Die weiße Göttin

Da der Leser die enge Verbindung zwischen den alten britischen, griechischen und hebräischen Religionen, wie ich sie hier vermute, nicht ohne weiteres akzeptieren wird, beeile ich mich zu erklären, daß ich kein britischer Jude oder dergleichen bin. Wie ich die Sache verstehe, wurde in verschiedenen Perioden des zweiten Jahrtausends v. Chr. ein Bund von handeltreibenden Stämmen, in Ägypten als »Volk des Meeres« bekannt, durch Invasoren, die von Nordosten und Südosten eindrangen, aus der Ägäis vertrieben. Einige von ihnen wanderten auf lange gebräuchlichen Handelsrouten nach Norden und erreichten schließlich Britannien und Irland; andere wanderten, ebenfalls üblichen Handelswegen folgend, nach Westen, und Teile von ihnen erreichten Irland über Nordafrika und Spanien. Wieder andere drangen nach Syrien und Kanaan ein, unter ihnen die Philister, die von dem edomitischen Clan von Kaleb den Tempel von Hebron im südlichen Judäa übernahmen; doch die Kalebiter (»Hundemenschen«), Verbündete des israelitischen Stammes Juda, gewannen ihn etwa zweihundert Jahre später zurück und eroberten zugleich einen großen Teil des Philisterlandes. Diese Besitzveränderungen wurden schließlich im Pentateuch durch einen Kodex von semitischen, indo-europäischen und asiatischen Mythen sanktioniert, der alsdann die religiöse Überlieferung des gemischten israelitischen Stammesbundes bildete. Es besteht also insofern ein Zusammenhang zwischen den frühen Mythen der Hebräer, der Griechen und der Kelten, als alle drei Rassen durch das gleiche ägäische Volk zivilisiert wurden, das sie unterwarfen und absorbierten. Und dies ist nicht nur von antikisierendem Interesse, denn die Anziehungskraft des modernen Katholizismus beruht, trotz der patriarchalischen Trinität und der rein männlichen Priesterschaft, eher auf der ägäischen, um Mutter und Sohn kreisenden Religions-Überlieferung, zu der er allmählich zurückkehrt, als auf seinen aramäischen und indo-europäischen »Kriegergott«-Elementen. Nun aber soll historisch ausführlicher von den Danaern die Rede sein. Danu, Danae oder Don erscheint in römischen Berichten als Donnus, als göttlicher Vater von Cottius, dem heiligen König der Kotter, eines ligurischen Stammesbundes, nach dem die kottischen Alpen ihren Namen tragen. Kottys, Kotys oder Kottius war ein weit verbreiteter Name. Kotys taucht als dynastischer Titel im vierten Jahrhundert v. Chr. und im ersten Jahrhundert n. Chr. in Thrakien auf, und die Cattini und Attacoti in Nordbritannien und viele, immer wieder zwischen dort und Thrakien vorkommende Katt- und Kott-Stämme sind wohl auf eine kottische Wurzel zurückzuführen. Auch gab es eine Kotys-Dynastie in Paphlagonien am Südufer des Schwarzen Meeres. Sie alle leiten offenbar ihre Namen von der Großen Göttin Kotytto oder Kotys ab, die in Thrakien, Korinth und Sizilien mit orgiastischen Riten verehrt wurde. Ihre nächtlichen Orgien, die Kotyttien, wurden Strabo zufolge ähnlich wie jene der Demeter, der Gerste-Göttin der griechischen Ureinwohner, und auch wie jene der phrygischen Löwen- und Bienen-Göttin Kybele begangen, zu deren Verherrlichung junge Männer sich selbst entmannten; in Sizilien war es bei den Kotyttien üblich, mit Früchten und Gerstenkuchen behängte Zweige herumzutragen. In der klassischen Sage war Kottys der hunderthändige Bruder der hundertarmigen Ungeheur Briareus und Gyes, der Verbündeten des Gottes Zeus in seinem Krieg gegen die Titanen an den Grenzen von Thrakien und Thessalien, Diese Ungeheuer hießen Hekatontocheiroi (»die Hunderthändigen«). Die Geschichte dieses Krieges gegen die Titanen ist nur im Licht der frühgriechischen Geschichte verständlich. Die ersten Einwanderer in Griechenland waren die Achäer, die um 1900 v. Chr. in Thessalien einfielen; sie waren patriarchalisch organisierte Hirten und verehrten eine indo-europäische männliche Göttertrinität, ursprünglich vielleicht Mitra, Varuna und Indra, deren die Mitanni von Kleinasien noch um 1400 v. Chr. gedachten und die schließlich Zeus, Poseidon und Hades genannt wurden. Nach und nach eroberten sie ganz Griechenland und versuchten, die halbmatriarchalische Bronzezeit-Kultur zu zerstören, die sie dort vorfanden; später aber versöhnten sie sich mit ihr, übernahmen die matrilinearen Erbfolge und verstanden sich als Söhne der unterschiedliche Namen tragenden Großen Göttin. Sie wurden zu Verbündeten der sehr gemischten Bevölkerungen auf dem Festland und auf den Inseln - etliche lang-, andere breitköpfig-, die sie als Pelasger oder Seefahrer bezeichneten. Die Pelasger behaupteten, aus den Zähnen der kosmischen Ophion-Schlange geboren zu sein, welche die Große Göttin in ihrer Eigenschaft als Eurynome (»weite Herrschaft«) zum Geliebten genommen und damit die materielle Schöpfung eingeleitet hatte; aber Ophion und Eurynome sind griechische Versionen der ursprünglichen Namen. Selbst nannten sie sich wohl Danaer, nach der gleichen Göttin in ihrer Eigenschaft als Danae, die eine Schutzherrin der Landwirtschaft war. Jedenfalls nahmen die Achäer, die Argolis besetzt hatten, nun ebenfalls den Namen Danaer an, und sie wurden ebenfalls Seefahrer; während diejenigen, die nördlich des Isthmus von Korinth geblieben waren, als lonier, Kinder der Kuh-Göttin lo, bekannt waren. Etliche der von Argolis vertriebenen Pelasger gründeten die Städte Lesbos, Kios und Knidos; andere flüchteten nach Trakien, nach Troja und auf die Inseln der nördlichen Ägäis. Einige Clans blieben in Attika, Magnesia und anderen Orten. Die kriegerischsten unter den verbliebenen Pelasgern waren die Kentauren von Magnesia, darunter die Clans des Wendehals und des Berglöwen. Sie verehrten auch das Pferd, wahrscheinlich nicht das asiatische Pferd, das Anfang des zweiten Jahrtausends v. Chr. vom kaspischen Meer eingeführt worden war, sondern eine frühere und schwächere europäische Art, das Ähnlichkeit mit dem Dartmoor-Pony hatte. Die Kentauren, unter ihrem Sakralkönig Cheiron, hießen die Achäer als Bundesgenossen gegen ihre Feinde, die Lapithen aus Nordthessalien, willkommen. Das Wort »Cheiron« hängt offenbar zusammen mit dem griechischen cheir, »Hand«, und »Kentaur« mit kentron, »Ziege«. In meinem Essay What Food the Centaurs Ate stelle ich die Vermutung an, daß sie sich durch den Genuß des Fliegenpilzes, Amanita muscaria, berauschten, von der hundertarmigen Kröte aßen, von der ein Exemplar, in einen etruskischen Spiegelrahmen geschnitzt, zu Füßen ihres Ahnherrn Ixion zu sehen ist. Waren die Hekatontocheiroi etwa die Kentauren des Berglandes von Magnesia, deren Freundschaft für die achäischen Hirten von Thessalien und Böotien strategisch so wichtig war? Die Muttergottheit der Kentauren hieß im Griechischen Leukothea, »die Weiße Göttin«, doch bei den Kentauren selbst hieß sie Ino oder Plastene, und ihr in Stein gehauenes Bildnis wird immer noch in der Nähe der alten Bergfeste Tantalos ausgestellt; auch war sie als »Mutter« des Melikertes oder Herakles Melkarth bekannt, des Gottes der früheren, halb-semitischen Invasoren. Die Griechen behaupteten zu wissen, in welchem Jahr Zeus, im Bündnis mit den Hekatontocheiroi, den Sieg über die Titanen von Thessalien errang: der wohlinformierte Tatian zitiert eine Berechnung von Thallos, [1] dem Historiker des 1. Jahrhunderts n. Chr., wonach dies 322 Jahre vor der zehnjährigen Belagerung Troias geschehen sein soll. Nachdem damals der Fall Trojas auf 1183 v. Chr. datiert wurde, lautet die Antwort: 1505 v. Chr. Falls dieses Datum mehr oder minder richtig ist, bezieht die Sage sich wahrscheinlich auf eine Machterweiterung der Achäer auf Kosten der pelasgischen Stämme, die nach Norden verdrängt wurden. [2] Die Geschichte von der Gigantomachie, dem Kampf der olympischen Götter mit den Giganten, bezieht sich wahrscheinlich auf ein ähnliches, aber späteres Ereignis, als die Griechen es für notwendig befanden, die kriegerischen Magnesier in ihren Festungen zu Pelion und Ossa zu unterwerfen - anscheinend im Zusammenhang mit deren exogamen Praktiken, die der patriarchalen Struktur des Olymp widersprachen und ihnen unverdientermaßen den Ruf sexuell Besessener eintrugen. Diese Sage berichtet auch von dem Zauberbann des Herakles gegen die Nachtmahr. Die Achäer wurden zwischen dem siebzehnten und fünfzehnten Jahrhundert von Kreta her kolonisiert - in der spätminoischen Epoche, die in Griechenland die mykenische genannt wird, nach Mykene, der Hauptstadt der Atridendynastie. Die äolischen Griechen fielen vom Norden her in Thessalien ein und konnten in der Folge Böotien und die westliche Peleponnes erobern. Sie siedelten friedlich unter den achäischen Danaern und waren als Minäer bekannt. Es ist wahrscheinlich, daß beide Völker an der um 1400 stattgefundenen Plünderung von Knossos beteiligt waren, die das Ende der kretischen Seemacht bedeutete. Der Niedergang Kretas, wo inzwischen überwiegend griechisch gesprochen wurde, führte zu einer beträchtlichen Machtzunahme für Mykene: es machte Eroberungen in Kleinasien, Phönizien, Libyen und auf den ägäischen Inseln. Um 1200 V. Chr. tat sich eine Kluft zwischen den achäischen Danaern und den weniger zivilisierten Achäern im Nordwesten Griechenlands auf, die auf die Peleponnes vordrangen, dort eine neue partriarchalische Dynastie begründeten, die Herrschaft der Großen Göttin ablehnten und das wohlbekannte olympische Pantheon unter der Oberhoheit des Zeus begründeten, in dem Götter und Göttinnen gleichermaßen vertreten waren. Mythen von den Streitigkeiten des Zeus mit seiner Gattin Hera (ein weiterer Name der Großen Göttin), mit seinem Bruder Poseidon und mit dem Apollon von Delphi lassen darauf schließen, daß die religiöse Revolution anfangs von den Danaern und Pelasgern heftig bekämpft wurde. Doch ein geeinigtes Griechenland eroberte dann Troja, die Stadt am Eingang zu den Dardanellen, die seit jeher einen Zoll auf ihren Handel mit dem Schwarzen Meer und dem Osten erhoben hatte. Eine Generation nach dem Sturz Trojas drängte eine andere indo-europäische Horde nach Kleinasien und Europa - unter ihnen die Dorer, die mordend, plündernd und brandschatzend Griechenland überzogen - und löste eine große, sich in alle Richtungen ausbreitende Flüchtlingswelle aus. So können wir ohne historische Skrupel die Danu der Tuatha d√© Danaan, bei denen es sich wohl um Bronzezeit-Pelasger handelt, die um die Mitte des zweiten Jahrtausends aus Griechenland vertrieben worden waren, mit der prä-achäischen Göttin Danae von Argos gleichsetzen. Ihre Macht reichte bis nach Thessalien, und sie war die Urmutter der früh-achäischen Dynastie, deren Name uns als das Haus Perseus (genauer: Pterseus, »der Zerstörer«) überliefert ist; aber in Homers Tagen war Danae schon zu »Danaios, Sohn des Belos« vermännlicht, von dem es hieß, er habe seine »Töchter« aus Libyen, über Ägypten, Syrien und Rhodos, nach Griechenland gebracht. Die Namen der drei Töchter, Linda, Kameira und Ialysa, sind offenbar Titel der Göttin, die auch als »Lamia, Tochter des Belos, eine libysche Königin«, auftritt. In der bekannten Sage vom Massaker an den Söhnen des Ägyptos während ihrer Hochzeitsnacht wird die Zahl dieser Töchter des Danaios, der Danaiden, von drei auf fünfzig erhöht, vermutlich weil dies die übliche Zahl der Priesterinnen in den argivischen und elischen Akademien des Muttergöttin-Kultes war. Die ursprünglichen Danaer kamen möglicherweise auf dem in der Sage genannten Weg vom See Tritonis in Libyen (heute ein Salzsumpf) in die Ägäis, doch es ist unwahrscheinlich, daß sie diesen Namen schon trugen, bevor sie Syrien erreichten. Der Umstand, daß die Kotter, die vom Schwarzen Meer über Phrygien und Thrakien nach Nordgriechenland kamen, ebenfalls als Danaer galten, beweist, daß sie dort vor den Äolern eintrafen, die nicht als Danaer angesehen wurden. A. B. Cook nennt in seinem Buch Zeus überzeugende Gründe für die Annahme, daß die Gräco-Libyer und die Thrako-Phrygier miteinander verwandt waren und daß beide Stammesgruppen Verwandte unter den frühen Kretern hatten. Ferner können wir Danu mit der Muttergöttin der ägäischen »Danuna« gleichsetzen, einem Volk, das zeitgenössischen ägyptischen Inschriften zufolge im Verein mit den Scherdina und den Zakkala von Lydien, den Schakascha von Phrygien, den Pelusad von Lykien, den Akaiwascha von Pamphylien und anderen Völkern des östlichen Mittelmeerraumes in Nordsyrien einfiel. Für die Ägypter waren sie allesamt »Seevölker« - die Akaiwascha sind Achäer - die unter dem Druck der neuen indo-europäischen Horde von den Küstenregionen Kleinasiens wie auch aus Griechenland und den ägäischen Inseln auswandern mußten. Aus den Pulesati wurden die Philister des südlichen Phönizien; sie waren vermischt mit Cherethitern (Kretern), von denen etliche in König Davids Leibwache zu Jerusalem dienten - möglicherweise griechisch sprechende Kreter, wie Arthur Evans vermutet. Ein Auswanderervolk, das die Hethiter unterwarf bei den Assyrern als Muski und bei den Griechen als Moscher bekannt - ließ sich in Hierapolis am oberen Euphrat nieder. Lukians Bericht - in seinem Werk De Dea Syria - über die alten Riten, die noch im zweiten Jahrhundert n. Chr. in ihrem Tempel der Großen Göttin praktiziert wurden, vermittelt das deutlichste Bild einer erhalten gebliebenen bronzezeitlichen ägäischen Religion. Stämme oder Clans aus dem gleichen Völkerverband wanderten westwärts nach Sizilien, Italien, Nordafrika und Spanien. Aus den Zakkala wurden die Sikeler von Sizilien; die Scherdina gaben Sardinien den Namen; die Turscha sind die Tursenier (oder Thyrrhenier) von Etrurien. Einige Danaer zogen anscheinend nach Westen, denn Sillus Italicus, ein lateinischer Dichter des ersten Jahrhunderts, angeblich Spanier, berichtet eine Überlieferung, wonach die balearischen Inseln - ein Zentrum der Megalith-Kultur und eine der bedeutendsten Zinn-Quellen der antiken Welt - von den Danaern Tleptolemos und Lindos erstmals zum Königreich erklärt wurden. Lindos ist eine maskulinisierte Version der danaischen Linda. Zumindest ein Teil des Volkes verblieb in Kleinasien. Unlängst wurde eine danaische Stadt nahe Alexandretta, am Fuß des Taurosgebirges, entdeckt, und die (noch nicht entzifferten) Inschriften sind in hethitischen Hieroglyphen aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. und in aramäischer Schrift gehalten. Die Sprache ist vermutlich das Kanaanitische, und die Skulpturen zeigen Mischformen assyro-hethitischer, ägyptischer und ägäischer Stile; was den griechischen Bericht stützt, wonach Danalos ein Sohn von Agenor (Kanaan) war, der von Libyen über Ägypten und Syrien nach Norden zog. Der Mythos von der Entmannung des Uranos durch seinen Sohn Kronos und von der Rache, die dessen Sohn Zeus an ihm nahm, der ihn unter der Obhut der »Hundertarmigen« in die westliche Unterwelt verbannte, ist nicht so leicht zu entschlüsseln. In seiner ursprünglichen Bedeutung berichtet er von der alle Jahre wieder stattfindenden Ersetzung des alten Eichen-Königs durch seinen Nachfolger. Zeus war einst der Name eines Hirten-Orakelheros, der in Verbindung mit dem Eichenkult von Dodona in Epirus steht, einem Kult, den die Tauben-Priesterinnen von Dione versahen - einem Hain der sonst als Diana bekannten Großen Göttin. Die, in Frazers Golden Bough vorgetragene Theorie ist so bekannt, daß es sich erübrigt, diesem Thema weiter nachzugehen; wenngleich Frazer nicht eindeutig erklärt, daß das von den Druiden geübte Abschneiden des Mistelzweiges von der Eiche die Entmannung des alten Königs durch seinen Nachfolger versinnbildlichte - denn die Mistel ist vor allem ein phallisches Symbol. Der König selbst wurde nach der Kastration eucharistisch verzehrt, was mehrere Sagen der pelopischen Dynastie bezeugen; doch auf der Peloponnes zumindest hatte dieser Eichen-Kult einen Gerste-Kult überlagert, als dessen Heros Kronos figurierte und bei dem ebenfalls Menschenopfer üblich waren. Beim Gerste-Kult, ähnlich wie beim Eichen-Kult, erbte der Königsprätendent die Gunst der Priesterinnen seiner Mutter-Gottheit. In beiden Kulten wurde das Opfer unsterblich, und seine Reste wurden unter der Obhut zaubernder, orgiastischer Kultpriesterinnen zum Begräbnis auf eine heilige Insel überführt - z. B. Samothrake, Lemnos, Pharos bei Alexandria, das Delos vorgelagerte Inselchen Ortygia, das andere Ortygia vor Sizilien, [3] Leuke an der Donaumündung, wo es einen Achilles-Tempel gab, Aäa, die Insel der Kirke (heute Lussin, in der Adria), das atlantische Elysium, wohin Menelaos nach dem Tode ging, und das ferne Ogygia, vielleicht Torrey Island vor der irischen Küste. Daß der entmannte Kronos von seinem Sohn Zeus verdrängt wurde, ist eine ökonomische Aussage: die achäischen Hirten, die bei ihrer Ankunft im Norden Griechenlands ihren Himmelsgott mit dem lokalen Eichen-Heros identifiziert hatten, gewannen Vorrang über die pelasgischen Ackerbauern. Doch es gab einen Kompromiß zwischen den beiden Kulten. Die Dione oder Diana der Wälder wurde mit der Danae des Gerste-Kultes gleichgesetzt; und die Tatsache, daß die gallischen Druiden späterhin eine goldene Sichel und nicht einen Krummdolch aus Feuerstein oder Obsidian benutzten, um den Mistelzweig zu schneiden, beweist, daß das Eichen-Ritual mit jenem des Gerste-Königs kombiniert worden war, den die Danae - oder Alphito oder Demeter oder Ceres mit ihrer mondförmigen Sichel erntete. Das Ernten bedeutete die Kastration; so führen auch die Galla-Krieger in Abessinien in der Schlacht eine winzige Sichel mit, um damit ihre besiegten Feinde zu kastrieren. Der lateinische Kronos hieß Saturn, un dseine Statuen zeigen ihn bewaffnet mit einem Sichelmesser in der Form eines Krähenschnabels: wahrscheinlich ein Rebus auf seinen Namen. Denn obgleich die Griechen späterhin glaubten, der Name bedeute chronos, »die Zeit«, weil sie sehr alte Männer mit dem Scherznamen »Kronos« belegten, leitet er sich wohl eher aus der Wurzel Kron oder corn her, von der die griechischen und lateinischen Wörter für Krähe - Korone und cornix abstammen. Die Krähe war ein oft von den Auguren konsultierter Vogel und symbolisierte in Italien wie in Griechenland langes Leben. Ein weiterer Name für Kronos, den schlafenden und von dem hundertköpfigen Briareus bewachten Titanen, war möglicherweise Bran - der Krähengott. Wie dem auch sei, der Kronos-Mythos ist ambivalent. Er berichtet von der Entthronung und rituellen Ermordung des Heiligen Königs, die - im Eichen- wie im Gerste-Kult - am Ende seiner Amtszeit erfolgte. Und er berichtet von der Unterwerfung der präachäischen Viehzüchter Griechenlands durch die achäischen Hirten. Bei den römischen Saturnalien der republikanischen Zeit, einem Fest, das dem alt-englischen Jul entsprach, wurden zeitweilig, zum Andenken ans Goldene Zeitalter unter Kronos' Herrschaft, alle sozialen Zwänge und Einschränkungen abgelegt. Ich nenne Bran einen Krähen-Gott, aber Krähen, Raben und andere große, schwarze, aasfressende Vögel wurden in der Frühzeit nicht immer unterschieden. Korone bedeutete im Griechischen auch korax, »Rabe«; und das lateinische corvus, »Rabe«, stammt aus der gleichen Wurzel wie cornix, »Krähe«. Die Krähen des Bran, Kronos, Saturn, Asklepios und Apollon sind gleichermaßen Raben. Die fünfzig Danaiden tauchen früh in der britischen Geschichte auf. John Milton spottet in seinem Werk Early Britain heftig über die von Nennius überlieferte Sage, nach der Britannien seinen frühsten Namen, Albion, unter dem Plinius es erwähnt, von Albina [4] (»die Weiße Göttin«), der ältesten Göttin der Danaiden erhalten habe.

Der Name Albina, der sich in anderer Form im Flußnamen Elbe wiederfindet und der deutsche Wörter wie Elfe, Alb und Albdrücken (= Nachtmahr oder Incubus) erklären kann, ist verwandt mit den griechischen Wörtern alphos, »mattweißer Aussatz« (lat. albus), alphiton, »Graupelgerste« und Alphito, »die Weiße Göttin«, die in klassischer Zeit zum Kinderschreck heruntergekommen war, ursprünglich aber die danaische Gerste-Göttin von Argos gewesen zu sein scheint. James Frazer erkennt in ihr »entweder Demeter oder ihre Doppelgängerin Persephone«. Das Wort argos selbst bedeutet »weiß schimmernd« und ist das übliche Adjektiv, mit dem die weißen Priestergewänder bezeichnet werden. Es bedeutet auch »blitzschnell«. Daß wir durchaus berechtigt sind, die hundertarmigen Männer mit der Weißen Göttin von Argos in Verbindung zu bringen, ist erwiesen durch den Mythos von lo, der Göttin und zugleich Amme des Kindes Dionysos, die von Argos Panoptes (»alle Augen«), dem hundertäugigen Ungeheuer bewacht wurde, das vermutlich als weißer Hund abgebildet wurde. Argo war der Name von Odysseus' berühmtem Hund. lo war der Weiße-Kuh-Aspekt der Göttin als Gerste-Göttin. Sie wurde auch als weiße Stute, Leukippe, und als weiße Bache, Choere oder Phorkis verehrt, deren feinerer Titel Marpessa, »die Greiferin«, war. In der Romance of Taliesin war nun Gwions Feindin Caridwen oder Cerridwen ebenfalls eine weiße Sau-Göttin, wie MacCulloch, unter Berufung auf Geoffrey von Monmouth und auf den französischen Keltologen Thomas, in seinem gut dokumentierten Werk Religion of the Ancient Celts berichtet: bei den walisischen Barden galt sie auch als Getreide-Göttin. MacCulloch setzt sie mit der oben genannten Bache Demeter gleich. Ihr Name setzt sich zusammen aus den Wörtern cerdd und wen. Wen heißt »weiß«, und cerdd bedeutet im Irischen wie im walisischen »Zunahme«, außerdem »die inspirierten Künste, vor allem die Dichtkunst« , ähnlich wie im Griechischen die Wörter kerdos und kerdeia, aus denen das lateinische cerdo, »Handwerker«, hergeleitet ist. Im Griechischen heißt das Wiesel - eine bei den thessalischen Hexen beliebte Tarnung - kerdo, was meist mit »der/die Kunstvolle« übersetzt wird; und cerdo ist im Spanischen ein altes Wort ungewissen Ursprungs für »Schwein«. [5] Bei Pausanias ist Kerdo die Frau des argivischen Kult-Heros Phoroneus, des Erfinders des Feuers und Bruders von lo und von Argos Panoptes, den wir im zehnten Kapitel als Bran wiedererkennen werden. Die berühmte cerdana, der Erntetanz aus den spanischen Pyrenäen, wurde anfangs vielleicht zu Ehren dieser Göttin aufgeführt, die dem besten Getreideland der Region, dem Tal Cerdana, den Namen gab und über dem die Stadt Puigcerd√°, »Cerdos Berg«, thront. Die Silbe cerd findet sich auch in iberischen Königsnamen, am bekanntesten wohl der bei Livius erwähnte Cerdubelus, jener alte Häuptling, der in einen Streit zwischen den Römern und der iberischen Stadt Castula eingriff. Cerridwen ist also eindeutig die weiße Bache, die Gerste-Göttin, die Weiße Göttin des Todes und der Inspiration; sie ist tatsächlich Albina oder Alphito, die Gerste-Göttin, die Britannien den Namen gab. Klein Gwion hatte allen Grund, sie zu fürchten. Es war sein großer Fehler, sich in einem Getreidehaufen auf ihrer eignen Dreschtenne zu verstecken. Die Lateiner verehrten die Weiße Göttin als Cardea, und Ovid berichtet in seinen fasti eine wirre Geschichte über sie, in der er ihren Namen mit cardo »Türangel, Scharnier«, in Verbindung bringt. Er sagt, daß sie die Geliebte des Janus, des zweigesichtigen Gottes der Türen und des ersten Monats im Jahr, und die Patronin der Türangeln war; daß sie die Kinder vor Hexen beschützte, die sich als schauerliche Nachtvögel tarnten, um ihr Blut zu trinken; daß sie zuerst in Alba regierte, der »Weißen Stadt«, die von Auswanderern aus der Peloponnes zur Zeit der großen Vertreibung kolonisiert worden war, was dann wiederum die Kolonisierung Roms zur Folge hatte, und daß der Weißdorn ihr wichtigster Schutzzauber war. Ovids Geschichte verkehrt die Dinge. Cardea war Alphito, die Weiße Göttin, die sich in Vogel- oder Tiergestalt verkleidete, um Kinder zu töten, und der ihr geheiligte Weißdorn durfte nicht ins Haus gebracht werden, damit sie nicht eindringen und die Kinder töten konnte. Es war Janus, der »feste Wächter der Eichenpforte«, der Cardea und ihre Hexen abwehrte, denn Janus war in Wirklichkeit der Eichengott Dianus, der sich in dem römischen König und danach in Dialis, seinem spirituellen Nachfahren, inkarnierte; und seine Gattin Jana war Diana (Dione), die Göttin der Wälder und des Mondes. Janus und Jana waren tatsächlich eine ländliche Version von Juppiter und Juno. Das doppelte »p« in Juppiter steht für ein verlorenes »n«. Er war Jun-Pater, »Vater Dianus«. Aber bevor Janus oder Dianus oder Juppiter sich mit Jana oder Diana oder Juno vermählte und sie sich untertan machte, war er ihr Sohn, und sie war die Weiße Göttin Cardea. Und obwohl er nachmals die Pforte, der Hüter des Volkes wurde, war sie die Angel, die ihn mit dem Torpfosten verband; die Bedeutung dieser Beziehung werde ich im zehnten Kapitel erklären. Cardo, die Angel, ist das gleiche Wort wie cerdo, »Handwerker« - im irischen Mythos hieß der Gott der auf die Herstellung von Türangeln, Schlössern und Bolzen spezialisierten Handwerker Credne - eben der Handwerker, dessen Schutzpatronin die Göttin Cerdo oder Cardea ursprünglich war. So fiel Cardea, als der Geliebten des Janus, die Aufgabe zu, eben dem Kinderschreck die Tür zu wehren, zu dem ihre in matriarchalischen Zeiten verehrte und bei römischen Hochzeiten mit Weißdorn-Fackeln gefeierte Majestät später verkam. Ovid sagt von Cardea, offenbar eine religiöse Formel zitierend: »Es steht in ihrer Macht, das Verschlossene zu öffnen; und das Offene zu schließen.« Ovid setzt Cardea mit der Göttin Carnea gleich, deren Fest in Rom am 1. Juni mit Opfergaben von Schweinefleisch und Bohnen begangen wurde. Dies ist ein wertvoller Hinweis, insofern die Weiße Göttin wiederum mit dem Schwein in Verbindung gebracht wird, wenngleich die römische Erklärung, der Name der Carnea komme daher, quod carnem offerunt (weil ihr Fleisch geopfert wird), wohl Unsinn ist. Außerdem wurden Bohnen, wie schon im Zusammenhang des Cad Goddeu erwähnt, in klassischer Zeit als homöopathischer Zauber gegen Hexen und Gespenster verwendet: man nahm eine Bohne in den Mund und spuckte sie gegen den Widersacher. Und beim römischen Fest der Lemuria warf jeder Hausvorstand schwarze Bohnen hinter sich, gegen die Lemures oder Geister, wobei er die Worte sprach: »Hiermit löse ich mich und meine Familie aus«. Die pythagoreischen Mystiker, deren Lehre aus pelasgischen Quellen [6] stammte, hielten ein starkes Tabu gegen den Verzehr von Bohnen ein, und sie überlieferten einen dem Orpheus zugeschriebenen Vers, der besagte, daß das Essen von Bohnen soviel hieß, wie die Köpfe der eigenen Eltern zu verzehren.

Die Blüte der Bohne ist weiß, und sie blüht zur gleichen Zeit wie der Weißdorn. Die Bohne ist die Blume der Weißen Göttin - daher ihre Verbindung mit dem schottischen Hexenkult; in der Urzeit durften nur ihre Priesterinnen sie pflanzen oder kochen. Die Leute von Pheneus in Arkadien kannten eine Überlieferung, wonach die Göttin Demeter, die es auf ihrer Wanderung dorthin verschlagen hatte, ihnen erlaubte, alle Getreide und Hülsenfrüchte außer der Bohne anzupflanzen. Der Grund für das orphische Tabu lag also anscheinend darin, daß die Bohne spiralenförmig um ihre Stütze wächst, ein Hinweis auf die Auferstehung, und daß die Geister, wie Plinius sagt, als Menschen wiedergeboren zu werden versuchten, indem sie sich, in Bohnen versteckt, von Frauen essen ließen; wenn also ein Mann eine Bohne aß, so konnte dies eine frevelhafte Vereitelung der Absichten seiner toten Eltern sein. Wenn der römische Hausvorstand bei den Lemuria Bohnen nach den Geistern warf, so deshalb, um ihnen eine Chance zur Wiedergeburt zu geben; und er opferte sie der Göttin Carnea bei ihrem Fest, weil sie die Schlüssel zur Unterwelt verwahrte. [7] Karnea wird mit der römischen Göttin Cranae gleichgesetzt, die in Wirklichkeit Kranea, »die Harte oder Steinige«, hieß - ein griechischer Zuname der Göttin Artemis, deren Haß gegen Kinder dauernd beschwichtigt werden mußte. Kranea besaß einen Bergtempel in der Nähe von Delphi, wo das Priesteramt, jeweils für fünf Jahre, von einem Knaben versehen wurde; und einen Zypressenhain, das Kranaion außerhalb Korinths, wo Belierophon einen Heroen-Tempel hatte. Cranae bedeutet »Fels« und hängt ethymologisch mit dem keltischen cairn zusammen - heute noch die Bezeichnung für Steinmänner, wie sie auf Berggipfeln errichtet werden. Ich erzähle von ihr als der Weißen Göttin, denn weiß ist ihre Hauptfarbe, die Farbe des ersten Gliedes ihrer Mond-Trinität, aber wenn Suidas der Byzantiner berichtet, daß lo eine Kuh war, deren Farbe von weiß nach rosa und dann nach schwarz wechselte, will er damit sagen, daß der Neumond die Weiße Göttin von Geburt und Wachstum ist; der Vollmond die rote Göttin von Liebe und Kampf; der Neumond die Schwarze Göttin von Tod und Wahrsagerei. Der Mythos des Suldas wird bekräftigt durch Hygins Fabel von der dem Minos und der Pasiphae geborenen Färse, die dreimal täglich in ähnlicher Weise die Farbe wechselte. In Beantwortung eines Orakelspruchs verglich ein gewisser Polydos, Sohn des Coeranos, es richtig mit der Maulbeere - einer Frucht, die der Dreifältigen Gottheit geweiht war. Die drei auf dem Berg Moeltre, bei Dwygyfylchi in Wales, auf gerichteten Steine, die im ikonoklastischen siebzehnten Jahrhundert herabgestürzt wurden, mochten die Trinität der lo dargestellt haben. Einer war weiß, einer rot und einer dunkelblau, und sie hießen im Volk die »drei Frauen«. Eine lokale Mönchslegende sagt, daß die drei in diese Farben gewandeten Frauen versteinert wurden - als Strafe dafür, daß sie an einem Sonntag Hafer geworfelt hatten. Der verständigste und inspirierteste Bericht über die Göttin in der gesamten alten Literatur findet sich in Apuleius' Goldenem Esel, wo Lucius die Göttin aus tiefstem Elend und geistiger Verstörtheit anruft und sie ihm auf sein Flehen erscheint; übrigens wird dort angedeutet, daß die Göttin einst in Moeltre in ihrer dreifachen Eigenschaft als weiße Säerin, rote Schnitterin und schwarze Drescherin verehrt wurde. ich zitiere nach der englischen Übersetzung von William Adlington (1566): »Um die erste Nachtwache, als ich den ersten Schlaf geschlafen hatte, erwachte ich mit plötzlicher Furcht und sah den Mond Heil leuchten, wie wenn er in seiner Fülle steht und aus dem Meer zu springen scheint. Da dachte ich bei mir, daß dies die geheimste Zeit war, wenn jene Göttin die größte Macht und Stärke besäße, in Erwägung, daß alle Menschen ihrer Vorsehung unterstellt sind; und daß nicht nur alle Tiere, ob häuslich und zahm, ob wild und schweifend, durch die Herrschaft ihres Lichts und ihrer Gottheit gestärkt werden, sondern auch die unbeseelten Dinge ohne Leben; und ich erwog, daß alle Körper im Himmel, auf Erden und in den Wassern durch ihren beschleunigten Wandel beschleunigt und durch ihren verlangsamten Wandel verlangsamt werden: und so sehr all mein grausames Mißgeschick und Elend mich bedrückte, fand ich Hoffnung und herrliche Heilung, obgleich es sehr spät für die Erlösung aus meinem Leid war, durch Anrufung und Gebet zu der köstlichen Schönheit dieser Göttin. Weshalb ich, meinen betäubten Schlaf abschüttelnd, mich mit fröhlichem Gesicht erhob und, von einer großen Liebe getrieben, mich zu reinigen, meinen Kopf sieben Male in das Wasser des Meeres tauchte; welche Zahl sieben den heiligen und göttlichen Dingen gemäß und eigen ist, wie der würdige und weise Philosoph Pythagoras lehrte. Dann sprach ich voller Leben und Freude, obgleich mir nach Weinen zu Mut war, dieses folgende Gebet zu der mächtigen Göttin. »0 gesegnete Königin des Himmels, seist du die Frau Ceres, die ursprüngliche Frucht und Quelle aller Früchte auf Erden, die du, nachdem du deine Tochter Proserpina gefunden, der durch die großen Freuden, die du da empfandest, gänzlich nahmst hinweg die Nahrung, die sie seit alters aßen, die Eichel, und machtest die öde und unfruchtbare Erde Eleusis bereit, daß sie gepflügt und gesät werde, und die du den Menschen jetzt eine bessere mildere Nahrung gibst; oder seist du die himmlische Venus, die du am Anfang der Welt Männer und Frauen vereintest in zeugender Liebe und so auf ewig die menschliche Art mehrtest, und die du jetzt in den Tempeln der Insel Paphos verehrt wirst; oder seist du die Schwester des Gottes Phoebus, die du so vielen Menschen durch deine Arzneien die Mühen der Arbeit lindertest und erleichtertest und jetzt an den heiligen Stätten Ephesos verehrt wirst; oder seist du die schreckliche Proserpina, so genannt nach dem tödlichen Geheul, das du ausstößt, die du die Macht hast, mit dreifachem Antlitz dem Ansturm von Hexen und Geistern, die den Menschen erscheinen, zu wehren und sie in den Tiefen der Erde zu halten, die du in so vielen Hainen wandelst und in so verschiedenen Arten angebetet wirst; du, die du alle Städte der Erde mit deinem weiblichen Licht erHeilst; du, die du alle Samen der Welt durch deine feuchte Wärme nährst und dein wandelndes Licht im Einklang mit den nahen oder fernen Bahnen der Sonne spendest: mit welchem Namen und in welcher Art oder Form ich dich immer anrufen darf, bete ich zu dir, du mögest meine große Mühe und Plage enden und meine Hoffnung aufrichten und mich von dem mißlichen Geschick erlösen, das mich so lange Zeit verfolgt. Gewähre, wenn es dir denn gefällt, Frieden und Rast meinen Widrigkeiten, denn ich habe genug Mühen und Gefahr bestanden...« Nachdem ich dieses Gebet beendet, indem ich der Göttin meine Beschwerden entdeckte, fiel ich auf diesem meinem Bett wieder in Schlaf. Und allmählich (denn meine Augen waren wieder geschlossen) erschien mir aus der Mitte der See ein göttliches, verehrungswürdiges Antlitz, angebetet selbst von den Göttern. Dann meinte ich, nach und nach, die ganze Gestalt ihres Körpers zu erschauen, strahlend und weithin über das Meer ragend stand sie vor mir: darum ich es wage, ihre göttliche Erscheinung zu beschreiben, im Falle der Armseligkeit meine menschliche Sprache genüge oder die göttliche Macht mir so reiche Beredsamkeit schenke, daß ich es auszusprechen vermag. Vor allem besaß sie eine große Fülle von Haaren, die in Wellen und Strahlen um ihren göttlichen Nacken flossen und wallten; auf dem Haupte trug sie reiche Girlanden mit Blumen geflochten, und mitten auf der Stirn fand sich ein flaches Diadem in der Art eines Spiegels, oder vielmehr, nach dem Lichte, das von dort her strahlte, dem Mond zu vergleichen; und dieser wurde von beiden Seiten von Schlangen getragen, die aus den Furchen der Erde emporzuwachsen schienen, und darüber wölbten sich Kornähren. Ihr Gewand war von feinstem Leinen, in verschiedenen Farben leuchtend, dort weiß und strahlend, dort gelb wie die Krokusblüte, dort rosenrot, dort Heil flammend; und ihr Mantel (der meine Augen und meine wunde Seele verwirrte) war ganz dunkel und finster, mit leuchtender Schwärze bedeckt, und war unter ihrem linken Arm zur rechten Schulter in Form eines Schildes geschlungen, wobei ein Teil davon, in feinster Manier gefaltet, auf den Saum ihres Gewandes herabreichte, so daß die Falten anmutig fielen. Hie und da funkelten an dessen Rändern und über seine Oberfläche verstreut die Sterne, und inmitten zwischen ihnen stand der Mond in halber Fülle, der wie eine Feuerflamme leuchtete; und rund um die ganze Länge des Saumes dieses göttlichen Gewandes war eine Krone oder Girlande ununterbrochen geflochten aus allen Blumen und allen Früchten des Feldes. Höchst unterschiedliche Dinge trug sie mit sich, denn in der rechten Hand trug sie eine Zimbel von Messing (sistrum), ein flaches Stück Metall, in der Art einer Brünne geformt, durch deren Rand etliche Ruten gezogen waren; und wenn sie mit dem Arm dieses dreifache Gewinde bewegte, gab es einen Heilen klaren Klang von sich. Ihre linke Hand hielt, gleich einem schützenden Boot, einen goldenen Becher, an dessen Henkel, am oberen Teil, der am besten sichtbar war, eine Natter ihren Kopf mit weit geschwelltem Halse erhob. Ihre wohl duftenden Füße steckten in Schuhen, bestickt und mit Siegespalmen umwunden. So stand die göttliche Gestalt, die feinsten Düfte des fruchtbaren Arabiens atmend, nicht an, mit ihrer heiligen Stimme diese Worte an mich zu richten: »Siehe, Lucius, ich bin gekommen. Dein Wehklagen und Gebet hat mich bewogen, dich zu erretten. Ich bin es, die natürliche Mutter aller Dinge, die Herrin und Herrscherin aller Elemente, die erste Erzeugerin der Welt, Haupt aller göttlichen Mächte, Königin auch derer in der Hölle, die Gebieterin derer, die im Himmel wohnen, verkörpert einzig und allein in der einen Gestalt aller Götter und Göttinnen (deorum dearum-que facies uniformis). Meinem Willen gehorchen die Planeten des Himmels, die günstigen Winde der Meere und die trostlose Stille der Hölle; mein Name, meine Göttlichkeit wird in aller Welt verehrt in allen verschiedenen Formen, in unterschiedlichen Gestalten angebetet, und unter vielen Namen. Denn die Phrygier, die ersten unter den Menschen, nennen mich die Mutter der Götter zu Pessinus; die Athener, aus ihrer eignen Scholle entsprungen, nennen mich die kekropische Athene; die Zyprer, vom Meere umgeben, heißen mich die paphianische Aphrodite; die Pfeile tragenden Kreter nennen mich die diktynianische Artemis; die in drei Sprachen redenden Siziler kennen mich als die höllische Proserpina; den Eleusiern bin ich ihre alte Göttin Ceres; die einen nennen mich Juno oder Beliona, die anderen Hekate oder Rhamnusia, und vor allem rufen mich beide Arten von Äthiopiern, die im Osten wohnen und von den Morgenstrahlen der Sonne erleuchtet sind, und die Ägypter, hervorragend in allen Arten der alten Lehre und durch ihre eignen Gebräuche unterwiesen, mich zu verehren, bei meinem wahren Namen Königin Isis. Bewahre, ich bin gekommen, mich deines Unglücks und deiner Wirren zu erbarmen; bewahre, ich bin hier, um dich zu trösten und dir zu helfen; laß los dein Weinen und Wehklagen, schiebe hinweg all deine Sorgen, denn siehe den heilvollen Tag, der gesegnet ist durch meinen göttlichen Willen.« Ein ganz ähnliches Gebet findet sich, in lateinischer Sprache, in einem englischen Herbarium aus dem zwölften Jahrhundert (Brit. Mus. MS. Harley, 1585, ff, 12V-13r): »Erde, göttliche Königin, Mutter Natur, die du alle Dinge geschaffen und immer aufs neue die Sonne aufgehen läßt, die du den Völkern geschenkt hast; Hüterin des Himmels und des Meeres und aller Götter und Mächte; durch deinen Einfluß wird alle Natur stumm und sinkt in den Schlaf... Und wiederum schickst du, wenn es dir gefällt, das glückliche Licht des Tages und nährst das Leben mit deiner ewigen Gewähr; und wenn der Geist des Menschen hinscheidet, kehrt er zu dir zurück. Mit Recht bist du die Große Mutter der Götter genannt; Sieg ist dein göttlicher Name. Du bist die Quelle der Kraft von Völkern und Göttern; ohne dich wird nichts geboren und nichts vollkommen; du bist mächtig, Königin der Götter. Göttin, ich verehre dich als göttliche Königin, deinen Namen rufe ich an; geruhe, mir zu gewähren, um was ich dich bitte, auf daß ich dir, Gottheit, meinen Dank erstatte, im Glauben, der dir gebührt... Auch an dich nun richte ich meine Fürbitte, an all deine Mächte und Heilkräuter und deine Majestät: zu dir flehe ich, die dich die allumfassende Mutter Erde geboren und allen Völkern als heilende Arznei geschenkt und dich königlich ausgezeichnet hat, gib du jetzt größte Wohltat uns Menschen. Dies bete und flehe ich: sei bei uns mit all deinen Vorzügen, denn sie, die dich erzeugt, hat es so eingerichtet, daß ich dich anrufen darf, unter Berufung auf jenen Gott, dein die ärztliche Kunst verliehen war; darum ge1 willen gute Arznei, vermöge dieser deiner bewähre, um der Gesundheit sagten Kräfte...« Wie aber der Gott der Medizin im heidnischen England des zwölften Jahrhunderts hieß, ist schwer festzustellen. Eindeutig aber stand er zu der in den Gebeten genannten Göttin in der gleichen Beziehung wie einst Asklepios zu Athene, Thoth zu Isis, Esmun zu Ischtar, Diancecht zu Brigit, Odin zu Freya und Bran zu Danu.