Lösung des tatsächlich Privaten kann esnicht geben, zum Glück nicht, denn die bedeutete letztlich die Aufhebungindividueller Selbstbestimmung. Liebe, Schmerz und Glück, Entgrenzungswünsche und Selbstbehauptung lassen sich nicht in Regeln gießen.Das würde die Abtötung menschlicher Beziehungen nach sich ziehen - wie auch literarische Utopien zeigen, die den Kampf zwischen Hingabewunsch und Autonomiestreben versöhnen wollen und dabei gleich dessenTriebfeder an seiner Wurzel, dem Begehren, ausrotten.[60] Solche Programme beruhen auf einem fundamentalen Mißverständnis. Sie verwechselndie leidvolle Koppelung von Liebe und Unterwerfung, die Überlagerungvon Beziehungen durch patriarchalische Gewaltverhältnisse, in denen dieIndividuen sich als Träger von Geschlechtsrollen gegenübertreten, mitdem lebendigen Widerspruch zwischen Entgrenzung und Identität, den esin jeder intensiven menschlichen Bindung gibt und der auch in gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen erfahren wird.
»Nur zu oft setzt sich die Macht des Gesellschaftskörpers an die Stelle der Energien der Sexualkörper.«[61]
Vor die Bewältigung des 'Privaten' werden Frauen sich noch oft und lange als Einzelne gestellt sehen. Überall dort, wo Frauen vereinzelt Erfahrungen machen, auch in beruflichen, sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhängen, erleben sie einen Bruch. Der Faden zu dem, was sonst schon im Zusammensein und im Gespräch mit anderen Frauen erfahrbar und lebbar ist, scheint gerissen. Sie werden rückfällig. Dies nicht als individuelles Versagen, sondern als notwendigen Bruch, als nicht hier und jetzt harmonisierbare Doppelexistenz während des Überganges zu betrachten
- auch dies schließt das Erlernen des schielenden Blicks als feministisches Vermögen ein.
Zurück zum Spiegelbild. Werden die Projektionen, die Bilder, vom Spiegel weggewischt, ist er zunächst leer; das Glas kann mit neuen Vorstellungen bemalt werden, aber auch das sind Bilder, und auch die Zerschlagung des Spiegels führt ins Nichts. Wie die befreite Frau aussehen wird, das ist heute mit Sicherheit und Vollkommenheit nicht vorstellbar, lebbar schon gar nicht. Um in diesem Zwischenraum, im 'nicht mehr' und im 'noch nicht' zu überleben, ohne verrückt oder toll zu werden, muß die Frau den schielenden Blick erlernen, d.h. die Widersprüche zum Sprechen bringen, sie sehen, begreifen und in ihnen, mit ihnen leben - und Kraft schöpfen aus der Rebellion gegen das Gestern und aus der Antizipation des Morgen.
Die Hysterikerin, die aus der Rolle fällt, und die Rasende, die gegen die männliche Ordnung anrennt, sie beide bringen mit ihrem Körper den Widerspruch zum Sprechen.
»Raserei und Hysterie sind die beiden Seiten des weiblichen Wahnsinns, so wie er von Männern definiert (und übrigens auch hervorgerufen) wurde.«[62] Die männliche Definition gegen den Strich lesend, wurde in letzter Zeit das rebellische Moment der Hysterie ins (feministische) Blickfeld gerückt.[63] - Doch die Ambivalenz bleibt auch bei dieser Lesart bestehen, weil die Hysterikerin und die Rasende, indem sie ihren Körper zum »Einsatz« bringen, diesen auch »verspielen« und sich damit auch gegen sich selbst richten.
Es ist schon ein Kunststück, in Anbetracht und im Wissen um die Verhältnisse nicht verrückt zu werden. Elisabeth Lenk hat in ihrer Metapher der »sich selbst verdoppelnden Frau«, welche »das neue Verhältnis zu sich nur über andere Frauen entwickeln« kann,[64] auf das heilende Moment dieses Wahnsinns hingewiesen:
»Oftmals glaubt die Frau, wenn sie zum ersten Mal in dieses neue Verhältnis zu sich selber tritt, oftmals glaubt die zum ersten Mal sich selbst verdoppelnde Frau, verrückt zu werden. Doch dieser scheinbare Wahnsinn ist gar kein Wahnsinn, sondern der erste Schritt zur Heilung.«[65]
Zur Heilung kann dieses Verhältnis - in welchem »die Frau ... der Frau zum lebendigen Spiegel (wird), in dem sie sich verliert und wiederfindet«[66] - m.E. aber nur dann werden, wenn die Frau in der anderen Frau kein Vorbild sucht, wenn sie bereit ist, in ihr wiederum das 'nicht mehr' und 'noch nicht', d.h. deren heutige Doppelexistenz, zu entdecken und zu akzeptieren. Rahel schon hat diese notwendige Doppelexistenz geahnt: (Ich habe) »die gewaltige Kraft, mich zu verdoppeln, ohne mich zu verwirren ...«[67] Sie meinte damit die Unversöhnbarkeit ihres inneren und äußeren Lebens. In der Selbst-Verdoppelung bewahrt sie sich das, was - nach außen getragen - zerstört worden wäre. Diesen bewußten Verzicht auf versöhnende Vorbilder und vollendete Utopien meint auch Julia Kristeva, wenn sie davon spricht, daß »eine weibliche Praxis negativ sein muß, um sagen zu können, daß es dieses nicht ist und daß dies noch nicht ist« oder: »Das Sagen des Nicht-Seins.«[68]
Auch die Sprache, die wir erlernt haben, ist für ein solche negative Praxis ungeeignet, wie die Sprachlosigkeit (der ungeschriebenen Literatur von Frauen) und die Geschwätzigkeit (der in Massen von Frauen produzierten Trivialliteratur) bezeugen. Unsere Sprache ist gelernt von den Vätern - und Müttern. Die Institution 'Vater' aber und die Reproduktion der 'Mutter', wie sie seit über 200 Jahren von den Frühaufklärern bis zu den Ideologen einer bürgerlichen Familienpolitik in einem unendlichen Diskurs besprochen/beschworen werden, sind Grundfesten des Patriarchats. Für die Sprache gilt das gleiche wie für den Blick. Da es sie 'nicht mehr' und 'noch nicht' gibt, die 'weibliche Sprache' nämlich (nicht mehr die anmutige, tugendhafte und noch nicht die befreite, eigentliche), womit kein neues Vokabular gemeint ist, wie oftmals angenommen wird, werden wir uns darin üben müssen, die erlernte Sprache mit Genauigkeit und Wachsamkeit für ihre sichtbaren und verborgenen Fesseln zu benutzen, Wachsamkeit vor allem für die Bedeutung von Sprachmustern, literarischen Figuren und Gattungen.[69]
Schreiben/Literatur als Raum, sich über die Doppelexistenz auszudrücken, auszutauschen, um das Leben als Spiegelung männlicher Projektionen abzuarbeiten und Befreiung zu erproben, um eine Sprache zu finden für eigenes Begehren und Wünschen; dazu taugen die vorfindbaren Konzepte, vor allem die der großen Gattungen nicht, allerhöchstens in gebrochener, paradoxer Verwendung ihrer Muster.[70]
11. Weiblichkeit in der Schrift - und wo bleibt die Frau?
Die Verlagerung des Interesses in der feministischen Theorie von Aussagen über 'Mann'/'Frau' zu Momenten von 'Weiblichkeit' in der Schrift ist Luce Irigaray und Helene Cixous gemeinsam.
»Denn ebensowenig wie es mir darum geht, aus der Frau das Subjekt und Objekt einer Theorie zu machen, kann das Weibliche subsumiert werden unter irgendein Genre: die Frau. Das Weibliche läßt sich mit keinem Eigensinn, mit keinem Eigennamen, keinem Begriff, auch nicht der Frau bezeichnen.«[71]
Das 'Weibliche' bedeutet mehr als die 'Frau'. Daraus folgt das Anliegen Luce Irigarays, der es nicht mehr darum geht, »eine Theorie der Frau zu machen, sondern dem Weiblichen seinen Ort in der Differenz der Geschlechter zu besorgen.«[72] Ihre Methode, den 'Ort des Weiblichen' wiederzufinden, besteht in der Durchquerung der Diskurse, der philosophischen und psychoanalytischen (s. ihr Buch »Speculum« als Durchquerung der Freudschen Theorie und deren Kritik), in welchen sich im Innern das 'Weibliche' als Mangel, als Fehler definiert findet. Diese Durchquerung geschieht allerdings - gegen das Modell des »Onto-Theo-Logischen« gerichtet - im weiblichen Stil:
»Dieser 'Stil' oder diese 'Schrift' der Frau legt vielmehr Feuer an die fetischisier-ten Worte, die angemessenen Terme, die wohlkonstruierten Formen. Dieser Stil privilegiert nicht den Blick ... Die Gleichzeitigkeit wäre ihr 'Eigentliches' ..., das niemals in der möglichen Selbst-Identität irgendeiner Form innehält. Immer flüssig ... Ihr 'Stil' widersteht jeder fest gefügten Form, Figur, Idee, Begrifflichkeit und läßt sie explodieren.«[73]
Die Durchquerung, Befragung und Zerrüttung des Diskurses sei notwendig, weil im Innern der Modelle und Gesetze, der Systeme der Repräsentation, die als Selbstrepräsentation eben nur des männlichen Subjekts funktionieren, der Ausschluß des Weiblichen stattfindet. Ziel sei letztlich die Destruierung der Funktionsweise des Diskurses.[74]
In den nach Irigaray zitierten Merkmalen des 'Weiblichen' bestehen viele Bezüge zu Helene Cixous' Aussagen: die Nähe des 'Weiblichen' zum Fließen, zum Körper, zum Rhythmus, das Formlose eines weiblichen Textes ohne Anfang und ohne Ende, die Nähe zum Gefühl und zur Berührung. Für Cixous sind dies Merkmale einer »weiblichen Ökonomie«, die von ihr als Gegensatz zur »männlichen Ökonomie«, zum Symbolischen, Philosophischen und zum Diskurs beschrieben wird. Die Frau ist wie das Unbewußte aus der männlichen Ordnung verdrängt.
Ohne den Umweg über die Durchquerung der Diskurse kann deshalb nach den Vorstellungen Cixous' die Frau im Schreiben das Verdrängte hervortreten lassen.[75] Insofern trügen die Frauen die Möglichkeit zu einem positiven Programm in sich:
»Es müßte also so sein, daß die Frau beginnt, ... ein Begehren vorzutragen, ... das mit dem Kalkül brechen würde, in dem 'ich niemals verliere, außer um mehr zu gewinnen' ... um sich alles das, was es an Arbeit der Negativität gibt zu sparen und die Arbeit eines Positiven sich ereignen zu lassen, das sich bezeichnen wird als das lebende Andere, als das gerettete Andere, als das Andere, das nicht von der Zerstörung bedroht wäre. Die Frauen haben etwas an sich, das dieses Überleben und dieses Beleben des Anderen, der Andersartigkeit in ihrer Unversehrtheit, organisieren könnte.«[76]
In diesem Programm steckt der Versuch, das mit dem weiblichen Geschlecht aus der Kultur ausgeschlossene 'Andere' zu revitalisieren. Hierbei ist der Text Wunschobjekt, in ihn wird die 'Weiblichkeit' eingeschrieben: Kontinuität, das Unbewußte, der Rhythmus, das Archaische. Wenn diese Beschreibung des 'Weiblichen' richtig ist, dann scheint den Pädagogisie-rungsprogrammen solcher Philosophen wie Kant, Fichte und Rousseau die beabsichtigte Geschlechtsrollenpolarisierung offensichtlich gelungen zu sein:
»Es ist sozusagen Aufgabe der Frauen, die Moral auf dem Wege der Erfahrung zu finden, an uns ist es, sie in ein System zu bringen.«[77]
Bei Rousseau, in seiner Entgegensetzung von Bewegung und Abstraktion, ist das 'Weibliche' minder, bei Cixous und Irigaray dagegen höher bewertet, dies allerdings nicht in einer einfachen Umkehr der Normen, sondern mit der Absicht, die Dichotomie überhaupt aufzuheben, das System durch den Fluß quasi von unten auszuhöhlen. Weiblichkeit ist damit das eigentliche Ziel für beide Geschlechter. Jetzt wird nämlich nicht mehr dem Mann das 'Männliche', und der Frau das 'Weibliche' zugeordnet, sondern 'Weiblichkeit' kann von Mann und Frau wiedergefunden bzw. hervorgebracht werden. Also nicht mehr der alte Traum von der Androgynität, d.h. von der Vermischung von Merkmalen, unabhängig vom biologischen Geschlecht, sondern die Feminisierung der Kultur ist als Perspektive dieser Theorie eigen.
Obwohl die Thesen Cixous' und Irigarays eine Fülle von Einsichten über die Frau in der männlichen Ordnung enthalten und sich mithilfe ihrer Thesen wichtige Beobachtungen an Texten eröffnen, sehe ich - vor allem in der Rezeption und Anwendung ihrer Thesen - einige Gefahr. Die fehlende historische Differenzierung dessen, wie die Frau nach männlichem Wunsch (vgl. z.B. Rousseau) sein soll, wie sie ist und wie sie sein könnte, d.h. die fehlende Unterscheidung von Frauenbild, Frau und Utopie, birgt schließlich doch die Gefahr in sich, daß das 'Weibliche' als »ewig Weibliches« festgeschrieben wird, während in einer Revision der männlichen Ordnung sich das Männliche am Stoff des Weiblichen gesundet - ein alter Traum übrigens, der sich schon bei Schlegel, Kleist, Flaubert, Marcuse u.a. findet. Der konstatierten Verwandtschaft von Sinnlichkeit, Poesie und Weiblichkeit folgt die Zusammenführung des Wunschobjektes Frau mit dem Wunschobjekt Text, indem sich der Mann im Text als Frau phantasiert - das ist die friedliche Koexistenz von Weiblichkeitswahn und Frauenhaß.[78]
Ein Beispiel für die Anwendung von Irigarays Thesen aus der Kleist-Forschung: Lilian Hoverland [79] diskutiert weibliche Momente in Kleists Literatur und entdeckt eine ganze Reihe der von Irigaray als weiblich charakterisierten Merkmale in seinen Texten. Diese Beobachtung, welche diejenige Richtung der Kleist-Forschung fortschreibt, welche im Werk Auswirkungen der Bisexualität bzw. Geschlechtsdiffusion des Autors interpretiert, übersieht aber, daß diese als weiblich identifizierten Züge mit einem Personal an Frauenfiguren gestaltet werden, die zur Reproduktion des gespaltenen bürgerlichen Frauenbildes beitragen.
Kleist hält seine Heldinnen in der Unvereinbarkeit von Wissen/Bewußtsein und Sexualität gefangen, welche der Diskurs über die 'Unschuld' für Frauen unweigerlich nach sich zieht: Die Marquise gibt sich »bewußtlos« hin, wieder bei Bewußtsein will sie dann nichts mehr wissen. Käthchen folgt somnambul dem Grafen, den sie liebt, ohne es zu begreifen. Penthesilea verschlingt im Rausch ihren Geliebten/Gegner Achill und weiß nachher - träumerisch abwesend - nichts mehr davon. Käthchen als jungfräuliche Unschuld, Penthesilea als Rasende, die Marquise als Verführerin und Opfer zugleich - diese Heldinnen werden zudem von ihrem Schöpfer im Spiel mit der konkreten und übertragenen Bedeutung der Sprache den Lesern(innen) vorgeführt. Mithilfe einer solchen Zweideutigkeit der Sprache funktioniert ein kompliziertes Kontrollsystem, das vor allem über die Verunsicherung der Frau als Bezeichneter wirkt.[80] Die Zweideutigkeit im Blick des Mannes auf die Frau und in seiner Sprache über sie korrespondiert mit ihrem Gefühl der Ambivalenz bzw. Gespaltenheit - was sich z.B in der verschwiegenen Rezeption, vor allem bei weiblichen Lesern, der »Marquise« deutlich zeigt. Meines Erachtens führt die Entdeckung 'weiblicher' Momente in der Literatur von Männern nicht weit, zumal deren theoretische Voraussetzung - Freuds These von der Bisexualität des Menschen, vom Vorhandensein 'weiblicher' und 'männlicher' Eigenschaften in beiden Geschlechtern - eine problematische Verwendung des Begriffspaares weiblich/ männlich enthält. In der gut gemeinten Absicht, die Geschlechtsrollen von ihrer biologischen Bestimmung zu lösen, werden hier Vorstellungen einer Geschlechterdichotomie viel fundamentaler und weitreichender festgeschrieben, weil sie als soziale Geschlechtsrollen verewigt werden. Jeweils ein ganzes Bündel spezifischer Merkmale wird unter einem Begriff subsumiert und zusammengeschmiedet, so daß in Anlehnung an die bürgerliche Geschlechterdichotomie doch wieder der Gegensatz 'männlich' (aktiv, rational etc.) und 'weiblich' (passiv, emotional etc.) aufersteht, nur daß es jetzt 'männliche' Frauen und 'weibliche' Männer geben kann. Welch einFortschritt!
Sinnvoller schiene es mir, umgekehrt die Wörter 'Mann' und 'Frau' beizubehalten - schließlich geht es um die lebendigen Individuen, die damit bezeichnet werden - und über ihre Merkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen als konkrete zu sprechen und nachzudenken. Erst so wäre beispielsweise eine Koppelung von zwei einzelnen Eigenschaften aus den so unvereinbar im Begriff fixierten Gegensätzen, etwa von aktiv und emotional denkbar, ohne daß dies als 'verrückt' normativ ausgegrenzt wäre. Erst so auch würde es möglich, im bürgerlichen Diskurs das als männlich definierte Vermögen im einzelnen zu befragen und es nicht in Bausch und Bogen zu verwerfen. Insofern möchte ich das Nachdenken über die Frau in feministischer Theorie und Poesie rehabilitieren - gegen Cixous und Irigaray, in deren Thesen eine gewisse Mystifikation des Weiblichen mir Unbehagen bereitet, so sehr ich ihre Kritik an solchen Theorien teile, die 'die Frau' als neuen Gegenstand alter Diskursstrukturen konstituieren.
Um sich aus der Existenzweise als 'anderes' Geschlecht zu befreien, brauchen die Frauen alle ihre Sinne, ihren Verstand und ihr Gefühl. Sie müssen vor allem neue Wahrnehmungs- und Äußerungsweisen finden. Wahrnehmungen, das sind Sinneseindrücke, die begreifen, urteilen, aktiv sind; z.B. der Blick.
In strukturalistischer Tradition wird bei Irigaray der Blick dem männlichen System, dem Begrifflichen, Benennenden, Individuierenden, der Metapher zugeordnet, während die Frau eher mit dem Gestischen, Metonymischen, Assoziativen verbunden wird:
»In dieser Logik [der des Abendlandes, d.Verf.] ist besonders der Vorrang des Blickes und der Absonderung der Form, der Individualisierung der Form, einer weiblichen Erotik fremd. Die Frau genießt mehr durch das Berühren als durch den Blick.«[81]
Wichtig ist hier m.E. der Hinweis, daß die Frau sich hüten sollte, sich von ihrer assoziativen, an Erfahrung gebundenen Wahrnehmung zu entfremden. Nur hat dieses an ihren Alltagsrhythmus gebundene Bewußtsein auch dazu beigetragen, daß die Frau in ihrer Lage verharrt, die zu begreifen, auch metaphorisch zu durchdringen, ein wichtiger Schritt zur Veränderung sein wird. Statt auf den Blick zu verzichten, wird die Frau ihr Auge schärfen müssen - nicht die Brille des Mannes aufsetzen, aber sie wird ihren eigenen Blick, einen aktiven, nicht-voyeuristischen Blick entwickeln müssen. Die sich selbst verdoppelnde Frau, der die Frau zum lebendigen Spiegel wird, in dem sie sich verliert und wiederfindet (Lenk), braucht m. E. ein wachsames Auge, um die Sprache der anderen Frau, die Beredsamkeit ihres Körpers, ihres Schweigens und ihrer Gesten zu verstehen.
M. E. ist der von Irigaray vorgeschlagene Weg, die Durchquerung der Diskurse, nicht der geeignetste. Es gibt andere, vielleicht weniger dornige und verzweigte Wege der Suche, verschiedene Wege, je nach dem Ausgangsort der einzelnen Frau, die vielleicht zu einem kollektiven Ort zusammenführen können.
Für die Literatur gibt es z.B. den analytischen Weg, der die Herstellungswege des Weiblichen in der Literatur von Männern zu begreifen sucht, um die Muster und Bilder - diese ewig wiederkehrenden, sich gleichenden Bilder des Weiblichen - zu erkennen, einen Weg, der den Frauenbildern auf die Schliche kommt und sie entzaubert.[82]
Und es gibt die Literatur von Frauen, die diesen (begrifflichen) Umweg nicht geht. Denn weil die Frau traditionell das 'Weibliche' verkörpert, erfährt und erlebt sie sich ja als (im Diskurs bloß definierten) Mangel, als das 'andere Geschlecht'. Der Weg, diese Erfahrung beschreibend und begreifend auszudrücken, ist eine Suche nach dem Schreiben und Leben der Frau als eigentliches Geschlecht - nicht schon die Möglichkeit/das Resultat.
Die Utopie von der Frau als 'eigentliches' Geschlecht beinhaltet nicht - in Umkehrung patriarchalischer Verhältnisse - den Anspruch, einziges bzw. übergeordnetes Geschlecht zu sein, sondern lediglich, daß die Frau nicht mehr in Abhängigkeit vom Mann definiert wird, sondern sich autonom begreift und erlebt und Erfahrungen mit sich selbst und anderen als originäre, und nicht als abweichende betrachtet. Mit der Verwandlung der Frau vom 'anderen' zum 'eigentlichen' Geschlecht brauchte sie sich, ohne dem Manne nachzueifern, nicht mehr als Mangel zu identifizieren.
Daß in der Rede über das 'Weibliche' bei Cixous und Irigaray diese Differenz zwischen der Frau als 'anderes' und als 'eigentliches' Geschlecht nicht klar erscheint, darauf zielt meine Kritik ihrer Theorien. In dieser Differenz besteht der Unterschied zwischen dem Bestehenden, das kritisiert wird, und der Utopie einer Befreiung. In der Analyse des weiblichen Ortes in der männlichen Ordnung stimme ich mit ihren Aussagen überein, während ihre programmatischen Aussagen für eine weibliche Praxis mir sehr problematisch erscheinen, vor allem die Verengung weiblicher Praxis auf Schreiben (Cixous) und die Annahme eines darin schon enthaltenen positiven Programmes. Beim Aufschreiben ihres Unbewußten, beim Aufschreiben aller Ängste und Wünsche - auch der ganz regressiven Träume nach Unselbständigkeit etwa - stößt die Frau auf die Fülle der Bilder in sich, auf ein heilloses Durcheinander von Trugbildern und Auf-Begehren. In der schreibenden Durchquerung dieser Bilder (wie im lebendigen Ausagieren) kann die Frau sich von den Bildern befreien und zu einer eigenen und eigenständigen Betrachtung ihrer selbst, der Kultur und der Gesellschaft kommen.
IV
12. (Zeit) Geschichte und die Geschichten der Frauen
Daß die Fähigkeit zum schielenden Blick unter Voraussetzungen, die befreite Augen (noch) nicht zulassen, nicht nur den Blick für die Fallen der Frauenbilder schärft, sondern ebenso vor der Verwässerung politischer Wahrnehmung schützt, läßt sich an verschiedenen Reaktionen von Frauen auf die Revolution 1848 studieren.
Fanny Lewald, deren Abhängigkeit von patriarchalischen Mustern oben behauptet wurde, kann mit den Revolutionsereignissen nur in traditionell weiblicher Manier umgehen. Sie wählt die »Guckkasten«-Perspektive zur Betrachtung der politischen Ereignisse auf der Straße; ihr Platz ist im Innern des (Minister) Hauses, den sie durch ihr Renommee als Schriftstellerin erlangt hat. Dieser Einblick hinter die Kulissen politischer Diplomatie verhilft ihr jedoch nicht zu mehr Einsicht: wie guten deutschen Bürgern auch, bereitet ihr der Anblick demonstrierender Frauen äußerstes Unbehagen.[83]
Louise Aston dagegen begibt sich mitten in die Ereignisse und verschafft sich Durchblick. Ihre Analysen der politischen Lage, wie sie aus ihrer Zeitschrift »Freischärler« (November/Dezember 1848, Berlin) und ihrem Revolutionsroman sprechen, sind treffend. Ihre Wachsamkeit für die so früh wieder einsetzende Reaktion ist ebenso scharf wie für die Täuschungen der Frauenbilder. Das macht sie allerdings zu ihrer Zeit doppelt einsam: weder in der politischen Landschaft noch in der Frauenbewegung findet sie ihren Ort.[84]
Ich möchte jetzt einen zeitlichen Sprung in den ausgewählten Textbeispielen machen und im folgenden einige Publikationen aus der Gegenwartsliteratur interpretieren, um die Brauchbarkeit der historisch gewonnenen Überlegungen einer feministischen Literaturkritik für die aktuellen Probleme weiblichen Schreibens zu demonstrieren.
»Ich habe mir eine Geschichte geschrieben« - im Titel von Inga Buhmanns Buch wird das eins, was sonst als Getrenntes beschrieben ist: die Geschichten, die Frauen aus ihrem Leben erzählen, und die von Männern gemachte und geschriebene Geschichte. Doch der Text, den Inga Buhmann veröffentlicht hat, gibt nicht vor, diesen Gegensatz versöhnen zu können. Im Gegenteil: das Buch handelt von den Brüchen, von den Rissen, davon, wie Privates eben gerade nicht politisch wurde, und davon, wie Politisches das Private entfremdete. Die Dissonanz zwischen dem Rhythmus der Zeitgeschichte, an der die Autorin teilhatte (1940 geboren, Schulzeit auf dem Lande in den Fünfzigern, dann Studium und anti-autoritäre Vor-68er und Nach-68er-Bewegung), und dem ihrer subjektiven Entwicklung, welche dem Buch eingeschrieben ist, zerstört alle Erwartungen, die sich auf eine Autobiographie richten.
Das Buch setzt sich zusammen aus authentischen Dokumenten, vor allem Tagebucheintragungen und Briefen, aber auch kollektiven Texten wie Flugblatt und Zeitung, die in einer lebensgeschichtlichen Chronologie geordnet und von einem kommentierenden, in der Jetzt-Zeit (1975/76) aufgeschriebenen Text der Autorin eingerahmt sind.[85] Die Veröffentlichung des Privaten ist in dieser radikalsten Form literarischer Subjektivität tatsächlich politisch, d.h. Geschichte ist im Innern der persönlichen Aufzeichnungen aufspürbar - facettenhaft, nicht als Kontinuum.
Gedanken und Bilder aus Gelesenem (Sartre, Gombrowicz, Artaud, Marx, Genet, Nietzsche u.a.), Erlebnisse, Gepräche und Berührungen mit Menschen (mehr Männern als Frauen), auch mit Umgebung, verschaffen sich langsam sickernd, oft redundand kreisend, manchmal aber auch explosionsartig Raum in den Texten, ergreifen auch vom Körper der Schreibenden Besitz, markieren manchmal sanfte, oft abrupte Richtungswechsel ihres Lebensweges. Psychiatrie, Krankenhaus, Selbstmordversuch sind Stationen in dieser Lebensgeschichte ebenso wie emphatische Glücksmomente, entgrenzende Reisen und harte politische Arbeit in der »Basisgruppe Spandau«, permanent begleitet von Lektüre, die keine Distanz zum Leben zuläßt, und ständig auch schreibend gespiegelt. Die Jetzt-Schrei-bende versucht nun nicht, mithilfe rückblickender Erinnerungsarbeit aus dem vorhandenen Material die Geschichte einer kontinuierlichen und episch beschreibbaren Entwicklung zu gestalten, aus der das heutige 'Ich' sich als (ausgebildetes herleitete und erhellte. Das damalige 'Ich' und das rückblickende 'Ich' werden nicht versöhnt. Häufig steht die Autorin ihren eigenen früheren Texten fremd gegenüber. Buhmanns Schreibweise scheint einer Vorstellung Cixous' zu folgen:
»Das Erlauben der Brüche, der 'Ausflüge' (parties), der Teilungen, der Trennungen ... von wo aus man bricht mit dem auf-sich zurückkommen, mit der Spiegelung, die die Einigung, die Identifikation des Individuums organisiert. Wenn eine Frau in der Nicht-Repression schreibt, läßt sie ihre Anderen hervortreten, ihre Menge von Nicht-Ich/s.«[86]
Inge Buhmanns Buch setzt sich nicht der Repression einer Form aus, deshalb braucht sie das andere, ihr fremdgewordene nicht zu töten. Das Buch steht im Gegensatz zu den z.Zt. beliebten, aber problematischen Versuchen von Frauen, ihre Lebensgeschichte im Muster eines von Männern entwickelten Genres zu schreiben: Autobiographie und Entwicklungsroman, denen ein bestimmtes Modell der Persönlichkeitsentwicklung zugrunde liegen, das Modell eines Individuums, das sich im Austausch mit Gesellschaft (aus) bildet und durch seinen Status - sei es als männlicher bürgerlicher Held oder als proletarischer Klassenkämpfer - per se gesellschaftliche und geschichtliche Bedeutung hat. Wenn Frauen nun ihre Geschichte schreiben, reicht es nicht, wenn sie durch die historische Ortung ihrer eigenen Erlebnisse Bedeutung von der großen Geschichte leihen. In Gegenüberstellung von Anja Meulenbelts »Die Scham ist vorbei« und Christa Wolfs »Kindheitsmuster« haben Jutta Kolckenbrock-Netz und Marianne Schuller autobiographische Schreibweisen von Frauen untersucht. Am Beispiel der Umgangsweise mit dem 'Ich', dem erinnerten und dem erinnernden, stellen sie bei Meulenbelt fest:
»... doch drängt sich in den Metaphern und den wiederkehrenden Klischees feministischer Weiblichkeitstopoi stets der spätere Standpunkt auf, der einer der Wahrheit ist und des Zieles.« - »Die Autobiographie der Anja Meulenbelt zeichnet sich durch ein illusionär-ideologisches Totalitätskonzept aus, das das 'weibliche Subjekt' als neue Heroine formuliert.«[87]
Gegenteiliges gelte für Christa Wolf, deren »Kindheitsmuster« sie als Subversion des autobiographischen Genres lesen, welche sich über die »Aussparung der für das Genre konstitutiven Ich-Form« hervorbringe:
»Widersprüchlich den zeitlichen Erzählfluß aufsprengend ... wird auch das autobiographische Subjekt in seiner Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit hervorgebracht, dem die grammatischen Formen der zweiten und dritten Person korrespondieren. Der blinde Fleck aber bleibt das Ich, bleibt die erste Person. Gerade aber indem das Ich ausgespart bleibt, wird es als Sehnsucht eingebracht. In der Subversion des autobiographischen Schreibens kommt die unstillbare Sehnsucht zur Sprache, hinter die Spiegel zu gelangen, aus denen uns das autobiographische Trugbild unserer Geschichte und unserer Subjektivität entgegenkommt.«[88]
Inga Buhmann verwendet das autobiographische Genre in paradoxer Verfahrensweise. Sie läßt den für sie selbst Geschichte gewordenen Texten mehr Raum als der Erinnerungsarbeit. Unmittelbarkeit der Tagebuchaufzeichnungen und nüchterne Distanz der montierenden Kommentare bilden einen Steinbruch für Geschichte, in dem sich die verschiedensten Farben und Materialien nebeneinander befinden. Das Buch ist kein Text über Frauen, es ist die Geschichte einer Frau in der Form aufgeschriebener Gedanken und Empfindungen. Die Tagebuchaufzeichnungen darin kommen wohl dem am nächsten, was Cixous meint, wenn sie davon spricht, daß eine Frau »sich schreibt«[89], oder auch dem Sinn von Irigarays »Frau Schreiben«.
Aber Buhmanns Fragmente zeigen auch die Ambivalenz eines solchen Schreibens: Schreiben als narzißtische Bewegung, und Schreiben als Rückzug und Widerstand/Bewahrung:
»Schreiben ist eine ambivalente Bewegung. Schreiben trennt, isoliert, zieht sich zurück. Es besteht die Gefahr des Elfenbeinturmes. Aber es gibt auch die Notwendigkeit, einzuschreiben, um dem Tod, dem Auslöschen, dem Schweigen Widerstand zu leisten.«[90]
Für diese Art des Schreibens ist nicht immer Platz im Leben einer Frau, wie Buhmanns Geschichte zeigt. Ließe man nur diese Art des Schreibens als 'Frauenliteratur' gelten, gäbe es viele Leerstellen in ihrer Geschichte, Phasen, die so lebendig (oder aber so tot) waren, daß sie für den Narzißmus eines solchen Schreibens nichts hergeben. Während der Zeit, in der Inga Buhmann sich am einheitlichsten erlebt hat, während der handlungsintensiven Jahre in Berlin, schweigt ihr Tagebuch:
»Wenn die politische Gesamtsituation nicht so desolat gewesen wäre, könnte ich diese Zeit als eine betrachten, in der ich auf den verschiedensten Ebenen mit mir selbst identisch sein konnte. Ich brauchte mich weder als Intellektuelle, noch als Frau, noch als 'Basisarbeiterin' verleugnen. Ich konnte in einem kurzen Moment das alles zusammenbringen.«[91]
Doch bald darauf wurde fühlbar, daß auch diese Erfahrung einen Mangel in sich barg: es fehlte Ruhe - z.B. die Ruhe des Schreibens. Die Geschichte des Buches endet, als die »Neue Frauenbewegung« noch in ihren Anfängen steckt. Sicher aber wurden die Ausschnitte aus der Perspektive gelebter Frauenbewegung ausgesucht. Anders aber als viele literarische Dokumente der Frauenbewegung, feministische Tendenzliteratur, die sich im Leben als Opfer einrichtet und dieses zelebriert,[92] enthält das Buch von Buhmann eine Durchquerung der Orte des Weiblichen, und zwar nicht im Innern der Diskurse (Irigaray), sondern im Innern und am Körper einer Frau, die sich selbst als lebendige Verkörperung des 'Weiblichen' in diesen Diskursen erlebt. Bis an die Grenze des Lebbaren, manchmal über die Grenze hinaus, hat die Autorin der Tagebücher Frauenbilder erprobt. Dieses Buch, das auf den ersten Blick gar nicht als 'Frauenliteratur' erscheint, spricht im Kern vom Erleiden der Spaltungen und des Mangels in den gelebten Bildern. Das Bild der Madonna, der Mutter, der Heiligen, die totale Autonomie (und Einsamkeit) einerseits und die vollständige Hingabe (und Unterwerfung) andererseits, intellektuelle Askese und Rausch, alle Möglichkeiten werden durchlebt. Alles Gelesene wird wörtlich genommen, dem Dogma von der »Vereinigung von Kunst und Leben«[93] folgend, gelebt - und desillusioniert. So wird z.B. die Faszination, die von der Rolle des »Narren« ausgeht, in den Aufzeichnungen über das Leben in der Psychiatrie entzaubert:
»Meine Liebe, denke daran, du bist augenblicklich in deine Urheimat eingekehrt, ins Narrenhaus und bist hier zum ersten Mal durch fatale Umstände dazu gezwungen, vernünftig zu sein.« (S.83)
Die Lektüre von Poesie und Philosophie dient der bemühten Suche nach Sinn und nach dem 'anderen', dem Verdrängten. Bei dieser Suche trifft sie zunächst auf die geläufigsten Muster des 'anderen': auf Frauenbilder. Die Auseinandersetzung mit den Frauenbildern Madonna, Mutter und Hure durchziehen weite Passagen der Tagebuchausschnitte. Der gelebte Umgang mit den Bildern ist nicht ohne Risiko, vielleicht aber wirkungsvoller als manche Gratwanderung eines Emanzipationsversuches, bei dem unter Umgehung von Abweichungsgefahrenzonen auf Erfahrung verzichtet wird. Vor allem die Paris-Kapitel des Textes belegen exemplarisch eine solche Durchquerung eines Bilde, dem Bild der Geliebten, der Muse, der Un-dine. Am Anfang steht das Gefühl, »wie eine lebendige Tote« (S.126) zu leben, dem Bild des »deutschen Gretchens, naiv-treuherzig, voller Liebe, Zärtlichkeit, Hingabe, etwas tumb-passiv, eben rührend« zu entsprechen (S.129). Dem folgt die gewünschte Entgrenzung in der Rolle der Geliebten, der »Verkörperung von Freiheit und Leidenschaften« (S.119) bis zur Erfahrung, »ganz Objekt zu sein« (S.135) - und dann schließlich die Zerstörung dieses Bildes.
»Ich wollte nicht länger eine Mystifikation sein. So packte ich in einem Gewaltstreich Kunst, rituelle Begegnungen, Traumlandschaften in die Dunkelkammer, rettete sie sozusagen vor der Helligkeit und wandte mich eher verächtlich als begierig der 'äußeren Wirklichkeit' zu. Politik war für mich lange Zeit ein notwendiger Kompromiß mit der Realität.« (S.156)
»Undine geht«[94] ... und bricht auf in die Welt der Männer, in die Politik. Aber aus der Nüchternheit wird bald Leidenschaft, wie das Engagement und die Intensität belegen, mit der Inga Buhmann auch das Bild der »Genossin« durchlebte.
»Man befreit sich von einer Sache nicht, indem man sie vermeidet, sondern indem man durch sie hindurchgeht.«[95]
Dieses Motto, das dem Tagebuch aus dem Jahre 1965 vorangestellt ist, könnte der ganzen Geschichte als Leitmotiv dienen. Das Verfahren des Hindurchgehens erinnert an Helene Cixous' Vorhaben, wie sie es in einer Seminarankündigung formulierte:
Sie wolle über die »Weisen arbeiten, wie aus dem 'Transfert' (der Übertragung) ein 'Transpere' (ein Vater-Transit) wird, arbeiten über ihre [der Frau, d.Verf.] ausschweifenden Auswege aus dem Netz der Massenmedien und aus der Gesellschaft der Blendwerke, dieser Bildschirm-Druckerei, uns vorarbeiten auf den Gleisen ihres 'transfaire' (ihres Übergangs) hin zu den Orten, wo sie sich in fröhlicher Arbeit als Frau und als Fortschreitende erleben kann, falls sie in der Realität will, was sie wirklich will.«[96]
Hier verweist Cixous auf einen Weg, den Buhmann literarisch dokumentiert hat und der die Frau, von ihrem Objektstatus für männliche Projektionen ausgehend, durch die männliche Ordnung hindurch zu ihrer eigenen Kultur führt. Das Ziel ist nicht erreicht, aber in der Richtung, die beschritten wird, als Utopie anwesend. Die Umwege wären nur dann Irrwege, wenn sie nicht als 'Transit' begriffen würden, wenn die Frau sich in ihrer Entwicklung mit der Eroberung männlicher Räume begnügte.
Der Struktur nach gleicht der den biographischen Aufzeichnungen Buhmanns innewohnende Weg des Hindurchgehens dem widerspruchsbewußten Umgang Louise Astons mit den Frauenbildern, die - allerdings in dem konventionellen Genre des Romans und somit in fiktiver Form - die Pole des gespaltenen Frauenbildes für ihre Figuren erprobte. Indem ihre Gestalten die Rollen der 'Jungfrau' und 'Hure' durchlebten, gelang ihr die Entzauberung des bürgerlichen Frauenideals, welche sie frei machte zum Entwurf einer neuen Frau, die sich keiner Reduktion unterwirft. Wenn auch der dritte Roman Louise Astons über Alicens Abenteuer im Revolutionsjahr 1848 einige reale Grenzen poetisch überschreitet, die einer Frau ihrer Zeit gesetzt waren, während Inga Buhmann ihre Erlebnisse schreibend begleitet hat, so ist doch beiden Texten gemeinsam, daß sie weibliche Lebensgeschichte und Zeitgeschichte verbinden, d.h. punktuell die Geschichte mit den Geschichten einer Frau verschmelzen.
13. Krankheitsberichte von Frauen -
Die Zerstörung des schönen Bildes
Aufzeichnungen, in denen Frauen über ihre »Krankheit« berichten, zeigen, daß die Zerstörung der Frauenbilder nicht selten über die Beschädigung der sie verkörpernden Frauen erfolgt. Am Körper der Frau, dem Repräsentationsort von 'Weiblichkeit', wird die Ent-Täuschung notiert. Mit der Geschwätzigkeit des hysterischen, magersüchtigen oder depressiven Körpers verschafft sich die Frau, die in der männlichen Ordnung zum Schweigen verurteilt ist, Gehör. Diese Rede ist nicht ohne Ziel, auch wenn sie häufig (zunächst) ins Nichts führt. Es ist auffällig, daß die Heilung (bzw. Besserung der Krankheit im psychiatrischen Sinne, d.h. das Abklingen der akuten Krankheitssymptome, vielfach bei der Betroffenen ein Gefühl der Leere zurückläßt.
»Ganz nicht, ganz im Nichts. Das bin ich - das ist eins, mein Körper, mein Geist.«[97]
Maria Erlenberger, die dies im Zusammenhang ihrer Entlassung aus der Psychiatrie aufschreibt, berichtet in »Der Hunger nach Wahnsinn« über ihre Magersucht. Am Beispiel der Magersucht läßt sich der Zusammenhang von 'Weiblichkeit' und Krankheit am sinnfälligsten studieren. Psychiater gehen davon aus, daß magersüchtige Frauen und Mädchen sich weigern, Frau zu sein. Wenn man in dieser Deutung das Wort Frau in Anführungszeichen setzt, Magersucht also als Verweigerung der Frauenrolle, d.h. der Norm von 'Weiblichkeit', als Auflehnung dagegen, das Frauenbild lebend verkörpern zu müssen, liest, erst dann ist der Zusammenhang richtig hergestellt. In der Summe psychischer »Krankheiten«, die bei Frauen signifikant häufiger auftreten als bei Männern, kann die Magersucht als Symbol für die Geschlechtsrollen-Verweigerung betrachtet werden; die magersüchtige Frau zerstört das schöne Bild an sich selbst, indem sie es sich buchstäblich vom Leibe schafft. Insofern kann die Krankheit als ambivalente Herstellung einer Leerstelle gelesen werden, positiv im Moment des Abstreifens eines Bildes, das als fremd und unerträglich empfunden wird, und als erlittene Möglichkeit, sich neu zu schaffen, negativ aber im Moment der selbstzerstörerischen Form dieses Prozesses.
Im Hinblick auf das herrschende Frauenbild ist die Magersucht Verweigerung in Form von Übererfüllung und Protest zugleich. Das Ideal der schönen, schlanken, begehrenswerten Frau wird übertrieben erfüllt. Mit leiser Ironie stellt Erlenberger dies, sich selbst betrachtend, fest:
»Ich schlug die Beine übereinander. Diese schmale Stellung entsprach meiner Körperlinie. Als ich noch ein junges Mädchen war, hatte ich dicke Oberschenkel, und das Übereinanderklappen der Beine funktionierte zu meinem Leidwesen nicht ganz so mühelos, wie es aussehen sollte. Ich fand diese Stellung damals sehr elegant und freizügig. Ich hatte jetzt keine Mühe mehr, elegant zu sein. Ich war viel zu elegant geworden, um die damit verbundenen Vorstellungen zu erfüllen.«[98]
Während das »viel zu elegant« als Resultat auf die paradoxe Erfüllung der Weiblichkeits-Norm anspielt, entspricht die Form des Hungerns eher Männlichkeitswerten, nämlich Disziplin, Leistung und Dominanz der Vernunft, und ist als Protest gegen die hervorragende Bedeutung von Körper, Emotionalitat und Natürlichkeit im Begriff 'Weiblichkeit' zu lesen. Die Krankheit als neues - vorübergehendes - Rollenangebot wird im Hinblick auf die Frauenrolle als Befreiung beschrieben:
»Hier trennt man nicht zwischen weiblich und männlich, hier heißt der Überbegriff 'Irr' ... Hinter der dicken Mauer, hinter Gittern, hinter verschlossenen Türen, da gibt es die Freiheit vom andern Geschlecht, hier gibt es die freiwillige Einsamkeit, ohne Alternative. Im normalen Leben wird man, weil soviel auf Vorbilder gehalten wird, gezwungen, ein Ich zu seinem Ich dazunehmen. Man darf eigentlich nicht allein bleiben. Jeder zwingt sich dazu, weil er sonst nicht normal ist. Hier muß man diese Erwartung nicht erfüllen. Hier muß man die männliche und die weibliche Rolle nicht spielen. Hier ist man sich selbst Vorbild, und es sieht ein leeres Auge in ein leeres Auge und das sind zwei, die ich in meinem Gesicht habe.«[99]
Indem das »normale« weibliche Ich abgelegt wird, bleibt das Empfinden einer Leere, eines »gestaltenlosen Ich« (S.91) zurück. Der ehemals gefühlte Widerspruch zwischen den Versprechungen der 'Weiblichkeit' und der tatsächlichen Öde des weiblichen Lebenszusamenhanges wird negativ harmonisiert, wenn das Selbstwertgefühl dem tatsächlichen Empfinden angeglichen wird: Destruktion des Bildes, Ent-täuschung und Absinken der Erwartungen auf das Niveau der Wirklichkeit.
Doch zwischen dem endlosen, schmalen Frauenalltag und dem Schritt in das Selbstverständnis, krank zu sein, steht das Hunger-Unternehmen bei Maria Erlenberger als Sinn-stiftendes »Spiel«. Die Phasen, die ihr Bericht umfaßt, sind folgende: Alltag - Hungern - Krankheit/Psychiatrie - (angenommene) Leere. Das Vorhaben des Fastens muß vorerst den als leer erlebten Alltag der Erzählerin mit Bedeutung und Reglement erfüllen. Das Hungern wird im Verlaufe des Textes als »Spiel«, als »Beruf«, als »Ordnung« und »System« und als »Lebensregel« bezeichnet.
»Ich war dem Chaos entwichen und hatte eine Lebensregel für mich gefunden, mit der ich mich im Nichts zurechtfand.« (S.51) - »Ich hatte ein Gefühl. Das Hungergefühl. Es erfüllte meine langen Tage. Ich hätte sonst nach Gefühlen suchen müssen.« (S.119)
Mit dem körperlichen Zusammenbruch wird das Hungerunternehmen beendet und sein scheinhafter Sinn durch die Konfrontation mit der inneren Leere entlarvt.
Die Hervorbringung einer fehlenden Identität, die dem Text als erlebte zugrundeliegt, wird in anderen poetischen Veröffentlichungen von Frau »nur« imaginiert. Die Literatur als experimentelle Abarbeitung von 'Weiblichkeit' kann die Zerstörung des Frauenbildes in der Fiktion betreiben. Doch auch sie ist mit einer dabei zum Vorschein kommenden Leerstelle konfrontiert: die neue, befreite Frau ist noch nicht vorstellbar. Der Begriff der »authentischen Literatur«, der sich im Unterschied zu fiktionalen Texten für derartige Berichte eingebürgert hat, ist in diesem Fragezusammenhang insofern richtig, da er die Berichte einer gelebten Zerstörung von imaginierten Strategien unterscheidet. Andere Bedeutungen des»Authentischen« wie z.B. wahrhaftig, ehrlich, subjektiv u.a. stehen hier nicht zur Debatte, weil sie Wertungen enthalten, deren Grundlage nicht durchschaubar ist und die zudem auf jeden, auch fiktiven Text anzulegenwären.[100] Als authentisch bezeichne ich hier Aufzeichnungen einer Verfasserin, die Erlebnisse und Gedanken aufschreibt, die erst im Nachhinein (durch Publikation) Literatur werden. Es sind vielfach Aufzeichnungen, in denen das Schreiben für die Verfasserin eine primäre, existenzielle oder therapeutische Funktion hat. Dies trifft auf Maria Erlenbergers »Bericht« zu, mit dem sie sich beschäftigt, während sie nicht mehr hungert und diese Aufgabe durch eine neue, das Schreiben, ersetzt.
Das »Tagebuch« von Caroline Muhr, unter dem Titel »Depressionen« veröffentlicht, ist während ihrer Krankheit z.T. einziger Halt ihrer selbst und einzige Verbindung zur »Normalität«.
»Aber woran soll ich mich noch halten, wie soll ich mir noch bestätigen, daß ich ein Mensch bin, wenn ich nicht wenigstens einige der Hunderte von Impressionen mit mühsamer Klarheit auseinanderhalten und zu Satzgefügen verwandeln kann, die auch die Menschen, die draußen leben und keine Depressionen haben, verstehen würden?«[101]
Der Text Caroline Muhrs bezieht sich weniger explizit auf das Ungenügen an der weiblichen Realität. Leitmotiv ist eher die Infragestellung von»Normalität«, die sich nach ihrer Erkenntnis lediglich einem genügenden Maß an Gleichgültigkeit verdanke, welches ihr eben fehle. Implizit ist aber auch ihre Beschreibung einer Krankheit als Reaktion auf die latente Schizophrenie weiblicher Existenz zu lesen, denn die Schlüsselerlebnisse ihres Berichtes kreisen um typische Widersprüche einer »emanzipierten Frau«. Aus der 'Normalität' ihrer Vorfahren - gottesfürchtige und dem Manne gehorsame Frauen und selbstherrliche, starrsinnige Männer [102] - ist sie durch ihre akademische Ausbildung ausgebrochen, ist ihr aber durch die Lebensumstände in ihrer bürgerlichen Ehe wieder allzu nahe gekommen. In medizinischen und psychiatrischen Institutionen begegnet man ihr mit patriarchalischer Autorität und sexistischer Behandlung. In ihrer Depression wird die latente Ent-Täuschung über ihre Existenz manifest: der Widerspruch zwischen ihrem Vermögen und ihrer Praxis, und die »Schizophrenie« zweier sich »widersprechender Bewußtseins- und Bewertungsebenen«,[103] der Leidenschaft und der Ehe, nimmt in der Krankheit zuerst die Form von Verzweiflung , dann von Ohnmacht an. Die latente Schizophrenie der Frau besteht darin, daß diejenigen Momente des Weiblichkeitsmusters, die ihr moralisches Ansehen verleihen (wie z.B. Mütterlichkeit, Verständnisfähigkeit, Sozialverhalten), andererseits ihre gesellschaftliche Unterordnung begründen. Stellt sie die behauptete Inferiorität des weiblichen Geschlechts infrage und begibt sich beispielsweise in den beruflichen oder politischen Konkurrenzkampf, geht das auf Kosten ihrer 'Weiblichkeit' und menschlicher Anerkennung. Die Schuldgefühle berufstätiger Mütter sind ein beredtes Zeugnis dieses Widerspruchs. Meine These vom schielenden Blick als feministisches Vermögen antwortet auf die Tatsachen, daß dieser Konflikt hier und heute nicht auflösbar ist.
Die Krankheitsberichte von Frauen zeigen schmerzhaftere Lösungen des Widerspruchs. Maria Erlenbergers »zwei leeren Augen« fehlt dieser Blick, ihr fehlt die Utopie eines anderen Frauenlebens, auf das sie ein Auge richten könnte, sei es als Vorstellung oder als Erfahrung im Umgang und in der Kommunikation mit anderen Frauen. Phantasien über den schielenden Blick, Überlebensstrategien und konkrete Utopien haben in der Literatur, in der poetischen Sprache Raum zur Entfaltung. Die Sprache der Krankheitsberichte ist in diesem Sinne eine sekundäre Äußerungsform ihrer Autorinnen, der die primäre, die Sprache des Körpers vorausgegangen ist. Ingeborg Bachmann betrachtet Krankheit als eine der Kunstproduktion vergleichbare Aussage:
»Es gibt keine Krankheit, die nicht vom Kranken produziert wird, auch keinen Beinbruch, keinen Nierenstein. Es ist eine Produktion, wie eine künstlerische, und die Krankheit bedeutet etwas. Sie will etwas sagen, sie sagt es durch eine bestimmte Art zu erscheinen, zu verlaufen und zu vergehen oder tödlich zu enden.«[104]
Die hier besprochenen Texte zeichnen diesen Verlauf nach, brechen das Schweigen; es sind quasi zu spät geschriebene Texte, als daß sie Utopien bergen könnten, Dokumente der Desillusionierung, der Zerschlagung des Spiegelbildes und der Konfrontation mit dem verdoppelten Mangel: dem erlebten Mangel und dem Mangel eines Begehrens/Wunsches.
14. »Du wirst nicht mit deinem Ich siegen« -
Todesarten des Ich
Zum Abschluß meiner Thesen möchte ich auf eine Autorin der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eingehen, deren Texte publiziert wurden, bevor 'Frauenliteratur' als Begriff und Programm ins Gerede kam. In ihrem Roman »Malina« (1971) hat Ingeborg Bachmann eine komplexe und differenzierte Form der Gestaltung weiblicher Identitätsproblematik gefunden, die die Unvereinbarkeit von Glückssuche und Überlebensmöglichkeit nicht bloß zum Thema macht, sondern als Grunderfahrung weiblicher Existenz literarisch faßt.[105] Der Text spricht davon, wie schwierig, ja unmöglich es ist, als Frau einen Ort in der vorhandenen Wirklichkeit und in den konventionellen Erzählmustern zu finden. Dabei werden die Hinderungen und Schädigungen des weiblichen Ich im Leben wie in der Literatur in einem »Roman« zur Sprache gebracht, der dieses Ich in den Mittelpunkt stellt. Dennoch liefert die formal durchgehende Schreibhaltung einer Ich-Erzählerin keine einheitliche Perspektive; dieses Ich ist weder Titelfigur noch läßt es sich als geschlossene Figur der erzählten Handlung ausmachen. Die Titelgestalt Malina ist männlich und - im Rahmen der Fabel - eine der drei Hauptpersonen«, von denen der Roman handelt, nämlich vom Ich, ihrem Geliebten Ivan und ihrem Partner bzw. Mitbewohner Malina.
Das Verständnis des Textes wurde z.T. durch die Konzentration auf die Deutung dieser Dreierkonstellation behindert. Die Frage, ob diese als »Dreiecksgeschichte« oder als innerpersonaler Konflikt zu lesen sei, hat die Aufmerksamkeit der Rezensenten größtenteils so beschäftigt, daß der Roman meistens gründlich mißverstanden wurde. In ihrer ausführlichen Werkinterpretation, »Die Auflösung der Figur in dem Roman 'Malina'«,[106] hat Ellen Summerfield hierfür eine Klärung angeboten, die sich mit Aussagen der Autorin in Einklang befindet. Ellen Summerfield führt die Kategorie der »aufgelösten Figur« ein und zeigt, daß »Dreiecksgeschichte« und die Auseinandersetzung des weiblichen Ich mit Ivan und Malina als Seiten ihrer Persönlichkeit verschiedene Bedeutungsschichten desselben Konfliktes sind. Die Beziehung zwischen Malina und der Ich-Erzählerin hat Ingeborg Bachmann in einem Interview selbst als zwei Teile einer Person gekennzeichnet und als Ausdruck des fundamentalen Erzählproblems eines weiblichen Schriftstellers erläutert:
»Für mich ist das eine der ältesten, wenn auch fast verschütteten Erinnerungen: daß ich immer gewußt habe, ich muß dieses Buch schreiben - schon sehr früh, noch während ich Gedichte geschrieben habe. Daß ich immerzu nach, dieser Hauptperson gesucht habe. Daß ich wußte: sie wird männlich sein. Daß ich nur von einer männlichen Person aus erzählen kann. Aber ich habe mich oft gefragt: warum eigentlich? Ich habe es nicht verstanden, auch in den Erzählungen nicht, warum ich so oft das männliche Ich nehmen mußte. Es war nun für mich wie das Finden meiner Person, nämlich dieses weibliche Ich nicht zu verleugnen und trotzdem das Gewicht auf das männliche Ich zu legen ...«[107]
Diese Synthese, die hier wie die gelungene Lösung geschlechtsspezifischer Identitätsprobleme klingt, beinhaltet aber »nur« die Lösung des Darstellungs- und Erzählproblems einer Frau, während die Aussage, die auf diesem Wege gestaltbar wird, gerade darin besteht, daß für die Frau keine Überlebensmöglichkeit existiert.
»Malina« ist Teil eines von Ingeborg Bachmann geplanten Romanzyklus mit dem Titel »Todesarten«, von dem bei ihrem eigenen Tod außerdem Fragmente zu zwei weiteren Romanen vorhanden waren. Das Thema der Todesarten bezieht sich aber nicht auf Malina, sondern auf das Ich des Romans, wie sich am deutlichsten aus dem Schluß ersehen läßt: Malina überlebt, während das Ich verschwindet: »Ich gehe in die Wand« heißt es zwei Seiten vor Schluß und als letzter Satz: »Es war Mord«. Kurz zuvor faßt der Satz »Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina« die Geschichte der drei Figuren zusammen - die sich allerdings mit Blick auf andere Stellen des Textes durchaus umgekehrt formulieren ließe. Denn das Leben mit Ivan war kein Leben, und andererseits half Malina 'Ich' auch überleben. Doch gerade der Unterschied zwischen Leben und Überleben und das andauernde Sterben sowie die verschiedensten Todesarten des Ich bilden die durchgehenden Motive des Textes.
Die Ich-Erzählerin entwickelt sich zwischen den Polen der sie erfassenden, hingebungsvollen Liebe zu Ivan und der rationalen, ruhigen Überlebensfähigkeit eines Malina:
»Ivan und ich: die konvergierende Welt. Malina und ich, weil wir eins sind: die divergierende Welt.«[108]
In ihr streiten unzweifelhaft (weibliche) Liebesfähigkeit und (männliche) Vernunft miteinander. Der Konflikt, der hier ausgetragen wird, deutet auf eine historische Veränderung in der Grundstruktur weiblicher Befreiungsproblematik. Zweihundert Jahre Emanzipationsgeschichte haben das Bild der Mühsal verändert. Der Traum von der Vollkommenheit, den Frauen zur Zeit der Romantik formulierten, wenn sie eine männlich-weibliche Ergänzung zur Beseitigung ihres Ungenügens an sich selbst phantasierten ist zum Trauma geworden. »Getrennt... wäre das lebbar«, diese Einsicht aus Ingeborg Bachmanns Roman steht in diametralem Gegensatz zu dem Wunsch, den z.B. Rahel 1818 gegenüber ihrer Freundin formulierte: »Eine hätte die Natur aus uns machen sollen.«[109]
»Getrennt, meinte Frau Novak [eine Astrologin, d.Verf.] wäre das lebbar, aber so, wie es sei, kaum, auch das Männliche und das Weibliche, der Verstand und das Gefühl, die Produktivität und die Selbstzerstörung träten auf eine merkwürdige Weise hervor.«[110]
Diese Unvereinbarkeit von männlichem und weiblichem Prinzip wird im Roman aber nicht als 'ewige', für Mann und Frau gleichermaßen geltende Zerrissenheit thematisiert; sie ist vielmehr Ausdruck der Erfahrung einer »heute« lebenden Frau. Die formal durchgehaltene Perspektive der Ich-Erzählerin als einer »aufgelösten Figur« ist somit eine literarisch konsequente Gestaltung weiblicher Perspektive, die notwendigerweise gebrochen ist.[111]
Das Befinden und die Entwicklungsphase des Ich im ersten Kapitel, »Glücklich mit Ivan«, wird als äußerst ambivalent geschildert, voller Glück und Leid. Einerseits hat die Liebe zu Ivan etwas Impulsives, Spontanes - »ich war ihm schon zugefallen vor jedem Wort«[112] -, wodurch 'Ich' sich der angesammelten »Abwehrstoffe« entledigt und neu zu leben beginnt:
»daß er mich wiederentdeckt und auf mich stößt, wie ich einmal war, auf meine frühesten Schichten, mein verschüttetes Ich freilegt ... Endlich gehe ich auch in meinem Fleisch herum, mit dem Körper, der mir durch eine Verachtung fremd geworden ist, ich fühle, wie alles sich wendet inwendig.« (S.34)
Andererseits vollzieht sich diese Verlebendigung in einer Ausrichtung ihres ganzen Lebens auf Ivan. Die Liebe tötet ihre Selbständigkeit und intellektuelle Persönlichkeit. 'Ich' ist Schriftstellerin, die mit der Wiedergewinnung ihrer 'Weiblichkeit' auch deren Abhängigkeitsmomente übernimmt. Sie wartet auf Ivan, auf seine Telefonanrufe, verschont ihn mit ihren Gefühlen, soweit sie ihm lästig sind, ihm, der von sich behauptet, daß er niemanden liebe, kocht für ihn, spielt mit ihm Schach und alle Beziehungs- und Kommunikations»spiele«, die jahrhundertelange Tradition im Umgang zwischen Mann und Frau bereitstellt, während es ihr unmöglich ist, ihm etwas von sich zu erzählen. Ihr Leben, das sie vor dem Absterben bewahrt, hält eine Fülle neuer Todesarten für sie bereit.
Im zweiten Kapitel, »Der dritte Mann«, das Träume des 'Ich' und Gespräche zwischen Malina und 'Ich' über diese Träume enthält, wird das Thema ausgeweitet. Es geht nicht mehr um Ivan und 'Ich' »heute« in Wien, sondern:
»Es ist ein Ort, der heißt Überall und Nirgends. Die Zeit ist nicht heute. Die Zeit ist überhaupt nicht mehr, denn es könnte gestern gewesen sein, lange her gewesen sein, es kann wieder sein, immerzu sein, es wird einiges nie gewesen sein.« (S. 181)
Es sind Träume über den Geschlechterkampf, in denen der Vater im Mittelpunkt steht und in denen 'Ich' die Rolle des Opfers hat - neben anderen Frauen wie Mutter, Schwester und Geliebte des Vaters. Es sind Tö-tungs- und Vergewaltigungsträume, in denen 'Ich' eingeschlossen wird, und sprachlos und blind durch die Hand des Vaters. Der Ort der Träume führt immer wieder auf den »Friedhof der ermordeten Töchter«, auf dem Wege der unterschiedlichsten, teils aufwendig inszenierten Todesarten. Momente des Widerstands, die in den Träumen enthalten sind, erscheinen verzweifelt und ohne Selbstbewußtsein. Das Kapitel endet mit einem Gespräch, in dem 'Ich' formuliert:
»Es ist immer Krieg. / Hier ist immer Gewalt. / Hier ist immer Kampf. / Es ist der ewige Krieg.« (S.247)
In einem solchen Zustand ist Malina eine große Hilfe, denn der kennt sich aus in Kriegsdingen, schließlich ist er Angestellter des Heeresmuseums. Er ist ein Meister des Überlebens, ruhig, gleichmütig, leidenschaftslos, nimmt er die Welt, wie sie ist, hat weder Freunde noch Feinde, er ist zuverlässig und überlegen. Das dritte Kapitel, »Von letzten Dingen«, das die allmähliche Trennung von Ivan bringt, enthält zu einem großen Teil Gespräche zwischen Malina und 'Ich' - bzw. Streitgespräche zwischen den divergjerenden Polen der Ich-Malina-Einheit, für die der folgende Gesprächsmoment typisch ist:
»Malina: ... Du muß nicht dein Herz an alles hängen und alle deine Reden flammen lassen und deine Briefe. Ich: Wie viele aber haben Köpfe? und nämlich kein Herz.« (S.218)
Im Verlaufe des Kapitels übernimmt Malina die Herrschaft, was letztlich zum Verschwinden des 'Ich' führt. Dies wird in einem Gespräch vorbereitet, das die Wandlung des 'Ich' vorwegnimmt, indem Malina zwischen »Du« und »einem Ich« unterscheidet und verkündet:
»Weil du dir nur nützen kannst, indem du dir schadest ... Du wirst aber auch nicht mit deinem Ich siegen ... Was du willst zählt nicht mehr. An der richtigen Stelle hast du nichts mehr zu wollen. Du wirst dort so sehr du sein, daß du dein Ich aufgeben kannst.« (S.328/330)
Indem das Ich zum Zwecke der Rettung, zum Überleben Malina die Regie überläßt, gibt es sich auf - »Ich, das ist ein Irrtum für mich gewesen.« (S.349) - und verschwindet schließlich. Der letzte Satz des Romans, »es war Mord«, bezieht sich nun nicht nur auf diese letzte Tötung, der Malina sein Weiterleben verdankt, sondern auf alle Todesarten des (weiblichen) Ich.
Trotz dieses Schlusses ist der Roman nicht als vollends resignativer oder gar fatalistischer Text zu lesen. Im Prolog, der den drei Kapiteln vorangestellt ist und Hinweise über den Gebrauch von Ort und Zeit und über die Voraussetzungen der Fabel, enthält, gibt es eine Andeutung darauf, daß ein Ende nicht unbedingt als endgültiges gelesen werden muß.
»Weil mir keine Wissenschaft dabei auf die Finger sehen und draufklopfen kann, hänge ich meinen Anfang mit einem Ende zusammen, denn warum soll nicht jemand zu leben anfangen, wenn der Geist eines Menschen verlischt.« (S.23; Hervorh.d.d.Verf.)
Das Verschwinden des 'Ich' ist nicht nur als Tötung, sondern auch als eine Trennung von Malina zu verstehen, als Weigerung, ein Malina-Leben zu führen. Eine konkrete Utopie über eine Lebensmöglichkeit, die das Ivan-Glück mit dem Überlebenswillen Malinas verbindet, ist im Roman nicht ausphantasiert, als Wunschgehalt des Textes aber immer präsent. Der ausgetragene Widerstreit beschreibt eine gelebte Distanz zur Utopie.
Der Roman enthält m.E. mehr utopische Kraft als viele, neuerdings vermehrt publizierte Geschichten, die das Leben in matristischen bzw. geschlossenen Frauengesellschaften imaginieren und sich nicht ohne Grund an so eingängigen und schlichten Erzählmustern wie den von Heldengeschichten und Kindermärchen orientieren.[113] Der Roman von Ingeborg Bachmanns enthält »nur« Fragmente konkreter Utopie, kleine Passagen, die durch Schrägdruck vom übrigen Text abgehoben sind und mit einem ebenfalls schräggedruckten Märchen, »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran«, korrespondieren. All diese Passagen erscheinen im Roman als Texte, die das 'Ich', die Schriftstellerin, geschrieben hat. Während das Märchen ihre eigene Geschichte, das Schwanken zwischen Liebesglück und -angst, metaphorisch verschlüsselt wiederholt, enthalten die kurzen, im Text versprengten Passagen, Utopiemomente, so fragmentarisch, wie sie »heute« eben nur vorstellbar sind.
Der Roman führt keine positive Heldin vor. Er zerstört affirmative Emanzipationskonzepte und stellt die Gebrochenheit weiblicher Identität in den Mittelpunkt. Statt einfache Scheinlösungen anzubieten, bemüht er sich um eine detaillierte Kritik weiblicher Existenz, die notwendigerweise nicht besonders hoffnungsfreudig ausfallen kann. Diese Kritik schließt eine Trauerarbeit an verlorenen Illusionen und eine Kritik weiblicher Selbstbeschränkung ein.
Die literarische Gestaltung der »aufgelösten Figur« in »Malina« dokumentiert einen historischen Zustand, in dem Frauenbild und weibliches Selbstverständnis sich so weit vermischt haben, daß sie als getrennte Figurationen des Textes nicht mehr auszumachen sind. Vom Blickwinkel einer selbständigen, »emanzipierten« Frau beinhaltet 'Weiblichkeit' Gewinn und Verlust zugleich. Die notwendige Ent-Zauberung und Zerstörung der Frauenbilder kann nicht mehr gegen die (männlichen) Schöpfer und Ideologen von 'Weiblichkeit' gerichtet werden, sondern führt in die Innenräume weiblicher Identität selbst. Insofern ist die subjektive und enge Thematik, welche die aktuelle Frauenliterätur charakterisiert, nicht bloß als Regression zu lesen, sondern als längst fällige Selbstbesinnung, als Versuch, Illusionen von Hoffnungen ebenso zu unterscheiden wie selbstauferlegte Bescheidung von heute unüberwindbaren Barrieren - als Suche nach Lebensmöglichkeiten für Frauen in einer (noch) männlichen Welt.
15. Verabschiedungen, Verweigerungen und
»das noch Hinzuzugewinnende«
Die Frauenfiguren, die Ingeborg Bachmann in ihren Erzählungen entwirft, laborieren an den Frauenbildern, an den Wahrnehmungs- und Äußerungsmöglichkeiten, die diese Gesellschaft für sie bereithält. Sie legen die gewöhnliche Sprache der Männer und Frauen auf die Waage, sie prüfen die Nützlichkeit des »anständigen Blicks« für das eigene Begehren und sie erproben Verweigerungen gegenüber den angestammten Rollen.
Auffällig ist, daß die zweite Phase von Ingeborg Bachmanns Publikationen, nachdem Prosa-Schriften die erste Phase der Lyrik, die die Autorin eigentlich berühmt gemacht hat, abgelöst hatten, sich auf die Gestaltung solcher Frauenfiguren konzentriert - Frauen, die keine positiven Heldinnen sind, die aber auch nicht als Opfer leben. Bezeichnend ist auch, daß die anfangs emphatische Rezeption gegenüber der Lyrikerin Bachmann, die »Herz und Urteilskraft« bzw. »Sinnlichkeit und Abstraktion«[14] verbinde, in eine sehr viel kritischere Haltung gegenüber der Prosa-Schriftstellerin umschlägt.
Der konzentrierte Blick auf die Probleme weiblicher Identität wird von Ingeborg Bachmann in literarischer Imagination gefunden, während begleitende theoretische Schriften ganz geschlechtsneutral - »objektiv«, wie es die Ästhetik verlangt - über die Veränderungs-Möglichkeiten mittels Schreiben reflektieren.
»Was aber möglich ist, in der Tat, ist Veränderung. Und die verändernde Wirkung, die von neuen Werken ausgeht, erzieht uns zu neuer Wahrnehmung, neuem Gefühl, neuem Bewußtsein«[115] heißt es 1959/60 in ihren »Frankfurter Vorlesungen«. In dieser Bescheidung auf die Wahrnehmung als Handlungsebene der Literatur und mit ihren Überlegungen über »Das schreibende Ich« und die »Literatur als Utopie« (ebenfalls in den »Frankfurter Vorlesungen«) hat die Autorin literaturtheoretische Voraussetzungen entwickelt, die in dem Moment, da sie im Entwurf von Frauenfiguren auf weibliche Erfahrung treffen und in der Bearbeitung gelebter Leiden und Wünsche einer Frau poetische Gestalt annehmen, zu einer Schreibweise führen, die die widerspruchsvollen Empfindungen und Erfahrungen von Frauen im 'nicht mehr' und im 'noch nicht' zur Sprache zu bringen vermag. In Bachmanns Texten sind eine Fülle von Begriffen und Metaphern zu finden, die in der feministischen Literatur und Theorie wesentliche Momente weiblichen Schreibens bezeichnen. Die Dialektik von Anfang und Ende (vgl. »Malina«) ist in dem Bild der »Unendlichen Zirkulation« Helene Cixous' enthalten, die von einem weiblichen Text fordert, daß er weder Anfang, noch Ende haben solle. Auch, das Begehren, das, in den Text eingeschrieben, dessen Utopiebedeutung begründe, findet sich bei Cixous wie bei Ingeborg Bachmann als zentrale »Instanz«:
»So ist Literatur, obwohl und sogar weil sie immer ein Sammelsurium von Vergangenem und Vorgefundenem ist, immer das Erhoffte, das Erwünschte, das wir ausstatten aus dem Vorrat nach unserem Verlangen - so ist sie ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen. Unser Verlangen macht, daß alles, was sich aus Sprache schon gebildet hat, zugleich teil hat an dem, was noch nicht ausgesprochen ist, und unsere Begeisterung für bestimmte herrliche Texte ist eigentlich die Begeisterung für das weiße, unbeschriebene Blatt, auf dem das noch Hinzuzugewinnende auch eingetragen scheint.«[116]
Das unbeschriebene Blatt als Mangel und als Utopie zugleich. Das 'unbeschriebene Blatt' wird in jüngster Zeit als Metapher für die Frau in der Kultur gelesen, als Bild für ihre Abwesenheit und ihr Schweigen, aber auch für die Koppelung von Unschuld und Nicht-Wissen. Die Gleichung von weiblichem Körper und Text in der männlichen Kulturproduktion und die Verbindung von »Feder-Penis« und »jungfräulichem Papier« bilden die Voraussetzung für Susan Gubars symbolische Interpretation von Isak Dinens Kurzgeschichte »The Blank Page« (das unbeschriebene Blatt),[117] in der sie Fragen einer weiblichen Kreativität erörtert.
Auch wenn Ingeborg Bachmann in diesem literaturtheoretischen Kontext überhaupt nicht über Frauen spricht, so lassen sich dennoch ihre Erzählungen, »Malina« und die Romänfragmente als Versuche weiblicherKreativität lesen, in denen das »noch Hinzuzugewinnende... eingetragen«wird. Die geschlechtsspezifische Konkretisierung neutraler literaturkritischer Aussagen auf weibliche Erfahrung hin in ihren literarischen Textenist so offensichtlich, daß die Schreibweise hier als feministische Praxis gedeutet werden kann, die in der Maskierung des theoretisch sich artikulierenden Autors dort vorbereitet ist. Ich will diese weibliche Spezifizierung an einem Beispiel, Bachmanns Ungenügen an der Sprache, zeigen. In den Vorlesungen formuliert sie:
»Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsre Ahnung regiert und die wir nachahmen.«[118]
In der Erzählung »Ein Schritt nach Gomorrha«, einer Begegnung zwischen zwei Frauen, denkt die eine darüber nach, daß ihr Gefangensein in der alten Sprache ihren Aufbruch behindert:
»Nein, erst wenn sie alles hinter sich würfe, alles verbrennte hinter sich, konnte sie eintreten bei sich selber. Ihr Reich würde kommen, und wenn es kam, war sie nicht mehr meßbar, nicht mehr schätzbar nach fremdem Maß. In ihrem Reich galt ein neues Maß. Es konnte dann nicht mehr heißen: sie ist so und so, reizvoll, reizlos, vernünftig, treu, untreu, anständig oder skrupellos, unzugänglich oder verabenteuert. Sie wußte ja, was zu sagen möglich war und in welchen Kategorien gedacht wurde, wer dieses oder jenes zu sagen fähig war und warum. Immer hatte sie diese Sprache verabscheut, jeden Stempel, der ihr aufgedrückt wurde und den sie jemand aufdrücken mußte - den Mordversuch an der Wirklichkeit. Aber wenn ihr Reich kam, dann konnte diese Sprache nicht mehr gelten, dann richtete diese Sprache sich selbst. Dann war sie selbst ausgetreten, konnte jedes Urteil belachen, und es bedeutete nichts mehr, wofür sie jemand hielt. Die Sprache der Männer, soweit sie auf die Frauen Anwendung fand, war schon schlimm genug gewesen und bezweifelbar; die Sprache der Frauen aber war noch schlimmer, unwürdiger - davor hatte ihr schon gegraut, als sie ihre Mutter durchschaut hatte, später ihre Schwestern, ihre Feundinnen und die Frauen ihrer Freunde und entdeckt hatte, daß überhaupt nichts, keine Einsicht, keine Beobachtung dieser Sprache entsprach, den frivolen oder frommen Sprüchen, den geklitterten Urteilen und Ansichten oder dem geseufzten Lamento. (...) Aber sie würde Mara sprechen lehren, langsam, genau und keine Trübung durch die übliche Sprache zulassen.«[119]
Die sich selbst verdoppelnde Frau stößt auf die schlechte Sprache in zweifacher Weise: auf die übernommene, für Eigenes untaugliche Sprache der Männer - die messende, voller Kategorien - und auf die Geschwätzigkeit der Frauen. Als Mangel und Utopie zugleich ist die noch zu erlernende Sprache genannt; als »Hinzuzugewinnendes«, das »eingetragen scheint«, tatsächlich aber noch nicht ausformuliert und -phantasiert ist, sondern noch im Stadium des »Verlangens«, eines »nach vorn geöffneten Reichs von unbekannten Grenzen«.
Das Verhältnis zwischen dem (schlechten) Vorgefundenen und dem Hinzuzugewinnenden wird als komplizierter Prozeß zwischen der Zerstörung alter Träume und der Hervorbringung neuen Begehrens literarisch gestaltet. Die beschriebenen Blätter sind zunächst von den Trugbildern zu befreien, um Raum für neue Hoffnungen und Wünsche zu gewinnen, die männliche Schrift verstellt den Blick in das »nach vorn geöffnete Reich«, die Fülle an Frauenbildern den direkten Weg zur Befreiung. In der Erzählung »Undine geht« verabschiedet sich die Frau aus einem dieser Bilder. Der Text, eine Klage an die Männer, enthält die Aufkündigung der Undi-ne-Rolle, die Verweigerung einer Märchenrolle, die sich einer Spaltung in Undine/Geliebte und »Menschenfrau«/Alltagsgefährtin verdankt. Die Undine, die die Verlockung aller mit der Rationalität verdrängten Momente verkörpert, fasziniert und macht Angst. Die Flucht der Männer zu ihr ist nur eine vorübergehende:
»Ihr mit euren Musen und Tragtieren und euren gelehrten, verständigen Gefährtinnen, die ihr zum Reden zulaßt ... Mein Gelächter hat lang die Wasser bewegt, ein gurgelndes Gelächter, das ihr manchmal nachgeahmt habt mit Schrecken in der Nacht. Denn gewußt habt ihr immer, daß es zum Lachen ist und zum Erschrecken und daß ihr euch genug seid und nie einverstanden wart. (...) Dann war ich plötzlch eine Gefahr, die ihr noch rechtzeitig erkanntet, und verwünscht war ich und bereute alles im Handumdrehen ... Ihr habt die Altäre rasch aufgerichtet und mich zum Opfer gebracht.«[120]
Wenn aber das aus dem Tagwerk und der Ordnung der Männer Verdrängte nur in der Gestalt der verlockenden und zugleich gefürchteten Frau aus dem Märchen existieren darf, dann muß Undine gehen, um sich vor dem Opfertod zu schützen und um die Träume für das Leben der »Menschenfrauen« frei zu machen. In dem elegischen Ton der Erzählung kommt zum Ausdruck, daß diese Verabschiedung Trauerarbeit ist an der Entzauberung von Mythen, an der Entschleierung von Frauenbildern.
Eine andere Strategie der Verweigerung erprobt eine Frauenfigur, die nicht aus dem Reich der Mythen, sondern dem der Wirklichkeit stammt. Es ist Miranda in der Erzählung »Ihr glücklichen Augen«, mit der Ingeborg Bachmann behauptet, daß eine Veränderung der Wahrnehmung nicht immer in einer Erweiterung des Blickfeldes bestehen muß. Um auf ihre eigenen Empfindungen aufmerksam sein zu können, kann es für Frauen durchaus nützlich sein, auch mal den Blick abzuwenden, sich die Ohren zuzuhalten oder auch schweigend das Geständnis zu verweigern. Die Frau als 'anderes' Geschlecht ist durch übersensible rezeptive Sinne und gehemmte Äußerungsfähigkeiten charakterisiert. Die Frau als Gebende hat - um im Bild zu bleiben - überdimensionale Ohren, mit denen sie die Klagen der Männer vernimmt, noch ehe diese sie ausgesprochen haben, ihr Blick ist getrübt, weil sie die Brille der Männer allzu bereitwillig trägt und sich selbst über den Umweg des männlichen Auges sieht, ihr Mund ist zur Sprachlosigkeit oder Geschwätzigkeit erzogen.
Die Anti-Heldin Miranda aus Bachmanns Erzählung erprobt eine Strategie der Blickverweigerung. Sie trägt ihre Brille nicht, erspart sich damit den Blick in die höllische Umgebung, sieht nur das, was sie sehen möchte und was ihr wichtig ist. Sie verweigert den »anständigen Blick«, den »Scharfblick«, mit dem »Menschen einander notieren, abschätzen, aufschreiben, abschreiben, meiden, beäugen«.[121] Sie
»fotografiert Menschen nicht mit einem Brillenblick, sondern malt sie in ihrer eigenen, von anderen Eindrücken bestimmten Manier«.[122]
Diese Strategie der Miranda aus dem Repertoire der 'Listen der Ohnmacht' schützt sie vor der Anpassung an die schale Wirklichkeit und bewahrt ihr ihr Glücks-Begehren:
»Die verhangene Welt, in der Miranda nur etwas Bestimmtes will, nämlich Josef, ist die einzige, in der ihr, trotz allem, wohl ist.«[123]
Doch die Autorin läßt ihre Figur scheitern. Mirandas totale Verweigerung, die Mauern draußen wahrzunehmen, die ihrem Begehren entgegenstehen, läßt sie mit dem Kopf gegen die Wand rennen und hinschlagen. Ihr Motto »immer das Gute im Augen behalten« wird letztlich zum Dogma. In ihrer Halsstarrigkeit fehlt ihr das Vermögen des 'schielenden Blicks', der sie fähig gemacht hätte, sich mit einem (bebrillten) Auge im Alltag zurecht zu finden, um in dem anderen (freien) Auge ihre Träume und Wünsche zu entwerfen, damit sie selbst hätte überleben können, ohne ihr Begehren zutöten. Zu dieser Doppelexistenz im 'nicht mehr' und 'noch nicht' führen die Strategien, die die Frauenfiguren Ingeborg Bachmanns probieren.
Die Autorin selbst konnte sich noch nicht feministisch artikulieren, eine Öffentlichkeit für verallgemeinernde, programmatisch die Situation von Frauen kritisierende Überlegungen entstand erst nach ihrem Tod in den 70er Jahren. Sie selbst schmuggelte ihre Ideen, die alle Momente aktueller feministischer Theorie und Literatur vorwegnehmen, in zwei Bestandteile aufgespalten, in der Maskierung geschlechtsneutraler Literaturkritik und im Schutze ihrer Poesie, an die Öffentlichkeit. - Eine heimliche Feministin wie viele Frauen vor ihr auch?