Konkreter Ausdruck all der verschiedenen Phänomene, die ich im letzten Kapitel besprochen habe, ist die »Angst vor Mathematik« (mathauxiety) und häufig vor den Naturwissenschaften überhaupt.
Lucy Sells verfaßte 1973 eine Untersuchung an der University of California, Berkeley, über die inadequate Vorbereitung von Frauen für die Zulassung zu den meisten Studienfächern.[1] Während 57% der Männer vier Jahre Mathematikunterricht in der Schule belegt hatten, konnten dies nur 8% der Frauen vorweisen. Die viejährige Mathematiksequenz ist aber zum Beispiel in Berkeley Vorbedingung, um zum Mathematikkurs zugelassen zu werden, der wiederum für viele Fächer obligatorisch ist - mit Ausnahme der traditionell »weiblichen« (somit auch schlechter bezahlten) Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften, von Pädagogik, Schulberatung und Sozialarbeit. Dies bedeutet also, daß 92% der Studentinnen des ersten Studienjahres nicht Algebra oder fortgeschrittene Statistik belegen konnten, daß die Mehrzahl der Studentinnen sich in vier Studienfächern sammelte und zwar nicht nur aufgrund geschlechtsspezifischer Sozialisation, sondern auch, weil sie Mathematik nicht belegt hatten.
Sells befragte die Studienanfänger(innen) danach, was ihr Interesse und ihre Fähigkeit für Mathematik beeinflußt habe, und fand eine eindrucksvolle Beziehung zwischen individueller Förderung, dem Belegen von Mathematikkursen in der Schule und den Leistungen, die in den Kursen erbracht wurden. In den folgenden beiden Kommentaren weisen Studentinnen, die fortgeschrittene Mathematik belegt hatten und schlechte Leistungen erbrachten, auf mangelnde Ermutigung hin:
»Ich fühlte mich weniger intelligent als Männer und einige Frauen in der Klasse, aber das spornte mich an. Ich fühle mich heute auch noch so, aber meine minderwertige Position spornt mich nicht mehr an. Ein Mathematiklehrer nannte mich einmal vor der ganzen Klasse dumm, und das hat meine Selbsteinschätzung sehr negativ beeinflußt.»
»Die allgemeine Einstellung meiner Eltern war, daß alle Familienmitglieder gut in den Geisteswissenschaften und schlecht in Mathematik waren. ... Ich dachte, ich hätte keine Neigung für Mathematik..., obwohl ich anfangs sehr gut war. ... Ich zog nie in Erwägung, eine Ausbildung in einem hauptsächlich männlichen Gebiet zu machen.»
Zwei Studentinnen, die fortgeschrittene Mathematik belegt hatten und gute Leistungen erzielten:
»In der Grundschule war ich gut in Mathematik und meinte, daß ich es auch in der Oberschule sein würde. Ich wurde in der Oberschule von meinen Lehrern ermutigt, wurde aber entmutigt, eine Universitätskarriere in Mathematik in Erwägung zu ziehen.»
Ich glaube, ich habe ein angeborenes Gefühl für Zahlen. Mir machen Kalkulationen Spaß, und obwohl viele männliche Klassenkameraden mich als Konkurrenz empfanden, hat mich das nie gestört. Ich kann mich nicht erinnern, je von Mathematik entmutigt worden zu sein. Ich wurde stände von allen Seiten ermutigt. Ich muß hinzufügen, daß ich fast Mathematik als Hauptfach gewählt hätte, aber mich dann doch entschloß, lieber praktisch zu arbeiten »
Auch bei Studentinnen, die erfolgreich waren und teilweise in der Schule Unterstützung erhalten hatten, zeigt sich ein Einfluß, der stärker war und sie vom Studium der Mathematik abhielt: die Tatsache, daß auch Frauen, die gute Voraussetzungen haben, meist der allgemeinen Einschätzung unterliegen, Mathematik sei »Männersache«.
Forschungsergebnisse
Die Erkenntnis, daß durch mangelnde Mathematikkenntnisse Frauen aus vielen Beschäftigungsbereichen herausgefiltert wurden, aktivierte eine Reihe von Frauen in Forschung und Praxis. Auf Forschungsebene läuft die Diskussion darüber, auf welche Faktoren die Schwierigkeiten, die Mädchen und Frauen mit Mathematik haben, zurückzuführen sind: Unterschiedliche Entwicklung von räumlicher Fähigkeit und Vorstellungskraft (spatial ability) und von verbalen Fähigkeiten, unterschiedliche Einstellungen, ein negatives Selbstbild und Geschlechtsrollenstereotypen werden dabei am häufigsten untersucht. Gerade im Zusammenhang mit spatial ability wurde in Erwägung gezogen, inwieweit diese Fähigkeit genetisch bestimmt sein könnte.[2] Diese Hypothese ist inzwischen in einer Reihe von Untersuchungen widerlegt worden. Insbesondere die Forschungsarbeit von Julia Sherman und Elizabeth Fennema [3] hat gezeigt:
- Mädchen haben dieselben mathematischen Fähigkeiten wie Jungen;
- geschlechtsspezifische Unterschiede in der Mathematikleistung bezüglich räumlicher Vorstellungskraft werden nicht immer mit wachsendem Alter und/oder Schwierigkeitsgrad der Materie größer.
Shennan und Fennema erhielten diese Ergebnisse an mehreren Schulen, in denen sie Gruppen auf ihren Hintergrund in Mathematik, auf Leistung in Mathematik und auf Interesse an diesem Fach untersuchten. Sie fanden kaum geschlechtsspezifische Unterschiede, wenn sie Mathematikhintergrund und Einstellungen untersuchten, da diese häufig bei Mädchen und Jungen unterschiedlich sind. Die Autorinnen fordern Sozialwissenschaftler auf, in Zukunft diese beiden Faktoren zu kontrollieren bzw. keine Schlüsse aus Leistungsunterschieden von Mädchen und Jungen zu ziehen, die eine Begründung im Geschlecht per se finden.[4] Sie warnen jedoch auch davor, Mädchen die Schuld zuzuschieben, indem gesagt wird, daß ihre Einstellung sie daran hindere, Mathematik zu lernen. Verantwortlich für die Einstellungen und Leistungsunterschiede sind ihrer Meinung nach sozio-kulturelle Bedingungen.[5]
John Ernest, Mathematiker und Statistiker an der University of California, Santa Barbara, stellte fest, daß seine Studentinnen einen Block beim Statistiklernen hatten. Im Jahr 1973 bot er ein Einführungsseminar zum Thema »Frauen und Mathematik« an und schickte seine Studentinnen in die benachbarten Schulen, um die Einstellung von Schülerinnen und Lehrer(inne)n zu erforschen. Die Resultate des Fragebogens erschienen in einem Aufsatz »Mathematics and Sex« (1976), der von der Ford Foundation als Pamphlet an Schuldistrikte und Pädagoginnen verschickt wird.
Die beiden wichtigsten Ergebnisse des Fragebogens waren:
- Die Mädchen in den Grund- und Oberschulen zeigten dieselbe Vorliebe für oder Abneigung gegen Mathematik wie Jungen, wählten das Fach aber in den höheren Klassen weniger als Jungen.
- Von der 6. Klasse an wurde der Vater die Autorität in der Familie für Mathematik, bestimmte also die Einstellung der Mädchen zu diesem Fach stark mit.
In der BRD hat man sich noch nicht so intensiv mit dem Verhältnis von Mädchen zur Mathematik auseinandergesetzt. Eine Untersuchung von Erika Schildkamp-Kündiger [6] ergab hier, daß die einzige Variable, mit der Mathematikleistungen durchgängig vorausgesagt werden konnten, Konformität oder Mangel an Konformität in Bezug auf weibliche Rollenerwartungen war (indiziert durch einen TAT-Test). Die in Mathematik leistungsstarken Mädchen rebellierten gegen Rollenerwartungen, die leistungsschwachen akzeptierten sie.
Berge und Göttschung, die in einem Aufsatz die Forschung auf dem Gebiet zur Diskussion stellen, werfen unter anderem folgende Fragen auf: Glauben Schülerinnen möglicherweise, daß Mädchen für Physik weniger »begabt« sind als Jungen? Werden Jungen vom Physiklehrer bevorzugt, oder haben Schüler(innen) den Eindruck, daß es so sei? Wie ist die Einstellung der Mädchen, wenn eine Frau das Fach unterrichtet? Ergibt sich in reinen Mädchenklassen, in denen Mädchen nicht von den besseren Vorkenntnissen der Jungen erdrückt werden, unter Umständen ein günstigeres Bild von der Einstellung zur Physik? Welche Rolle spielt das Elternhaus bei diesem Problem?[7]
Zu einigen dieser Fragen gibt es in der Forschung zumindest ansatzweise Antworten. In einer Befragung von 686 Jugendlichen meinten 48 %, daß Mädchen nicht so begabt wie Jungen für Physik seien.[8] Göttschings Untersuchung ergab, daß die Hälfte der erfaßten Jungen sich in ihrer Freizeit mit physikalisch-technischen Geräten oder Problemen befaßt, dagegen nur 13% der Mädchen - sicherlich ein Grund für die Einschätzung der Begabung. Weibliche Lehrer wurden bei einer Befragung als weniger erstrebenswert angesehen als männliche,[9] eine Einstellung, die auch im Zusammenhang mit der Einschätzung weiblicher Fähigkeiten gesehen werden muß.
Nach Göttschings Untersuchung sieht darüber hinaus ein großer Teil der Mädchen Physik als reines Schulfach und stellt keine Verbindung des Faches mit dem Alltag oder der Wirtschaft her. Er zitiert andere Autoren, die Vorschläge zur Veränderung gemacht haben, wie Wagenschein: »... unterrichten wir nicht Physik auf eine reichlich maskuline Weise? Denn, wenn es Unterschiede gibt, dann den, daß der Mann leichter der Gefahr unterliegt, seine logischen Funktionen zu isolieren. ... Auch in den rationalen Fächern kann nichts wirklich angeeignet werden, wenn man nur an die Logik appelliert.«[10]
Und Mothes, der sagt, es fehle nicht an Mädchen, die gerne und erfolgreich an physikalischen Problemen arbeiten, es fehle vielmehr an Lehrer(inne)n, die die Physik nicht im Sinne einer trockenen Begriffsübermittlung darstellen, sondern so, wie es der mehr gefühlsgebundenen Naturzuwendung (meine Heraushebung) der Mädchen entspreche.[11] Göttsching und Berge schreiben:
Während die Jungen vielfach die Physik an sich interessant finden, müßten den Mädchen mehr Gründe dargelegt werden, warum es sich lohnt, Physik zu lernen; ihnen müßte gezeigt werden, daß Physik etwas mit den Problemen des Menschen von heute zu tun hat. ... Dies bedeutet sicher nicht, daß man den Mädchen eine zu aufdringliche »Haushalts-Physik« anbieten sollte, da viele Mädchen nicht gerade begeistert sind, wenn ihre Zukunft vor allem in Hausfrauentätigkeit gesehen wird.[12]
Hinter diesen Vorschlägen stehen die Stereotypen, daß Jungen logisch denken und Mädchen gefühlsbetont sind. Der »maskuline« Ansatz, Wissen losgelöst von seinen Zwecken zu vermitteln, müßte jedoch grundsätzlich in Frage gestellt werden. Wagenschein selbst schreibt: »Ich habe im Koedukationsunterricht immer die Erfahrung gemacht: Wenn man sich nach den Mädchen richtet, ist es auch für die Jungen richtig; umgekehrt aber nicht.«[13]
Die Tatsache, daß Mädchen sich mehr gegen einen rein theoretischen Unterricht wehren, hat sicherlich auch etwas mit objektiven Bedingungen zu tun: Es ist leichter, sich einem solchen Unterricht zu beugen, wenn man wenigstens eine Berufsaussicht damit verbinden kann. Dies ist für Mädchen kaum der Fall. So waren im Sommer 1976 in der Bundesrepublik von 16.397 Studenten in Physik und Astronomie nur 1.334 Frauen; circa ein Drittel dieser Frauen studierten für das Lehramt, während nur ein Fünftel der Männer diese Laufbahn wählten.[14] Diese Zahlen drücken das mangelnde Interesse der Industrie und des Wissenschaftsbetriebs an Frauen aus.
Programme gegen »math anxiety"
Sherman und Fennema schreiben: »Der Geschlechtsrolleneinfluß scheint über solche Faktoren wie Selbstvertrauen, Nützlichkeit von Mathematik und Wahrnehmung der Einstellung anderer zu laufen. Programme, die die Beteiligung von Mädchen verstärken wollen, sollten all diese Faktoren in Betracht ziehen.«[15] Genau dies ist in der Praxis zumindest ansatzweise geschehen.
Pädagoginnen in den USA meinten, ebenso wie die zuvor zitierten in der BRD, daß eine landesweite Änderung des Mathematikunterrichts zugunsten von Mädchen außer Frage stünde. Sie entschlossen sich, andere Wege einzuschlagen, die ich hier kurz beschreiben möchte. Die Bemühungen konzentrierten sich zunächst auf die Universitätsebene. Ziel war, das »Ich kann nicht"-Syndrom abzubauen ("Ich kann das nicht. Ich werde es nie lernen Ich habe Mathematik nie richtig verstanden. Ich werde nie über diesen Stand hinauskommen.«). Leonore Blum, Direktorin des Mathematikinstituts von Mills College, einem Frauen-College in Oakland, California, vertrat den Standpunkt, dabei weder psychologische noch als Nachhilfe aufgezogene Methoden verwenden zu müssen. Sie führte einen Algebrakurs mit neuem Konzept ein, der die Möglichkeit bot, mit gleichaltrigen Tutoren zu arbeiten, und Mathematikerinnen, Naturwissenschaftlerinnen sowie Ingenieurinnen als Gäste vorstellte. Durch diesen Kurs konnte sie in den letzten Jahren die Teilnahme von Frauen an Algebrakursen verdoppeln.
An mehreren anderen Universitäten (University of Missouri, California State University in Fresno und Long Beach, Harvard University u.a.) wurden Kurse speziell für Frauen entwickelt. So etwa der Kurs von Karel DeLeeuw an der Stanford University, der auf bestimmte Schwächen wie z.B. visuelle Vorstellungskraft eingeht und intensive individuelle Betreuung durch fortgeschrittene Studentinnen vorsieht. Sie vertritt den Standpunkt von Forschem am California Institute of Technology, daß die linke Gehirnhälfte die primären Kontrollen über Sprachfähigkeit enthält, während die rechte Hälfte geometrische und räumliche Wahrnehmung, Erkennen von Mustern, Gestaltsynthesen und musikalische Entwicklung kontrolliert. Menschen, die in Mathematik schlecht sind, benutzen demzufolge nicht beide Hälften ihres Gehirns in ihren verschiedenen Funktionen, sondern kompensieren den Mangel an Verstehen durch Auswendiglernen. Wenn DeLeeuws Hypothese sich als korrekt erweist, müssen Möglichkeiten gefunden werden, die kreuzweise Kommunikation, die für das Erlernen von Mathematik notwendig ist, zu entwickeln.
Alan Natapoff, der an der Harvard University unterrichtet, hat einen anderen Ansatzpunkt. Er geht ebenfalls von einer Theorie im Gehirnverhalten (brain behavior) aus und hat eine Lehrmethode entwickelt, die auf Skinners Ansatz, Stimulierung-Antwort-Belohnung, basiert und intensive kurzfristige Vertiefung in Mathematik benutzt. Jean Smith von dem »Wellesley College-Wesleyan University Mathematics Project« berichtet, daß sie von Natapoffs Arbeit sehr beeindruckt war:
Er läßt nie von einer/einem Studentin/Studenten ab, bevor sie/er ein Erfolgserlebnis gehabt hat (eine korrekte Antwort gegeben hat), und die Belohnung ist ein Gefühl des Erfolgs und sein Lob. Zu oft tendieren wir dahin, die schwachen Student(inn)en nicht zu beachten, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, und geben ihnen daher nicht die Gelegenheit, Erfolg zu erleben.[16]
An der Wesleyan University in Connecticut führte die Misere weiblicher Studentinnen in den Bereichen Mathematik, Statistik und so weiter dazu, daß Dozent(inn)en sich intensiver mit diesem Problem beschäftigen wollten. Zunächst gaben sie ihm den Namen math anxiety. Sie erhielten Gelder von dem »Fund for the Improvement of Post-Secondary Education« in Washington und richteten mit diesem Geld eine Mathematikklinik (math clinic) ein, separat vom Institut für Mathematik. Die Klinik soll Student(inn)en und Erwachsenen außerhalb der Universität Gelegenheit geben, ihre Mathematikprobleme diagnostizieren zu lassen und durch Beratung, Therapie und Mathematikkurse anzugehen. Obwohl auch Männer zu den »math clinic« kommen, sind Frauen in der Überzahl. Es gibt Kurse, die, je nach den Bedürfnissen, mehr oder weniger psychologische Aspekte mit einbeziehen. Student(inn)en arbeiten viel in kleinen Gruppen, und es wird auf individuelle Probleme eingegangen. Der Kurs, in dem der psychische Hintergrund mehr betont wird, beginnt damit, daß Student(inn)en »mathematische Autobiographien« schreiben, in denen sie auf gute und schlechte Lehrer(innen) und die Einstellung der Eltern eingehen, beschreiben, wie ihre Einstellung zur Mathematik sich entwickelte, was ihre Überlebensstrategien in der Schule waren. Schließlich sollen sie zwei »Dämonen«, d.h. zwei Gebiete, mit denen sie besondere Schwierigkeiten hatten, beschreiben. Am Ende des Semesters verbringt der Dozent dann einige Zeit damit, die »Dämonen auszutreiben«.
Smith schreibt, daß die Mitarbeiter(innen) an der »Klinik« zufrieden mit ihren Erfolgen waren, was Student(inn)en betrifft, die aus Karrieregründen motiviert waren, Mathematik zu studieren. Sie hatten noch nicht die Student(inn)en erreicht, die am meisten Angst vor Mathematik hatten.
Ein Teil der Arbeit in der »Klinik« ist es, zu untersuchen, wie individuelle Probleme am besten angegangen werden können. Hier wird versucht, eine Art »kognitiver Karte« der Person herzustellen, um zu sehen, ob sie Mathematik besser durch Wörter, Bilder oder Zahlen begreifen kann, das heißt, Zahlen können auf verschiedene visuelle Arten eingeführt werden wie zum Beispiel: »Eins, zwei, drei, vier...« oder 111, 2, 3, 4...« oder Der diagnostische Teil der Arbeit ermöglicht Student(inn)en herauszufinden, wo ihr Problem liegt und ob und wie sie es bewältigen wollen. Sie sprechen über ihre Assoziationen bei Mathematik (»Wie fühltest du dich, als du heute in diesen Raum kamst?«) und ihr letztes positives Erlebnis damit. Sie können sich für oder gegen eine eingehende Analyse entscheiden und auch bestimmen, inwieweit sie ein Training in Mathematik verfolgen wollen (»Ich möchte nur genug daran arbeiten, um grundlegende Sachen in meinem Seminar zur Einführung in die Ökonomie zu verstehen.«)[17]
Die Mitarbeiter(innen) begründen ihre therapeutischen Behandlungen damit, daß in der Forschung unerwartete Verbindungen zwischen math anxiety und der psychischen Gesundheit von Frauen festgestellt worden sind (insbesondere Frauen im College-Alter und erwachsene Frauen). Zu den Hypothesen gehören zum Beispiel, daß Mädchen und Frauen, die sich nicht mit ihrer Angst vor Mathematik auseinandersetzen, lähmende Verhaltensweisen mit sich herumtragen könnten, die sie auch an der Erfüllung anderer Aufgaben hindern; und daß für einige Menschen das Vermeiden von Mathematik möglicherweise Charakteristika einer Phobie beinhaltet, die teilweise durch Therapie in Verbindung mit Mathematikunterricht behandelt werden kann.[18]
Sheila Tobias, langzeitige Verfechterin von women studies, initiierte auch dieses Programm mit. In einem Aufsatz gibt sie einige Ratschläge, wie eine Mathematikklinik an einer Universität aufgebaut werden kann:
- Es gibt drei Voraussetzungen ... : Die skeptische Haltung und der Widerstand gegen das Mathematik-Institut müssen überwunden werden; zusätzliche Hilfsmittel für Beratung und Unterricht müssen erstellt werden; und die Nachfrage muß unter den Student(inn)en (oder auch Personen außerhalb der Universität) geschaffen werden.
An der Wesleyan University und dem Wellesley College waren Professoren des Mathematikinstituts an dem Aufbau der Klinik beteiligt. Gelder kamen von außerhalb der Universitäten aus Stiftungen. Die Nachfrage wurde durch Verbreitung von Informationen geschaffen und zwar in Form von abwechslungsreichen und manchmal humorvollen Broschüren, breiter Öffentlichkeitsarbeit, persönlichen Einladungen an Student(inn)en, die schwach in Mathematik waren, und später durch Mundpropaganda der Student(inn)en, denen wir helfen konnten.
Die Techniken wurden während ausgiebiger Planungen entwickelt und durch ständige Beobachtung der Formen von math anxiety bei den Studentinnen.[19]
Tobias fährt fort mit der Beschreibung der wichtigsten Techniken, die ich hier noch einmal kurz zusammenfassen will.
- »Desensitization« Eine Gruppe mit ähnlichen Voraussetzungen wird von einem/r Mathematiklehrer/in -angeleitet. Sie beginnt damit, daß die Teilnehmer(innen) ihre »mathematische Autobiographie« oder ein Journal über ihre Gefühle gegenüber der Mathematik schreiben, was dann gemeinsam diskutiert wird. Dieser Austausch zeigt, daß die Schwierigkeiten keine individuellen sind. Erst wenn die Gruppe gegenseitiges Vertrauen entwickelt hat, kann sie in eine »Klasse« umgeformt werden. Jetzt sollte Mathematik eingeführt werden, wenn auch in kleinen Schritten. Nach sechs oder zehn Sitzungen sollte jede Klientin/ jeder Klient interviewt werden, um zu sehen, ob mehr Arbeit auf dieser Ebene notwendig ist oder ob sie/er direkt in ein Mathematikseminar überwechseln kann.
- Vertiefung. In drei bis sechs anderthalb Stunden-Sitzungen können jetzt große Gebiete der Mathematik wiederholt werden, wobei die Natapoff-Methode angewandt wird. So lernte« eine Gruppe in Wesleyan in drei Tagen Rechnen mit Betonung auf Brüchen. Eine andere wieder holte Algebra, eine dritte machte eine Einführung zu Kalkulus. Wenn dadurch auch sicher nicht alles behalten wird, werden doch die Angst abgebaut und früher gelernte Dinge wieder ins Gedächtnis gerufen.
- Psychische Unterstützung. In einigen Fällen diskutieren die Student(inn)en ihre Gefühle über Mathematik, Ökonomie, Statistik einmal wöchentlich in einem »psychologischen Laboratorium«, und dies mag ihnen genügen, um in den Seminaren zu bleiben. In anderen Fällen muß die Unterstützung vielleicht durch Einzelberatung gegeben werden, möglicherweise ein bis zwei Semester lang, bevor die Studentin/ der Student sich traut, einen solchen Kurs zu belegen. Die Techniken sind nicht viel anders als konventionelle Beratungsmethoden, einschließlich Gestalt- und anderer Therapien. - Integration. Diese Prozesse brauchen keine separaten Einheiten zu sein.
- Innovative, nicht-bedrohliche Unterrichtsmethoden Die Seminare in Wesleyan haben eine lockere und unterstützende Atmosphäre und basieren auf dem Prinzip, daß es keine »falschen« Antworten gibt. Das Lehrziel ist, die kognitiven und emotionalen Schwierigkeiten der Student(inn)en zu verstehen und sie abzuschaffen. Viel Gewicht wird darauf gelegt, Mathematik zu »lesen", eine Methode, die viele Student (inn)en nie gelernt haben. Während sie Mathematik lernen, lernen sie auch, mit ihren Frustrationen umzugehen, was sie wiederum darauf vorbereitet, in gewöhnlichen Mathematikseminaren zu überleben.
Inzwischen haben die an den Universitäten entwickelten Programme auch Programme für Schulen angeregt mit dem Ziel, die Einstellungen und Leistungen von Schülerinnen zu verbessern, bevor Angst vor Mathematik sich festsetzt. Math for Girls« (Mathe für Mädchen) ist ein Acht-Wochen-Kurs für 6- bis 14-jährige Mädchen, der von Frauen an der Lawrence Hall of Science, University of California, Berkeley, veranstaltet wird. Nancy Kreinberg und Rital Liff, die diese Kurse leiten, geben auch an Eltern, Lehrer(innen) und Berufsberater(innen) Hinweise.:
- Eltern: »Passen Sie auf, daß Sie Ihren Töchtern dieselben Spielzeuge wie Ihren Söhnen geben Dinge zum Bauen und Auseinandernehmen, Modelle, Puzzle und Spiele, die den Sinn entwickeln, etwas zu untersuchen. Diese frühen Erfahrungen haben grundlegende Wirkung auf die Entwicklung naturwissenschaftlichen und mathematischen Selbstvertrauens und Kompetenz. Nehmen Sie die Mädchen mit, wenn Sie Wissenschafts- und Technologiezentren besuchen, wo aktiv Sachen zu entdecken sind. Wenn es keine Programme für Mathematik und Naturwissenschaften in der Gemeinde gibt, um Lernprozesse in Gang zu setzen, entwickeln Sie welche mit anderen Eltern.«
Lehrer(innen) werden auf eine Bibliographie mit Materialien hingewiesen, die aktives Mathematiklernen unterstützen.[20] »Aktivitäten können abstrakte Ideen verständlicher machen, sind aber auch wichtig, weil sie Experimentieren und Explorieren unterstützen, Tätigkeiten, die für wissenschaftliches Denken und Fragen ausschlaggebend sind.«
Berufsberater(innen): »Literatur, die traditionell männliche Berufe beschreibt, wird jetzt überarbeitet, um ein positiveres Bild von Frauen in diesen Bereichen zu geben.[21] Sammeln Sie Informationen, die es attraktiv für junge Frauen macht, ... Mathematik und Naturwissenschaften in der Schule zu belegen.«
Wir können nicht sagen, daß solche Materialien bei uns schon für Lehrer(innen) und Berufsberater(innen) existieren. Frauen und Männer, die in den Naturwissenschaften und in Mathematik arbeiten könnten. Wer in Zusammenarbeit mit anderen Pädagog(inn)en eine wichtige Lücke füllen.
Universitäten wie zum Beispiel das Mills College in Oakland organisieren Tageskonferenzen und Seminare, um Oberschülerinnen darüber zu informieren, wieviele Arbeitsgebiete ihnen im Bereich der Mathematik offenstehen. Im Oktober 1976 nahmen 300 Schülerinnen von der 7. bis zur 12. Klasse an solchen Konferenzen teil.
Die »Mathematical Association of America", der Berufsverband für Mathematiker(innen), hat ein Programm organisiert, in dem Mathematikerinnen Schulen besuchen und über das Thema »Frauen und Mathematik« mit Schülerinnen insbesondere der 10. Klasse sprechen.[22]
Diese Programme sind natürlich auch nur ein Wegweiser, um eine nationale Misere abzuändern. Donady, Kogelman und Tobias schreiben, es wäre illusorisch anzunehmen, daß eine neue Revision des Mathematikunterrichts vorgenommen würde oder alle »sexistischen« Mathematiklehrer innerhalb einer Generation mit solchen ersetzt werden könnten, die gleiche Leistungen von Mädchen und Jungen erwarten. Sie plädieren daher für Öffentlichkeitsarbeit mit dem Ziel, Bewußtseinsveränderungen hervorzurufen, sowie für den Aufbau unterstützender Programme und Institutionen wie math clinics in Schulen und Gemeinden.
Es ist zu hoffen, daß auch in der BRD das Bewußtsein für dieses Problem über die existierenden Ansätze hinaus verstärkt wird und Programme entwickelt werden, die dazu beitragen, die Situation an den Schulen zu verändern. Gleichzeitig müßten allerdings Wege gefunden werden, Druck auf die Industrie und den Wissenschaftsbetrieb auszuüben, so daß eine veränderte Einstellung zu Frauen und Mathematik in der Schule auch mit größeren beruflichen Möglichkeiten verbunden wäre.
Ich schließe mit Sheila Tobias' Begründung für Bemühungen auf diesem Gebiet:
- Angst vor Mathematik ist eine ernsthafte Behinderung. Sie wird von der Mutter an die Tochter mit der amüsierten Zustimmung des Vaters weitergegeben. (»Deine Mutter konnte noch nie ein Haushaltsbuch führen«, sagt er liebevoll.) Dann kann sie, wenn ein Arbeitgeber oder ein Kollege die Angst in ihr bemerkt, von jeglicher Aufgabe ferngehalten werden mit der Begründung, daß der neue Job Arbeit mit »Daten oder Tabellen oder Funktionen« beinhalte. ...
Von einer feministischen Perspektive aus ist mathematisches Alphabetentum ein Weg, die Welt zu demystifizieren. Wir glauben, daß, wenn wir ein Heilmittel gegen Angst vor Mathematik entwickeln könnten und es an Frauen, die sich für Selbsthilfeaktivitäten engagieren, weitergeben könnten, diese Frauen mehr Unabhängigkeit und Selbstvertrauen zeigen würden.[23]
Technische Fähigkeiten sind im täglichen Leben erforderlich. Wenn Frauen sie sich nicht aneignen bzw. keine Gelegenheit dazu haben, machen sie sich von Männern extrem abhängig. Daß Männer in vielen Dingen, die mit Hausarbeit zu tun haben, von Frauen abhängig sind, hat aufgrund der Machtverhältnisse und der gesellschaftlichen Einschätzung von Hausarbeit als unbezahlter Dienstleistung eine völlig andere Wirkung: Frauen fühlen sich in ihrer Abhängigkeit unfähig und minderwertig. Sie flüchten sich in ein Anlehnungsbedürfnis an Männer mit Begründungen wie: »Ich kann das eben nicht, das ist doch Männersache.» Männer hingegen fühlen sich durchaus nicht minderwertig, wenn sie nicht in der Lage sind, den, Haushalt zu führen. Sie sagen zwar auch: »Ich kann das nicht, das ist Frauensache«, dahinter steht jedoch der Gedanke: »Das ist mir viel zu langweilig, ich habe Wichtigeres zu tun.«
Frauen, die diese Unsicherheit in technischen Arbeiten nicht haben, bestätigten mir:
»Ich gehe mit einem anderen Verständnis durch die Welt. Und ich weiß, daß ich mich in vielen Situationen allein durchbringen kann. Ich kann mit technischen Dingen umgehen und kann nähen, kochen etc. Das gibt mir ein ganz starkes Bewußtsein von Unabhängigkeit. Ich glaube auch, daß ich dadurch erst die Möglichkeit habe, die frauenspezifischen Fähigkeiten als gleichwertig anzusehen.«
Mathematik als Beruf - Erfahrungen einer Studentin
ich mache eine Lehrerausbildung an der Pädagogischen Hochschule Berlin mit den beiden Wahlfächern Politologie und Mathematik. In beiden Sparten besteht permanent die Gefahr, untergebuttert zu werden, der dauernde Zwang, stark sein zu müssen: kämpfen gegen Gesprächsstile, Arroganz, Abgehobenheit, Profilierungszwang, falsche und anerkannte Autoritäten. Überall kämpfen, daß die allgemeine Sprachlosigkeit der Frauen in Seminaren ernst genommen wird, ohne deren Veränderung man nicht weiterlernen will und kann.
In Politik sind es die theoretischen Könner, Fachleute, denen gegenüber ich meinen Neid nicht unterdrücken kann, daß meine Sozialisation solche Konzentration auf ein Gebiet, eine Sache leider nie zuließ. Dazu kommen dann noch die Schwafler und Dauerredner, die Seminare sind dann ein Gemisch aus diesen Leuten.
In Mathematik genauso, bloß alles um einen guten Zacken schärfer, weil dort per Klausuren ständig die Gefahr über mir in der Luft schwebt, mit den Fragen: Schaff ich das hier oder ist es verschwendete Mühe? Kann ich mir leisten, diese Frage zu stellen oder bin ich dann als Unfähige beim Prof. markiert? Oder kann ich durch Nachfragen und sicheres Auftreten den Prof. dazu bringen, meine Frage überhaupt zu akzeptieren, betrachtet er sie so sehr unterm Niveau, daß man quasi zuhause lieber erstmal passende Bücher studiert, ehe man sich mit Fragen an den Prof. wenden kann. Mir ist diese Leistungshierarchie erstmals beim Mathestudium in dieser Härte begegnet, so daß meine eher resignative Haltung aus Politik, dem 1. Fach, umsprang in wütende Empörung. Die in meiner Erziehung mir eingeflößten Wertmaßstäbe, nämlich Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten geduldig durch Gespräche, Überzeugung, durchs gute Beispiel, jedenfalls mit Ruhe und nie Haß - denn Hassen sei nur Verschlimmerung, Schwäche - zu begegnen, diese frommen, idealistischen Prinzipien erweisen sich jetzt als völlige Lähmung meiner selbst. Ab einem bestimmten Punkt war das Maß voll, ich konnte gar nicht mehr anders, als zu meinen spontanen Gefühlen zurückzukehren. So entwickelte ich einen nie vorher mir zugetrauten Haß auf die Profs und leistungsversessenen, fachbornierten Streber, weil durch sie mir und einem Großteil der anderen auch, die auch nur stumm dasaßen, die Ausbildung drohte verbaut zu werden. Ich wußte, wir alle, die da sitzen, haben die intellektuellen Fähigkeiten und wohl auch den Willen, dieses Fach jetzt zu studieren, genügend Durchblick zu kriegen, um die Lehrerprüfung zu schaffen. So betrachtete ich zunehmend die ganze Situation als Schikane, einem Leistungsethos gehuldigt, der darauf baut, daß die meisten halt dumm sind und nur durch harten Drill, Anforderungen die Spreu vom Weizen zu trennen ist, damit unsere Geschicke dann auch von den Richtigen, Aussortierten regiert werden!
Was hat das nun mit Differenzen zwischen Frauen und Männern zu tun? Bei mir war das so: Im Gymnasium gingen die Mädchen in den sprachlichen Zweig, die Jungen in den mathematisch/naturwissenschaftlichen. Ich selber hatte bereits in der 7. Klasse die Entscheidung gefällt, lieber in eine Jungenklasse zu kommen, indem ich Latein als 2. Sprache wählte. Ich symphatisierte mit Jungenqualitäten wie Rauheit, Lautstärke, rationales Denken und stellte mir so eine Umgebung für mich förderlicher und schöner vor. Außerdem war ich z.B. nicht automatisch eine Mathe-Versagerin, für die dieses Fach von vornherein abgeschrieben war, sondern ich war mittelmäßig bis gut. Dadurch kriegte ich sehr deutlich den ständigen Bluff mit. Der Lehrer orientierte sich an einigen Spitzen, alles Jungen, der Rest muß dann unter ständigem Druck, wenig Unterstützung, dafür umso mehr Mißtrauen sehen, wie es zu schaffen ist. Ich dachte immer, wenn ich was kapiert hatte, das ist doch ganz leicht, das könnte jeder können, es müßte nur nochmals besser erklärt werden. Deshalb habe ich Desinteresse, Unfähigkeit bzgl. Mathematik, speziell bei Mädchen, die sich ja leichter einschüchtern lassen, nie als solche akzeptiert. Das Tragische war bloß: irgendwann ist meistens der Zug abgefahren, dann ist der Rückstand, die Lücken so groß, daß eine Korrektur und Umkehrung nur noch schwer erfolgen kann.
Der weitere Ablauf: Den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig habe ich dann auch nicht gewählt. Damals fing langsam der Zwang an, wegen des NC zu kalkulieren, welche Richtung man wählen sollte, um einen möglichst guten Notendurchschnitt zu kriegen. Da aber auch für mich in Mathe, Physik und Chemie einfach die Chancen zu schlecht standen, daß ich auch in der Oberstufe unter all den Könnern bestehen könnte (weiß der Teufel, wieso die Typen Lust hatten ihre ausgeprägten technisch/naturwissenschaftlichen Hobbies - bis zum Tick - zu verfolgen, bei mir gab es sowas nicht, so erreichte ich nie einen Stand, bei dem ich im Vergleich zu ihnen nicht am rumkrebsen bleiben mußte), und da ich auch keine Lust hatte 3 Jahre in die Situation gestellt zu sein, wahrscheinlich eher schlecht als recht durchzukommen, landete ich dann auch auf dem sprachlichen Zweig, der alten Mädchenklasse. Inzwischen waren da auch einige Mädchen zur Mittleren Reife abgegangen, das Mädchen/Jungenverhältnis wieder etwas ausgeglichen. Mathematik wurde dort zusammen mit Physik oder Chemie in der 12. Klasse abgelegt. Ich fand es damals auch nicht so tragisch, nun diese Wahl getroffen zu haben, weil ich auch andere Fächer wie Deutsch, Geschichte und Sozialkunde sehr interessant fand.
Der also erstmal (im oberen Bewußtsein) aufs Abstellgleis geschobene Wunsch, mehr zu lernen in Richtung Mathe, Physik und Chemie und Technik, war so für eine Weile begraben. Nach einem abgebrochenen Musikstudium kam ich an der PH an, und von Musik hatte ich erstmal die Nase voll, so wie man sie an den Hochschulen beigebracht kriegt. Und so wählte ich mein altes Lieblingsfach, Sozialkunde (Politologie). Danach kam dann nach 3 Semestern die Frage auf, ob und falls ja, welches Fach soll ich noch dazuwählen? Ich spürte in mir den Wunsch, warum soll ich es nicht noch mal probieren mit Mathe, Physik oder Chemie? An der PH muß das schaffbar sein und es ist sicher ein guter Ausgleich neben Politik ein Lernfach zu haben, wo per Struktur der Wissenschaft schon eindeutiger war, was falsch oder wahr ist. Mich hat immer an Mathematik fasziniert, wie total komplizierte Sachverhalte, Ausdrücke durch Ordnen, Umformen etc. plötzlich durchschaubar waren, Lösungswege zu einer kurzen, knappen Antwort führen. Das hatte auf mich die Wirkung, daß auch in anderen Bereichen Komplexes mit der Vorstellung auseinandergefieselt wurde, daß es schon irgendwie durchschaubarer zu machen sei. Abstraktes besaß weniger Schrecken für mich deswegen. Und Physik und Chemie waren mir zu sehr Neuland. Da hatte ich quasi keine Grundlagen von der Schule her, um mich einzuschätzen, obwohl sie als Fächer mir näherliegender, anschaulicher, konkreter ausschauten als Mathe. Und sowieso unsicher, wollte ich nicht noch mehr riskieren und meldete mich so für Mathe an; es war wie ein Sprung ins Wasser. Aber weil in mir immer noch der wahre Gedanke steckte, der ganze Kram muß doch erlernbar sein, so unterschiedlich sind menschliche Hirne nicht - also nicht abschrecken lassen hatte ich die Entscheidung gefällt.
Mein Glück war dann, daß ich's so getroffen habe, daß ich während des Mathe-Studiums meine jetzt besten Freundinnen kennenlernte, die auf ähnlichem Hintergrund mit ähnlichen Schwierigkeiten und Ängsten, Vorbehalten gegenüber Mathematik, deren autoritären Leistungsfunktionären trotzdem sich dieses Fach gewählt haben. Mit ihnen zusammen habe ich dann gut lernen können, irgendwie die ganzen Klausuren bestanden, haben wir probiert in kleinen Versuchen uns in den 'Seminaren, gegenüber den Profs im Konkurrenzdruck zwischen den Studenten zu behaupten, uns gegen diese kleinmachende Behandlung durch abqualifizierende Bemerkungen zu schützen, uns zu stützen, so daß es eher möglich war, doch mal Fragen zu stellen, zu protestieren gegen die ständige Arroganz.
Wir waren bei Wahlfachaktivitäten, bei denen solche Protestversuche koordiniert werden sollten, auch mit gleichgesonnenen linken Männern zusammen. Aber letztendlich krankte unsere Zusammenarbeit - z.B. in Studienkollektiven zu studieren - an mangelnder gemeinsamer Basis. Sie haben nie in gleicher Tiefe die Diskriminierung durch den Leistungsdruck in diesem Fach gespürt oder kamen besser damit zurecht. Sie kommen aus abgebrochenen TU-Studienfächern (Bauingenieur, Elektrotechnik, Mathe-Diplom...), was wir (Frauen) uns erst gar nicht zugetraut haben, und sie hatten viel ungebrochener in den naturwissenschaftlichen Fächern lernen können, deshalb schon in der Schule einen sicheren Wissensfundus erworben. Dann haben »die Männer", mit denen wir zu tun haben, es viel eher drauf, das Studium zur Not an den Nagel zu hängen oder wegen der widerlichen Lernbedingungen das Studieren eben schluren zu lassen, Arbeit und Anstrengung zu verweigern. Aber letztendlich sind sie durch die bessere Basis immer relativ schnell in der Lage durch kurzfristiges Pauken doch noch den Prüfungsstoff sich einzuimpfen. Diese fachlichen Diskrepanzen, inzwischen aber auch weitergehen de andere, hatten zur Folge, daß ich zu der anfangs spontanen Entscheidung, mit Frauen zu lernen und mit ihnen eine Arbeitsgruppe zu machen, mit der Zeit immer bewußter stand:
Ich finde, ich habe persönlich mehr davon, in erster Linie mit den Frauen aus der Gruppe meine Prüfungsvorbereitungen zu machen, mit ihnen viel zusammenzusein und sich kennenzulernen und wertzuschätzen. Erst dadurch kam ich dazu, daß ich bewußter eine Integrierung »persönlicher« Ansprüche in Arbeitsgruppen erlebte und jetzt auch erwarte. Dies funktioniert im allgemeinen besser, selbstverständlicher mit Frauen, so hängt meine Weiterentwicklung von unserem Zusammenhalt ab.
Gerade diese wachsende persönliche Nähe, ähnliche Ängste und umfassendere Bedürfnisse bezüglich Mathematik - nämlich immer nur gebrochene Lernmotivation zu haben, wenn ausgespart* bleibt, was nun diese ganze Mathematik in der Wirklichkeit soll, wie sie angewendet wird - schuf für uns Frauen die notwendigen Voraussetzungen, uns mit unserer Angst nicht mehr allein zu sein. Minderwertigkeitsgefühle waren so weniger schwer, weil wir sie besprechen konnten und schon so gemeinsam aushielten. Durch diese Entlastung wurde dann jeweils Energie frei, um sich neu an den »Stoff' ranzuwagen, besser durchzukommen. So konnten wir zumindest innerhalb unseres Frauen-Arbeitszusammenhangs den Zwang zum Bluff, der überall an der Hochschule existiert, aufheben. Dort bestand endlich nicht die Angst, »dumme« Fragen oder falsche Antworten zu geben, beides wurde genauso als positiv angesehen. Falls die Frage wirklich dumm ist, naja, dann ist es ja leicht für die anderen, sie zu beantworten, wenn eine Antwort falsch ist, dann ist es für uns jeweils eine Übung, dies zu merken und richtig zu stellen. D.h., ein wesentlicher Schritt, das Mathe-Studium durchzustehen, bestand für uns darin, die von außen bei uns geschaffenen psychischen Angstbarrieren, uns selber wieder aus dem Kopf zu räumen. Das hatte sowohl eine Beschäftigung mit der eigenen Person und Lebensgeschichte zur Folge - dies ähnelt der »Math-biography", die Sheila Tobias aufschreiben ließ, um Mädchen von ihrer Angst vor Mathematik zu befreien - als auch schrittweises Vorwagen in den Seminaren, gegenüber der Profautorität, also Angreifen der äußeren Barrieren: abschätzige, allgemeingehaltene oder persönliche Bemerkungen der Profs einfach nicht mehr einfach stillschweigend hinzunehmen, durchgehen zu lassen, sondern sich so was zu verbitten. Ebenso, das Recht als Student Fragen stehen zu dürfen und dieses auch in Anspruch zu nehmen (ohne dabei ständig bewertet zu werden), statt still Unverstandenes erst zuhause versuchen nachzulernen, ... usw. .
Meine Erfahrung war, desto öfter ich sowas hinkriegte, mich überwinden konnte, mich in ein Gespräch mit dem Prof einzulassen, desto weniger wirkte er noch bedrohlich auf mich, weil die Antworten meist stärker ihn entblößten als mich, und ich dabei zumindest als Person bestanden hatte, stark genug war, meine Ansprüche zu formulieren. Desto weniger war die Seminarzeit nur vertane Zeit, weil ich so besser aufpassen konnte, wenn ich ab und zu auch was sagen kann, weil so immerhin einige Fragen geklärt wurden, weil so das Gefühl, nur Lernvieh zu sein, im Ansatz öffentlich - und nicht nur durch geheimes Klagen - angegangen war. Demgegenüber setzte dann aber auch eine Tendenz bei uns ein, mit gestiegenem Selbstbewußtsein, statt wie verrückt weiter die Massenseminare abzusitzen, deren Druck doch nicht so schnell abzuschaffen ist, vermehrt durch Eigenarbeit zu ersetzen. Mit der Zeit merkten wir nämlich, daß es didaktisch viel verständlichere Schulbücher der Oberstufe des Gymnasiums gibt, als unsere Profs es überhaupt in der Lage waren zu bringen. Aber auch diese sich öffnende »Alternative« trug dazu bei den direkten Druck der Hochschule in den Griff zu kriegen.
Durch die Entscheidung von uns Frauen, eine eigene Arbeitsgruppe zu wollen, schlugen wir also zwei Fliegen mit einer Klappe - eigentlich sind es gar nicht zwei, wenn frau Leben und Arbeiten nicht immer trennen würde - wir stellten unter uns einen besonderen persönlichen Kontakt her, machten etwas Selbsterfahrung, und managten gleichzeitig so unser Mathestudium.
Dieser Weg wurde übrigens von unseren linken Männern nicht verstanden, sie finden unser Verhalten egoistisch, kleinkariert, überempfindlich, nicht den richtigen Weg; sie wünschen, daß ihre Schwierigkeiten von uns gemeinsam angegangen werden, wir würden ihnen aus dem Weg gehen, sie fänden uns spalterisch... . Trotz andauernder Befürchtung, die Abschlußprüfung nicht zu schaffen (es fallen zwischen 50 und 60'% durch!), wollen wir auch bei einem eventuellen Durchfall nicht aufstecken. Das wäre das, was der ganze Druck bezweckt. Für uns Frauen ist klarer als bei den Männern, daß es uns wichtig ist, uns durchzubeißen, für uns steckt dahinter ein längerer Kampf. Und viele erlebte kleine Einzelfortschritte, die ihnen selbstverständlich sind, waren für uns Bestätigung, daß es sich lohnt und nicht aussichtslos ist. Wir Frauen sind inzwischen in gewisser Hinsicht härter und stärker geworden als die Männer. Ich selber habe vor, falls das mit der Prüfung über die Bühne ist, mein schön konzentriertes Wissen, anläßlich der Prüfung gesammelt im Kopf, nach Möglichkeit hinterher als Basis für eine Aufnahmeprüfung zu benutzen, um dadurch eine einjährige Ausbildung in Elektrotechnik zu machen: einfach, weil ich heute denke, ich habe Lust, versäumte Interessen aus der Schulzeit wiederaufzunehmen, zu erproben, was in diesen Fächern steckt, ob sich daraus für mich ein Beruf ergibt, an den ich mich bisher nicht rantraute.
Im Vergleich zu den Initiativen und Bemühungen, die bereits in den USA an Colleges oder High Schools unternommen wurden, sind die Überlebenspraktiken, die ich mir zusammen mit anderen Frauen aus der Gruppe entwickelte, zwar in mancher Beziehung ähnlich (vgl. »mathbiography«: eine angstfreie Lernathmosphäre schaffen, Mathematik anwendungsbezogen lehren, ...), aber trotzdem noch auf sehr niedrigem und vor allem individuellem Niveau, reine Abwehrmaßnahmen. Um etwas ähnliches wie in den USA auf die Beine zu stellen, müßte es auch hier Feministinnen geben, deren Lehrgebiet Mathematik und Naturwissenschaften ist, um so innerhalb dieses Arbeitsbereichs Sexismus zunächst in ganzer Konkretheit zu erfassen und daraus Gegenmaßnahmen, alternative Mathe-Projekte z.B. speziell für Frauen und Mädchen zu entwickeln, bzw. andere geeignete Formen, um die Diskriminierung anzugehen. Ein kleiner, selbstorganisierter Anfang sind, finde ich, auch diverse Reparatur- und Bastelgruppen (Auto, Elektrik, Holz, ...), deren Existenz kleine Anzeigen in den Frauenzeitungen beweisen. Sie signalisieren, daß hier Frauenbedürfnisse brach liegen, aber auch schon von frau versucht wird, für Abhilfe zu sorgen.
Daß Unkenntnis in diesen Bereichen, einen Block zu haben vor Mathe, Physik, allem Technischen, ein bedeutsames Handicap ist, wodurch beispielsweise die Skala der Berufsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt wird, wodurch aber auch ganz allgemein Frauen ein Großteil an »Weltverständnis« abgeht, Technik eben Männersache bleibt, habe ich immer als starke Beeinträchtigung meiner Entwicklungsmöglichkeiten, meines Selbstwerts empfunden. Bei vielen Frauen allerdings haben ihre Vermeidungsstrategien, die eindeutig aus gestörtem Selbstbewußtsein resultieren, dazu geführt, diesen Mangel gar nicht mehr zu merken. Im »Ausgleich« dazu entwickelten sie andere, Frauen offen stehende Qualitäten, was darauf hinausläuft, »Menschlichkeit", Spontaneität, Emotionalität - alles die Subjektivität, das Persönliche betonende Vorzüge - gegen rationalistische, unpersönliche Technik auszuspielen. Darin sehe ich die Gefahr, daß sich so ungehindert diese falsche Trennung fortsetzt.
Gertrud Küttner (Adresse über den Verlag zu erfahren)