Hund, Rehbock und Kiebitz

Den wohl vollständigsten Bericht über die ursprüngliche Schlacht der Bäume - selbst wenn der Kiebitz dort nicht erwähnt wird - haben wir in der Myvyrian Archaiology. Diese ist ein großartiges Beispiel mythographischer Kurzschrift, und sie berichtet von dem offenbar wichtigsten religiösen Ereignis im vorchristlichen Britannien. »Dies sind die Englyns (epigrammatischen Verse), die bei dem Cid Goddeu oder, wie andere sagen, bei der Battle of Achren gesungen wurden, wo von einem weißen Rehbock und einem Welpen die Rede ist; und sie kamen von Annwm (der Unterwelt), und Amathaon ap Don führte sie herbei. Und darum kämpften Amathaon ap Don und Awaran, der König von Annwm, gegeneinander. Und an der Schlacht nahm ein Mann teil, der nicht besiegt werden konnte, solange sein Name geheim blieb; und auf der anderen Seite focht eine Frau, Achren (»Bäume«) geheißen, und solange ihr Name nicht bekannt war, konnte ihr Heer nicht geschlagen werden. Und Gwydion ap Don erriet den Namen des Mannes und sang die beiden folgenden Englyns:

Auf sicheren Hufen trabt mein Streitroß, von Sporen getrieben;
Die hohen Reiser der Erle führst du im Schild;
Bran bist du genannt, nach den schimmernden Zweigen.
Auf sicherem Huf schreitet mein Roß am Tag der Schlacht:
Die hohen Reiser der Erle führst du in der Hand;
Bran bist du genannt, nach dem Zweig, den du trägst -
Amathaon, der Gute, hat gesiegt.

Die Geschichte darüber, wie Brans Name erraten wurde, ist den Anthropologen wohlvertraut. Wenn in alten Zeiten der geheime Name eines Gottes entdeckt war, konnten die Feinde seines Volkes damit eine destruktive Magie gegen dieses wenden. Bei den Römern war es Brauch, die Geheimnamen feindlicher Götter auszuforschen und sie mit verführerischen Versprechungen nach Rom zu locken - ein Vorgang, der technisch als elicio bekannt war. Josephus zitiert in seiner Schrift Contra Apionem einen Bericht von einer solchen magischen Zeremonie, die im zweiten Jahrhundert v. Chr. auf Geheiß des Königs Alexander Jannäus des Makkabäers stattfand; der herbeigerufene Gott war der edomitische Eselsgott von Dora, nahe Hebron. Livius (V. 21) überliefert die Formel, mit der die Juno von Veii nach Rom gerufen wurde, und Diodorus Siculus (XVII, 41) schreibt, daß die Tyrer ihre Statuen aus Vorsicht anzuketten pflegten. Natürlich waren die Römer, ähnlich wie die Juden, darauf bedacht, den Geheimnamen ihrer Schutzgottheit zu bewahren; so wurde ein gewisser Quintus Valerius Soranus, ein Sabiner, in spätrepublikanischer Zeit zum Tode verurteilt, weil er ihn leichtsinnig preisgegeben hatte. Die am Treffen von Cäd Goddeu beteiligten Stämme waren ebenso darauf bedacht, das Geheimnis der Achren - vermutlich der Bäume oder der Buchstaben, aus denen der Geheimname ihrer eigenen Gottheit sich zusammensetzte zu wahren, wie sie auch den der Gottheit zu entdecken suchten. Das Thema dieses Mythos ist also ein Kampf um die religiöse Vorherrschaft zwischen den Heeren von Don, jenem Volk, das in der irischen Legende als Tuatha dé Danaan, »das Volk des Gottes, dessen Mutter Danu ist«, auftritt, und den Heeren von Arawn (»Beredsamkeit«), des Königs von Annwfn, oder Annwm, nämlich der britischen Unterwelt oder nationalen Nekropolis. In der Romance of Pwyll, Prince of Dyved tritt Arawn als Jäger auf einem mächtigen Roß auf, der einen Hirsch verfolgt, und zwar mit Hilfe einer Meute von weißen Hunden mit roten Ohren - den Höllenhunden, wie wir sie aus den walisischen, hochländischen und britischen Überlieferungen kennen. Die Tuatha dé Danaan waren ein Bund von Stämmen, in denen das Königtum matrilinear vererbt wurde; einige dieser Stämme fielen in der mittleren Bronzezeit aus Britannien in Irland ein. Die Göttin Danu wurde schließlich zu Don oder Donnus vermännlicht und galt als eponyme Vorfahrin des Bundes. Doch in der ursprünglichen Romance of Math the Son of Mathonwy tritt sie als Schwester des Königs Math von Gwynedd auf, und Gwydion und Amathaon gelten als ihre Söhne - d. h. als Stammesgötter des Danaer-Bundes. Der archäologisch plausiblen irischen Überlieferung im Book of Invations zufolge waren die Tuatha dé Danaan infolge einer von Syrien ausgehenden Invasion aus Griechenland nach Norden vertrieben worden und erreichten endlich Irland auf dem Weg über Dänemark, dem sie ihren Namen gaben (»das Königreich der Danaer«), und Nord-England. Als Datum ihrer Ankunft in Britannien wird das Jahr 1472 v. Chr. genannt - wie verläßlich diese Zahl immer sein mag. Bei der syrischen Invasion Griechenlands, die sie auf den Weg nach Norden schickte, handelte es sich womöglich um jene, die Herodot im ersten Teil seiner Geschichten erwähnt: demnach besetzten »Phönizier« den danaischen Tempel der Weißen Göttin lo in Argos, der damaligen religiösen Kapitale der Peloponnes; die Kreter hatten ihn um das Jahr 1750 v. Chr. kolonisiert. Herodot gibt kein Datum für dieses Ereignis an, er läßt es lediglich vor der Argonautenfahrt nach Kolchis geschehen, welche die Griechen auf 1225 v. Chr. datierten, und bevor Europa aus Venetien nach Kreta floh - eine Stammeswanderung, die wahrscheinlich einige Jahrhundert früher, vor der Plünderung von Knossos im Jahr 1400 v. Chr., stattgefunden hat. Im Book of Invasions gibt es den - in Bedas Kirchengeschichte bestätigten - Bericht über eine weitere Invasion Irlands, die sich zweihundert Jahre nach der Ankunft der Tuatha dé Danaan ereignete. Dieses Volk, das von Thrakien nach Westen, über das Mittelmeer auf den Atlantik hinaus segelte, landete in der Wexford Bay, wo es mit den Danaern in Konflikt geriet; diese überredeten sie jedoch, weiter nach Nord-Britannien zu ziehen, das damals Albany hieß. Sie waren bekannt als Pikten oder tätowierte Männer und hatten die gleichen merkwürdigen sozialen Bräuche - Exogamie, Totemismus, öffentlicher Koitus, Kannibalismus, Tätowierung, die Teilnahme von Frauen an der Schlacht - die auch in Thessalien vor der Ankunft der Achäer und in klassischer Zeit bei den primitiven Stämmen an den südlichen Küsten des Schwarzen Meeres, am Golf von Sirté in Libyen, auf Mallorca (das von Libyern der Bronzezeit bevölkert wurde) und im Nordwesten Galiziens herrschten. Ihre Nachfahren bewahrten noch in Bedas Tagen ihre nichtkeltische Sprache. Amathaon, oder Amathon, leitet angeblich seinen Namen aus dem walisischen Wort amaeth der Pflüger - ab. Möglicherweise verhält es sich aber andersherum - nämlich, daß die Pflugbauern unter dem Schutz des Amathaon standen. Vielleicht war ursprünglich Amathaounta, eine im ägäischen Meer bekannte Göttin, die Mutter dieses Stammes; ein anderer Stamm gleichen Namens, dessen heroischer Vorfahr Herakles war, wanderte gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. von Kreta nach Amathus auf Zypern. Amathaon wird das Verdienst zugeschrieben, Gwydion die Zauberei gelehrt zu haben, für die er nachmals berühmt war. Und dies legt den Schluß nahe, daß Gwydion ein Spätankömmling in Britannien war, vielleicht ein Gott der belgischen Stämme, die um 400 v. Chr. in Britannien einfielen, und erst etliche Jahrhunderte nach der ersten Invasion der Danaer ehrenhalber zum Sohn Danus ernannt wurde. Amathaon war der Neffe mütterlicherseits von Math Hen (dem »Alten Math«), alias Math, »der Sohn des Mathonwy«. »Math« bedeutet »Schatz«; weil aber auch Math das Verdienst zugeschrieben wird, Gwydion die Magie gelehrt zu haben, könnte »Math, Sohn des Mathonwy« eine verstümmelte Version von »Amathus, Sohn der Amathaounta« sein. Ein Teil des Stammes wanderte offenbar nach Syrien ein, wo er am Orontes die Stadt Amathus (Hamath) gründete; ein anderer Teil zog nach Palästina, wo er im Dreieck zwischen Jordan und Jabbok die Stadt Amathus gründete. In der Stammestafel, Genesis 10, werden die Amathiter spät unter den Söhnen Kanaans genannt, neben den Hivitern, Gergasitern und anderen nichtsemitischen Stämmen. Und nach dem 2. Buch der Chronik, 17,30, siedelten etliche der Amathiter als Kolonie in Samaria, wo sie weiterhin ihre Gottheit unter dem Namen Ashima verehrten. Brans Name wurde von Gwydion aufgrund der Eschenzweige in seiner Hand erraten, denn obgleich »Bran« und Gwern, das in dem Gedicht vorkommende Wort für Esche, nicht ähnlich klingen, wußte Gwydion doch, daß Bran, was soviel wie »Krähe« oder »Rabe« bedeutete, auch »Esche« heißen konnte - auf irisch heißt sie fearn, wobei das f wie w ausgesprochen wird - und daß die Esche ein heiliger Baum war. Der dritte unter den vier Söhnen des Königs Partholan von Milet, einem legendären Herrscher Irlands in der Bronzezeit, hatte den Namen Fearn getragen; und es gab auch den jungen Gwern, König von Irland und Sohn von Brans Schwester Branwen (»Weiße Krähe«). Wie wir später sehen werden, gibt es in der Romance of Branwen vielfach Bestätigung für Gwydions Vermutung. Doch der aus den Baumnamen - anstelle von Buchstaben - zusammengesetzte Name der auf seiten Amathaons und Gwydions kämpfenden Gottheit wurde nicht erraten. Der Kult des Bran scheint ebenfalls aus der Ägäis importiert zu sein. Es gibt bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem pelasgischen Heros Asklepios, der ähnlich wie der von Herakles getötete Häuptling Coronus (»Krähe«) ein König des thessalischen Krähen-Totem-Stammes der Lapithen war. Asklepios war nach beiden Linien seiner Vorfahren Krähe: seine Mutter war Koronis (»Krähe«), vermutlich ein Titel der Göttin Athene, der die Krähe geheiligt war. Der Kirchenvater Tatian vermutet in seiner Sendschrift an die Griechen eine Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Athene und Asklepios: Nach der Enthauptung der Gorgo ... teilten Athene und Äskulap das Blut unter sich, und während er damit Leben rettete, wurde sie durch das gleiche Blut zur Mörderin und Anstifterin von Kriegen. Asklepios'Vater war Apollon, dessen berühmter Altar von Tempe auf lapithischem Territorium stand und dem die Krähe ebenfalls heilig war; ApolIon wird noch als Vater eines weiteren Koronos, eines Königs von Slkyon in Sizilien genannt. Die Legende von Asklepios besagt, daß er, nachdem er sein Leben der Heilkunst gewidmet hatte, Glaukos, den Sohn des Korinthers Sisyphos, vom Tod auf erweckt und daraufhin von Zeus in einem Anfall von Eifersucht zu Asche verbrannt wurde. Als Kind war er aus einem Erntefeuer gerettet worden, durch welches seine Mutter und ihr Geliebter Ischys (»Kraft«) den Tod fanden. Bran wurde in ähnlicher Weise von seinem eifersüchtigen Gegner Evnissyen vernichtet, einem Gefährten von Matholwch, dem König von Irland, dem er einen Zaubertrank geschenkt hatte, mit dem er Tote zum Leben erwecken konnte; doch in der walisischen Legende ist es Brans Neffe und Namensvetter, der Knabe Gwern, der, unmittelbar nachdem er zum König gekrönt worden war, in ein Erntefeuer geworfen und verbrannt wurde; Bran selbst wird durch einen vergifteten Pfeil an der Ferse verwundet - wie Achilles der Minyer, der Schüler des Kentauren Cheiron, und Cheiron selbst - und dann enthauptet; sein Haupt fährt fort zu singen und zu prophezeien. (In der irischen Legende figuriert Asklepios als Midach, der nach der zweiten Schlacht von Moytura von seinem Vater Diancecht, dem auf seine Heilungen eifersüchtigen ApolIon der Heilkunst, getötet wurde.) Asklepios und Bran waren beide Halbgötter, die in zahlreichen Tempeln verehrt wurden, und beide waren Schutzpatrone der Heilkunst und Totenerweckung. Eine weitere Ähnlichkeit bilden die Liebesabenteuer der beiden: Asklepios wohnte in einer Nacht fünfzig in ihn verliebten Mädchen bei, und Bran bestand ein ähnliches Abenteuer auf der Insel der Frauen, einer der fünfzig Inseln, die er auf seiner berühmten Reise besuchte. Asklepios wird in der griechischen Kunst mit einem Hund an der Seite und einem Stab in der Hand abgebildet, um den sich Orakelschlangen winden. Die Entführung des Hundes und des Rehbocks aus der Unterwelt durch Amathaon stützt die irische überlief erung, wonach die Inder von Danu um die Mitte des zweiten Jahrtausends aus Griechenland gekommen sind, denn es gibt mehrere analoge griechische Legenden aus der Bronzezeit. Zum Beispiel die Legende von Herakles, dem Eichen-Helden, der von seinem Dienstherrn, dem König Erystheus von Mykene, den Auftrag erhielt, dem König der Unterwelt den Hund Kerberos und den bronzebeschlagenen weißen Rehbock aus dem Hain der Göttin Artemis im arkadischen Keryneia zu entführen. Bei einem anderen seiner Abenteuer stahl Herakles der Herophile - jener delphischen Priesterin, deren Vater (laut Clemens von Alexandrien) Zeus, in der Gestalt eines Kiebitz, und deren Mutter Lamia, die Schlangengöttin war - den Orakel-Dreifuß, auf dem sie saß, mußte ihn aber wieder hergeben. Zu den bevorzugten Themen der griechischen und etruskischen Kunst zählt die Episode des Herakles, in der er den Hund fortschleppt, und sein Kampf mit dem Wächter des lamianischen Orakels in Delphi um den Besitz des Rehbocks und des Dreifußes. Diesen Wächter Apollon zu nennen, wäre irreführend, denn Apollon war damals kein Sonnengott, sondern ein Orakelheros der Unterwelt. Diese Mythen erzählen offenbar, daß ein Versuch, in Delphi den Kult der Orakel-Eiche anstelle des Orakellorbeers einzuführen, scheiterte, daß aber die Tempel im arkadischen Kyreneia und im lakonischen Kap Tainaron, wo die meisten Mythographen den Eingang der von Herakles besuchten Unterwelt lokalisieren, erobert wurden. Andere Mythographen meinen, daß dieser Eingang sich beim mariandynischen Acherusia (heute Heracli in Anatolien) befand und daß dort, wo der Speichel des Kerberos auf die Erde fiel, die Hexenblume Eisenhut aufblühte - ein lähmendes Gift und Heilmittel gegen Fieber; doch dieser Bericht bezieht sich auf ein anderes historisches Ereignis, nämlich die Besetzung eines berühmten bithynischen Tempels durch die Henetier. Warum aber Hund? Warum Rehbock? Warum Kiebitz? Der Hund, mit dem Asklepios abgebildet wird, ist, wie der Hund Anubis, der Gefährte des ägyptischen Thoth, und wie jener Hund, der Melkarth, den phönizischen Herakles begleitet, ein Symbol der Unterwelt; er symbolisiert auch die Hundepriester, genannt Enariae, die der Großen Göttin des östlichen Mittelmeerraumes huldigten und sich in den Hundstagen, im Aufgang des Hundssterns Sirius, in sodomitischen Ekstasen ergingen. Die poetische Bedeutung des Hundes in der Legende von Cäd Goddeu aber ist, wie in allen ähnlichen Legenden, die des »Hüters des Geheimnisses« - des tiefsten Geheimnisses, auf dem die Souveränität eines Gottkönigs beruhte. Offenbar hatte Amathaon einen Bran-Priester verführt - ob es eine homosexuelle Priesterschaft war, kann ich nicht sagen - und ihm ein Geheimnis entlockt, das Gwydion befähigte, Brans Namen richtig zu erraten. Herakles besiegte den Hund Kerberos durch einen narkotischen Kuchen, der seine Wachsamkeit einschläferte; welches Mittel Amathaon benutzte, ist nicht überliefert. Der Kiebitz, daran gemahnt uns Cornelius Agrippa, der okkulte Philosoph des frühen sechzehnten Jahrhunderts, in dem Buch Unsicherheit der Künste und Wissenschaften (englische Übersetzung von James Sanford, 1569), »scheint etwas Königliches an sich zu haben und trägt eine Krone«. Ich weiß nicht, ob Agrippa den Kiebitz im Ernst unter die königlichen Vögel einreihen wollte, aber falls dies seine Absicht war, konnte er sich auf Leviticus XI, 19, berufen. Dort wird der Kiebitz als ein unsauberer, d. h. mit einem Tabu belegter Vogel genannt, und zwar in der vornehmen Gesellschaft von Adler, Weißkopfgeier, Ibis, Kuckuck, Milan, Rabe, Eule, Kauz, Barsangans (gemeint ist hier nicht der Tölpel, sondern die Bernikel-Gans)1,Storch, Reiher und Königspelikan. Daß diese Tabus nicht-semitischen Ursprungs waren, ist durch ihre geographische Verteilung bezeugt - etliche der Vögel kommen in der Wärmezone, die die Heimat der semitischen Völker ist, nicht vor, und jeder von ihnen war in Griechenland oder Italien oder in beiden Ländern einer bedeutenden Gottheit geweiht. Bibelforscher rätseln über die »Unsauberkelt« des Kiebitz und bezweifeln, ob der Vogel wirklich ein Kiebitz und nicht etwa ein Wiedehopf oder ein Igel war - doch immer wenn Unsauberkeit Heiligkeit bedeutet, müssen wir in der Naturgeschichte nach Aufschluß suchen. Die Griechen nannten den Kiebitz Polyplanktos, »der betrügerisch Verführende«, und sie hatten eine sprichwörtliche Redewendung, »inständiger als ein Kiebitz flehen«, womit sie einen geschickten Bettler bezeichneten. In meiner Kindheit lernte ich in Wales das Kiebitzweibchen bewundern, wie es schlau ihr Gelege auf offenem Feld zu tarnen und vor jedem zufälligen Passanten zu verbergen weiß. Anfangs ließ ich mich jedesmal durch ihr klägliches Kiewitt täuschen, das immer aus der dem Nest entgegengesetzten Richtung schrillte, und manchmal, wenn sie mich als Nesträuber erkannte, flatterte sie über den Boden, wobei sie so tat, als habe sie sich den Flügel gebrochen und sei eine leichte Beute. Nachdem ich aber einmal ein Nest gefunden hatte, konnte ich immer wieder eines aufspüren. Die poetische Bedeutung des Kiebitz besagt: »Verstecke das Geheimnis«, und gerade diese große Verschwiegenheit verleiht ihm einen Anspruch auf Heiligkeit. Dem Koran zufolge war der Kiebitz Bewahrer der Geheimnisse Salomons und der intelligenteste unter dem Schwarm prophetischer Vögel, die den König begleiteten. Und was den weißen Rehbock betrifft - wie viele Könige in wie vielen Märchen und Sagen haben dieses Tier nicht durch verzauberte Wälder gejagt und wurden um ihre Beute betrogen? Die poetische Bedeutung des Rehbocks besagt: »Verbirg das Geheimnis.« Es scheint also, daß in der Geschichte vom Cad Goddeu Elemente des Herakles-Mythos enthalten sind, der in der griechischen Sage beschreibt, wie die Achäer von Mykene die wichtigsten Stammesheiligtümer der Peloponnes von einem anderen griechischen Stamm, vermutlich den Danaern, eroberten. Hier wird diese Erzählung aber benützt, um eine ähnliche Eroberung zu schildern, die viele Jahrhunderte später in Britannien stattfand. Um dieses Ergebnis versuchsweise zu datieren, Müssen wir eine kurze Zusammenfassung der britischen Prähistorie vorausschicken. Aus dem archäologischen Material läßt sich das folgende, allgemein gültige Schema ungefährer Daten ableiten: 6000-3000 v. Chr. Altsteinzeit-Jäger, gering an Zahl, unterhielten an verstreuten Orten wenige Siedlungen.
3000-2500 v. Chr. Allmähliche, schubweise Einwanderung von Neusteinzeit-Jägern, die geschliffene Steinäxte und eine rohe Töpferkunst mitbrachten. 2500-2000 v. Chr. Regelmäßiger Austausch über den englischen Kanal, sowie eine Invasion langköpfiger Neusteinzeit-Ackerbauern, die Haustiere hielten, extensiven Feuerstein-Bergbau betrieben und Töpfe mit groben Ornamenten machten, die Ähnlichkeit mit Stücken aufweisen, wie sie sich in Gräbern auf den Ostsee-Inseln Bornholm und Aland finden. Sie kamen aus Libyen, entweder über Spanien, Süd- und Nordfrankreich, oder über Spanien, Portugal und die Bretagne. Etliche von ihnen zogen von Frankreich weiter an die Ostsee und setzten dann nach dem Osten Englands über, nachdem sie Handelsbeziehungen mit der Schwarzmeer-Region unterhalten hatten. Sie führten Megalithgräber im Langhügel-Stil ein, wie sie in der Umgebung von Paris gefunden wurden; es handelte sich um Erdbestattungen, jedoch mit wenigen Grabbeigaben, abgesehen von den blattförmigen Pfeilspitzen, deren Herstellung bis auf die Altsteinzeit zurückgeht; das Vorbild dieser Pfeilspitzen waren offenbar die Blätter der Bruchweide oder Purpurweide und des Holunders. Manchmal ist eine blattförmige »Luke« zwischen zwei angrenzenden Steinplatten der Grabkammer ausgeschlagen, wobei offenbar das Holunderblatt nachgeahmt wurde. 2000-1500 v. Chr.
Invasion eines Bronzewaffen führenden, rundköpfigen, Trinkbecher herstellenden und Straßen bauenden Volkes aus Spanien, und zwar über Südfrankreich und den Rhein. Weitere Einwanderung der Langköpfigen aus dem Ostseeraum und aus Südosteuropa über den Rhein. Nun wurden die Leichen verbrannt und die weniger prächtigen, aber besser ausgestatteten Rundhügelgräber eingeführt. Die blattförmigen Pfeilspitzen wurden beibehalten, wie auch in den Grabstätten in Frankreich bis zur frühen Kaiserzeit; aber die charakteristische Form war stachelig und gezackt, in der Form einer Tanne. 1500-600 v. Chr. Ununterbrochene Entwicklung der Bronzezeit-Kultur. Austausch über den Kanal, ohne größere Invasionen; obgleich sich im Süden Englands Siedlungen von Eisenwaffen führenden Zuwanderern aus der Zeit um 800 v. Chr. finden. Invasion der Pikten nach Nord-Britannien. Kleine, segmentierte, blaue Fayence-Perlen, wie sie zwischen 1380-1350 v. Chr. in Ägypten hergestellt wurden, wurden in großen Mengen nach Wilthire eingeführt. Die Sprache, die - außer von den Pikten und den Ureinwohnern der Altsteinzeit - in Britannien gesprochen wurde, ist vermutlich das »Protokeltische«. 600 v. Chr. Invasion eines gälischen, an seiner »Band-Kamm-Schmier«-Keramik identifizierten Volkes, das von der deutschen Ostseeküste abwanderte, ins Rheinland einströmte, wo es die eisenzeitliche »Hallstadt«-Kultur übernahm, und dann nach Britannien einwanderte; sie wurden aber gezwungen, in den südöstlichen Distrikten zu bleiben. 400 v. Chr. Erste belgische Invasion Britanniens - La Téne-Eisenzeit- Kultur; Irlands zwischen 350 und 300 v. Chr. Dieses Volk war eine Mischung aus Teutonen und Brythonen (»P-Kelten«) und überschwemmte den größten Teil des Landes: dies waren die alten Briten, wie die Römer sie kannten. Die druidische Kultur von Gallien war »La Téne«. 50 v. Chr.-45 n. Chr. Zweite belgische Invasion. Die Hauptstämme waren die Atrebaten, die aus Artois kamen; ihre Siedlungen sind an den für diese Stämme charakteristischen perlenbesetzten Schalen kenntlich. Ihre Hauptstadt lag bei Calleva Atrebatum (Silchester) in North Hampshire, und ihr Eroberungsgebiet reichte vom westlichen Surrey bis zum Vale of Trowbridge in Wiltshire, einschließlich der Ebene von Salisbury. Falls die Geschichte vom Cad Goddeu die Eroberung der nationalen Totenstadt auf der Ebene von Salisbury aus der Hand der früheren Siedler schildert, so fand diese höchstwahrscheinlich während der ersten oder der zweiten belgischen Invasion statt. Weder die Ankunft der Rundhügel-Menschen, noch die gälische Besitzergreifung von Südost-Britannien, noch die claudinische Eroberung, welche die letzte vor der Ankunft der Sachsen war, ist Gegenstand der Geschichte. Aber laut Geoffrey of Monmouths mittelalterlicher History of the Britons kämpften im vierten Jahrhundert v. Chr. zwei Brüder, Belinus und Brennius, um die Herrschaft über Britannien; Brennius wurde geschlagen und nördlich über den Humber getrieben. Brennius und Belinus gelten allgemein als die Götter Bran und Beli; und in den walisischen Triads wird Beli als Vater von Arianrhod (»Silberrad«), der Schwester Gwydions und Amathaons, bezeichnet. Amathaon beteiligte sich offenbar an der Schlacht der Bäume, als Günstling seines Vaters Beli, des Großen Lichtgottes. So läßt sich das Cad Goddeu vielleicht erklären als die Vertreibung einer lang eingesessenen bronzezeitlichen Priesterschaft aus der nationalen Nekropolis, und zwar durch ein Bündnis von Ackerbau treibenden Stämmen, die bereits lange in Britannien siedelten und dem Danaer Gott Bel, Beli, Belus oder Belinus huldigten, mit einem eingewanderten brythonischen Stamm. Die Amathaonier übermittelten ihren brythonischen Verbündeten ein religiöses Geheimnis - John Rhys hält Gwydion für eine gemischt teutonisch-keltische Gottheit und setzt ihn mit Wotan gleich; dieses Geheimnis befähigte Amathaon, den Platz von Bran, dem Gott der Auferstehung - eine Art Asklepios - einzunehmen; es befähigte Gwydion, den Platz von Arawn, dem König von Annwm - einem Gott der Wahrsagerei und Divination - zu usurpieren; und es ermächtigte beide zusammen, ein neues religiöses System anstelle des alten einzuführen. Daß es tatsächlich Gwydion war, der Arawns Platz einnahm, wird durch den sinnverwandten Mythos in der Romance of Math the Son of Mathonwy nahegelegt, wo Gwydion das heilige Schwein aus der Obhut des Pryderi, dem König der Annwm von Pembrokshire, stahl. So wurden Brans Erlenzweige entweiht, und Hund, Rehbock und Kiebitz, von Arawn gestohlen, wurden als Hüter des neuen religiösen Geheimnisses eingesetzt. Das Motiv der Amathaonier, ihre Verwandten an die fremden Invasoren zu verraten, werden wir im 8. Kapitel erörtern. Offenbar waren Brans Leute nach ihrer geistigen Niederlage nicht bereit, ohne bewaffneten Widerstand zu weichen; denn die Überlieferung sagt, daß 71000 Männer in der Schlacht fielen, nachdem das Geheimnis verraten war. Aber welches Geheimnis? Cäsar berichtet, daß die gallischen Kelten den Anspruch erhoben, von »Dis« abzustammen - d. h. von einem Totengott, der dem Dis des lateinischen Pantheon entspräche - und daneben auch Gottheiten verehrten, die Minerva, Apollon, Mars, Juppiter und Merkur entsprachen. Nachdem er auch berichtet, daß die gallischen Druiden zur religiösen Unterweisung nach Britannien zogen, muß der Hauptsitz des Dis-Kultes offenbar in Britannien gelegen haben. Die Eroberung dieses Tempels durch einen kontinentalen Stamm war ein epochales Ereignis, denn aus Cäsars Bericht geht eindeutig hervor, daß der druidische Dis ein »transzendenter« Gott war, der über Minverva, Apollon, Mars, Merkur (und wir dürfen auch Venus und Saturn, den mit Asklepios verwandten lateinischen Krähen-Gott, hinzurechnen) und sogar über Juppiter stand. Und Lukan, ein Zeitgenosse Neros, sagt in seinem Gedicht Pharsalia ausdrücklich, daß die Seelen nach druidischer Lehre nicht in die finstere Unterwelt des lateinischen Dis hinabstiegen, sondern an einen anderen Ort gingen und daß der Tod »nur der Höhepunkt eines langen Lebens« sei. Tatsächlich war der britische Dis nicht nur eine Art Pluto, sondern ein universeller Gott, eng verwandt mit dem Jahwe der hebräischen Propheten. Nachdem aber das wichtigste religiöse Ritual der Druiden, »im Dienste des Gottes selbst«, wie Plinius berichtet, mit dem Mistelzweig zusammenhing, »den sie in ihrer Sprache All-Heil nennen«, und der »vom Himmel auf die Erde fällt«, dürfen wir sagen, daß der Name des »Dis« nicht Bran gewesen sein kann, denn es gibt keine mythische oder botanische Verbindung zwischen Erle und Mistel. Wahrscheinlich aber ist das Erraten von Brans Namen lediglich ein verschlüsselter Hinweis auf den zu erratenden Namen des Großen Gottes: weder Gwydion noch Amathaon wurden zu Dis; aber gemeinsam verdrängten sie Bran (Saturn) und Arawn (Merkur) im Dienste des Dis und definierten seine Gottheit zu Beli um. Falls es sich aber so verhielt, war dann Dis ursprünglich Donnus, oder gar Danu? Zufällig kennen wir den norwegischen Namen von Gwydions Pferd, falls Gwydion tatsächlich Wotan oder Odin war. Es war Askr Yggr-drasill, oder Ygdrasill, »die Esche, die das Pferd des Yggr ist«, wobei Yggr einer der Titel Wotans war. Ygdrasill war die dem Wotan geweihte verzauberte Esche, deren Wurzeln und Äste in der skandinavischen Mythologie das Universum umspannten. Falls Bran beim Cad Goddeu klug genug war, mochte er sein Englyn abfassen wie folgt:

  • Auf sicherem Huf schreitet mein Roß am Tag der Schlacht
    Die hohen Reiser der Esche führst du in der Hand -
    Wotan bist du genannt, nach dem Zweig, den du trägst.

Die Schlacht der Bäume endete also mit einem Sieg des Eschen-Gottes und seiner Verbündeten über den Erlen-Gott und seine Verbündeten.
Das präkeltische Annwm, von wo Gwydion, wie es heißt, das heilige Schwein des Königs Pryderi entführt und wo, der Romance of Pwyll Prince of Dyred zufolge, Arawn herrschte, waren die Prescelly Mountains von Pembrokshire. Doch es ist wahrscheinlich, daß es wenigstens zwei Annwms gab und daß die Schlacht der Bäume bei dem in Wiltshire gelegenen Annwm stattfand, bevor Gwydions Volk in Südwales einwanderte. Es wäre irrig, wollte man Stonehenge als Bran-Tempel ansehen, denn der Ort ist ungeeignet für die Verehrung eines Erlen-Gottes. Der ältere, größere und höhere Steinring von Avebury, dreißig Meilen weiter nördlich, an der Mündung eines Nebenflusses in den Kennet, kommt eher als Stätte eines Bran-Kultes in Frage; durch Abfälle, die aus dem umgebenden Graben geborgen wurden, ist erwiesen, daß sie von der frühen Bronzezeit an bis in die Römerzeit ununterbrochen benutzt wurde. Alle Erkenntnisse weisen darauf hin, daß Stonehenge der Sitz des Beli, nicht des Bran war; es ist als Sonnentempel im hochentwickelten apollinischen Stil angelegt und steht in seltsamem Kontrast zu der archaischen Härte von Avebury.
Geoffrey berichtet, daß Bran und Beli (der, wie er meint, Billingsgate den Namen gab) sich später versöhnten und gemeinsam Kämpfe auf dem Kontinent bestanden. Es ist möglich, daß beim erfolgreichen Feldzug der Gallier gegen die Römer, 390 v. Chr., auch britische Truppen dabei waren. Der gallische Führer war Brennus - die keltischen Könige nahmen üblicherweise die Namen ihrer Stammesgötter an - und Geoffreys unklarer Bericht über die anschließenden Kriege, die Bran und Belin auf dem Kontinent führten, bezieht sich offenkundig auf die gallische Invasion in Thrakien und Griechenland, 279 v. Chr., als Delphi geplündert wurde; der Oberkommandierende der Gallier war ein anderer Brennus. Wie dem auch sei, die Erle blieb in Britannien noch lange nach diesem Cad Goddeu ein heiliger Baum; und noch im fünften Jahrhundert n. Chr. nannte ein König von Kent sich Gwerngen, »Sohn der Erle«. Die Antwort auf eines der Rätsel in der Gedichtsammlung »Taliesin«, das den Titel Angar Cywyndawd (»Feindseliges Bündnis«) trägt, nämlich, »Warum ist die Erle von purpurner Farbe?« lautet zweifellos: »Weil Bran den königlichen Purpur trug.« Der letztliche Ursprung des Gottes Beli ist ungewiß, aber wenn wir (Wie Nennius) den britischen Belin, oder Beli, mit Belus, dem Vater des Danäus, gleichsetzen, können wir ihn ferner mit dem babylonischen Erdgott Bel gleichsetzen, dem Angehörigen einer männlichen Trinität, der die Titel einer weit älteren mesopotamischen Gottheit erbte, nämlich der Mutter von Danae, im Gegensatz zum Vater von Danäus. Diese war Belili, die sumerische Weiße Göttin, Vorgängerin der Ischtar, und sie war eine Baumgöttin wie auch eine Mond-Göttin, Göttin der Liebe und Göttin der Unterwelt. Sie war die Schwester und Geliebte von Du'uzu oder Tammuz, dem Mais- und Granatapfel-Gott. Von ihrem Namen leitet sich die bekannte biblische Bezeichnung »Söhne von Belial« ab - was soviel heißt wie »Söhne der Vernichtung« - denn bezeichnenderweise hatten die Juden den nicht-semitischen Namen Belili in den semitischen Beliy ya'al (»von wo man nicht zurückkehrt«, also die Unterwelt) umgewandelt. Auch das slawische Wort beli, »weiß«, und das lateinische bellus, »schön«, sind letztlich mit ihrem Namen verbunden. Ursprünglich waren ihr alle Bäume zugeeignet, und das gälische bile, »heiliger Baum«, das mittelalterlich-lateinische billa bzw. billus, »Ast, Baumstamm«, sowie das englische billet, »Holzscheit, Knüppel«, erinnern allesamt an ihren Namen. Vor allem aber war sie eine Weiden-Göttin und eine Göttin der Quellen und Brunnen. Die Weide spielte eine große Rolle bei der Verehrung Jahwes in Jerusalem, und der große Tag des Laubhüttenfestes - eine Feuer- und Wasserzeremonie - wurde Tag der Weiden genannt. Nun unterscheidet das Hebräische zwar nicht zwischen Erle und Weide - immerhin gehören sie zur gleichen Familie - aber die tanaitische Überlieferung, datierend aus der Zeit vor der Zerstörung des Tempels, schrieb vor, daß die rot-ästige Weide mit lanzettförmigen Blättern, d. h. die Purpurweide, für den Palmwedel verwendet, Quitte und Weide aber während des Festes getragen werden sollten. Falls keine dieser Arten verfügbar war, konnte auch die rundblättrige Weide, d. h. die Salweide oder Steineiche genommen werden, doch die Art mit den gezackten Blättern, also die Erle, war verboten - vielleicht weil sie bei heidnischen Riten zu Ehren der Astarte und ihres Sohnes, des Feuergottes, verwendet wurden. Obwohl das Mitführen des Palmwedels obligatorisch war, da die Israeliten ihn, zusammen mit der Tabernakel-Zeremonie, von den Kanaanitern übernommen hatten, wurde die Weide (oder die Korbweide) späterhin von den gebildeten Israeliten verachtet. Einer Hagadah zufolge symbolisiert die Weide im Palmwedel die »Geringen und Unwissenden in Israel, die sich weder durch Rechtschaffenheit noch durch Wissen auszeichnen, wie auch die Weide weder Geschmack noch Geruch hat«; denn für die Geringen wollte Jahwe selbst sorgen. Durch diese triumphale Verdrängung der Königin Belili rückte Bel zum obersten Herrn des Universums auf, zum Vater des Sonnengottes und der Mondgöttin, und beanspruchte, der Schöpfer der Welt zu sein: ein Anspruch, der später von dem aufsteigenden babylonischen Gott Marduk erhoben wurde. Bel und Marduk wurden schließlich in eins gesetzt, und nachdem Marduk ein Gott der Frühlingssonne und des Donners gewesen war, wurde Bel, bevor er aus Phönizien nach Europa emigrierte, zu einer Art Sonnen-Zeus. Es verhält sich nun offenbar so, daß Beli ursprünglich ein Weiden-Gott, ein mit Wahrsagekräften begabter Sohn der Belili war, sich dann aber zum Lichtgott wandelte, und daß im Britannien des vierten Jahrhunderts v. Chr., nämlich beim Cad Goddeu, sein Sohn Amathaon seine Macht beschwor, und zwar um Bran von den Erlen abzulösen, dessen Gegenstück wahrscheinlich auf ähnliche Weise in Palästina abgelöst worden war. Zur gleichen Zeit verdrängte Gwydion von der Esche einen anderen wahrsagenden Gott, Arawn, dessen Baum uns nicht bekannt ist. Die Konsequenzen dieses seltsamen Austausches göttlicher Funktionen werden wir in einem späteren Kapitel erörtern. Der Verfasser der Romance of Taliesin kannte Amathaon offenbar als »Llew Llaw« - ein brythonischer Titel des Herakles -, denn im Cerdd am Veib Llyr (»Lied über die Söhne von Llyr«) sagt er: Ich war beim Cad Goddeu mit Lew und Gwydion, Mit ihm, der Wald, Erde und Pflanzen verwandelte. Die Sache kompliziert sich dadurch, daß die Barden gelegentlich Beli und das Meer erwähnen, was auf den ersten Blick darauf schließen läßt, er sei ein Meer-Gott: die Wellen seine Rösser, das Salzwasser sein Getränk. Dies aber ist vermutlich eine Huldigung an ihn als Schutzgott Britanniens, seiner »Honiginsel«, wie sie in einer Triade genannt wird - denn kein Gott kann auf einer Insel herrschen, wenn er nicht auch die umgebenden Gewässer beherrscht - wobei aber auch mitspielt, daß er als Sonnengott bei jedem Sonnenuntergang »die Wasser des Westens« trinkt, und daß weiße Pferde traditionell der Sonne geweiht sind. Die letzte Form, in der die berühmte Auseinandersetzung zwischen Beli und Bran Ausdruck findet, ist die Geschichte der Brüder Balin und Balan in Malorys Morte d'Arthur, die einander versehentlich töten. Aber, wie Charles Squire in seinem Werk Celtic Myth and Legend behauptet, Bran tritt in der wiederum entstellten Romanze auch in verschiedenen anderen Tarnungen auf. Als König Brandegore (Bran von Gower) führt er 5000 Mann gegen König Arthur; doch als Sir Brandel oder Brandiles (Bran von Gwales) kämpft er heldenhaft an Arthurs Seite. Als König Bran von Benwyk (»die rechteckige Einfriedung« namens »Caer Pedryvan« aus dem Gedicht Preiddu Annwm, das wir im 6. Kapitel untersuchen werden), ist er ein fremder Verbündeter Arthurs; als Leodegrance - im walisischen Ogyr Vran - ist er Arthurs Schwiegervater; und als Uther Ben (»das wunderbare Haupt«), was als Hinweis auf die Geschichte von dem im Tower Hill begrabenen singenden Haupt zu verstehen ist, ist er Arthurs Vater. Die normannisch-französischen trovéres und Malory hatten, als sie ihre Arthur-Romanzen sammelten und kollationierten, keine Kenntnis von und kein Interesse für die historische und religiöse Bedeutung der Mythen, die sie gestalteten. Sie fühlten sich frei genug, die Erzählung gemäß ihres neuen, aus der Provence übernommenen Kodex der Ritterlichkeit zu verbessern, wobei sie die alten mythischen Formen aufbrachen und sich alle dichterische Freiheit leisteten, die sich die walisischen Minnesänger niemals angemaßt hätten. Die moderne literarische Freiheit, wie Schriftsteller und Erzähler sie sich herausnehmen, wenn sie von ihrer Phantasie möglichst freien Gebrauch machen, hindert den Mythenforscher zu erkennen, daß im nordwestlichen Europa, wo der nach-klassische griechische Roman nicht verbreitet war, die Geschichtenerzähler ihre Handlung und die Charaktere nicht frei erfanden, sondern immer wieder die gleichen überlieferten Sagen erzählten und nur dann extemporierten, wenn ihr Gedächtnis sie im Stich ließ. Solange nicht der religiöse oder soziale Wandel eine Veränderung der Handlung oder eine modernisierte Version der Geschehnisse forderte, erwarteten die Zuhörer, die Sagen in der gewohnten Art zu vernehmen. Diese waren fast allesamt Erläuterungen der Rituale und religiösen Theorien, überlagert von historischen Themen; es war ein Lehrgebäude, das den hebräischen Schriften entsprach und mit ihnen vieles gemeinsam hatte.