Zur Geschichte der Jeanne d'Arc
und ihrer literarischen Verarbeitung
I Einleitung
Die Frage: Wer war Jeanne d'Arc eigentlich? ist gar nicht so einfach zu beantworten. Schon die vielen Beinamen »Jungfrau von Orleans«, »Heilige Johanna«, »Lerche« usw. verwirren. Historische Realität, Legenden und Mythen haben sich mit literarischer Fiktion in einer Weise vermischt, daß dahinter die reale Frau verschwunden ist und erst mühsam rekonstruiert werden muß. Für mich ist die Gestalt der Johanna ein besonders gutes Beispiel dafür, wie reale Frauen ihrer Identität beraubt und zur Projek-tionsfläche für männliche Phantasien werden. Johanna erleidet einen doppelten Tod, sie ist Opfer in zweifacher Hinsicht: Sie wird verbrannt als Hexe und sie wird noch einmal ausgelöscht in den unzähligen Phantasien, die sich an ihre Person und an ihr Leben knüpfen, die ihr gleichsam übergestülpt werden, sie zudecken und ersticken. Johanna als Hexe und Johanna als Heilige markieren dabei nicht nur die Extrempunkte männlicher Phantasietätigkeit, sondern sie haben auch den realen Lebensweg Johannas bestimmt.
Im folgenden will ich versuchen, diesen Enteignungsprozeß und den sich immer wieder von neuem vollziehenden Tötungsvorgang aufzuzeigen, in dem zugleich ein Stück lebendiger weiblicher Geschichte verschwindet, und ihn mit der realen Geschichte der Jeanne d'Arc zu konfrontieren, wie sie sich aus den Quellen rekonstruieren läßt. Meine Ausgangsfragen sind folgende:
Was für eine Frau ist Johanna von Orleans gewesen, woher hat sie die Kraft für ihre ungewöhnlichen Taten genommen, woher kommt die Stärke, mit der sie sich in der feudal-patriarchalischen Welt des Mittelalters ihren Weg nach oben bahnte, um sich an die Spitze eines großen Heeres zu stellen, woher kommt ihre Gelassenheit, den quälenden und sie als Frau entwürdigenden Prozeß durchzustehen und woher der Mut, mit dem sie den Flammentod schließlich auf sich nahm?
In der älteren und neueren Sekundärliteratur habe ich sehr wenig Antworten auf diese Fragen gefunden. Natürlich konnte ich nicht alle Untersuchungen heranziehen. Bereits im Jahre 1924 gab es über 12000 Titel, die sich mit dem Leben und dem Prozeß der Johanna von Orleans beschäftigten. Inzwischen ist die Zahl der Titel noch weiter angeschwollen, so daß die bloße Übersicht einen Einzelnen überfordert. Die gängigen neueren und greifbaren Darstellungen - im übrigen sind es nur sehr wenige, das Interesse an Johanna hat nach dem 2. Weltkrieg sehr abgenommen - versuchen zwar ein Bild der historischen Johanna zu zeichnen, aber es ist doch recht schwer, aus dem Wust der historischen Details die wichtigen Informationen herauszufinden.[1] Ich habe mich deshalb nicht auf die Sekundärliteratur verlassen - obgleich ich in Details durchaus von ihr profitiert habe -, sondern ich habe mich in erster Linie auf die Quellen selbst gestützt, weil sich von hier aus am ehesten ein authentisches Bild von der Zeit und von der Person Johanna her gewinnen läßt.
Grundlegend ist das fünfbändige Werk des französischen Historikers und Archäologen Jules Quicherat, das von 1841 bis 1849 im Auftrag der Societe de l'histoire de France veröffentlicht wurde.[2] Es enthält neben den Akten des Verurteilungsprozesses und des späteren Rehabilitationsprozesses eine Fülle von Dokumenten zu Johanna, die teils zu ihren Lebzeiten, teils später verfaßt worden sind. Im Deutschen liegt leider nur eine schmale Auswahl vor, die aber die wesentlichen Verhöre und Anklagepunkte enthält.3 Ich werde mich im folgenden vor allem auf die publizierten Prozeßakten stützen, weil ich denke, daß sich aus ihnen eher als aus Sekundärdarstellungen ein lebendiges und authentisches Bild der historischen Johanna ergeben wird.
Bevor ich auf das Leben und die Bedeutung Johannas zu sprechen komme, noch kurz etwas zur Glaubwürdigkeit der Quellen. Die Urschrift des Verurteilungsprozesses war in französischer Sprache abgefaßt. Zwei Schreiber haben sich während der Verhöre Notizen gemacht und die Fragen und Antworten sowie die Beratungen der Richter schriftlich niedergelegt. Noch am gleichen Tage besprachen sie dann ihre Eindrücke und einigten sich auf einen einheitlichen Text, in dem die Fragen und Antworten der Verhöre in französischer und nur die Beratungen und Beschlüsse der Richter in lateinischer Sprache geschrieben waren. Wenn Zweifel bestanden, fügten die Schreiber Randbemerkungen hinzu und baten Johanna um Klarstellung. Es ist in den Akten überliefert, daß Johanna das Protokoll zur Begutachtung vorgelesen wurde. Diese im wesentlichen französische Originalfassung ist leider verloren gegangen. Erhalten sind nur zwei Kopien, von denen die eine unvollständig, die andere wenig zuverlässig ist. Das vollständige Manuskript des Verurteilungsprozesses liegt nur in lateinischer Sprache vor. Dabei handelt es sich um eine Übersetzung, die erst nach Johannas Tod erfolgt ist. Sie enthält nicht nur die Verhöre, sondern sie enthält auch eine lange Darlegung des gesamten Prozeß Verlaufs. Bei der Beurteilung der Prozeßakten erhebt sich naturgemäß die Frage, ob der Prozeß verlauf auch richtig wiedergegeben ist. In der Tat scheint es nicht an Versuchen der Richter gefehlt zu haben, die Schreiber in ihrer Arbeit zu beeinflussen. Dennoch kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die Schreiber die Aufzeichnungen im ganzen gesehen sorgfältig und korrekt vorgenommen haben. Als gewichtige Gründe für diese Annahme sprechen die späteren Aussagen der Schreiber selbst, aber auch die Aussagen anderer zuverlässiger Zeugen im späteren Rehabilitationsprozeß.
Neben den Protokollen des Verurteilungsprozesses bilden die Akten des Rehabilitationsprozesses eine bedeutsame Quelle zum Verständnis der Johanna von Orleans. 21 Jahre nachdem Johanna auf dem Scheiterhaufen zu Rouen verbrannt worden war, eröffnete der Erzbischof von Rouen auf Veranlassung des französischen Königs und mit Unterstützung des Papstes das Rehabilitationsverfahren, in dem über 150 Zeugen verhört wurden und das mit der Aufhebung des früheren Urteils gegen Johanna endete. Der Prozeß stand schon ganz im Banne der sich inzwischen ausgebildeten Johanna-Legende, mit der nicht allein Johannas Sendung ins Übersinnliche, sondern auch eine Fülle von Einzelereignissen in die Sphäre des Wunders gerückt worden waren. Trotz solcher Einschränkungen vermitteln die Zeugenaussagen wichtige Informationen über Johannas Leben, über ihre Gewohnheiten und Eigenschaften. Gegenüber den Akten der beiden Prozesse tritt die Bedeutung der übrigen Quellen weit zurück. Lediglich die überlieferten Briefe Johannas verdienen besondere Aufmerksamkeit. Wenn Johanna diese Briefe auch nicht mit eigener Hand geschrieben hat und wahrscheinlich von Kanzleibeamten des Königs bei der Abfassung beraten wurde, so lassen sie doch deutlich das Selbstbewußtsein, den Sendungsglauben und die Siegesgewißheit erkennen, die für Johannas Person kennzeichnend sind. Alle weiteren Quellen sind mit großer Vorsicht zu benutzen, da die politische Einstellung des jeweiligen Chronisten das Bild ganz entscheidend prägt. Während Johanna in den französischen Quellen durchweg als Heilige und als Auserwählte und Retterin Frankreichs verherrlicht wird, stehen die burgundischen Schreiber - Burgund war damals mit England verbündet - Johanna ablehnend gegenüber, einige verdammen sie sogar als Hexe und ein von Dämonen besessenes Weib.
II Das Leben Johannas
1. Herkunft und Jugend
Jeanne d'Arc, berühmt geworden unter dem Namen Johanna von Orleans, wurde als Tochter des Pächters und Dorfschulzen Jacques d'Arc geboren. Die Mutter Isabelle Romee galt als eine besonders fromme Frau, der Beiname Romee rührt daher, daß sie angeblich eine Rompilgerfahrt unternommen hat. Einige Quellen legen die Vermutung nahe, daß die Mutter eine Anhängerin des mystischen Kults der reinen Madonna von le Puy-en-Velay gewesen ist und ihre Tochter bei ihrer Sendung beeinflußt und vorbereitet hat. Außer Johanna hatten die Eltern noch eine weitere Tochter und zwei Söhne Jean und Pierre, die Johanna auf ihrer späteren Mission begleitet haben. Das Geburtshaus Johannas, das noch heute neben der alten Dorfkirche St. Remy (dem heiligen Remigius geweiht) steht - wenn auch durch zahlreiche Umbauten verändert -, zeigt, daß die Eltern für die damalige Zeit ziemlich wohlhabende Leute gewesen sein müssen. Johanna selbst hat im Prozeß nicht ohne Stolz berichtet, daß sie eine gute Ausbildung bekommen habe, in allen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten sorgfältig unterwiesen worden sei und zum Hüten der Schafe niemals herangezogen worden wäre; dazu waren Knechte da.
Das Geburtsdatum ist strittig.[4] Die verschiedenen Selbstaussagen Johannas im Prozeß und die Aussagen vieler anderer Zeugen machen es aber wahrscheinlich, daß sie um 1421 geboren ist. Der Geburtsort, das kleine Dorf Domremy, liegt am linken Ufer der Maas auf der Grenze zwischen der Champagne und Lothringen. Zu Johannas Zeiten führte durch das Dorf eine bedeutende Pilgerstraße, die die Dorfbewohner mit dem politischen und religiösen Leben der Zeit in Berührung kommen ließ. Pilger und die zahlreichen Flüchtlinge, die durch das Dorf kamen, werden den Bewohnern von ihren Schicksalen erzählt und einen Eindruck von dem chaotischen politischen Leben vermittelt haben, in dem sich Frankreich zur damaligen Zeit befand.
Frankreich als politische Einheit existierte damals nicht. Seit vielen Jahren war Frankreich in militärische Kämpfe und politische Auseinandersetzungen mit dem Nachbarland England verwickelt. Es war die Zeit des sogenannten 100jährigen Krieges zwischen beiden Ländern, der Unsummen von Geld und Menschenleben kostete und der die Bevölkerung durch Hungersnöte, Pest, Mißernten, drückende Abgaben etc. in Armut und Verzweiflung gestürzt hatte.[5] Man kann von einer tiefgreifenden Krise der feudalen Ordnung sprechen, die in der Bevölkerung den Gedanken an eine Endzeit, an das Jüngste Gericht und das Nahen des Antichrist hervorrief.[6]Wanderprediger zogen durchs Land und bestärkten die verängstigte, wundergläubige Bevölkerung in ihrem Glauben, daß nur noch Wunder helfen könnten.
Frankreich selbst war territorial zerrissen. Im Norden, in der Bretagne, der Normandie und der Champagne, und im Süden in der Guyenne saßen die Engländer, Burgund war mit den Engländern verbündet, Paris, Orleans und Reims befanden sich in englischer Hand. Das Königreich drohte im Klammergriff des Feindes zu ersticken. Der Dauphin Karl VII. - seine Krönung in Reims stand noch aus - war ein schwacher König, der von skrupellosen und gewissenlosen Günstlingen beherrscht wurde. Zu seinen Favoriten gehörte u.a. der berüchtigte Gilles de Rais, der später eine grausige Berühmtheit als Massenmörder erlangte.[7] Er soll über 140 Kinder vergewaltigt, gefoltert und getötet haben. Karls Mutter, die Königin Isabeau, hatte sich mit den Engländern verbündet, sie intrigierte gegen den eigenen Sohn und setzte Gerüchte über seine Illegitimität in Umlauf.[8] Die Lage des Königs schien aussichtslos. Mit seinen Günstlingen hatte er sich auf die Festung in Chinon zurückgezogen, gab sich Ausschweifungen hin, zerrüttete seinen Geist und seine Gesundheit, verschwendete Unsummen für die Hofhaltung und die Ausstattung seines jeweiligen Favoriten und sah untätig zu, wie sein Land allmählich verkam und die Engländer immer tiefer in seine Gebiete eindrangen.
Das war die historische Situation, in die Johanna hineingeboren wurde. Sie muß bereits relativ früh mit der Lage ihres Vaterlandes vertraut gemacht worden sein und von Mitleid mit dem angeblich so unglücklichen, vertriebenen Dauphin ergriffen worden sein. Jedenfalls entschließt sie sich als 13jährige, Domremy zu verlassen, um die Engländer aus dem Land zu vertreiben und den Dauphin in Reims zum rechtmäßigen König zu salben. Dieser Entschluß ist außergewöhnlich, wenn man sich die Situation der Frau im späten Mittelalter vergegenwärtigt. Johanna rechtfertigte ihren ungewöhnlichen Schritt mit der Behauptung, die Stimmen des Heiligen Michael, der Heiligen Margaretha und der Heiligen Katharina hätten sie immer wieder aufgefordert, dies zu tun.[9]
Über diese Stimmen ist viel gerätselt worden. Einige Autoren meinen, daß sich fremde Personen als Erzengel verkleidet Johanna genähert hätten, um sie für ihre Ziele auszunützen und ihr ihre Mission eingeredet hätten (z.B. Anatole France). Tatsächlich gab es eine Weissagung von Marie d'Avignon, daß Frankreich von einer Frau zugrunde gerichtet würde (man bezog das auf die Königin Isabeau) und durch eine Jungfrau aus Lothringen wieder gerettet werden würde. Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser in der Bevölkerung fest verwurzelten Weissagung gab es zu Johannas Zeiten mehrere Jungfrauen, die diese Weissagung auf sich bezogen und Frankreich retten wollten. Mit einer dieser konkurrierenden Jungfrauen traf Johanna später sogar zusammen, hielt sie aber im Gegensatz zu sich selbst für eine Betrügerin. Andere Autoren, die eine starke Bindung an die Kirche und die Religion haben, glauben, daß diese Stimmen tatsächlich von Gott gekommen sind, wieder andere glauben an pathologische und halluzinatorische Störungen.[10] Wie dem auch sei - Johanna jedenfalls glaubte fest an diese Stimmen und hörte sie bis zu ihrem Tod.
Johanna brach also auf. Die Befürchtung des Vaters, daß seine Tochter irgendwann einmal mit den Soldaten wegziehen werde, hatte sich in abgewandelter Form bestätigt. Sie zeigt, daß Johanna schon sehr früh Interesse an Soldaten und am militärischen Kampf gezeigt haben muß, das freilich vom Vater als ein vordergründig erotisches falsch gedeutet worden ist. Nicht zuletzt, um die Tochter im heimatlichen Dorf zu halten, scheint der Vater auf die Idee gekommen zu sein, die Tochter möglichst früh zu verheiraten. Diese widersetzte sich den Plänen des Vaters jedoch auf das heftigste, da sie vor den Stimmen ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, von dem die Eltern freilich nichts wissen konnten, weil Johanna über ihre Stimmen und Entschlüsse schwieg. Als sie das Dorf bereits verlassen hatte, strengte jedenfalls ein junger Mann einen Prozeß gegen Johanna wegen eines angeblich gebrochenen Heiratsversprechens an. Johanna konnte diesen Vorwurf jedoch entkräften und ging ihren ihr von den Stimmen gewiesenen Weg unbeirrbar weiter. Zuerst ging sie ins nahegelegene Vaucou-leurs zu dem dortigen Stadthauptmann Robert de Beaudricourt, um ihm von ihrer Mission zu erzählen, und ihn um Rüstung, Waffen und Pferd zu bitten. Beaudricourt scheint unsicher gewesen zu sein, was er mit dem Mädchen machen sollte, die sich selbst als Jungfrau bezeichnete, die gekommen war, um Frankreich zu retten. Sicher kannte er die Weissagung der Marie d'Avignon, sicher wußte er auch, daß zahlreiche Jungfrauen mit ähnlichen Geschichten durchs Land zogen. Beaudricourt jedenfalls schrieb einen Brief an die königliche Kanzlei in Chinon und bat um weitere Maßregeln. Während Johanna auf eine Entscheidung wartete, zeigte der Herzog von Lothringen, der von ihr erfahren hatte, Interesse an ihr und schenkte ihr ein Pferd. Nun wurde auch Beaudricourt aktiv. Er schenkte Johanna ein Schwert, ließ sie ausrüsten und gab ihr eine Eskorte mit, die aus 10 Männern bestand, darunter waren Johannas beide Brüder und der königliche Bote, der den Weg durch das umgebende Feindesland genau kannte. Inzwischen hatte Johanna ihre langen Haare abgeschnitten, sie trug eine kurzgeschnittenen Pagenfrisur und eine Männerausrüstung. In der späteren Anklageschrift ist Johannas damalige Ausstattung genau beschrieben: »Nachdem diese Kleider und diese Waffen angefertigt, anprobiert und hergestellt waren, legte die genannte Jeanne die weiblichen Kleider gänzlich ab: Mit rundgeschnittenen Haaren nach Art der Pagen nahm sie Hemd, Hose, Unterhose und damit verbundene Strümpfe, die lang mit der genannten Unterhose durch zwanzig Schnürbänder verbunden waren, Hose, Schuhe nach außen geschnürt, einen kurzen Rock bis zu den Knien oder etwa bis dahin, eine eng anschließende Schutzkappe, Stiefel oder Ledergamaschen, lange Steigbügel, Degen, Dolch, Panzerhemd, Lanze und andere Waffen.«[11]
Nach einem langen, anstrengenden Ritt - Johanna scheint eine ausgezeichnete Reiterin gewesen zu sein, sicherlich hat sie das Reiten bereits im Elternhaus gelernt - gelangte Johanna schließlich mit ihrer Eskorte nach Chinon. Der Dauphin zögerte zunächst, sie zu empfangen, schließlich gewährte er ihr jedoch die Audienz. Die Geschichte, daß der Dauphin, um Johanna zu prüfen, sich hinter seinen Höflingen versteckt habe, Johanna ihn jedoch zielsicher aus der Menge seiner Ritter herausgefunden habe, gehört in den Bereich der Legende, die sich schon früh um Johanna gebildet hat und ihr den Nimbus einer Heiligen geben sollte. Das Treffen zwischen dem König und Johanna ist noch von einer weiteren Legende umgeben. Um sie zu prüfen, soll der König sie in ein kleines Kabinett geführt haben, und dort soll Johanna ihm ein Geheimnis anvertraut haben, das niemand außer ihm und Gott kenne. Es ist immer wieder spekuliert worden, daß Johanna dem König ein Zeichen seiner rechtmäßigen Geburt gegeben habe - so lauten auch einige Zeugenaussagen im Revisionsprozeß. Gegen eine solche Vermutung spricht aber, daß der König Johanna nach dem Treffen in Chinon weiteren harten Prüfungen unterwarf, die er sich hätte sparen können, wenn er keine Zweifel an ihrer Mission mehr gehabt hätte. Es ist auch deshalb unwahrscheinlich, daß Johanna ihm bei diesem ersten Treffen bereits ein Zeichen gegeben hat, weil sie immer wieder gesagt hat, sie würde dieses Zeichen erst vor Orleans geben, so lange müsse man ihr vertrauen. Auf jeden Fall scheint der Dauphin aber von Johanna beeindruckt gewesen zu sein und nicht nur er, sondern der ganze Hofstaat, insbesondere seine Schwiergermutter, die Königin Yolanda, die zur speziellen Förderin Johannas wurde, weil sie glaubte, mit ihrer Hilfe die Ansprüche ihres Schwiegersohnes durchsetzen zu können.
Bevor jedoch Johannas Wunsch erfüllt wurde, an der Spitze eines großen Heeres, Frankreich von den Engländern zu befreien, wurde sie einer mehrwöchigen Prüfung in Poitiers durch eine kirchliche Kommission unterworfen. Zwei Dinge sollten herausgefunden werden: Erstens, ob sie wirklich eine Jungfrau war, und zweitens, ob sie wirklich von Gott oder nicht vielmehr vom Teufel geschickt war. Die Prüfung der Jungfräulichkeit, die übrigens von Yolanda und ihren Frauen selbst vorgenommen wurde und positiv ausging, war deshalb wichtig, weil eine Jungfrau nach damaliger Auffassung keine Ketzerin sein konnte. Auch die zweite Prüfung ergab ein positives Ergebnis. Das Protokoll, das über die Untersuchung angefertigt wurde, ist verlorengegangen. Sicherlich ist es absichtlich vernichtet worden, weil man im späteren Verurteilungsprozeß in Rouen ein Protokoll, in dem Johannas Sendung zwei Jahre zuvor unter Beteiligung der obersten Kirchenfürsten als göttlich anerkannt worden war, nicht gebrauchen konnte.
Nach diesen anstrengenden Untersuchungen, die Johanna selbstbewußt und ungebrochen durchstand, war der Weg für weitere Taten frei.
2. Die Zeit des Kampfes - Von Orleans nach Compiegne
Nach den Untersuchungen in Poitiers stand die Entscheidung des königlichen Hofes fest: Man beschloß, Johanna in die französische Politik einzu-beziehen und war bereit, auf das vereinbarte Zeichen, das heißt auf die Befreiung der Stadt Orleans, zu warten. Gleichzeitig wurde Johannas Ruf gezielt in der Öffentlichkeit verbreitet. Sie selbst wurde ausgerüstet, bekam ein eigenes Banner und erhielt einen persönlichen Stab, der aus insgesamt elf Männern bestand, darunter ihren beiden Brüdern und dem Beichtvater Pasquerel, der eine zwielichtige Gestalt gewesen sein muß. Jedenfalls unterstützte er außer Johanna noch weitere Jungfrauen-Wundertäterinnen. Johanna und ihre Gefolgschaft sollten einen Proviantzug, der von dem berüchtigten Gilles de Rais angeführt wurde, begleiten, ein militärischer Einsatz war nicht vorgesehen. Johanna begann jedoch alsbald die engen Grenzen, die ihr gesetzt waren, zu durchbrechen.
Orleans besaß in der damaligen Zeit eine Schlüsselstellung im Kampf zwischen den Engländern und den Franzosen. Es war wirtschaftliches und geistiges Zentrum. Falls es von den Engländern erobert worden wäre, hätte sich Karl VII. bis in die Provence zurückziehen müssen. Deshalb unternahmen die Franzosen noch einmal verzweifelte Anstrengungen, um eine Wende herbeizuführen.
Von der Bevölkerung in Orleans wurde Johanna begeistert empfangen, »als wäre sie ein Engel Gottes«, wie ein Chronist schrieb.[12] Der unbekannt gebliebene Verfasser eines »Tagebuchs«, das eine der wichtigsten Quellen über die Befreiung von Orleans darstellt, hat ihren triumphalen Einzug in Orleans beschrieben: »Sie betrat die Stadt, am ganzen Körper gepanzert, auf einem weißen Pferd reitend. Sie ließ ihr Banner vor sich hertragen, das ebenfalls weiß war und auf dem zwei Engel abgebildet waren, jeder eine Lilie in der Hand. Auf dem Panier stand wie eine Verkündigung geschrieben: Dies ist das Bild der Jungfrau Maria mit einem Engel vor ihr, der ihr eine Lilie reicht. In dieser Art hielt sie Einzug in Orleans.«[13] Die führenden Militärs hatten Johanna eher eine Statistenrolle in den bevorstehenden Kämpfen zugedacht, sie sollte durch ihre Anwesenheit in der belagerten Stadt die Bevölkerung ermutigen; Johanna gab sich jedoch mit einer solchen Statistenrolle nicht zufrieden. Als es zur ersten großen militärischen Auseinandersetzung kam, sprengte sie auf ihrem Pferde aufs Schlachtfeld, in der Hand schlang sie das Lilienbanner, um - wie sie später im Prozeß sagte - nicht töten zu müssen.
Tatsächlich siegten die Franzosen, die Festung von St. Loup konnte genommen werden. Damit war die Loire stromaufwärts frei und für dringend benötigte Zufuhren wieder offen. Trotz dieses Erfolges versuchten die Militärs, Johanna weiter aus den Kämpfen herauszuhalten und gaben ihr, um sie abzulenken und irrezuführen, falsche Informationen über geplante Aktionen. Johanna jedoch machte sich wieder selbständig. Gegen den Willen des Oberbefehlshabers begann sie - die Soldaten folgten ihr mit großer Begeisterung und Zuversicht - den entscheidenden Kampf um die Festung Les Tourelles, die einen ganzen Tag dauerte und mit der Niederlage der Engländer endete.
Orleans war - wie Johanna versprochen hatte - frei. Der Jubel der Bevölkerung war unbeschreiblich, ihr Ruhm verbreitete sich im ganzen Land, nicht zuletzt deshalb, weil die königliche Kanzlei durch Boten dafür sorgte, daß alle Untertanen erfuhren, daß sich das Kriegsglück gewendet hatte und daß Gott auf Seiten des Dauphin und Frankreich stehe.
Auch die letzten Zweifler an Johannas göttlicher Sendung schienen widerlegt zu sein. Der Theologe Jakob Gelu, der einst den König davor gewarnt hatte, daß Johanna vielleicht eine Hexe sein könnte, verfaßte nun ein Traktat, in dem er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, daß Johanna von Gott selbst berufen sei. Ein anderer Theologe verfaßte eine lange gelehrte Abhandlung, in der er rechtfertigte, daß Johanna Männerkleidung trage. Johannas Vorliebe für Männerkleidung machte den Zeitgenossen zu schaffen, sie hat auch im späteren Prozeß immer wieder eine Rolle gespielt, da sie ein Verstoß gegen das mosaische Gesetz darstellte (5. Buch Mose, Kap. 22, Vers 5: »Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen, und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun; denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel«). Johanna wurde in dem Traktat mit Judith und antiken Amazonen verglichen. Wo göttliche Tugend walte, seien die Mittel dem Zweck unterworfen. Sogar der Vatikan wurde von den Taten Johannas unterrichtet - wohl, um sich gegen spätere Vorwürfe abzusichern.
Während die Franzosen Johanna als Heilige feierten, verbreitete die Gegenseite genau die gegenteilige Version. Der Oberbefehlshaber der englischen Truppen Bedford schrieb an den englischen König nach der Niederlage von Orleans: »Dieses Unglück entstand meiner Meinung nach nur durch Verwicklung in falschen Vorstellungen und verrückter Angst vor einer Anhängerin und Spionin des Feindes, die Jungfrau genannt wurde und sich hohler Zauberei und der Hexerei bediente.«[14]
Nach der Befreiung Orleans drängte Johanna darauf, den Dauphin nach Reims zu bringen, um ihn dort krönen zu lassen. Aber bevor dies möglich war, mußte der Weg nach Reims erst freigekämpft werden. In für die Engländer sehr verlustreichen Kämpfen fielen die Loire-Städte Jar-geau, Beaugency und Paray. Um Johanna keinen größeren Gefahren auszusetzen, mußte sie bei der Nachhut bleiben, aber ihre bloße Anwesenheit scheint die Soldaten angefeuert zu haben. Durch diese Erfolge war der Weg nach Reims frei. Hätte Karl die Gunst der Stunde ausgenützt, wäre es in dieser Situation vielleicht möglich gewesen, ganz Frankreich von den Engländern zu befreien. Aber der König verharrte, wie so oft schon, in Apathie, notwendige Aktivitäten wurden in den Intrigen des Hofes erstickt. Aber Karl raffte sich immerhin zur Krönung nach Reims auf, weil er sich davon eine Steigerung seines Ansehens versprach und den Gerüchten um die Illegitimität seiner Geburt wirksam entgegentreten konnte. Für Johanna war die Krönung und Salbung des Dauphin in der Kathedrale von Reims der Höhepunkt ihres Lebens. Bei der Krönung stand sie zur Rechten des Königs direkt neben dem Altar. In der Hand hielt sie das Banner, das sie auch in den siegreichen Schlachten nie aus der Hand gegeben hatte. Auf die spätere Frage, warum sie das Banner auch bei der Krönung getragen habe, antwortete sie: »Es war in der Bedrängnis dabei, so war es auch sein gutes Recht, bei der Ehrung dabeizusein.«[15]
Nach dem Höhepunkt in Reims begann Johannas Ruhm zu verblassen. Sie spielte kaum noch eine Rolle, sie war nur eine Marionette im Mächte- und Intrigenspiel der Großen. Ihre aktive Rolle ging unmerklich zuerst, nachher für alle sichtbar zu Ende. Sie selbst muß diese Wende schon früh gespürt haben, denn sie wurde häufig von Mutlosigkeit und Traurigkeit befallen und hat häufig geweint. Sie, die in knapp 7 Monaten vom Aufbruch aus ihrem Heimatdorf Domremy bis hin zur Krönung in Reims Taten vollbracht hatte, die für ein Mädchen ihrer Zeit unvorstellbar erschienen, ging nun den Weg, der sie in die höchsten Höhen geführt hatte, wieder steil bergab, bis in die Gefangenschaft und bis auf den Scheiterhaufen in Rouen.
Die Schlacht um Paris, an der Johanna quasi nur als Maskottchen teilnehmen durfte, ging verloren, Johanna wurde verwundet, wenn auch nicht schwer. Wie stark Johannas Stern im Sinken war, kann man daran ablesen, daß der Hof inzwischen auf eine neue Wundertäterin setzte: Catherine de la Rochelle. Diese gab vor, daß ihr nachts eine weiße Dame erschienen sei und ihr gesagt habe, der König solle ihr Herolde und Trommler geben, um ausrufen zu lassen, daß jeder seine Schätze wie Gold und Silber herbeibringen solle. Johanna, die mit Catherine zusammengebracht wurde, hielt Catherine für eine Betrügerin, Catherine ihrerseits schwärzte Johanna später als Hexe an. Mißerfolg reihte sich an Mißerfolg. Bei Com-piegne schließlich geriet Johanna in englische Gefangenschaft; damit war ihr Schicksal besiegelt.
3. Prozeß und Verbrennung
Zuerst waren die Engländer unsicher, was sie mit ihrer wertvollen Beute machen sollten. Johanna wurde von Festung zu Festung geschleppt, weil man Befreiungsaktionen befürchtete. Mehrere Fluchtversuche - einmal sprang Johanna von einem über 20 Meter hohen Turm - scheiterten. Die Haftbedingungen müssen außerordentlich quälend und entwürdigend gewesen sein. Schließlich übergaben die Engländer Johanna den verbündeten Burgundern zur Aburteilung - so brauchten sie sich selbst die Hände nicht schmutzig zu machen. Der Prozeß, der nach dem Muster der Hexenprozesse geführt wurde, war eine Farce. Das Urteil stand von vornherein fest. Johanna hatte überhaupt keine Chance. Der Hauptankläger Cau-chon, früherer Rektor der Pariser Universität und Bischof von Beauvais, hatte bereits Erfahrungen in mehreren Ketzerprozessen gesammelt. Er stand in Verbindung mit der Pariser Universität, deren Angehörige ein Interesse an Johannas Aburteilung hatten, weil sie ihr neues Wissenschaftsverständnis gegen die immer noch dem Aberglauben verhaftete Bevölkerung durchsetzen wollten. Dazu schien ihnen der Prozeß gegen Johanna sehr geeignet. Die Anklage umfaßte 70 Punkte. Es ging den Richtern in erster Linie darum, ihr nachzuweisen, daß sie eine Hexe war. So heißt es in verschiedenen Artikeln:
Art. 2: Sie ist wie ein Gott verehrt worden und hat sich anbeten und verehren lassen. Sie hat Dämonen und böse Geister anrufen lassen.
Art. 13: Überhaupt hat sie alle frauliche Scham von sich geworfen und nicht nur gegen alles weibliche Sittlichkeitsgefühl, sondern auch gegen das anständiger Männer verstoßen, indem sie Kleider und Anzug ausgelassener Männer trägt.
Art. 25: Jeanne hat sich das Amt von Engeln angemaßt, da sie behauptet, sie trete im Namen Gottes auf, obwohl sie Dinge tat, die zu Gewalttaten geführt haben und zum Vergießen von Menschenblut.
Art. 42: Jeanne hat öffentlich erzählt, ihre Heiligen St. Katherina, St. Margare-the und der Heilige Michael hätten leibliche Glieder, also: Kopf, Augen, Gesicht, Haare und ähnliches. Zugleich behauptet sie, sie habe die Heiligen umarmt, geküßt und an den Händen berührt.
Art. 52: So sehr hat Jeanne das Volk verführt, daß sie wie eine Heilige verehrt wird. In aller Öffentlichkeit verkündet man, sie sei von Gott gesandt, gar keine richtig Frau, vielmehr ein Engel. Solche Dinge sind für die christliche Religion verderblich, schaden dem Seelenheil und stiften Unruhe.[16]
Mit allen möglichen Tricks versuchten die Richter ihr nachzuweisen, daß sie eine Hexe sei. Sie scheuten vor Fälschungen, eingeschleusten Spitzeln in Johannas Zelle und der Androhung der Folter nicht zurück. Es wurde sogar ein enger Käfig gebaut, in dem Johanna gefangen werden sollte. Am perfidesten war jedoch die Verhandlungsführung selbst; in den sechs öffentlichen Sitzungen und den neun Sonderverhören versuchten die Richter, Johanna immer wieder Fallen zu stellen.
Es grenzt fast an ein Wunder, wie selbstbewußt und sicher Johanna mit den Fragen umging und wie wenig sie sich einschüchtern ließ. Bis zum Schluß behielt sie ihre Schlagfertigkeit. Zermürbt wurde sie wohl auch nicht so sehr durch die ständigen Verhöre, in denen man versuchte, sie in Widersprüche zu verwickeln, sondern in erster Linie durch die Schikanen und Nachstellungen des Wachpersonals, denen es Spaß machte, ihre Gefangene zu quälen und sadistische Spielchen mit ihr zu treiben.
Nachdem das Verfahren am 21. Februar 1431 mit der ersten öffentlichen Sitzung eröffnet worden war, wurde es bereits am 24. Mai mit der vorläufigen Urteilsverkündung vorerst abgeschlossen. Das Urteil lautete auf Verbrennung: Die Strafe für Hexerei. In dieser Situation brach die Kraft, mit der Johanna bislang standgehalten hatte, zusammen, sie wurde von Angst gepackt, sie verlor das Zutrauen zu ihren Stimmen, die ihr Rettung versprochen hatten. Johanna widerrief: »Ich, Jehanne, die Jungfrau genannt, armselige Sünderin, bekenne, daß ich abtrünnig war und irrgläubig; nachdem ich die Fallstricke der Irrtümer, in denen ich befangen war, erkannt habe, bin ich durch die Gnade Gottes zu unserer heiligen Mutter, der Kirche, zurückgekehrt.«[17] Das Urteil wurde daraufhin in lebenslangen Kerker umgewandelt. Die Richter und besonders die englischen Geldgeber waren mit diesem Ausgang aber nicht zufrieden. So waren sie sehr froh, als Johanna vier Tage später ihren Widerruf zurücknahm. Entgegen ihren Versprechungen hatte Johanna im Kerker wieder Männerkleidung angelegt. Man rätselt darüber, ob ihr diese in die Zelle hineingeschmuggelt waren, um ihr eine Falle zu stellen, ob sie sich dadurch vor den Nachstellungen ihrer Wärter schützen wollte, ob sie damit ihrer lebenslangen Haft ein schnelles Ende setzen wollte, oder ob sie ihrer Frauenrolle bereits so weit entfremdet war, daß ihr Männerkleider zu tragen einfach angenehmer war. Als sie wegen dieses Verstoßes wieder vor ihre Richter geführt wurde, berief sie sich auf ihre Stimmen und sagte, daß diese ihr gesagt hätten, daß sie großes Unrecht getan hätte, sie zu leugnen und daß sie das auch nur getan habe, weil sie Angst vor dem Feuer gehabt habe. Jetzt aber fühle sie sich wieder stark. Daraufhin wurde das Urteil kassiert, und zwei Tage später wurde Johanna am 30. Mai 1431 öffentlich auf dem Marktplatz in Rouen verbrannt. Auf dem Brandpfahl stand: »Johanna, die sich selbst die Jungfrau nannte, eine Lügnerin, bösartige Betrügerin des Volkes, Zauberin, Abergläubige, Lästerin Gottes, Entehrerin des Glaubens an Jesus Christus - prahlerisch, götzendienerisch, grausam, liederlich, Beschwörerin von Dämonen, Apostatin, Schismatikerin und Ketzerin.«[18]
Die Geschichte war damit aber noch nicht zu Ende. Auf das Trauerspiel folgte das Satyrspiel. 18 Jahre später, die Franzosen hatten Rouen gerade wieder erobert, und der 100jährige Krieg war so gut wie beendet, wollte der inzwischen durch zahlreiche Siege gestärkte König Karl VII. den noch immer an sich haftenden Makel von sich nehmen, daß er seine früheren Siege der Hexerei einer vom Teufel besessenen angeblichen Jungfrau zu verdanken habe. Ein Rehabilitationsverfahren wurde eröffnet. Die Richter waren diesmal alles treue Anhänger von Karl VII. und zudem von ihm bezahlt. Das Ziel und die Marschrichtung waren klar: Johannas Unschuld mußte nachgewiesen werden, damit der König entlastet würde.
Das Verfahren, das mit der vollständigen Rehabilitation Johannas endete, ist ähnlich gespenstisch wie der vorangegangene Verurteilungsprozeß, obwohl er formal korrekt abgewickelt wurde. Die noch lebenden Richter und Zeugen des ersten Prozesses sagten auch im zweiten Prozeß aus - freilich hatten sie ihre Meinung um 180 Grad geändert. Alle hielten Johanna jetzt für unschuldig, für eine Heilige, wußten rührende Geschichten über sie zu berichten, konnten sich an ihre früheren Aussagen überhaupt nicht mehr erinnern, hatten Gedächtnislücken, waren angeblich nicht dabeigewesen oder aber hatten unter Druck der Engländer gestanden.
Das abschließende Urteil, an dem auch Richer beteiligt waren, die 25 Jahre vorher für die Verbrennung Johannas gestimmt hatten, lautete: »Wir erklären, verkünden, verordnen, verfügen, daß besagter Prozeß und seine Urteile befleckt von Arglist, falscher Beschuldigung, Unrecht, Lüge, ein öffentlich kundgetaner Rechtsirrtum, ebenso wie der besagte Widerruf und alle Vollziehungen und Folgen rechtlos und ungültig, null und nichtig waren, sind und sein werden.«[19]
Fast 500 Jahre später, im Jahre 1920, wurde Johanna von der katholischen Kirche heiliggesprochen - aus der Hexe war nun auch offiziell die Heilige geworden.
4. Resümee
Wer aber war Johanna wirklich? Ich maße mir nicht an, darauf eine Antwort zu geben. Aber ein paar abschließende Bemerkungen will ich doch machen. Sicher war sie weder die Hexe, als die sie verbrannt worden ist, noch die Heilige, zu der sie später gemacht worden ist. Johanna ist für mich trotz ihrer erstaunlichen Selbstbewußtheit, Selbständigkeit, Kraft und Stärke in erster Linie ein Opfer. Sie wird zur Hexe oder Heiligen gemacht, wie es den herrschenden Männern gerade ins Konzept paßt. Für mich ist Johanna eine Frau, die die vorgeschriebene weibliche Rolle und die festgefügte ständische Ordnung des Mittelalters durchbricht, weil sie sich nicht mit der weiblichen Rolle identifizieren kann. Sie ist Skandal und Ärgernis zugleich.[20] Das Anlegen der Männerkleidung verstehe ich als Protest gegen eine Gesellschaft, die Frauen als Frauen - wenn sie nicht gerade Königinnen waren - öffentliche Wirksamkeit und Bedeutung nicht gestattete. Nur in Männerkleidung konnte Johanna die Dinge vollbringen, die sie sich vorgenommen hatte. Mit dem Ablegen der Frauenkleidung legte sie die Beschränkungen ab, die sonst ihrem Geschlecht auferlegt waren. Daß eine aktive, kämpferische Frau auch heute immer noch nicht in das Bild paßt, zeigt folgende Zeitungsnotiz vom September 1981, auf die ich zufällig stieß:
Enthüllte Johanna - London, 20. September (dpa). Die französische Befreiungsheldin und Heilige Jeanne d'Are (1412-1431) soll in Wahrheit ein Mann gewesen sein. Das jedenfalls will der amerikanische Wissenschaftler Robert Green-blatt von der Universität Georgia herausgefunden haben. Er veröffentlichte seine These im »British Journal of Sexual Mediane«. Greenblatt kommt nach Angaben der Londoner Sonntagszeitung »Observer« zu dem Schluß, die bei Historikern als Bauerntochter und »Jungfrau von Orleans« geführte Jeanne d'Arc habe eine sehr seltene Chromosomenanordnung besessen, die sie genetisch zum Mann und äußerlich zur Frau gemacht habe. Greenblatt stützt sich bei seiner Argumentation auf geschichtlich überlieferte Aussagen des Knappen Johannas, wonach die junge Frau im Alter von 18 Jahren noch nicht die pubertäre Phase erreicht habe. Dies und die für die damalige Zeit schockierende Vorliebe Johannas für Männerkleidung sowie das bei der Heldin fehlende Interesse am männlichen Geschlecht seien typische Hinweise auf »Testiqular Feminisation«.[21]
III Die Jungfrau in Waffen
Johanna-Bearbeitungen von Schiller bis Brecht
1. Überblick über die Johanna-Bearbeitungen
Für eine einzelne Person ist die Zahl der Johanna-Bearbeitungen fast unübersehbar. Im Frenzel, einem Nachschlagewerk über Stoffe und Motive der Weltliteratur, werden über 50 Bearbeitungen angegeben und kurz charakterisiert; bei dieser Zahl dürfte es sich nur um eine grobe Auswahl handeln. An der großen Zahl wird auf jeden Fall eines deutlich: Die Faszination, die Jeanne d'Arc auf ihre Zeitgenossen ausgeübt hat, hat sich nachihrem Tode fortgesetzt und Geschichtsschreiber und Dichter, aber auchWissenschaftler, vor allem Historiker und Sozialpsychologen immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Person und ihrer Zeit provoziert. - Das erste dichterische Zeugnis dieser Faszination, auf das ich gestoßen bin, stammt von der Nonne und berühmten französischen Dichterin Christine de Pisan.[22] Es wurde noch zu Lebzeiten von Johanna verfaßt, nämlich im Jahre 1423. Dieses Gedicht ist eine fast feministisch anmutende Lobpreisung Johannas, an der ihr Mut und ihre Entschlossenheit gefeiert wird. Für Christine de Pisan ist Johanna ein Beweis für dieKraft und die Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts, sie bewundert sieals kämpferische Frau und stellt sie in eine Reihe mit der biblischen Judithund den antiken Amazonen. Sie selbst fühlt sich ermutigt durch das Vorbild Johannas. Das Gedicht beginnt mit den Versen:
»Ich, Christine, die weinte
elf Jahre im verschlossenen Kloster.
- Nun zum ersten Mal kann ich mich freuen.«
und endet mit den Worten:
»Im Jahre Vierzehnhundertneunundzwanzig
beginnt die Sonne wieder am Himmel zu leuchten.«[23]
Bei Christine de Pisan findet sich erstmals die Verbindung von Johanna-Geschichte und Amazonenmythos, die auch in der Folgezeit immer wieder einen Reiz auf die Rezipienten ausüben sollte. Das Interesse der Nachwelt an der Johanna-Gestalt ist natürlich nicht einheitlich, es ist geprägt von der Zeit und von dem nationalen und ideologischen Standort des jeweiligen Betrachters. So wird Johanna in frühen französischen Zeugnissen zur Heiligen stilisiert, in gleichzeitigen englischen Werken jedoch zur Hexe gemacht. Noch in Shakespeares »Heinrich VI.« taucht Johanna als Hexe auf. Die Masse der Johanna-Bearbeitungen stammt - was nicht verwunderlich ist - von französischen und englischen Autoren, für die Johanna positiv oder negativ ein Stück Nationalgeschichte symbolisierte. Die Rezeption der Johanna-Figur ist aber nicht auf den französischen oder englischen Raum beschränkt, sie greift schon sehr früh über auf ganz Europa, insbesondere auf Spanien und Deutschland, später sogar auf Amerika, wo Mark Twain einen Roman über Johanna (1896) schreibt.
Im Verlauf der Geschichte ist das Bild Johannas extremen Schwankungen unterworfen. So sieht Voltaire im 18. Jahrhundert in seiner »Pucelle« Johanna und ihre Zeit mit dem kritischen Blick des Aufklärers, der gegen Aberglauben, gesellschaftliche Korruption und Mißwirtschaft zu Felde zieht, während der dem Katholizismus verpflichtete Claudel Johanna im 20. Jahrhundert zur Heiligen stilisiert und aus ihrem Leben und Sterben eine Passionsgeschichte und ein Mysterienspiel macht. Gegen die Vereinnahmung Johannas für das konservative Lager, die insbesondere die Zeit vom 14. bis zum 18. Jahrhundert prägt, wendet sich die Politisierung der Johanna-Figur während der Französischen Revolution. Robert Southey, ein Engländer und glühender Bewunderer der Revolution im Nachbarland, schreibt 1796 ein langes hymnisches Gedicht, worin er Johanna als fortschrittliche und volkstümliche Heldin feiert. Johanna erscheint bei ihm als ein selbstbewußtes Bauernmädchen, das von Gerechtigkeitsgefühl angetrieben wird und das seine Kraft aus einer pantheistischen Naturreligion schöpft. Der Autor zeigt seine Heldin unter anderem in der Unterwelt, einer Miltonschen Hölle, wo sie die Schrecken der Macht und der Habgier erfährt. Sie erblickt dort die Sklaven der kapitalistischen Akkumulation, die dort, vom ewigen Durst geplagt, glühendes Gold trinken müssen, und sie sieht die Könige, die sie als Verbrecher und Mörder der Menschheit anprangert. Zur Oberwelt zurückgekehrt, mahnt Johanna den König Karl, die Schwachen zu schützen und die Hungrigen zu ernähren. Sie krönt Karl zum ersten Diener seines Volkes und setzt damit einen Traum der Aufklärungszeit und einen Wunsch der französischen Revolutionäre in die Tat um.
Auch die Art und Weise, wie über Johanna geschrieben wird, ist sehr unterschiedlich. So ist Peguys »Mysterium vom Mitleid unserer lieben Frau Jeanne d'Arc« (1897/1909) ein Dokument mystischen Überschwangs, das zu seiner Zeit sehr bewundert worden ist, heute aber nur noch schwer lesbar ist. Shaws »Heilige Johanna« von 1924 dagegen ist ein von Witz und Spott sprühendes und von Humanität getragenes Stück. Es ist frei von aller Mystik und Schwärmerei, verfällt jedoch auch in keine billigen Entmythologisierungen, wie sie in der Aufklärungszeit in Mode gekommen waren. Bei Shaw ist Johanna eine starke, ungebrochene Heldenfigur. In der Regieanweisung heißt es: »Johanna ist ein gutgewachsenes Landmädchen von siebzehn bis achtzehn Jahren, anständig, in einem einfachen roten Kleid, mit einem ungewöhnlichen Antlitz: sie hat weit auseinanderliegende, etwas vorstehende Augen, wie dies bei sehr phantasievollen Menschen oft vorkommt, eine lange, schöngeschwungene Nase mit weitgeöffneten Nasenflügeln, eine kurze Oberlippe, einen entschlossenen üppigen Mund und ein hübsches streitsichtiges Kinn. (...) Ihre Stimme hat gewöhnlich einen herzlich einschmeichelnden Klang; es ist eine sehr zuversichtliche, sehr zärtliche Stimme, der man ungemein schwer widerstehen kann.«[24]
Johanna ist ein bezauberndes, »unverfälschtes« Bauernmädchen, das sich mit Mutterwitz und Schläue durchsetzt. Sie macht Karl, den Shaw als schwachen, aber doch liebenswerten Herrscher zeigt - er wird von Johanna zärtlich »Charlie« genannt -, »zum Mann«; sie ist sein besseres Selbst und erinnert ihn an seine Herrscherpflichten: »Lieber kleiner Charlie, ich bin vom Lande, und meine Kraft rührt von der Landarbeit her, und ich sage dir, das Land gehört dir, damit du es rechtschaffen regierst und Gottes Frieden darin hältst, aber nicht, damit du es versetzest, wie ein betrunkenes Frauenzimmer die Kleider ihrer Kinder versetzt.« (S.163) Shaw entmythologisiert die Geschichte und schafft eine heitere, versöhnliche Grundstimmung, ohne die Person Johannas in ihrer Substanz und Ernsthaftigkeit anzutasten. Sie bleibt die Überlegene, fröhliche Heilige.
Meiner Meinung nach hat Shaw das Stück geschrieben, das trotz aller Modernisierungen und dichterischer Freiheit der historischen Figur und der historischen Situation noch am ehesten von all den Stücken, mit denen ich mich beschäftigt habe, gerecht wird. In sechs Szenen und in einem Epilog, in dem die längst verbrannte Johanna dem König Karl im Traum noch einmal erscheint, hat Shaw die historischen Vorlagen sehr genau in Form einer Chronik nachgearbeitet. Man merkt dem Stück das präzise Quellenstudium des Autors an. Shaws Kritik gilt der Kirche als Institution, die auf ihrer Unfehlbarkeit beharrt und jegliches Aufbegehren und abweichendes Verhalten des Individuums als Ketzerei wertet. Der Inquisitor sagt zur Begründung der Anklage gegen Johanna:
»Die Ketzerei beginnt schon bei jenen Menschen, die allem Anschein nach bessere als ihre Nachbarn sind. Ein sanftmütiges und frommes Mädchen oder ein junger Mann, der das Gebot unseres Herrn befolgt, indem er all seinen Reichtum den Armen gibt und die Tracht der Armut, das Leben der Entsagung und die Vorschrift der Demut und christlichen Liebe auf sich nimmt, kann der Begründer einer Ketzerei sein, die Kirche und Reich zugrunde richten könnte, wenn sie nicht unbarmherzig bis zur Wurzel ausgerottet wird. Die Protokolle der heiligen Inquisition sind voll von Geschichten, die wir der Welt nicht zu unterbreiten wagen, weil sie jenseits des Glaubens ehrlicher Männer und unschuldiger Frauen sind. Und dennoch begannen sie alle bei heiligen Einfaltspinseln. Ich habe das wiederholt gesehen. Merkt euch, was ich sage: Das Weib, das sich gegen seine Kleidung auflehnt und die eines Mannes anlegt, gleicht dem Manne, der seinen Pelz abwirft und sich wie Johannes der Täufer kleidet. So gewiß wie die Nacht dem Tage folgt, folgen ihnen Scharen von wilden Frauen und Männern, die sich weigern, überhaupt etwas anzuziehen. Wenn Mädchen weder heiraten noch den Schleier nehmen wollen und Männer die Ehe verwerfen und ihre Gelüste zu göttlichen Eingebungen aufblasen, dann machen sie, so gewiß wie der Sommer dem Frühling folgt, mit Polygamie den Anfang und enden mit Blutschande. Zu Beginn scheint Ketzerei unschuldig, ja sogar lobenswert. Aber sie endet in einer so ungeheuren, entsetzlich widernatürlichen Schlechtigkeit, daß der Sanftmütigste unter euch, wenn er sie an der Arbeit sähe, wie ich sie sah, sich gegen ihre barmherzige Behandlung durch die Kirche auflehnen würde.« (S.199f.)
Shaw geht sogar noch weiter, indem er als den wahren Gegner den Protestantismus benennt, die Auseinandersetzung zwischen Johanna und der Kirche zu einem Kampf zwischen Protestantismus und Katholizismus zuspitzt. Um seine Kritik an der katholischen Kirche zu erhärten, macht Shaw die subtile Unterscheidung zwischen Hexen- und Ketzerprozeß, die historisch zwar korrekt ist, aber im Prozeß gegen Johanna gerade aufgehoben war bzw. keine Rolle gespielt hat. Shaw versteht den Prozeß gegen Johanna als einen Ketzerprozeß und greift damit massiv das Unfehlbarkeitsdogma der katholischen Kirche an, das ja auch zu Shaws Zeiten und auch noch heute aktuell ist.
Der Epilog, in dem sich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen, zeigt sehr schön die Bedeutung der Johanna-Gestalt für den Autor. Auf Johannas provozierende Frage: »Soll ich vom Tode auferstehen und als lebendiges Weib zu euch zurückkehren?« (S.230) reagieren der König und sein Gefolge mit großem Schrecken, sie sind einer integren Persönlichkeit wie Johanna nicht gewachsen. Johannas letzte Worte lauten: »O Gott, der du diese wundervolle Erde geschaffen hast, wie lange wird es dauern, bis sie bereit sein wird, deine Heiligen zu empfangen, wie lange, o Gott, wie lange?« (S.231)
Hinter diesem Stück von Shaw bleibt meiner Meinung nach das zu seiner Zeit hochgelobte Stück »Die Lerche« von Anouilh (1953) sehr zurück. Anouilh arbeitet mit den Mitteln des modernen Entfremdungstheaters. Das Spiel wird ständig unterbrochen und kommentiert, die Schauspieler machen deutlich, daß sie eine Rolle spielen. Johanna ist ein Mädchen voller Bauernschläue, die die Männer um den Finger wickelt, die mit allen Mitteln kämpft, sich dabei aber ihre Jungfräulichkeit erhält. Zu Robert Beaudricourt läßt der Autor sie sagen:
»Hör zu, Robert. Vergiß zunächst, daß ich ein Mädchen bin. Das verwirrt nur deine Gedanken ... Gewiß, der Herr hat mich nicht häßlich gemacht, aber so sehr gefalle ich dir nicht. Du bist wie alle Männer. Diese Gelegenheit wolltest du eben nicht versäumen. Aber du findest noch genug andere Mädchen, du kleiner Bock, wenn du schon unbedingt sündigen willst. Mädchen, die dir mehr Vergnügen machen und die weniger verlangen. Auf mich bist du doch gar nicht so besonders scharf. Irgendwie ahnst du doch, daß es mit mir gar nicht sehr lustig wäre?« (S.412) Johanna ist durchtrieben und wissend, zugleich aber auch naiv. Sie kommentiert ihre eigene Rolle mit den Worten: »Sie war wohl zu groß und zu schwer für mich, die ganze Geschichte.« (S.460)
Die ganze Geschichte, von der Johanna hier spricht, wird von den Schauspielern mit einem amüsierten Augenzwinkern vorgeführt. So sagt Agnes Sorel, die Mätresse von Karl VI. zu Johanna: »Ich arbeite ganz im gleichen Sinne wie du ... mit meinen kleinen Szenen im Bett habe ich bei ihm genausoviel erreicht wie du.« (S.461) Und der englische Befehlshaber Warwick kommentiert zwischendurch: »Eine herrliche Komödie! Natürlich ging es in Wahrheit wohl ein wenig anders zu. Man hielt langen Staatsrat ab, man erörterte das Für und Wider, bis man endlich beschloß, Jeanne als eine Art Aushängeschild zu benutzen. Man wollte damit einem Wunsch des Volkes nachkommen. Sie war ein liebes, kleines Maskottchen, das die bescheidenen Gemüter begeisterte, so daß sie plötzlich alle gerne sterben wollten.« (S.435) An einer solchen Stelle wird deutlich, daß der Autor zumindest eine Ahnung von der »wahren« Geschichte Johannas hat. Diese wird aber abgedrängt zugunsten der Komödie, die sich der Autor vorgenommen hat zu schreiben - vielleicht auch aus Opposition gegen die vielen Tragödien, die bereits über Johanna und ihr Schicksal existierten.
Um den Eindruck von Fröhlichkeit und Unbeschwertheit durchhalten zu können, muß Anouilh die Handlung verändern. Seine Komödie endet nicht mit der Verbrennung Johannas - das wäre ihm selbst wohl auch geschmacklos vorgekommen -, sondern die Verbrennungsszene wird plötzlich unterbrochen, weil einem Schauspieler einfällt, daß man die Krönung ja noch gar nicht gespielt hat.
Zum Abschluß dieser kurzen Übersicht über die Johanna-Bearbeitungen will ich noch auf ein sehr extremes Beispiel eingehen. Extrem von der Auffassung der Johanna-Figur her, wie auch extrem von der Form her. Es ist das Stück des expressionistischen Autors Georg Kaiser, das dieser 1922 verfaßt hat, also zwei Jahre bevor Shaw seine Chronik geschrieben hat. Kaiser nimmt die historisch verbürgte Tatsache, daß der spätere Massenmörder Gilles de Rais, in die Geschichte eingegangen als der legendäre Blaubart, auf dessen Konto mehr als 140 Kindermorde gehen, und Johanna im gemeinsamen Kampf um Orleans zusammengetroffen sind, zum Ausgangspunkt eines sehr dramatischen, effektvollen Stückes.25 Kaiser konstruiert die beiden als ein »Paar«, ihre Begegnung als ein Zusammentreffen zwischen Engel und Teufel. Gilles ist verliebt in Johanna, er finanziert den Kampf um Orleans nur deshalb, um sie zu gewinnen. Johanna jedoch weist ihn ab. Daraufhin denunziert er sie als Hexe und sorgt durch seine Aussagen dafür, daß sie verbrannt wird. Aber auch nach ihrem Tod läßt ihm seine Leidenschaft für sie keine Ruhe. Seine Günstlinge führen ihm - um ihm einen Gefallen zu tun - junge Mädchen zu, die sie als Johanna kostümieren. Gilles tötet die jungen Mädchen, als er merkt, daß es sich nicht um die wahre Johanna handelt. Schließlich gewinnt er aber am Töten eine perverse Lust und reagiert seine ungestillte Leidenschaft für die tote Johanna auf diese Weise ab. In den Mädchen, die ihm zugeführt werden, tötet er schließlich immer wieder, unter einem Wiederholungszwang stehend, die reale Johanna, die ihn abgewiesen hat und ihn in seinem MännlichkeitsVerständnis verletzt hat. Das ungeklärte Verschwinden der Mädchen löst schließlich in der Bevölkerung Mißtrauen aus. Ein Trupp Bauern dringt ins Schloß zu Gilles ein und verlangt Rechenschaft über den Verbleib der Mädchen, Gilles tötet vor den Augen der Bauern seine Mitwisser und wird schließlich von herbeigerufenen Soldaten in Gewahrsam genommen. Ihm wird der Prozeß gemacht. Während des Prozesses erscheint plötzlich Johanna und entlastet ihn durch ihr Zeugnis. Gilles wird freigesprochen, gesteht aber jetzt seine Taten - und zwar nicht nur seine Morde, sondern auch seine Verleumdungen Johanna gegenüber: »Jeanne ist rein - ich log sie zu Tode!!!«[26] Daraufhin wird Gilles verbrannt.
Kaisers Stück ist ein Versuch, eine psychologische Erklärung für die Massenmorde von Gilles de Rais zu finden, dies kann jedoch nicht gelingen - abgesehen von den historischen Ungereimtheiten und Unrichtigkeiten -, weil er zugleich Gilles und Johanna als Personifizierung von Gut und Böse begreift, Gilles zum Teufel und Johanna zur Heiligen stilisiert. Johanna ist eine Erlöserfigur, die den Mann von seiner Triebhaftigkeit befreit.
2. Vergleich Schiller - Brecht
Im folgenden will ich an zwei ausgewählten Texten auf das unterschiedliche Verständnis der Johanna-Gestalt etwas ausführlicher eingehen. Es sind dies die beiden Dramen von Schiller: »Die Jungfrau von Orleans« (1801) und Brechts »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe« (1929/30). Sie markieren in gewisser Weise den Anfangs- und Endpunkt der Johanna-Rezeption in Deutschland, wobei sich Brechts Text sehr ironisch und polemisch auf das Schillersche Vorbild bezieht.
Schiller
Das Interesse Schillers an der Johanna-Gestalt fällt in seine sogenannte Klassische Periode, also in die Zeit, in der er zusammen mit Goethe die Klassische Dichtung in Theorie und Praxis begründete. Der gemeinsam Bezugspunkt für Goethe und Schiller war die Ablehnung der Gewalt in der Französischen Revolution und die Bekämpfung der damit zusammenhängenden Revolutionierungsversuche in Deutschland. Statt Revolution setzten sie auf Reform und hofften, über die Dichtung eine Verbesserung des Menschen zu erreichen. Über die sittliche Verbesserung des Individuums erhofften sie sich langfristig auch eine Verbesserung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die eine Revolution dann überflüssig machen würde. Diesem Bemühen dienten die klassischen Dramen. Durch sittliche Gestalten, wie z.B. Iphigenie, sollten Zuschauer bzw. Leser zur Humanität geführt werden.
Einem vergleichbaren Ziel dient auch die »Jungfrau von Orleans«, die in vielen Stücken ein Gegenstück zu Goethes »Iphigenie« ist. Schiller stieß auf den Stoff durch Pittavals »Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle«, in der wichtige Teile der Prozeßakten bereits veröffentlicht waren. Zusätzlich benutzte er noch weitere Quellensammlungen und historische Darstellungen. Man kann davon ausgehen, daß er über die historische Situation und den Ablauf im großen und ganzen gut informiert war. Um so erstaunlicher ist es, daß Schiller derjenige Dichter ist, der am weitesten von den historischen Quellen abweicht und eine »Johanna« schreibt, die mit der historischen Johanna nur noch ganz entfernte Ähnlichkeit aufweist.[27]
Die einschneidendste Veränderung sei kurz vorweg genannt: Bei Schiller wird Johanna nicht als Hexe verbrannt, sondern sie stirbt den Heldentod auf dem Schlachtfeld. In der Forschung ist zur Erklärung immer wieder auf die dichterische Freiheit des Autors hingewiesen worden. Ich glaube, daß eine solche Argumentation aber nicht hinreichend ist, um die Abweichungen Schillers von der historischen Realität zu erklären. Ich denke, daß die Art und Weise, wie Schiller mit historischer Realität umgeht, mit seinem klassischen Menschen- und Frauenbild zusammenhängt. Um diese These zu erläutern, muß ich ein wenig ausführlicher auf das Drama selbst eingehen. In einem Gedicht »Das Mädchen von Orleans« hat Schiller bereits vor Niederschrift des Dramas ausgeführt, wie er die Johanna-Figur versteht. Es heißt dort:
Das Mädchen von Orleans.
Das edle Bild der Menschheit zu verhöhnen,
Im tiefsten Staube wälzte dich der Spott;
Krieg führt der Witz auf ewig mit dem Schönen,
Er glaubt nicht an den Engel und den Gott;
Dem Herzen will er seine Schätze rauben,
Den Wahn bekriegt er und verletzt den Glauben.
Doch, wie du selbst, aus kindlichem Geschlechte,
Selbst eine fromme Schäferin, wie du,
Reicht dir die Dichtkunst ihre Götterrechte,
Schwingt sich mit dir den ew'gen Sternen zu.
Mit einer Glorie hat sie dich umgeben;
Dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben.
Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen
Und das Erhabne in den Staub zu ziehn;
Doch fürchte nicht! Es giebt noch schöne Herzen,
Die für das Hohe, Herrliche entglühn.
Den lauten Markt mag Momus unterhalten;
Ein edler Sinn liebt edlere Gestalten.[28]
Schiller setzt sich polemisch gegen Voltaires »Pucelle« ab, die für ihn ein Schandwerk ist, da sie, wie er meint, das Erhabene in den Staub zerrt. Gegen die aufklärerische Sicht der Johanna will Schiller ein idealisiertes Bild setzen, eine »edle Gestalt« schaffen, an der sich »edle Menschen« erbauen können. Schiller wendet sich aber nicht nur polemisch gegen Voltaire, den er im übrigen sehr mißversteht, sondern - das ist meine These - auch gegen die gleichzeitige Vereinnahmung der Johanna von Orleans durch die Anhänger der Französischen Revolution. Ich habe in meinem Überblick schon darauf hingewiesen, daß es im Verlauf der Französischen Revolution zu einer Aktualisierung der Johanna-Figur kam: Johanna wurde zur volkstümlichen, aktivistischen Kämpferin umgestaltet, zum Sinnbild des Freiheitswillens des Französischen Volkes stilisiert, sie erscheint als eine Vorwegnahme jener Freiheitsgöttin, wie sie Delacroix auf seinem berühmten Gemälde dargestellt hat. Schiller faßt die Johanna-Gestalt völlig anders auf. Sie wird bei ihm zur Schutzheiligen gegen die Französische Revolution und damit auch zur polemischen Gegenfigur gegen die »Amazonen« der Französischen Revolution. Schiller läßt Johanna diesen Zusammenhang selbst herstellen.[29] - Im Zentrum steht nicht die Nachzeichnung eines äußeren Geschehens, sondern die Darstellung eines inneren Konflikts und einer inneren Entwicklung. Die Geschichte der Johanna wird zu einer »Seelenschlacht« umgedeutet. In Johanna stehen sich - um mit Kant zu sprechen - Pflicht und Neigung unversöhnlich gegenüber. Die Pflicht treibt Johanna in den Kampf und zu Handlungen, die für eine Frau zumindest ungewöhnlich sind, sie macht sie zur Amazone. Die Neigung läßt sie sich in den Engländer und Feind Lionel verlieben und weckt in ihr Wünsche nach Liebe und Zärtlichkeit. Erst im Heldentod versöhnen sich die beiden widerstreitenden Prinzipien. Johanna überwindet die Sinnlichkeit und ringt sich zur Pflicht durch. Der Sieg über die Sinnennatur scheint Schiller dabei sehr am Herzen gelegen zu haben. Das Motiv, daß Johanna Jungfrau ist - sie wird ständig als »reine Jungfrau« bezeichnet -, spielt bei ihm eine entscheidende Rolle. Immer wieder bringt er sie in Situationen, wo sie ihre Jungfräulichkeit verteidigen muß - sei es in der Begegnung mit ihrem Freier Raimond, sei es in den Werbungen anderer Männer. Zusammen mit Raimond sind es insgesamt sechs Männer, die sich um Johanna bemühen und sie für sich - aus den unterschiedlichsten Gründen - gewinnen wollen. Der Herzog von Burgund fühlt sich durch das Amazonenhafte Johannas in seiner Männlichkeit provoziert: »Du hast bis jetzt nur Schwächlinge bezwungen - Ein Mann steht vor Dir« (S.55), dann wird er durch ihre Tugendhaftigkeit besiegt, aus dem ehemaligen glühenden Gegner wird ein Freund, dessen »Herz ... weiches Wachs in ihrer Hand« (S.66) ist. Dunois, ein besonders unerschrockener Kämpfer, sieht in Johanna die einzige Frau, die ihm ebenbürtig ist:
»Denn nur die Starke kann die Freundin sein
Des starken Mannes, und dies glühnde Herz
Sehnt sich, an einer gleichen Brust zu ruhn,
Die seine Kraft kann fassen und ertragen.« (S.59)
Selbstverständlich weist sie auch ihn ab. Auch die wohlgemeinten Ratschläge des Königs, des Erzbischofs und Agnes Sorels, Johanna solle sich doch endlich »zu dem sanfteren Geschlecht« der Frauen, dem sie ursprünglich angehöre, zurückkehren und liebende Gattin und Mutter werden, weist sie entschieden zurück:
»Dauphin! Bist du der göttlichen Erscheinung
Schon müde, daß du ihr Gefäß zerstören,
Die reine Jungfrau, die dir Gott gesendet,
Herab willst ziehn in den gemeinen Staub?
Ihr blinden Herzen! Ihr Kleingläubigen!
Des Himmels Herrlichkeit umleuchtet euch,
Vor eurem Aug' enthüllt er seine Wunder,
Und ihr erblickt in mir nichts als ein Weib.
Darf sich ein Weib mit kriegerischem Erz
Umgeben, in die Männerschlacht sich mischen?
Weh mir, wenn ich das Rachschwert meines Gottes
In Händen führte und im eiteln Herzen
Die Neigung trüge zu dem ird'schen Mann!
Mir wäre besser, ich war' nie geboren!
Kein solches Wort mehr, sag' ich euch, wenn ihr
Den Geist in mir nicht zürnend wollt entrüsten!
Der Männer Auge schon, das mich begehrt,
Ist mir ein Grauen-und Entheiligung.« (S.71f.)
Nur bei dem Engländer Lionel wird sie für einen kurzen Augenblick schwankend. Sie tötet ihn nicht, wie sie es sonst mit ihren Feinden zu tun pflegt (hier weicht Schiller von der historischen Realität ab; die reale Johanna hat nicht getötet!), sondern schenkt ihm die Freiheit. Damit stürzt sie jedoch in einen tödlichen Zwiespalt. Die traumwandlerische Sicherheit, mit der Johanna bis dahin ihren Weg gegangen war, ist zerstört. Sie wird zum sterblichen, gewöhnlichen »Weib, wenn ihr ein Mann begegnet« (S.107), wie Schiller die Königin Isabeau zynisch sagen läßt. Von nun an geht es mit ihr steil bergab, die Kette der Siege bricht ab, die Franzosen wenden sich von ihr ab und sie gerät in englische Gefangenschaft. In dieser verzweifelten Situation gibt aber Johanna ihren menschlich-sinnlichen Bedürfnissen nicht nach. Sie weist sowohl Dunois und Lionel als auch Raimond, der sich bis zuletzt um sie bemüht, standhaft zurück und verdient sich damit ihre Verklärung am Ende des Dramas. Bei dem Versuch, Johanna zu befreien - dieser Versuch geht übrigens von La Hire aus, der sich ebenfalls bis zum Schluß um sie bemüht -, kommt es zu einer Schlacht, in die sich Johanna, mit übermächtiger Kraft ihre eisernen Ketten sprengend, stürzt und in der sie tödlich verwundet wird. Der Leib, dessen Begierden Johanna schuldig werden ließen, ist abgetötet, einer Apotheose steht nichts mehr im Wege.[30]
Der Zuschauer wird Zeuge einer Himmelfahrt Johannas. Die »reine« Jungfrau Johanna vereinigt sich mit der »reinen« Jungfrau Maria. Abbild und Urbild verschmelzen im Tode. Johanna vertauscht das irdische Paradies, das sie bereits in ihrer Jugend in ihrem heimatlichen Dorf Domremy als Schäferin genossen hatte, nachdem sie durch die Hölle des Zwiespalts und der Entfremdung gegangen war, nun endgültig mit dem ewigen Paradies. Damit hat Johanna das geschafft, was Schiller für die Menschheit im allgemeinen erhoffte: Sie hat die Körperlichkeit, die irdische Gebundenheit, das »Gemeine«, wie Schiller und Goethe sagen, abgestreift. Sie ist von einem vergänglichen Körper zu einer schönen unsterblichen Seele geworden. - Der Wunsch Schillers, Johanna zu einem Sinnbild des klassischen Menschheitsideals zu machen, ist meiner Meinung nach die Ursache dafür, daß er die historische Situation und die reale Figur weitgehend verändern muß. Dabei geht meines Erachtens auch viel verloren von der Bedeutung, die Johanna als historische Person gehabt hat. So wird z.B. der Widerspruch zwischen Männer- und Frauenrolle, den die historische Johanna erlebt hat (und der deutlich an dem Anlegen der Männerkleidung wird) bei Schiller völlig eingeebnet. Bei Schiller trägt Johanna stets Frauenkleider, mit Ausnahme eines Helmes und des Brustpanzers. Stattdessen konstruiert Schiller einen Widerspruch zwischen der jungfräulichen Frau und der liebenden, sinnlichen Frau, indem er als Gegenspielerin zur Johanna-Figur - gegen die historische Realität - Agnes Sorel aufbaut. Zweitens ist Johanna nicht Opfer der Männer wie in der Realität, sondern sie geht an ihrer eigenen Widersprüchlichkeit zugrunde. Der Gegensatz zwischen Hexe und Heilige wird in die Johanna-Figur selbst hineingelegt. Damit läßt Schiller zugleich das Verbrechen verschwinden, das an der realen Person Johannas verübt worden ist. Auffällig ist auch die Umwertung der Person des Königs bei Schiller. Er entwirft ein idealisiertes Bild des Königs, dessen Homosexualität, dessen Orgien und Günstlingswirtschaft kommen überhaupt nicht vor. Nicht zufällig hat Schiller wohl auch auf die Gestalt des Gilles de Rais verzichtet. Auch die Mätresse Agnes Sorel ist bis zur Unkenntlichkeit idealisiert. Die Realität enthält für Schiller anscheinend so viel Schmutz und Gemeinheit, daß eine Auseinandersetzung damit ihn wohl überfordert hätte.
Brecht
Genau auf den Schmutz und die Gemeinheit, die in der Johanna-Geschichte steckt, geht nun Brecht ein.[31] Sein Drama ist eine gezielte Parodie auf die Schillersche Tragödie. Die Korruption und die Menschenverachtung, die in der Zeit der historischen Johanna herrschten, macht Brecht zum Thema seines Stückes. Er schreibt jedoch kein historisches Drama, sondern aktualisiert die ganze Geschichte.
Die Johanna-Handlung wird in die Gegenwart verlagert. Sie spielt in den Schlachthöfen Chicagos, einer Hochburg kapitalistischer Ausbeutung, wie Brecht sie aus den gesellschaftskritischen Romanen seines Zeitgenossen Upton Sinclairs kennengelernt hatte. Der aktuelle politische Hintergrund für Brecht ist der große Börsenkrach an der Wallstreet, der sogenannte Schwarze Freitag, die Arbeitslosigkeit, die Massenarmut und die Streikbewegung in den USA. Dabei waren für Brecht die katastrophalen Zustände in den USA nur ein Zeichen für eine allgemeine Krise des kapitalistischen Systems, wie es in ganz Westeuropa herrschte. Johanna ist Heilsarmistin bei den Schwarzen Strohhüten, einer Sekte, die den Armen das Evangelium predigt und ihnen Suppe gibt. Sie versucht, den Armen und Unterdrückten zu helfen. In ihrem Engagement für die Armen wird sie angetrieben durch ihre Träume von einem gerechten Leben, durch ihre Visionen von einer besseren Zukunft und von ihren Stimmen, einer Art säkularisierter Gewissen. Brecht entmythologisiert die Johanna-Gestalt, behält aber die positive Sicht der Figur zunächst bei. Johanna ist der uneingeschränkt gute Mensch, der unkorrumpierbar und unbeirrbar, selbstlos und aufopfernd seinen Weg geht. Brecht knüpft an die Tradition an, die in der Johanna-Gestalt eine volkstümliche, populistische Heldin gesehen hatte.
Sehr bald jedoch muß die Brechtsche Heldin erkennen, daß sie den Armen als Einzelne nicht helfen kann, die Armut übersteigt ihre Kräfte. Deshalb wendet sie sich an den Kapitalisten Mauler, den Besitzer der Schlachthöfe. Dieser ist eine sehr ironische und bösartige Aktualisierung der Karl-Gestalt. Sie appelliert an seine Menschlichkeit und bittet ihn, den Arbeitslosen wieder Arbeit zu geben. Mauler zeigt sich gerührt. Er gibt Johanna Geld, aus einer sentimentalischen Anwandlung heraus, aber auch, um eine lästige Bittstellerin loszuwerden. Johanna aber läßt sich nicht so schnell abspeisen. »Können Sie ihnen [den Armen] nicht wirklich helfen?«32 fragt sie den Mauler. Dieser erklärt sich jedoch als nicht zuständig. Er gibt die Schuld den Menschen, die angeblich schlecht seien und ihr Unglück und ihre Armut selbst verdienen: »Erst muß, bevor die Welt sich ändern kann, der Mensch sich ändern« (S.249) und formuliert damit einen Grundgedanken aus Schillers »Ästhetischer Erziehung des Menschengeschlechts«.
Um Johanna zu desillusionieren, läßt er ihr die Schlachthöfe zeigen, dort soll sie die Schlechtigkeit, die Rohheit und die Gemeinheit der Menschen sehen und erkennen, daß »sie selber schuld sind« (ebd.). Johanna wird jedoch in ihrem Glauben an die Armen nicht irre. Zu ihrem Führer durch die Schlachthöfe sagt sie: »Nicht der Armen Schlechtigkeit hast du mir gezeigt, sondern der Armen Armut.« (S.255) Johanna geht erneut zu Mauler. Diesmal nimmt sie aber einen Trupp der Armen zur Begleitung mit, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Mauler kann den Anblick nicht ertragen: »Tut diese weg« (S.261), schreit er hysterisch und fällt in Ohnmacht. Johanna jedoch versucht, die Kapitalisten zur Vernunft zu bringen, indem sie ihnen sehr beredt ihr Programm der Nächstenliebe vorstellt, eine Art Reform- und Sozialprogramm.
Um die Armen loszuwerden, erfüllt Mauler Johannas Forderungen. Er kauft Fleisch auf und verspricht, die Fabriken wieder zu öffnen. Johanna ist entzückt, sie glaubt, Mauler sei überzeugt und ein im Grunde guter Mensch. Seine Geschäftspartner halten ihn jedoch für verrückt, weil er zu einem Zeitpunkt kauft, als alle anderen versuchen, ihre Ware loszuwerden. In Wahrheit jedoch hat Mauler - wie so oft, wenn er sich scheinbar von seinem Gefühl leiten läßt - eine geschäftlich richtige Entscheidung getroffen, wie sich wenig später zeigen wird. Die Situation der Armen verbessert sich jedoch nicht, weil Mauler entgegen seinen Versprechungen die Fabriken nicht öffnet. Johanna überwirft sich derweil mit den Schwarzen Strohhüten. Diese haben sich inzwischen von den Kapitalisten bestechen lassen, um den Unmut der Massen zu besänftigen, um die religiöse Botschaft gleichsam als Opium fürs Volk einzusetzen. Johanna sucht Mauler erneut auf. Dieser versucht, sie ebenfalls mit Geld zu bestechen und bietet ihr an, in seine Dienste zu treten.
»Kurz und gut: ihr müßt
Gott wieder aufrichten
Die einzige Rettung, und
Für ihn die Trommel rühren, auf daß er
Fuß fasse in den Quartieren des Elends und seine
Stimme erschalle auf den Schlachthöfen.« (S.279)
Johanna jedoch lehnt ab und kehrt wieder zu den Armen in die Schlachthöfe zurück und teilt ihr verzweifeltes Leben. Dort hat sich die Situation inzwischen dramatisch zugespitzt. Die Arbeiter drängen auf einen Generalstreik. Ein Arbeiterführer sagt: »In dieser Lage müssen wir erkennen, daß nur mehr die Anwendung von Gewalt uns helfen kann.« (S.285) Johanna versucht, den Arbeitern den Streik auszureden und setzt sich für Mauler ein. Sie wirft den Arbeitern vor, daß sie ohne Beweis glauben, »es könnt einer wie der Mauler kein Mensch sein« (S.286). Sie hält eine Rede gegen die Gewalt, weil sie glaubt, daß »nicht gut sein« kann, »was mit Gewalt gemacht wird« (S.294). Deshalb überbringt sie auch einen Brief, mit dem die Arbeiter der Nachbarfabriken zum Streik aufgerufen werden sollten, nicht an die Empfänger. Sie behält ihn und der Generalstreik kommt nicht zustande. Die streikenden Arbeiter bleiben isoliert und werden zusammengeschossen. Mauler hat sich inzwischen zu den Schwarzen Strohhüten begeben und versucht sie vor seinen Karren zu spannen. Er verspricht ihnen, ihre Sache »in großer Weise« aufzuziehen (S.305), damit sie bei den aufständischen Arbeitern ihr »ordnungsförderndes Werk« (S.307) tun. Mauler versucht auch Johanna zu gewinnen, weil diese Ansehen bei den Armen genießt. Als Johanna völlig entkräftet, dem Tode nahe, an der Spitze der Armen erscheint, versuchen die Kapitalisten sie auf ihre Seite zu ziehen: »Das ist unsere Johanna. Sie kommt wie gerufen. Wir wollen sie groß herausbringen, denn sie hat uns durch ihr menschenfreundliches Wirken auf den Schlachthöfen, ihre Fürsprache für die Armen, auch durch ihre Reden gegen uns über schwierige Wochen hinweggeholfen. Sie soll unsere heilige Johanna der Schlachthöfe sein. Wir wollen sie als eine Heilige aufziehen und ihr keine Achtung versagen. Im Gegenteil soll gerade, daß sie bei uns gezeigt wird, dafür zum Beweis dienen, daß die Menschlichkeit bei uns einen hohen Platz einnimmt.« (S.311) Johanna jedoch hat in der Zwischenzeit gelernt. Sie hat erkannt, daß es ein Fehler von ihr war, den Brief nicht abzugeben, sie hat erkannt, daß nur Taten helfen, nicht Gesinnungen:
»Denn nichts werde gezählt als gut, und sehe es aus wie immer, als was
Wirklich hilft, und nichts gelte als ehrenhaft mehr als was
Diese Welt endgültig ändert: sie braucht es.
Wie gerufen kam ich den Unterdrückern!
Oh, folgenlose Güte! Unmerkliche Gesinnung!
Ich habe nichts geändert.
Schnell verschwindend aus dieser Welt ohne Furcht
Sage ich euch:
Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassend
Nicht nur gut wart, sondern verlaßt
Eine gute Welt!« (S.312f.)
Diese Lektion ist den Kapitalisten, allen voran Mauler, natürlich gar nicht angenehm. Sie versuchen Johanna zu überschreien, die Schwarzen Strohhüte stimmen Choräle an, um sie mundtot zu machen. Johanna, die von dem Leben in den Slums völlig entkräftet ist, bricht zusammen. Sie weist jedoch die Suppe, die ihr die Schwarzen Strohhüte einflößen wollen, mit letzter Kraft zurück. Dennoch gelingt es den Kapitalisten, Johanna noch im Tode für ihre Sache zu vereinnahmen, indem sie ihr Ende idealistisch verbrämen:
»Mensch, es wohnen dir zwei Seelen
In der Brust!
Such nicht eine auszuwählen
Da du beide haben mußt.
Bleibe stes mit dir im Streite!
Bleib der Eine, stets Entzweite!
Halte die hohe, halte die niedere
Halte die rohe, halte die niedere
Halte sie beide!« (S.317)
Besonders der Schluß macht deutlieh, wie bösartig Brecht Schiller parodiert. Übrigens nicht nur ihn, sondern die deutsche Klassik insgesamt. Die letzten Verse sind eine bissige Satire auf Goethes »Faust« und die »zwei Seelen«, die angeblich in jedes Menschen Brust wohnen. Der antiklassische Effekt, der bis in die parodistische Nachahmung des klassischen Verses hineinreicht - bezeichnenderweise benutzen Mauler und die anderen Kapitalisten häufig das klassische Versmaß, um ihre Geschäftspraktiken zu verschleiern, Johanna dagegen spricht stets in Prosa -, zieht sich durch das ganze Stück. Es ist eine sehr heftige Abrechnung mit der Klassik und mit deren Rezeption. Zugleich ist das Stück ein Dokument für Brechts Annäherung an den Marxismus in den 20er Jahren. In jenen Jahren wandte sich Brecht vom sogenannten Nihilismus seiner Jugendzeit ab, studierte die marxistischen Klassiker und entwickelte sich selbst zum Marxisten. Gegen das Klassische »Hilfreich sei der Mensch, edel und gut« setzt er seine neugewonnene Einsicht: »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.« (S.313)
In der Johanna-Gestalt hat er eigene Entwicklungsschritte nachgezeichnet, gegen Ende des Stücks ist Johanna ganz zum Sprachrohr des Autors geworden. Johanna interessiert ihn also nicht als historische Gestalt, sondern nur als Demonstrationsfigur - hier ist er sich übrigens mit Schiller sehr einig. Durch die konsequente Modernisierung der Figur und des gesamten Geschehens wird der Zuschauer aber auch gar nicht erst auf den historischen Stoff zurückverwiesen. Brecht will nicht die historische Johanna rekonstruieren, sondern die klassische Johanna demontieren.
Trotzdem erfaßt er meiner Meinung nach mehr von der Problematik der historischen Johanna als viele Autoren vor ihm. Brecht gehört zu den wenigen, die nicht auf die »Reinheit« der Johanna-Figur fixiert sind. Es spielt bei ihm überhaupt keine Rolle, ob Johanna Jungfrau ist oder nicht, noch hat er damit Probleme, daß Johanna eine kämpferische Person ist. Im Gegenteil - er wirft ihr gerade vor, daß sie sich zu sehr von ihrem »Herzen« leiten läßt und zu wenig auf die Gewalt der Waffen setzt. Als nur »guter« Mensch hat sie keine Chancen in einer verbrecherischen Umgebung. Indem sie sich von ihren »weiblichen« Tugenden - Mitleid, Opferbereitschaft etc. - leiten läßt und »männliche« Verhaltensweisen ablehnt, wird sie zum Opfer einer männlichen Vernichtungsmaschinerie, die dem »guten« Menschen keine Überlebenschancen läßt. Dies ist - wenn man die Kapitalismuskritik abzieht - auch ein möglicher Interpretationsansatz zum Verständnis der historischen Johanna, der freilich nur Aspekte der Person und der historischen Situation zu erfassen in der Lage ist.
3. Resümee
Die Geschichte der Johanna-Bearbeitungen (von Ausnahmen wie Southey und Brecht soll hier nicht die Rede sein) zeigt, daß die Johanna-Figur zum Auslöser für die unterschiedlichsten »Männerphantasien« wird. Die Funktion der Johanna-Figur läßt sich (ohne damit allen Werken in gleichem Maße gerecht zu werden) folgendermaßen zusammenfassen:
- Im Bild der »reinen« Jungfrau (als ob es eine »unreine« Jungfrau gäbe!) wird in Anknüpfung an den Marienkult des Christentums, die Sexualität tabuisiert, von der Frau abgespalten und in den Bereich des Schmutzigen und Obszönen verwiesen. Dabei erscheint die Jungfräulichkeit als etwas stets Gefährdetes - und zwar von außen und innen. Zum einen wird Johanna sehr häufig in erotische Abenteuer mit Männern verstrickt (z.B. mit dem Massenmörder Gilles de Rais bei Kaiser oder mit den verschiedenen Feldherren bei Schiller), von den Autoren gleichsam auf die Probe gestellt und - falls sie sich als »normale« Frau erweist - dafür bestraft und einem Reinigungsprozeß unterworfen, der tödlich endet und in dem das Bild der Jungfrau, durch Blut gewaschen, wieder fleckenlos erstrahlt. Zum anderen wird die Gefährdung in sie selbst hineingelegt, durch ihre eigenen noch nicht abgetöteten Wünsche nach Zärtlichkeit und Sexualität hervorgerufen. Auch diese »Unvollkommenheit« und »Unreinheit« der Frau macht einen Reinigungsprozeß notwendig, der als Selbstläuterungsprozeß ausgegeben wird. Auf diese Weise wird die »reine« Jungfrau zum Vorbild und zum Symbol geglückter Triebunterdrückung. Johanna als Frauenbild ist Ausdruck eines perversen Jungfrauenkultes, in dem die Fixierung auf die »Reinheit« der Frau als Gewalt gegen die lebendige Frau ausagiert und ausphantasiert wird.
- Im Bild der Hexe werden sehr konträre Vorstellungen und Ängste mobilisiert. Das, was im Bild der Jungfrau ausgemerzt zu sein scheint, aber immer noch als untergründige Bedrohung lauert, nämlich die angeblich dämonische, zerstörerische Sexualität der Frau, wird zum beherrschenden Zug. Die Vernichtung der Hexe in der Realität und in der Fiktion ist die logische Konsequenz.
- In der Johanna-Figur haben sich diese beiden Vorstellungsbereiche verbunden. Johanna ist als Hexe verbrannt und als Heilige seliggesprochen worden - und dies nicht nur in der historischen Abfolge, sondern auch in der konkreten historischen Situation, wo sie ihren Anhängern als Heilige, ihren Gegnern als Hexe erschien. In der Fiktion hat die »Heilige« eine größere Rolle gespielt als die Hexe (wohl nicht zuletzt um das historische Verbrechen der Hexen Verbrennung wieder »gutzumachen«), aber das Bild der Hexe ist untergründig doch immer vorhanden und führt zu einer Ambivalenz der Johanna-Gestalt, die den Reiz der Figur für viele Autoren ausmacht.
- Die beiden Anteile - Hexe und Heilige - im Bild der Johanna führen zu einer Spaltung. Diese Aufspaltung äußert sich zum einen in der Verteilung der beiden Anteile auf verschiedene Autoren und Epochen - so stilisieren einige Autoren Johanna ganz zur Heiligen und die Sichtweise von Johanna als Heilige dominiert in bestimmten Epochen - zum anderen erscheint Johanna selbst als gespaltene Person und geht an dieser Zwiespältigkeit (wie z.B. bei Schiller) zugrunde. Dabei sind die verschiedenen Formen der Aufspaltung Ausdruck des gespaltenen Frauenbildes der jeweiligen Autoren, das unabhängig von der Gestalt der Johanna besteht und eine Grundform patriarchalischen Denkens darstellt.
- Hexe und Heilige in ihrer Vermischung bzw. Aufspaltung enthüllen sich bei genauerem Hinsehen als Bilder der Gewalt und des Todes. In der Figur der Johanna toben sich die nekrophilen Handlungen und Phantasien des Patriarchats in seltener Deutlichkeit aus: Johanna wird als Hexe verbrannt und als Heilige ihrer Körperlichkeit beraubt. Gefangenschaft und Flammentod sind der christlichen Passion nachempfunden und nachgebildet. Durch ihren Flammentod wird sie zur Erlöserfigur wie Jesus durch seinen Kreuzestod. Im Arrangement des »schönen Sterbens«, das bei Schiller die Grenzen des guten Geschmacks weit hinter sich läßt, finden die nekrophilen Phantasien ihre ästhetische Überformung und scheinhafte Rechtfertigung. Dahinter verblaßt die Tatsache, daß die Geschichte der Johanna eine Geschichte der Folterung, Verfolgung, Demütigung, Vergewaltigung und des Mordens ist.
- Johanna ist aber nicht nur Hexe oder Heilige oder beides, sondern sie ist auch eine kämpferische Frau. Gerade der kämpferische Mut und die Energie der historischen Johanna mobilisieren Triebenergien bei den männlichen Zeitgenossen und den nachfolgenden Autoren. Johanna fasziniert als kämpferische Frau, zwingt zur Unterwerfung und Anbetung, löst zugleich aber tiefsitzende Männerängste aus, die sich in den antiken Amazonenmythen ebenso ausdrücken wie in der zeitgenössischen Angst vor der »emanzipierten« Frau. Ihre Stärke liegt in ihrer Jungfräulichkeit, das heißt in ihrer Unabhängigkeit von den Männern. Aber diese Unabhängigkeit provoziert und fordert heraus: Die Jungfrau darf keine Jungfrau bleiben, sie muß entwaffnet und unterworfen werden. Der Autor wird zum Hüter der »reinen« Jungfrau und zugleich zu ihrem Zerstörer. Die »Amazone« Johanna wird in die Schranken der Weiblichkeit zurückverwiesen, sie wird zur Streiterin Gottes stilisiert.
- Johanna ist Heldin und Opfer zugleich. Neben anderen kämpferischen Frauen wie Judith oder Medea gehört sie zu den großen weiblichen Heldenfiguren, die die Phantasien der Autoren immer wieder beschäftigt und zu immer neuen Auseinandersetzungen provoziert haben. Heldin ist sie aber nur deshalb, weil sie Opfer ist und die Opferrolle auch annimmt. Der Ausbruch aus der Frauenrolle, symbolisiert durch das Anlegen männlicher Kleidung, ist nur ein scheinbarer. Durch ihre Hingabe, Opferbereitschaft und Aufopferung erfüllt Johanna letztlich die weiblichen Muster, denen sie oberflächlich gesehen so gar nicht zu entsprechen scheint. An der Figur der Johanna wird deutlich, daß eine der wenigen Heldenrollen, die Frauen in Männertexten zugestanden wird, die der Märtyrerin ist.
- Auffällig an den verschiedenen Johanna-Bearbeitungen ist die Auslöschung männlicher Verantwortlichkeit. Bei Schiller, der Johanna an ihrer eigenen Widersprüchlichkeit zugrunde gehen läßt, wird dies besonders deutlich, andere Autoren verfahren subtiler. Folterung und Flammentod werden zwar dargestellt, aber zu Teilen einer Märtyrergeschichte umgeformt und damit stillschweigend oder explizit gerechtfertigt. Der eigentliche Skandal der Jeanne d'Arc, nämlich die Verfolgung, Folterung und Hinrichtung einer Frau, die patriarchalischen Normen nicht ganz entspricht, verschwindet, und auch da, wo er dargestellt wird, ist er eher lust-volles Nachzeichnen einer Passionsgeschichte, denn Anklage der Verantwortlichen. Als Geschichte einer Reinigung sind Verfolgung, Folterung und Verbrennung notwendige Stufen in einem Vervollkommnungsprozeß, der aus der »sündigen« Frau die Heilige macht.