Zur ästhetischen Funktion des Weiblichen
in Friedrich Schlegels »Lucinde«
I Der neue alte Streit um die »Lucinde«
»Fülle, Verschwendung, erotisiertes Dasein, dionysische Schöpfungslust und Lob des Müßiggangs gegen Sparsamkeit, Disziplin, Fleiß, protestantische Askese. Kate Millets Forderung... nach der 'sakralen Nacktheit' ist in der Lucinde enthalten (die Verbindung von 'Ausgelassenheit' und 'Religion'). In ihr wird, was Kate Millet von einer weiblich-erotischen Ästhetik erhofft, der Körper 'zelebriert, nicht unterworfen'. 'Religion' als Bindung, Rück-Bindung bedeutet, über die individuelle Liebessituation hinaus, die Liebe zur 'Gattung', die erst noch geschaffen wird.« (Gisela Discher, 1980)[1]
»Diese Lichtbringerin Lucinde ist als Frauengestalt ganz passiv, von Natur aus hingebungsvoll und sinnlich; ihre Lebensaufgabe besteht darin, die Erlöserin für den Mann Julius in seinem zerrissenen, einsamen Dunkel zu sein. Lucinde ist daher eine hingebungsvolle Mittlerin, die die künstlerische Tätigkeit ihres Liebhabers befruchtet. Ihre Selbständigkeit, ihr eigenes Wesen, erschöpft sich - noch immer - in der Rolle der geliebten Frau und Mutter.« (Bärbel Becker-Cantarino, 1979)[2]
Zwei neuere Urteile über einen bald zweihundert Jahre alten Text, ebenso kontrovers wie schon die erste Aufnahme des Romans, nachdem Schlegel ihn 1799 veröffentlicht hatte, und genauso unvereinbar, wie seither die Lager der Fürsprecher und der Kritiker einander gegenüberstehen. Gisela Dischners emphatische Rezeption der »Lucinde« kann als Beispiel einer um sich greifenden romantischen Mode gelten, die als Reaktion auf ein allzu rationalistisches Emanzipationsverständnis nach 68 historisch erklärbar sein mag. Die Epochen, welche von einer politisch und sozialgeschichtlich motivierten Literaturhistorie (die sich entlang der vordergründig politisch deutbaren Literatur der Aufklärung, des Vormärz, aus Weimar und dem Exil orientierte) übergangen wurden, dienen jetzt als Material für eine im Umkehrschluß sinnlichkeitsgeschichtlich und psychoanalytisch interessierte Lektüre. In Dischners Bewertung der »Lucinde« als Beispiel für das »kulturrevolutionäre Potential der Jenaer«[3] und in der von ihr installierten Traditionsreihe von der Frühromantik über den frühen Marx und Nietzsche bis zu Roland Barthes und zur »Studentenrevolte«[4] versammeln sich alle kulturrevolutionären Postulate der Moderne: Sie beurteilt die »Lucinde« und ihren Entstehungskontext als Bemühen um die Verbindung von Kunst und Leben, Gefühl und Verstand, Philosophie und Gedicht, um die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung, der Geschlechter-Trennung im Rollenspiel und der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, ja als Bemühen um das Bild einer befreiten Individualität, frei von der Verstümmelung bürgerlicher Konkurrenz, um ein antiautoritäres Klima der Geselligkeit, das Postulat freier Liebe und eine Theorie des Müßigganges. - Nicht zuletzt als poetisch-praktischen Entwurf eines neuen Frauenideals.[5] Besonders der letzte Punkt macht diese Spielart der romantischen Mode für eine neue Zielgruppe - und einen neuen Markt - attraktiv. Dischners Caroline-Buch [6] wendet sich in Thema, Aufmachung und durch die Nachbarschaft zu ihrem Bettine-Buch [7] an Leserinnen), die sich für die Rekonstruktion einer weiblichen literarischen Tradition interessieren; zwischen den Buchdeckeln aber schmuggelt es männliche Weiblichkeitsentwürfe der Romantiker in die Darstellung weiblicher Lebensgeschichte. Die biographischen Verbindungen Carolines zu den Schlegel-Brüdern, die schon von der konventionellen Germanistik weidlich ausgebeutet wurden (Das ungelöste Philologenrätsel: Ist nun die von Friedrich Schlegel geehelichte Dorothea oder die zuvor verehrte Caroline Vorbild der Lucinde?), erscheinen hier als Lebens- und Glaubensgemeinschaft eines bis heute unübertroffenen Befreiungskonzeptes.
Anders Becker-Cantarino: Ihre kritische Bewertung der Lucinde-Gestalt als überhöhte Priesterin, Lichtbringerin und Muse für den Mann, der jegliche eigene Individualität und Entwicklung abgesprochen wird, ist das Resultat eines neuen, im Gefolge der Frauenbewegung entwickelten Forschungsansatzes, der die von Männern geschriebene Literatur nach dem darin entworfenen Frauenbild untersucht.
Im Mittelpunkt der aktuellen Rezeptionskontroverse um die »Lucinde« steht demnach die Frau. Damit wird der alte Streit auf einem neuen Terrain fortgesetzt. Frühere Streitpunkte waren der moralisch-sittliche Gehalt des Romans und seine ästhetische Form. Professionelle und selbsternannte Sittenwächter verstellten lange Zeit mit pauschalisierenden Werturteilen den Zugang zum Text. (Einige Urteile: der »Gipfel moderner Unform und Unnatur«, Schiller; »die rücksichtslose Ausstellung des roh Unmittelbaren«, Rudolf Haym; »unsäglich Widriges«, Dilthey; eine »Mißgeburt« eines »schlaffen Genießers«, Gundolf; eine »weibisch ästhetenhafte Sinnlichkeit«, Alfred Schier). Diejenigen, die dagegen eine Ehrenrettung des Romans vornahmen, verbanden diese entweder mit einem Eingeständnis ästhetischer Dürftigkeit (so z.B. J. Körner, Schlegel habe sich »übernommen«) oder aber sie beachteten die formale Konzeption nicht (z.B. Kluck-hohn). »Das Gespenst Obszön war unter den Verteidigern nicht weniger als unter den Anklägern«8- auch wenn sie zuweilen sich der Einfachheit halber einfach blind stellten (wie etwa Rouge, der anläßlich einer »schlüpfrigen Spielerei« mit unfreiwilliger Komik sein methodisches Prinzip verrät: »Am besten wird wohl der umsichtige Kritiker tun, wenn er sich wie der harmlose Leser verhält.«). Dieser Streit wurde nach 45 abgelöst durch eine Reihe neuerer Arbeiten, die sich von der Formseite dem Text nähern und sich mit einzelnen Aspekten der Schlegelschen Ästhetik beschäftigen - etwa der Arabeske, dem Ironiebegriff, der Romantheorie [9] - dabei aber die inhaltliche Aussage des Textes weitgehend außer Acht lassen.
II »Lucinde« - Schlegels gescheiterter Entwurf »progressiver Universalpoesie«
Eine umfassende und gesicherte Interpretation des so sperrigen Textes istm.E. nur möglich, wenn die Analyse des Frauenbildes und die Untersuchung der ästhetischen Struktur des Romans miteinander vermittelt werden.[10] Die Funktion des Weiblichen in der Poesie wird nämlich nicht nurim propagierten Frauenbild, d.h. in den im Text konkret gewordenen Vorstellungen von Weiblichkeit relevant. Auch in der ästhetischen Funktion,die das Weibliche - in der Gestalt einer Figur oder aber als Prinzip oder Ort [11] - im Text übernimmt, sowie in sprachlichen und poetischen Motiven und Metaphern mit impliziten Verweisen bzw. Zuordnungen zum IWeiblichen sind Momente von Weiblichkeitsmustern enthalten, aus denen jdas Frauenbild eines Textes entsteht. Es ist verkürzt, wenn Silvia Boven- jsehen »nur in einem Moment des Literarischen« die auffällige Rolle des <Weiblichen entdeckt, nämlich »nur in der Fiktion, als Ergebnis des Phantasierens, des Imaginierens, als Thema«.[12]
In der »Lucinde« fungiert über die Gestaltung der einzelnen Frauenfiguren hinaus das weibliche Prinzip als Realisierung der Idee einer stiligestellten Vollendung. Dies ist das Resultat von Schlegels Versuch, seine ästhetische Theorie von der »progressiven Universalpoesie« in einem literarischen Text zu verwirklichen (vgl. IV). Das Streben der Theorie nach einer unerreichbar gedachten (synthetischen) Vollkommenheit - Kernstück der frühromantischen Ästhetik Schlegels - ist in der Darstellung aufgrund der geschlechtsspezifischen Verteilung der Kategorien Progression und Vollendung auf die männliche und weibliche Hauptfigur des Romans außer Kraft gesetzt, wodurch das altbekannte Muster eines dichotomischen Frauen- und Männerbildes in Julius und Lucinde am Ende restauriert ist: Dem Manne Julius wird die Entwicklung, die Progression als das Verfahren unendlicher Vollendung zugesprochen, während die Frau Lucinde das anzustrebende Ideal bereits verkörpert - qua Geschlecht und Geburt. Doch diese Aufspaltung legt auch der Entwicklung des Helden Fußangeln in den Weg, ebenso wie dem poetischen Plan des Autors. Als Julius Lucinde gefunden, sich an ihr vollendet hat, ist seine Entwicklung im Grunde auch beendet, und die Fortsetzung des Textes ist nur noch Einlösung des gesetzten ästhetischen Programms. Das Ende des Romans bleibt inhaltlich willkürlich und verdankt sich einzig der Symmetrie dreier Romanteile (vgl. III).
Mit der restaurativen Tendenz in der literarischen Konkretisierung der Geschlechtsrollen geht eine Tendenz zur Idylle einher, mit der die Intention des Autors gleichfalls zerstört ist. Diese erwächst aus dem Widerspruch von ästhetischem Programm und Thema - und nimmt Friedrich Schlegels spätere ideologische Entwicklung vorweg. Noch ehe er in einem allmählich deistische Züge annehmenden Religionsbegriff ein Ordnungstiftendes Prinzip gefunden hat (welches biographisch mit seiner Konversion zum Katholizismus markiert ist), gestaltet Schlegel mit dem Thema Liebe einen literarischen Stoff, der den von ihm intendierten, durch poetische Reflexion hervorzubringenden »Schwebezustand« aus dem Gleichgewicht bringt. Dies durch seine Hand, aber hinter seinem Rücken sich vollziehende Scheitern seiner »progressiven Universalpoesie« ist begründet in seiner männlichen Perspektive, die Julius zugleich zum Ideen- und Handlungsträger des Romans macht: als Erzähler formuliert Julius die Ideen des Autors, als Held ist er Subjekt der Entwicklung und Manifestation der Vollendungsidee. Die Frauenfiguren gehen als Ferment in seine Entwicklung ein. Daß er die Frau als Göttin und Priesterin verehrt, bestätigt nur, daß sie an der Sphäre des Lebens nicht teil hat. Sie dient nur der Verkörperung des Ideals - zum Nutzen männlicher Vollendung. In dieser ästhetischen Funktion - und keine andere Bedeutung hat die Frau in der »Lucinde« - erschöpft sich die Repräsentanz des Weiblichen im Roman. Mit der Imagination des vollendeten weiblichen Wesens hat sich das Ideal in der Poesie breitgemacht. In Schlegels Romantheorie haben Ironie und Reflexion die Aufgabe, die Distanz zur Utopie ständig bewußt zu halten. In der »Lucinde« ist die Beziehung von Utopie und Ironie als Dialektik von Stoff und Form angelegt. Im Verlaufe der Kapitel allerdings entfernen sich beide Ebenen immer mehr voneinander und entwickeln eine je eigene Dynamik: Die Utopie wird zum Schluß in der Handlungsvariante des häuslichen Glücks zur profanen Zufriedenheit einerseits und in der alternativ phantasierten überirdischen Existenz andererseits überhöht und quasi religiös harmonisiert, während sich der formale Plan in unendlicher Reflexion verselbständigt. - Diese Interpretation (die im folgenden entwickelt werden soll) steht im krassen Widerspruch zur kanonisierten, verbreiteten Lesart der »Lucinde« in Verbindung mit Stichworten wie Rollentausch, Androgynität, freie Liebe u.a. Daß solche Lesart auf einer selektiven Rezeption beruht, die sich auf nur wenige, wörtlich genommene, programmatische Erklärungen im Text stützen kann, will ich am Beispiel einiger vielzitierter Textstellen im Zusammenhang meiner Untersuchung nachweisen. Nur mit Hilfe einer - möglicherweise anstrengenden - Einlassung auf Schlegels frühromantische Ästhetik läßt sich der Roman beurteilen, nur so lassen sich die ganze Dimension und das Verfahren entschlüsseln, wie das Weibliche im Prozeß literarischer Produktion mythologisiert und ästhetisch funktionalisiert wird.
III »Lucinde« - ein poetologischer Liebesroman
Die Fabel des Romans ist schnell erzählt: Julius, der Held, als Ich-Erzähler fiktiv mit dem Verfasser identisch, erzählt in Briefen an seine Geliebte Lucinde und an seinen Freund Antonio, in Gesprächen mit ihr und in Aufzeichnungen von seinem durch sie und in ihr gefundenen Liebesglück, welches ihm zu seiner persönlichen und künstlerischen Identität als Maler verholfen hat. In einem Rückblick erinnert Julius für die Geliebte seine Entwicklung bis zu ihrem Zusammentreffen, die - als »Lehrjahre der Männlichkeit« bezeichnet - aus einer Folge von Erlebnissen mit unterschiedlichen Frauentypen bestehen. Als Lucinde schwanger wird, veranlaßt ihn das zu Spekulationen und Phantasien über verschiedene Möglichkeiten der Fortschreibung ihres Liebesglücks - einer irdischhäuslichen und einer verklärt-himmlischen Variante.
In Erzählungen, Träumen und abstrahierenden Verallgemeinerungen anläßlich des individuell erfahrenen Glücks körperlicher wie seelischer Verschmelzung gerät der Text zu einem philosophischen Manifest über das Wesen von Mann und Frau und über die »Religion der Liebe«. Aber der Roman enthält auch in resümierender und allegorischer Gestalt Reflexionen über seine eigenen Gestaltungsprinzipien. Insofern ist es auch ein poetologischer, d.h. ein Roman über den Roman. 1799 mit dem Zusatz »Erster Theil« veröffentlicht, deutet der Autor zudem den unvollendeten Charakter des Werkes an. Der Aufbau ist streng komponiert: Der Mittelteil (die »Lehrjahre der Männlichkeit«) wird von zwei, jeweils aus sechs Kapiteln bestehenden Textteilen umschlossen. Diese Struktur zeigt auf den ersten Blick das synthetische Formprinzip.
Schon im ersten Kapitel der »Lucinde«,[13] auf knapp vier Seiten, sind Thema und Gestaltungsprinzipien vollständig entfaltet. Der Roman beginnt mit einem Brief »Julius an Lucinde«. Der Brief Schreiber erinnert sich, wie er, umgeben von »aschgrauen Figuren ohne Bewegung« sich von dieser toten Umgebung durch lebendige Sehnsucht nach einer vielgestaltigen, aber einzigen Geliebten absonderte, wie ihr durch Phantasiearbeit in sein Leben getragenes Bild ihm »geistige Wollust« und »sinnliche Seligkeit« verschaffte. Mit dieser rhetorischen Figur wird die Idee des Romans, das Thema einer sinnlich-geistigen Liebe als Lebensenergie inmitten toter Umgebung, zunächst verbal gesetzt. Julius erinnert sich weiter, wie sie sich bei der ersten Begegnung »mit eben so viel Ausgelassenheit als Religion« umarmten, womit das Programm im Moment erfüllt scheint. »Ich genoß nicht bloß, sondern ich fühlte und genoß den Genuß«. Damit ist durch die Reflexion des Genusses noch eine Steigerung gesetzt. Aber sofort folgt die ironische Brechung, indem die erinnernde Phantasie als Traum aufgedeckt wird - von dem aber doch wenigstens ein Teil realisiert werden könne. Noch einmal wird dieser Traum mit seinem idyllischen Szenarium drumherum als Illusion reflektiert. An dieser Stelle wird der Brief unterbrochen; in einem Anhang führt Julius aus, welches Schreibvorhaben er ursprünglich geplant habe, nämlich die »genaue und gediegene Historie unseres Leichtsinns und meiner Schwerfälligkeit in klaren und wahren Perioden vor dir aufzurollen«, und daß er nun - zufällig unterbrochen - versuchen wolle, »den rohen Zufall zu bilden und ihn zum Zwecke gestalten« .
Er will also von der Nachahmung der vorgefundenen Ereignisabfolge abweichen, um die Idee zu gestalten. Mit dieser Absichtserklärung seines Helden hat der Autor sein antimimetisches, vom Realitätsprinzip abweichendes Verfahren dem Leser mitgeteilt. Julius führt näher aus, er wolle »gleich zu Anfang, das was wir Ordnung nennen vernichten, sich weit von ihr entfernen und sich das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueignen und durch die Tat behaupten«, um damit das »schönste Chaos von erhabnen Harmonien und interessanten Genüssen nachzubilden und zu ergänzen«. Das heißt, im Sprachgebrauch Schlegels verbleibend, das Chaos von Harmonie und Genüssen ist in der Ordnung »gediegener Historie« nicht zu erreichen. Vom Realitätsprinzip abzuweichen, sei aber um so nötiger, als der Stoff, das heißt Leben und Lieben von Julius und Lucinde, so »unaufhaltsam progressiv und systematisch sei«, daß, wenn die Form dem entspräche, eine »unerträgliche Einheit und Einerleiheit entstünde«. Mit dieser Erklärung erhält die »reizende Verwirrung« eine ganz andere als Chaos-stiftende Bedeutung, nämlich die des Schutzes vor der dem Stoff impliziten Vollendungsneigung. Das Ausmalen und Zuendedenken des Ideals nämlich ergäbe ein derartige Einerlei - eine unerträgliche Idylle. Reflexion wird also als eine in Realität und Wunsch gleichermaßen intervenierende, den Schwebezustand herstellende Instanz eingeführt und als Prinzip un-ordentlicher, verwirrender Gestaltung konstituiert.[14]
IV Eine notwendige Rekonstruktion von Schlegels frühromantischer Romantheorie
Diese Skizze von Fabel und Form zeigt, daß es sich um ein ehrgeiziges Projekt handelt, dem man zahlreiche Fragmente, welche Schlegel 1797 im »Lyceum«, 1798 und 1800 im »Athenäum« publizierte, als Motto an die Seite stellen könnte. Es ist nach den umfangreicheren Antiken-Studien und nach den sogenannten Kritiken und Charakteristiken das erste längere Werk und das erste poetische überhaupt. Daneben steht das im selben Jahr geschriebene »Gespräch über die Poesie«, welches theoretisch zusammenfaßt, was im Roman in literarischer Form kulminiert. Hier verfährt Schlegel ebenso variationsreich wie dort: Gespräch, Rede, Versuch, Brief und immer wieder Gespräch wechseln sich ab. Theorie und Poesie nähern sich einander an, womit Schlegel dem ersten Postulat seiner »progressiven Universalpoesie«, daß nämlich »alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen«[15] sei, gerecht wird. Im »Gespräch über die Poesie« führt er konkretisierend aus, daß sich »von der Poesie eigentlich nur in Poesie reden« (KA, S.285) ließe, womit Poetik und Poesie identisch werden. Als universelle Form dieser romantischen Dichtung benennt Schlegel nun den Roman: »Ein Roman ist ein romantisches Buch.« (KA S.335)
Er denkt dabei aber nicht an eine nachahmende und erzählende Gattung, sein Poesiebegriff ist gewonnen aus einer gegenüberstellenden Betrachtung des Antiken und Modernen, die im Gegensatzpaar vom Schönen und Interessanten gefaßt ist: die am Vorbild der Antike (mit ihrernachahmenden Einheit von Dargestelltem und Darstellung) gemessene Zerrissenheit der modernen Literatur mit einem Übergewicht an Individuellem, Charakteristischem und Interessantem stellt an die romantische Poesie die Aufgabe eines unendlichen Strebens nach Vollendung. Dies einweiteres Axiom der »progressiven Universalpoesie«: »Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.« (KA S.183) Daß sie, obwohl sie ein »Bild des Zeitalters« sein soll, antimimetisch im Sinne der Gestaltung einer Idee zu verfahren habe, setzt die Erfahrung einer Diskrepanz zwischen Realität und Vollendung voraus. Daß Schlegel diese Programmpunkte in einer Romantheorie und in einem Roman formuliert, ist als Übergang von seiner kunstgeschichtlichen zur poetologischen Theoriephase zu betrachten, die, nun Grundsätze für die subjektive ästhetische Kraft formulierend, zum eigentlichen romantischen Kunstprogramm fortschreitet. Es geht nicht mehr nur um Kunstbetrachtung, sondern -Produktion: Romantische Gestaltungsprinzipien nehmen Kontur an. Im Roman müsse »alles Subjektive objektiviert werden«. Dieses 1797 in seinen literarischen Notizheften [16] noch recht abstrakt formulierte Programm wird im »Gespräch über die Poesie« konkretisiert. Romantisch sei, »was uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt« (KA S.333). Sentimental aber sei, was unser geistiges, nicht sinnliches Gefühl anspreche. Die Quelle aller dieser Regungen sei die Liebe, deshalb müsse der Geist der Liebe in der romantischen Poesie überall »unsichtbar sichtbar sein.« Hiermit ist auch das Thema romantischer Dichtung gefunden, weil es nämlich wie kein anderes geeignet scheint, diesen Übergang vom Subjektiven zum Objektiven zu ermöglichen.
Hierin und nicht allein im vorausgegangenen biographischen Erlebnis, der Begegnung mit Dorothea Mendelsohn-Veit, die sich um seinetwillen scheiden ließ, und mit der er fortan zusammenlebte, ist die Erklärung dafür zu finden, daß der Roman, mit dem Schlegel sein Romantikkonzept vorführt, von der Liebe handelt. Daß er die Liebe hier als Verallgemeinerung stiftendes Thema einführt, bedeutet aber, daß das ästhetische Prinzip der Vermittlung von Subjektivem und Objektivem nicht allein als streng poetisches verstanden werden kann. Die Liebe als menschenbildendes Motiv - im 83. Ideenfragment heißt es: »Nur durch die Liebe und das Bewußtsein der Liebe wird der Mensch zum Menschen.« (KA S.264) - wird zu einem quasi anthropologischen Prinzip. Daß ein dergestalt ins Allgemeine verweisende Thema Gefahr läuft, gemessen am Unvollendbar-keits-Axiom der »progressiven Universalpoesie«, ahistorisch zu werden und diesem Axiom in den Rücken zu fallen, wenn nämlich in Gestalt einer Übereinstimmung von Idee, Gefühltem und Dargestelltem die unerreichbar gedachte Vollendung dennoch literarisch einkehrt und Harmonie zwischen Erlebtem und Erstrebtem herstellt - dies zeigt am deutlichsten der Schluß der »Lucinde«.[17]
Im Gattungskonzept haben Reflexion und Ironie die Aufgabe, unendliche Progression zu garantieren und damit eine Idealisierung zu verhindern, die, weil sie Zerrissenheit überbrückt, zur Idylle wird. Die Reflexion soll die Mitte zwischen Realität und Ideal herstellen; das bedeutet reflektierende Verallgemeinerung des Erfahrenen ebenso wie des Ideals, das dergestalt als irreal entlarvt werde. Im Sinne der Bewegung einer »Progressiven Universalpoesie« müssen diese Reflexionen unendlich potenziert werden (Athenäum-Fragment 116).
V Die Darstellung des Weiblichen:
Künstliche Natur, Projektionsobjekt und Mythologie
Im vorausgehenden Teil habe ich rekonstruiert, wie sich das Romanthema aus der poetologischen Intention des Autors erklären läßt. »Die Steigerung des Individuellen und Charakteristischen zum Allgemeinen, das ist das Programm Schlegels für die Moderne.«[18] Zur Berurteilung des Romans ist nun die Frage zu stellen, wie sich diese Tendenz der Objektivierung des Individuellen auf die Imagination des Konkreten auswirkt. Zunächst: Welche Folgen hat Schlegels Postulat, daß Personen, Begebenheiten, Situationen und individuelle Neigungen für den wahren Dichter »nur Hindeutungen auf das Höhere« seien (»Brief über den Roman«), für die Darstellung des Weiblichen in der »Lucinde«? Als erstes werfe ich einen Blick auf die Frauengestalten.
»Dein Wesen ist eins und unteilbar.« So huldigt Julius in dem Kapitel »Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation« Lucinde. Sie sei ihm »zärtliche Geliebte«, »beste Gesellschaft« und vollkommene »Freundin« zugleich. Hiermit meint Schlegel seiner Kritik am zeitgenössischen Frauenbild Rechnung zu tragen. Er hatte Rousseaus Bestimmung des Weibes kritisiert, 1796 in einer Rezension von Schillers »Musenalmanach« dessen Gedicht »Die Würde der Frauen« verhöhnt und 1797 in einer Besprechung von Jacobis »Woldemar« bemängelt, daß der Held in der Aufteilung seiner Zuneigung an zwei Frauen ihnen jeweils die Hälfte ihrer Persönlichkeit raube, indem er der sogenannten Seelenfreundin die sinnliche und der Ehefrau die geistige Beziehung verweigere. Schlegel trifft damit eine verbreitete Erscheinung, die in geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung unspezifisch als Dualismus von Geist und Körper erklärt wird, die ich demgegenüber als gespaltenes Frauenbild kennzeichnen möchte. Männliches Unvermögen, in der Frau Geliebte und Partnerin zugleich zu sehen, hat zahlreiche Variationen solcher Spaltungsphantasien hervorgebracht. Schlegel nun will diese Position überwinden. In seinem Entwurf einer geistig-sinnlichen Liebe wird die Frau aber lediglich zum Medium der Einheitsstiftung für den Mann.
In den »Lehrjahren der Männlichkeit« sind die Frauen, denen Julius begegnet, nur Stationen auf dem Wege zu seiner Einheit und Vollkommenheit. Sie repräsentieren deshalb jeweils nur Teile des Ganzen: Die erste, »ein edles Kind«, verkörpert naive Unschuld; die zweite, eine »freie, schöne Frau«, hat Sinnlichkeit ohne Geist; die dritte, Lisette, ein »beinahe öffentliches Mädchen«, besitzt alle Künste der Sinnlichkeit und auch Verstand, ohne daß beides aber sich versöhnen würde; die vierte, »eine Frau, die einzig war«, ist vollkommen, für ihn aber unerreichbar, da sie die Geliebte seines Freundes ist; die fünfte, eine »edle Frau«, hat feinen Geist und stille Schwermut; die sechste, die »er als Schwester verehrte«, den Geist freundlicher Ordnung und die Treue eines mütterlichen Herzens; die siebente, »ein gebildetes Mädchen«, scheut sich vor der Sinnlichkeit; aber die achte schließlich ist vollkommen und erreichbar - es ist Lucinde. Diese, hinsichtlich der vom Mann ersehnten Eigenschaften doch wieder aufgespaltenen Frauentypen erweisen sich deutlich als Projektionen seiner Wünsche, und das nicht erst aus der Sicht der genau lesenden Interpretation, sondern schon in der Redeweise des Erzählers selbst: »Er glaubte alles in ihr [Lucinde, d.Verf.] vereinigt zu besitzen, was er sonst einzeln geliebt hatte.« (S.74f.) Also auch Lucindes Vollkommenheit realisiert sich als Einheit erst in seinem Besitz!
Dies zeigt, daß die Frauenfiguren des Romans keine Charaktere sind, sie sind nicht als Individuen gestaltet, sondern Objekte für die Projektionen des männlichen Helden - und in der Identifikation des Verfassers mit dem Helden als Träger seiner Ideen - auch der seinigen. In der Funktion sind die Frauen also Kunstfiguren, synthetisch auch innerhalb der Fabel. Sie gewinnen ihre Bedeutung aus der Aufgabe, eine ästhetische Idee im literarischen Text zu realisieren. Heine hat in seiner romantik-kritischen Polemik auf diesen künstlichen Charakter der Lucinde hingewiesen: »Ihr Gebrechen ist eben, daß sie kein Weib ist, sondern eine unerquickliche Zusammensetzung von zwei Abstraktionen, Witz und Sinnlichkeit.«19 Diese Unlebendigkeit der Figur muß dem Inhalt des entworfenen Frauenbildes nicht widersprechen, der Frau als Naturwesen, weil ja gerade diese Natur-haftigkeit Entwicklung und damit auch Individualität für die Frau ausschließt. Das wird als Programm schon im ersten Teil des Romans entworfen. In einem Anhang an die »Allegorie von der Frechheit«, einer Erörterung der Unterscheidung von männlichem und weiblichem Wesen, wird die Frau als dem Manne von Natur aus überlegen bezeichnet. Die Liebeskunst sei ihr angeboren, während der Mann sie sich erst anbilden müsse. Die Ambivalenz dieser Naturbestimmung der Frau, die nämlich deren natürliche Begrenzung ebenso einschließt wie ihre angebliche Überlegenheit, macht ihren statischen Charakter aus. Die dennoch vorhandene Vielfalt durch die Existenz vieler unterschiedlicher Frauen dient dem Manne zur Entfaltung seiner dynamischen Anlage. Eine weitere Konsequenz der Naturvorstellung von der Weiblichkeit ist die weitschweifige Pflanzenmetaphorik, mit der die Frauen im Roman bedacht werden.
In seinem naturhaften Status ist das Weibliche in der »Lucinde« doppelt eingesperrt, einerseits durch die anthropologische Bestimmung der natürlichen Vollendung des Weibes, andererseits durch die ästhetische Konzeption, für die Schlegel das Pflanzenmotiv gewählt hat, wie sich stilistisch in der arabesken Struktur nachweisen läßt (vgl. Polheim). Das Pflanzenmotiv durchzieht alle Ebenen der Werkstruktur.20 Esther Hudgins hat in ihrer Untersuchung über das »Geheimnis der Lucinde-Struk-tur« Schlegels Anlehnung an Goethes »Metamorphose der Pflanzen« nachgewiesen. Bei der Darstellung des Helden folgt Schlegel allerdings einer anderen Anregung Goethes, nämlich dem Entwicklungsroman (vgl. VI). So verläuft die Entwicklung des Mannes inmitten einer aus Frauenfiguren sich zusammensetzenden Natur.
Dieser Gegensatz von weiblichem Wachstum und männlicher Entwicklung ist für den Roman konstitutiv - und dennoch in weiten Teilen der »Lucinde«-Rezeption unbeachtet. In ihrem Beitrag über die »Frauen als Einlösung der romantischen Kunsttheorie« betrachtet Hannelore Schlaffer21 Julius' »Lehrjahre« als »Individuation der universalen Kunstgeschichte« und die Frauen als Verkörperung der »Entwicklungs- und Menschheitsgeschichte«, wie Schlegel sie in seinem Studium-Aufsatz entwickelt hat, und kommt zu dem Ergebnis, daß die Frauen die Inkarnation der Idee vom poetischen Leben seien. Ohne Unterscheidung zwischen-Frauenbildern, lebenden Frauen (z.B. Bettine) und Texten von Frauen wertet sie mit Hinweis auf die bekannten Stichworte (Schreiben, Gleichberechtigung, Androgynenmotiv) die Frauen als »Verwirklichung des Entwurfs«. In der immanenten Rekonstruktion von Julius' Werdegang entlang der Frauenfiguren, deren Kennzeichnung dem Schlegelschen Progressionsmodell von der Naivität (als unbewußter Übereinstimmung) über die Zerrissenheit (als Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit) hin zur wiedergewonnenen Harmonie folgt, wiederholt sie Schlegels Übersetzung einer Abstraktion in die Imagination einer weiblichen Figur in umgekehrter Richtung. Dieses Beispiel kann verdeutlichen, wie weitreichend eine versäumte Unterscheidung zwischen den Kategorien Frau und Frauenbild für die Interpretation ist.
Die Motive des androgynen Geschlechtscharakters und des Rollentausches,[22] die im Zusammenhang der Wertung der »Lucinde« als emanzipa-torischer Roman zitiert werden, erweisen sich bei genauer Lektüre als isolierte rhetorische Formeln. Die programmatisch anmutende Äußerung: »Ich sehe hier eine wunderbare sinnreiche bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit« (S.15), folgt im Text der Szene, die in die Rezeption als »Rollentausch« eingegangen ist, die der Autor selbst als »witzigste und schönste Situation« bezeichnet: wenn Julius und Lucinde die Rollen tauschen und wetteifern, ob ihr die »schonende Heftigkeit des Mannes« oder ihm die »anziehende Hingebung des Weibes« besser gelänge. Im Textzusammenhang wird das Motiv dieses Tausches aufgedeckt, nämlich die »verzehrende Glut in Scherzen zu lindern und zu kühlen«. Der Scherz als Begrenzung des Rausches, das entspricht genau der Dialektik von Ironie und Idylle, von Reflexion und Enthusiasmus, die das Romankonzept leitet: der Rollentausch also als Entgrenzung korrigierendes Moment. Das daran anschließende Postulat von der Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur ganzen Menschheit ist im Sinne des poetischen Programms verallgemeinernde Reflexion. Daß solchen objektivierenden Aussagen im Konkreten widersprochen wird, ist nicht nur an diesem Textbeispiel zu zeigen. An späterer Stelle heißt es nämlich ganz selbstverständlich nur noch, »in ihm [dem Manne, d.Verf.] ist die Menschheit vollendet« (S.27).
Vergleichbare Widersprüche zwischen konkreter Erzählung und abstrahierendem Postulat sind zahlreich. Ihnen ist eines gemeinsam, daß sich nämlich im Einzelnen die im Allgemeinen rhetorisch abgeschaffte Herrschaft des männlichen Prinzips wieder einstellt. So etwa, wenn Julius behauptet, ihm sei es egal, ob er einen Sohn oder eine Tochter bekäme, in seinen Spekulationen aber durchgängig vom Sohn spricht; oder wenn er von der Fremdheit redet, die manchmal zwischen, nicht in ihnen sei, dann aber sie auffordert, sie solle sie aus sich entfernen. Aber auch auf der konkreten Ebene läßt sich die Herrschaft des männlichen Prinzips im ganzen Text nachweisen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der »Dithyrambischen Fantasie über die schönste Situation« phantasiert Julius seinen eigenen Tod. Wie selbstverständlich geht er davon aus, daß ihm die Geliebte ins Grab folgt (S.13). Als Julius dagegen später anläßlich einer Krankheit eine Vision vom Tode der Geliebten hat, phantasiert er sein Fortleben nach ihrem Tod als »geweihten Götterdienst« (S.95).
Hier entlarvt sich die Überhöhung der Frau zur Göttin und Priesterin in ihrer Funktion, das Leben des Mannes zu weihen, aufzuwerten. Die Frau als Projektionsobjekt hilft dem Manne, seine Mitte zu finden. Die Zerrissenheit, die Julius am Anfang der »Lehrjahre« empfindet (»Sein ganzes Dasein war in seiner Fantasie eine Masse von Bruchstücken ohne Zusammenhang«, S.48), ist am Ende der Lehrjahre der Einheit gewichen. Indem Julius in Lucinde seine Mitte findet, hat Schlegel mit dem Weiblichen und der Liebe eine neue Mythologie eingeführt, von der er in der »Rede über die Mythologie« noch behauptet hatte, daß sie der neuen Poesie fehle: »Es fehlt, behaupte ich, unserer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie der Alten war.« (KA S.312) Hier bin ich wieder beim Ausgangspunkt meiner Interpretation, daß sich nämlich mit dem Weiblichkeitsmodell der »Lucinde« eine Vollkommenheit - und zwar in Form eines männlichen Vollkommenheitsfetisch - eingeschlichen hat, die dem Postulat der »progressiven Universalpoesie« in den Rücken fällt.
VI Die Darstellung des Mannes:
Held, personifizierte Geschichte und Narziss
Im folgenden soll das Entwicklungsmodell, welches Schlegel für seinen männlichen Helden entworfen hat, untersucht werden. Auch für Julius ist mit der Erreichung der Harmonie in der sinnlich-geistigen Liebe eine weitere Entwicklungsmöglichkeit suspendiert. Dies ist das Ergebnis des gattungsimmanenten Widerspruchs, daß Schlegel die Gestaltung einer Idee mit der Übernahme von Strukturmomenten eines Entwicklungsromans - in Anlehnung an Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« - vermischt. Durch die Konzentration auf das Leitthema Liebe wird der Raum, in dem die Entwicklung des Helden dargestellt ist, auf die Geschlechterbeziehung zwischen Mann und Frau reduziert.
In seiner Kritik an Goethes Roman hatte Schlegel den Text wohl als Bildungs-, nicht aber als Entwicklungsroman gewürdigt: darin werde nämlich die Bildung selbst dargestellt, während von einer individuellen Bildung Wilhelms eigentlich nicht gesprochen werden könne. Ohne wirkliche Einlassung auf den Inhalt rekonstruiert Schlegel in seiner Kritik die Struktur des Textes. An anderer Stelle, im »Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken«, faßt er seine Lesart in der Formel zusammen, der Roman sei eigentlich zweimal gemacht, aus zwei Ideen: ein Künstlerroman und eine Bildungslehre der Lebenskunst. Während er das Lebensprinzip des »Wilhelm Meister« weitgehend ignoriert, teils abwehrt, liegt sein Interesse eindeutig bei dem Verfahren der Entfaltung des künstlerischen Prinzips, in welchem er romantische Elemente zu entdecken glaubt. Die Entwicklung von der Naturpoesie zur »Künstlichkeit und Absichtlichkeit der Kunstlehre« in den Shakespeare-Kapiteln des »Wilhelm Meisters« entspricht in seiner Rezeption dem eigenen kunstgeschichtlichen Verständnis. Diese künstlerische Höherentwicklung, manifestiert im Bildungsweg des Romanhelden Wilhelm, wird nun in der »Lucinde« übernommen und in den »Lehrjahren der Männlichkeit« auf die Höherentwicklung möglicher Liebesgrade übertragen. Die Stufen, die im »Wilhelm Meister« von mehreren Figuren bzw. Gruppen repräsentiert werden, sind in Julius' »Lehrjahren« jeweils durch eine Frau verkörpert, wodurch sich der dort weite gesellschaftliche Raum hier jeweils auf eine Zweierbeziehung einengt. Ausgehend von der Absicht, einen Roman über die Bildung der Liebe zu schreiben und unter Übernahme von Kunstentwicklungsschritten, die nun, derart eingeengt, als Entwicklungsstufen eines Individuums erscheinen, gerät Schlegel das Progressionsprinzip der Kunst zum Lebensprinzip seines Helden. Das bedeutet im Resultat eine Individualisierung - und auf den Helden bezogene Psychologisierung seines am Kunststudium gewonnenen Geschichtsverständnisses. Der Held als personifizierte Kunst- und Menschheitsgeschichte - dies ist das korrespondierende Männerbild zur weiblichen Natürlichkeit.Der Menschentypus dieses männlichen Pendants zum Projektionsobjekt Frau ist ein Narziß. »In diesem Spiegel (in dir) scheue ich mich nicht, mich selbst zu bewundern und zu lieben.« (S.ll) Die Frau als Spiegelobjekt wird unverhohlen thematisiert. Wie unproblematisch der Autor dies sieht, wird an anderer Stelle deutlich. Im Kapitel. »Sehnsucht und Ruhe«, einem Dialog zwischen Lucinde und Julius, sagt sie zu ihm: »Du bists, es ist die Wunderblume Deiner Fantasie, die Du in mir, die ewig Dein ist, dann erblickst.« (S.104) Statt aber zu erschrecken oder sich ertappt zu fühlen, antwortet er, sie solle doch nicht so bescheiden sein und ihm nicht so schmeicheln.
Ein voranalytisches Narzißmusverständnis zeigt sich darin, daß gerade im Zusammenhang solcher Spiegelbilder der Begriff des Narziß im Roman nicht auftaucht, während in einer Szene, in welcher das Spiegelobjekt Frau noch nicht an die Stelle des eigenen Spiegelbildes im Wasser getreten ist, der Held sich selbst mit dem Narziß vergleicht. Dieses mythologische, voranalytische Verständnis des Narziß führt dann auch zu der nachfolgenden Abgrenzung gegen den Eigennutz mithilfe des Arguments, daß seine »Spekulation unaufhörlich nur um das allgemeine Gute besorgt« sei (S.32), ein Indiz, das moderne psychoanalytische Narzißmustheorie gerade als Ausdruck narzißtischer Grandiositätswünsche definiert.
Der Kontext dieser Narziß-Szene, die »Idylle des Müßigganges«, hat die Ich-Suche zum Ziel. Nur in Ruhe, Gelassenheit und Sanftmut sei es möglich, sich an sein eigenes Ich zu erinnern. Dieses Motiv, die Erinnerung quasi als Bewußtseinsarbeit zur Identitätsfindung, hat psychoanalytisch motivierte Deutungen dazu verleitet, dieses Verfahren als dem der psychoanalytischen Selbstanschauung vergleichbar zu betrachten, um den Aufbruch einiger Helden romantischer Texte in mythologische und archaische Räume in psychoanalytische Begrifflichkeit übersetzen zu können. Disch-ner etwa interpretiert in ihrer Theorie des »orphischen Narzißmus« zahlreiche Motive romantischer Poesie als Abstieg ins eigene Unbewußte. Der »orphische Narziß«, das ist der liebesfähig gewordene Narziß; als solchen betrachtet sich auch Julius, der »das Stadium des Spiegelnarziß im Augenblick der Liebe durchschritten« habe.[23] Das Verfahren, romantische Texte als Thematisierung des Unbewußten zu lesen und die mythologische Ebene als Eröffnung archaischer Wunschfelder zu entschlüsseln, hat die historische Distanz zwischen dem literarischen Material, seinen zu analysierenden Sprachbildern - die an die Stelle des gesprochenen Materials des Analysanden treten - und dem heutigen analytischen Theoriewissen und -Vokabular zur Voraussetzung. Die unmittelbare analytische Deutung überspringt eine notwendige theoretische Vermittlungsebene, die darin läge, die in der Poesie enthaltenen mythischen Bilder im textlichen und zeitgenössischen Zusammenhang mit den von den Autoren selbst gefundenen psychologischen Kategorien (wie z.B. Ich-Suche) zu untersuchen, d.h. das Verhältnis des Bildmaterials zu den im Text manifesten voranalytischen psychologischen Begriffen zu bestimmen. In der »Lucinde« z.B. werden mythische Figuren in allegorischer Darstellung verwendet; daneben existiert ein Vokabular, das an heutige psychoanalytische Begrifflichkeit anklingt. Das Problem der Vergleichbarkeit solcher Kategorien wie Chaos, Realitäts- und Lustprinzip in Schlegels Verwendung mit ihren modernen psychoanalytischen Bedeutungen ist bis heute nicht untersucht.
VII Von der Aura der feinen Gesellschaft zur Häuslichkeit ländlicher Idylle
Entsprechend des restaurativen Charakters der Geschlechtsrollen und der Harmonisierung in der »freundlichen Beschränkung« zur Idylle erweist sich auch der sozialgeschichtliche Gehalt des Romans als nicht gerade progressiv. Eine für romantische Literatur typische Antihaltung gegen feudale wie bürgerliche Gesellschaft ist auch in der »Lucinde« ausfindig zu machen. Der Held aber durchbricht diese Antihaltung - durch sein heimliches Faible für die feine Gesellschaft einerseits und andererseits dadurch, daß seine »wahre Ehe« (d.h. bei Schlegel Liebesbeziehung im Gegensatz zu den zeitgenössischen Opportunitätsehen) in dem Wunsch nach einer bürgerlichen Kleinfamilie endet. Schleiermacher hat in seinen »Vertrauten Briefen über die Lucinde« - eine die Moral und die Form des Romans weitgehend rechtfertigende Schrift - in wohlwollendem Gestus die Funktion des Bürgerlichen und Adligen recht treffend beschrieben: »Die bürgerliche Welt und die feine Gesellschaft sind so gut als gar nicht vorhanden, erstere wird möglichst vernichtet, letztere nur ein paarmal flüchtig erwähnt und leicht gebraucht, dann aber sogleich wieder aus der Hand gelegt, und auf die Szene kommt eigentlich nichts als Julius und Lucinde.«[24] Der sozialästhetische Sinn eines solchen, von Schleiermacher charakterisierten Verfahrens ist in der »Lucinde« die auratische Aneignung des Vornehmen sowie die programmatische Kritik des Bürgerlichen im Prinzipiellen und bürgerliche Anpassung im Konkreten. Die feine Gesellschaft, als Szenarium von Julius' erotischer Karriere punktuell im Text anwesend, geht als Kolorit, als Hauch des Besonderen auf den Helden über Aura wird fast unmerklich personifiziert. Die widersprüchliche Haltung gegenüber dem Bürgerlichen ist offensichtlicher. Die Ablehnung derbürgerlichen Ehe wird ergänzt in der »Idylle des Müßigganges« durch eineOpposition gegen rastlose Tätigkeit - symbolisiert in der Prometheusgestalt, die selbst gefesselt, hastig Menschen fertigt, die sich so ähneln, daßsie ununterscheidbar, ohne eigenes Ich, sind und die von Prometheus zurArbeit verführt werden. Daß Schlegel den Prometheus hier als »Erfinderder Erziehung und Aufklärung« vorführt, rückt seine Allegorie in einenmodernen Kontext dialektischer Aufklärungskritik.
Die Dichotomie von Nützlichkeit und Freude/Schönheit durchzieht leitmotivisch auch andere Passagen des Romans. Die mitklingende Bedeutung der Freude als Eigenschaft des Adels und als ein in die Ewigkeit verweisendes Moment impliziert eine ambivalente Haltung, wie auch die beiden Schlußvarianten beweisen, in denen nun die Nützlichkeit und die überirdische Ewigkeit als zwei Möglichkeiten der Fortsetzung des Liebesglückes getrennt erscheinen. Die erste Variante, als ländliche Idylle inszeniert und als »Würde der Häuslichkeit« gelobt, rehabilitiert Nützlichkeit und Eigentum. Anläßlich des erwarteten Kindes wird in einem Brief Julius' an Lucinde diese Revision der Lebensform entworfen. Eine Aneinanderreihung einiger Stichworte, die in diesem Zusammenhang fallen - »schönes Eigentum«, »freundliche Beschränkung«, »wahrhaft nützlich«, »echte Ehe«, »tüchtig«, »ein eigener Herd«, »Würde der Häuslichkeit« usw. - sollte den Bedeutungsgehalt dieser bürgerlichen Wende hinreichend demonstrieren, um einer Deutung zu widersprechen, die in diesem Verlauf - so Klin in seiner vorgeblich materialistischen Interpretation [25] - den glücklich erlangten Gesellschaftsbezug eines vormals nur subjektivmotivierten Helden sehen will. »Nun hat das Heiligtum der Ehe mir dasBürgerrecht im Stande der Natur gegeben.« (S.83) Dieser Ausspruch desHelden soll als Beleg für seine über das Kind gewonnene Haltung »sozialerGebundenheit«, die ihn vor dem »Abgleiten in Rausch und Subjektivismus« bewahre, gelten. Ein solcher, vordergründiger Analogieschluß vom Worte Bürgerrecht zum Gesellschaftsbezug sieht von dem ganzen szenischen und Bedeutungskontext ab.
Klins angestrengter Rettungsversuch von Friedrich Schlegels einzigem Roman für die sozialistische Erbetheorie erscheint bei genauer Lektüre der »Lucinde« ebenso absurd wie das Unternehmen, diesen Text in die Tradition des Bemühens um Frauenemanzipation stellen zu wollen.