Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern

»Seit ich mich selbst mehr mag und
mehr auf meine Freundin gebe, laß'
ich mich auch nicht mehr so von den
Jungen unterkriegen. »
(Schülerin)

Die Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern verstärkt stereotype Verhaltensweisen. Im allgemeinen unterstützen Mitschüler(innen) schulkonformes Verhalten bei Mädchen. Bei Jungen hingegen wird ein solches Benehmen eher negativ eingeschätzt. »Störende Mädchen« und »inaktive Jungen« werden vom Klassenkollektiv einhellig abgelehnt.[1]
Jungen werden in einen Konflikt gebracht, indem sie sich einerseits der Schule unterordnen sollen, andererseits aber ein unangepaßtes Verhalten von ihnen toleriert wird. Obwohl dies zwiespältige Erwartungen sind, geben sie Jungen einen gewissen Freiraum, den die Erwartungen an Mädchen nicht beinhalten: Jungen haben noch die Möglichkeit, sich abzureagieren, Aggressionen herauszulassen. Darüber hinaus schaffen sich Jungen peer Gruppen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule funktionell sind. Mädchen sind viel mehr an die altersheterogene Familiengruppe gebunden als an Bezugsgruppen von Gleichaltrigen. Sie finden sich dadurch in doppelter Abhängigkeit von der Schule und haben gleichzeitig weniger Möglichkeiten, Dinge, die ihnen in der Schule nicht geboten werden, anderweitig nachzuholen.[2] Hinzu kommt, daß Jungen in Gruppen von Gleichaltrigen eine Kultur entwickeln, die ihnen später von Nutzen ist. Bei gemeinsamen Freizeitbeschäftigungen trainieren sie ihren Körper, lernen kooperative Umgangsweisen, entwickeln Durchsetzungsvermögen und Führungsqualitäten.
Es gibt auch Mädchen, die sich in Mädchengruppen oder -banden organisieren. In einem bestimmten Alter aber, wenn der Druck, sich über Jungen identifizieren zu müssen, immer stärker wird, tauschen auch diese Mädchen ihre Selbständigkeit ein. Sie begeben sich in Abhängigkeit: Als »Rockerbräute«, als »Miezen« begleiten sie die Jungen zu deren Sportveranstaltungen, sitzen hinten auf den Motorrädern, hören ihnen zu, wenn sie Musik machen, und so weiter. Sicherlich eignen sich Jungen hier nur eine Scheinmacht an, die ihnen bei entfremdeter
Arbeit und Arbeitslosigkeit nicht helfen kann. Frauen gegenüber ist diese Macht jedoch real und kann täglich ausgekostet werden. Wie Kohlberg feststellt, werden Mädchen schon sehr früh gezwungen, zwischen dem »Prestige des Gutseins« und dem »Machtprestige« unterscheiden zu lernen.[3] Und sie lernen, daß das erstere für sie vorbehalten ist, das letztere jedoch für Männer.
Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen gehe ich näher auf einige Aspekte der Beziehungen zwischen Schülerinnen und Schülern ein. Ich beziehe mich hierbei hauptsächlich auf Gespräche, die ich mit Schülerinnen, Schülern und Lehrerinnen hatte.

Beziehungen zwischen Schülerinnen und Schülern

Die Beziehungen zwischen Schülerinnen und Schülern sind schon früh von Spannungen gezeichnet, die sich größtenteils an allen Schultypen wiederfinden. Schon vor der Pubertät führt die unterschiedliche Sozialisation innerhalb und außerhalb der Schule dazu, daß Mädchen und Jungen nicht mehr miteinander spielen, unterschiedliche Freizeitaktivitäten haben und sich im Unterricht voneinander abgrenzen.
In der Pubertät haben Mädchen oft schon einen ziemlich differenzierten Durchblick, was Geschlechterrollen anbetrifft, wie folgendes Gespräch zwischen Schülerinnen einer sechsten Grundschulklasse und ihrer Lehrerin zeigt. (L = Lehrerin, S = Schülerin(nen)

L: Als ich zur Schule kam, standen da kleine Jungen aus der 4. Klasse und riefen den Mädchen nach: »Blöde Weiber! Woher kann das kommen, daß Jungen so mit Mädchen umgehen?«
S: Weil sie's vom Vater haben!
S: Da kommt der Junge z.B. nach Hause und sagt: »Mutter, ich will jetzt eine Stulle haben, wo ist meine Stulle, ich bin müde und hungrig«, weil der Vater das auch macht und weil er so sein will wie der Vater.
L: Und wie dürfen Jungen denn nicht sein, damit alle sagen: »Das ist ein richtiger Kerl, unser Bub«?
S: Nicht zur Mutter gehen und fragen, ob sie auch mal kochen und abwaschen dürfen.
S: Na, und wenn er älter wird und verheiratet ist und immer zu seiner Frau, wenn die was will, sagt: »Ja, Mausi, mach' ich!«, so daß er unter dem Pantoffel steht und nicht sie - so darf er nicht sein.
S: Wenn ein Junge für seinen Abschluß büffelt und ein anderer sagt: »Ach, die Scheißpenne ist mir egal!« und macht andere Sachen, dann finden die anderen Jungen den, der büffelt, nicht gut.

Die Trennung zwischen Mädchen und Jungen wird mit wachsendem Alter immer offensichtlicher. Aufgrund unterschiedlicher Aktivitäten und des von der Gesellschaft geförderten Spannungsverhältnisses zwischen Mädchen und Jungen kommen Aggressionen auf. Bringen sich Mädchen stärker ein, erfahren sie oft negative Reaktionen von Jungen: »Die Mädchen wollten aktiver sein und mehr mitreden Sie organisierten Feten, redeten in Vollversammlungen. Die Jungen hatten Angst davor, und es gab Kämpfe zwischen den beiden Gruppen.«
(Erzieherin, Jugendfreizeitheim)

Die Feindseligkeit kann zerstörerische Formen annehmen:

»Auf einem Abenteuerspielplatz blieben die Mädchen mehr und mehr weg wegen des Verhaltens der Jungen. Die Jungen zerrten sie an die Seite und befummelten sie und erkannten sie nicht als Spielpartnerinnen an. Zwei Mädchen hatten eine gute Idee, sie fingen an, eine Hütte zu bauen. Am nächsten Tag war nichts mehr davon da: Die Jungen hatten sie über Nacht zerstört.«
(Lehrerin)

Im Unterricht nehmen diese Feindseligkeiten Formen an, die von den Zwängen der Institution Schule geprägt sind:

  • Die Mädchen verhalten sich größtenteils passiv (mit Ausnahme einer Schülerin, die meist sehr engagiert, kritisch und unangepaßt am Unterricht teilnimmt), sitzen von den Jungen getrennt und reagieren, wenn überhaupt, empört auf das anmaßende Verhalten der Jungen. Der Deutschlehrer sagte, daß die Mädchen noch in der 9. Klasse viel stärker mitgearbeitet haben als jetzt, und vermutete als Grund für das Nachlassen ihrer Aktivitäten die Verlagerung des Interesses auf außerschulische Tätigkeiten (Tanzstunde, Freund etc.).
    Die Jungen dominieren stark das Unterrichtsgeschehen. Sie stören fast permanent, halten aber untereinander zusammen (als ein Junge eine 6 in Mathe bekam, klatschte die Klasse Beifall, und die Jungen beglückwünschten ihn mit Händeschütteln, während derartiges Verhalten bei den Mädchen nicht zu beobachten war). Sie beteiligen sich wesentlich stärker aktiv-analytisch am Unterricht als die Mädchen.
  • Es besteht schon fast eine Art Feindschaft zwischen dem Jungen- und Mädchenblock. Die Mädchen lehnen das Jungenverhalten als störend, chaotisch, frech und undiszipliniert ab, während diese die Mädchen sehr zickenhaft finden und mit ihnen nichts anzufangen wissen, als sie zu ärgern. Diese Gruppen sind schon an der Sitzordnung zu erkennen: Die Jungen sitzen geschlossen in der hinteren Reihe.[4]
    (10. Klasse Gymnasium)

Wenn Jungen die Mädchen bei ihren Aktivitäten »dulden«, dann häufig mit einer Beschützerallüre: »Völkerball spielen die Jungen noch mit Mädchen. Dabei haben sie eine soziale Art, aber die schwachen Mädchen kommen dadurch nicht aus ihrer Schwäche 'raus«
(Sonderschullehrerin)

Erotische Beziehungen zwischen Mädchen und Jungen nach der Pubertät können die Gruppierungen in der Klasse verändern.

»In unserer Klasse sind die Mädchen gespalten. Eine Gruppe unterhält sich nicht mit Jungen. Sie sind stiller im Unterricht. Auch privat sind sie nicht mit Jungen zusammen Die meisten von ihnen gehen zusammen in einen Chor. Die andere Gruppe versteht sich gut mit den Jungen und trifft sie auch außerhalb der Schule. Die Mädchen in der ersten Gruppe dürfen nicht so viel von zu Hause aus. Vielleicht haben sie Angst vor Jungen«
(Gymnasialschülerin)
»Es gibt häufig zwei Gruppen: die, die fortgeschritten sind in Beziehungen, und die, die etwas zurückgeblieben sind.«
(Gymnasialschüler)

Zu beachten ist hier die eindeutige Wertung der Gruppe, die sich nicht mit Jungen abgibt. Der Druck, der auf diese Weise ausgeübt wird, kann ganz spezifische Formen im Unterricht annehmen:

»Viele Mädchen blicken durch und verachten Jungen für ihre Großtuerei Aber wenn sie das in der Gruppe sagen, werden sie entweder als Intelligenzbestie hingestellt oder es wird ihnen etwas anderes angehängt. Eine z.B. hat eine leise Stimme. Sie wurde immer wieder nachgemacht und hat sich schließlich ganz zurückgezogen. Die Mädchen wissen wohl, daß sie sich mehr wehren sollten, aber sie haben Angst, keinen Freund zu kriegen.  In einer Klasse hatte eine Mädchengruppe etwas Gutes verfaßt. Ich lobte sie. Die Reaktion der Jungen »na ja, dann können Sie ja gleich eine Emanzengruppe aufmachen, dann haben Sie aber keinen Schlag mehr bei uns!«
(Gymnasiallehrerin)

Die wachsende Konzentration der Mädchen auf Jungen ist keine unabänderliche Alters- und Pubertätserscheinung. Sie rührt von zwei Faktoren her:

  • der Manipulation und Erwartungshaltung der Umwelt
  • der mehr oder weniger bewußten Erkenntnis der Mädchen, daß ihre materielle Zukunft von Männern direkt bzw. indirekt bestimmt sein wird.

Insbesondere der letzte Punkt führt zu dem, was Monika Savier als »konditionierte Überlebensstrategien« beschreibt:

                 

                       

Die Mädchen werden jetzt danach bewertet, mit welchen Jungen sie befreundet sind, wobei diese Kriterien zunächst innerhalb der Schulklassen und peer-groups Gültigkeit haben und erst später, nämlich im »heiratsfähigen Alter«, auch von den Eltern angewandt werden.
Der ständige Blick in den Spiegel und alle weitere intellektuelle, emotionale und physische Potenz, die darin gesetzt wird, den männlichen Blick, das männliche Interesse auf sich zu ziehen, sind kein albernes Teenager-Gehabe, sondern konditionierte Überlebensstrategien.[5]
Obwohl dies auch für Gymnasialschülerinnen zutrifft, kann man sagen, daß die Abhängigkeit bei Hauptschülerinnen noch durchgängiger ist aufgrund der familiären Festlegung der Frau auf Ehe und Familie (auch wenn sie berufstätig ist) und der noch größeren materiellen Unsicherheit.
Wenn ein Mädchen jedoch in die Lage gerät, wo sie sich von Jungen abhängig macht, gibt sie gewöhnlich ihre Mädchenfreundschaften und -gruppen auf und richtet sich in ihren Freizeitaktivitäten und sozialen Bezügen völlig nach dem Jungen:

»Mädchen sind ausschließlich auf den Freund konzentriert, während Jungen ihre Interessen weiterverfolgen. Eine meiner Schülerinnen sitzt nur noch zu Hause und wartet auf den Anruf ihres Freundes. Wenn es Probleme zwischen den beiden gibt, ist sie zu nichts mehr fähig, seien es Schularbeiten oder Freizeitaktivitäten.«
(Gymnasiallehrerin)
»Hier ist es ganz schön langweile ohne Dich. Ich vermisse Dich sehr. Ich hör' den ganzen Tag Deine Platten und denk' an Dich. Seit Du weg bist, bin ich ganz schlecht in der Schule geworden.«[6]

In der Schule bedeutet das, daß Jungen immer zusammenhalten, während Mädchen sich oft weit weniger solidarisch verhalten. Und dies, obwohl sie oft erfahren müssen, daß gerade die Jungen, deren Anerkennung sie sich mit ihrem Verhalten verschaffen wollen, sie für ihre Unsolidarität verachten. Einen Führungsanspruch können sie meist nur vertreten, wenn sie von Mädchen und Jungen anerkannt werden:
Auch wenn es um den Führungsanspruch in der Klasse geht, sind die Mädchen in der Regel die Unterlegenen, es sei denn, sie werden ausnahmsweise von männlichen »Führern« der Klasse akzeptiert und aus taktischen Gründen für geeignet befunden, zum Beispiel Klassensprecherin zu sein.
Da solchen Entscheidungen meist langwierige (körperliche) Auseinandersetzungen vorausgegangen sind, bei denen die Mädchen ohnehin die Unterlegenen sein würden, haben sie mehr die Rolle einer Bewunderin männlicher Schaukämpfe übernommen.[7]
Im Gymnasium sieht dies etwas anders aus. Die Auseinandersetzungen laufen weniger auf körperlicher als auf intellektueller Ebene. Letzten Endes kommt es jedoch auf dasselbe hinaus: Die Sprecher in der Schülermitverwaltung sind hauptsächlich Jungen, Mädchen in Führungsrollen sind Ausnahmen. Der Zusammenhalt zwischen den Mädchen innerhalb und außerhalb der Schule wird weitgehend von ihren Beziehungen zu Jungen bestimmt.
Es ist unmöglich, aus solchen Beispielen Verallgemeinerungen zu ziehen. Jede Lehrerin wird über unterschiedliche Konstellationen und Situationen in verschiedenen Klassen berichten können. Das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen variiert entsprechend der gesellschaftlichen Schicht und der regionalen Lage der Schule: Kinder aus Großstadtbezirken werden sich anders untereinander verhalten als Kinder aus Trabantenstädten oder Kinder in ländlichen Gegenden. Aber wenn auch die Formen des Verhaltens unterschiedlich sind, eins haben sie alle gemeinsam: ihre geschlechtsspezifische Ausrichtung.

Nicht angepaßte Mädchen

Trotzdem gibt es Mädchen, die sich gegen diese Entwicklung wehren und sich aufgrund von Interessen, Fähigkeiten und/oder Aussehen von den anderen Mädchen abgrenzen. Ich habe bereits auf diese »nichtstereotypen« Schülerinnen und ihr Verhältnis zu Lehrer(inne)n hingewiesen. Sie haben teilweise auch unter den Mitschüler(inne)n einen schweren Stand.
In der Grundschule und bis zur Pubertät zeichnen sich diese Mädchen oft dadurch aus, daß sie hauptsächlich mit Jungen spielen und auch weiter »Jungenaktivitäten« verfolgen, wenn Mädchen schon völlig von den Jungen getrennt sind.

»Ich habe ein Mädchen in der 6. Klasse. Die spielt vorwiegend mit Jungen, baut sich Hütten auf Bäumen und bastelt viel Das ist ungewöhnlich. Sie kommt allerdings auch aus einer ungewöhnlichen Familie. Beide Eltern sind Schauspieler. Ich glaube, sonst wäre es unwahrscheinlich, daß sie sich so entwickelt hätte. Für Mädchen ist es tödlich, aus typischen geborgenen Kleinfamilien zu kommen, wenigstens wenn die Mutter nicht berufstätig ist.«
(Grundschullehrerin)

Solche Mädchen haben häufig keine Freundinnen, worunter sie auch irgendwann zu leiden beginnen. (Siehe die autobiographischen Berichte von Schülerinnen.) Vor der Pubertät können sie andere Mädchen mit ihrem jungenhaften Benehmen noch beeindrucken. Nach der Pubertät finden wir sie als Führerinnen von Mädchencliquen oder in einer Gruppe dominierender Mädchen und Jungen, wenn sich ihr »unübliches« Verhalten mit gutem Aussehen, Aktivität im Unterricht und möglichen guten Leistungen verbindet.
Hier kommt es natürlich auch darauf an, wie die Klassenstruktur aussieht. Gibt es mehrere Schülerinnen, die auch dahin tendieren, sich gegen die Jungen zu wehren, können solche Mädchen sich eher durchsetzen. Haben sie jedoch keine Persönlichkeit, die positiv bewertet wird, können sie leicht zur Außenseiterin werden:

»Ein Mädchen ist ziemlich muffig. Sie spielt gerne Fußball und verbringt damit ihre Freizeit. Sie wird von den anderen mit der Einstellung die ist eben sowieso anders toleriert.«
(Sonderschullehrerin)

Monika Savier beschreibt, wie es Mädchen in Hauptschulen ergehen kann, die von den anderen Mädchen isoliert und von den Jungen zwar als »Kumpel«, aber nicht als Sexualpartnerin anerkannt werden:

Auch zwischen den Mädchen finden harte Auseinandersetzungen statt. Diejenigen, die den festgelegten, altersentsprechenden weiblichen Rollenstereotypen nicht entsprechen, schlimmer noch, eine solche Identifikation bewußt vermeiden, werden unter Umständen von der >herrschenden Mädchen-Scene< in der Klasse konsequent isoliert. Sie wer den von den gemeinsamen Gruppenaktivitäten ausgeschlossen (wie zum Beispiel während der Pause Arm in Arm über den Schulhof laufen und die Jungen in der >Raucherecke< ärgern ...) und das, obwohl sie als Konkurrentinnen doch augenscheinlich nicht in Frage kommen.

  • Sie fallen weg für eine sexuelle Beziehung, demonstrieren aber Stärke (= Persönlichkeit), die rollenkonforme Mädchen nicht haben. Dadurch wird den anderen ihre Fremdbestimmung bewußt, was in ihrer desolaten Lage den Weg für Konkurrenz, Neid und Eifersucht freimacht, besonders weil die »untypischen« Mädchen von den Jungen viel mehr als »Kumpels« akzeptiert, also mit dem begehrten Prädikat »fast so gut wie ein Junge« ausgezeichnet werden.
    Die Kontrollen der Mädchencliquen sind stark. Gerade während des langsam verstreichenden Morgens in der Schule kann es ausgesprochen hart sein, von den Freundinnen bei den vielen kleinen Ablenkungsmöglichkeiten und Albernheiten im Unterricht ausgeschlossen zu sein.[8]

Ein anderer Typ von Mädchen sind die, die sich nicht unbedingt durch jungenhaftes Verhalten, jedoch durch Aufgewecktsein im Unterricht, durch kritische Einschätzungen und soziales Verhalten den Mitschüler(inne)n gegenüber auszeichnen. Sie werden häufig als Führerinnen anerkannt.
In der 4. Klasse sind mehrere auffallende weibliche »Persönlichkeiten« zum Beispiel:
Susanne: sehr »aufgeweckt«, fällt durch ihr ständig unruhiges Herumräkeln auf ihrem Platz auf, durch ihr temperamentvolles Eingreifen im Unterricht; läßt keinen Tadel der Lehrerin ungekontert auf sich sitzen, ist Pol der einen Mädchen-Chlique.[9]
Auch diese Mädchen unterliegen später dem Zwang, von den Jungen als potentielle Sexualpartnerinnen anerkannt zu werden:

»Ich habe eine Schülerin, die sehr wortgewandt ist. Ihre Eltern sind geschieden, sie hat ziemlich viel Freiheit von zu Hause aus. Sie ist offen, herzlich und selbstbewußt. Von den Mitschülern und -schülerinnen wird sie egoistisch genannt, sie dränge sich in den Vordergrund, lasse niemanden aussprechen. Wenn Jungen sich so verhalten, wird das anders interpretiert. Ihn finden alle toll Die Jungen sind nicht besonders interessiert an ihr. Kürzlich sagte sie zu mir: ich, ich hatte so gerne einen Freund. Meine Mutter sagt immer, ich bin schon 18, ich krieg' keinen mehr ab.«
(Gymnasiallehrerin)

Die Kriterien, nach denen Mädchen zu Führerinnen auserkoren werden, ändern sich also. Wenn sie die Führerrolle mit einer politischen Einstellung verbinden, haben sie es oft noch schwerer.

Alice: Ihr habt vorhin gesagt, daß es unter den Mädchen in der Klasse eine richtige Hierarchie gibt. Die, die den schicksten Jungen hat, ist die erste. Aber zählt nicht auch Leistung oder soziales Verhalten?
Ela: Im Gegenteil, gute Noten zählen überhaupt nicht. Auch daß man sich jetzt für seine Mitschüler einsetzt, wird nicht honoriert. Also bei mir war das so, ich war Klassensprecherin Ja, o.k., das fand ich in den ersten Jahren sehr gut, daß ich Klassensprecherin war, aber daß trotzdem niemand mal selber Initiative ergriffen hat, daß sie mich dann immer vorgeschickt haben und daß sofort zu dem Zeitpunkt, als ich anfing, politisch zu werden und zu sagen: »Hier stimmt was nicht!« und dann auch noch anfing zu sagen, daß ich »hier als Frau unterdrückt« werde - da war's aus. Da war ich nicht mehr anerkannt, da war ich nur noch verschrien Da war ich dann auch ziemlich schnell nicht mehr die Klassensprecherin. Das ist schrecklich bei uns in der Schule. Viele in unserer Klasse wollen ja eine richtige Ehe. Außer uns beiden möchten alle heiraten, auch die Mädchen.[10]

Mädchen, die sich einmal ein solches Bewußtsein erarbeitet haben, werden nicht so leicht wieder in die alten Bahnen zurückgewiesen werden können. Sie wissen, was sie an gesellschaftlicher Absicherung aufgeben, und sie wissen gleichzeitig, was sie an persönlicher Freiheit und Integrität zu gewinnen haben.

Sexualität

»Die fünf- bis sechsjährigen Kinder streicheln und küssen sich gegenseitig, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit. Später wollen die Jungen nicht mehr mitmachen. Die Mädchen haben dann eigentlich untereinander bessere Kontakte als mit den Jungen, aber dann kommt der Bruch mit dem Schimpfwort (!): Du bist ja lesbisch.«
(Grundschullehrerin)
»Die Mädchen streicheln sich und kämmen sich gegenseitig die Haare. Aber wenn zwei Mädchen enger zusammen sind, kommt sofort von den Jungen der Satz: Ihr seid ja lesbisch. '(Zehnjährige) Schon in der ersten Klasse benutzen sie das, ohne es mit Inhalt zu füllen.«
(Grundschullehrerin)

Eine unbefangene sexuelle Entwicklung ist unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umständen nicht möglich. Auch die »sexuelle Revolution« mit ihrem Schwall von »progressiven« Büchern hat daran wenig ändern können. Für Mädchen hat diese Art von Progressivität wenig gebracht. Ihnen wird in besagten Büchern sowie von der Umwelt allgemein selten eine eigene Sexualität zugestanden.[11] Diese Tatsache führt zur Verleugnung der Formen von Sexualität, die trotz Tabuisierung in der vorpubertären Zeit unabhängig von Männern erlebt werden konnten, wie Selbstbefriedigung und Zärtlichkeit unter Mädchen:
Der Versuch, die sexuellen Befriedigungsmöglichkeiten, die sie in der Zeit vor der Pubertät wenn auch tabuisiert und schuldbesetzt - hatten, jetzt auch auszuleben, kollidiert mit der heterosexuellen Norm. Eine phantasierte heterosexuelle Beziehung wird jetzt zur Wunschvorstellung. Ihre aktuellen sexuellen Bedürfnisse müssen sie verdrängen. Es gibt für sie keine Kontinuität ihrer sexuellen Entwicklung.[12]

Zärtlichkeiten, die Mädchen miteinander ausgetauscht haben oder noch austauschen, stehen in krassem Gegensatz zu der Behandlung, die sie jetzt von Jungen erfahren: »In der 7. Klasse raufen sich die Mädchen und Jungen, dabei werden die Mädchen oft betatscht. Sie ziehen keine Röcke an, weil Jungen sie hochheben. Die Jungen fahren auf äußerliches ab und machen die Mädchen an.«
(Sonderschullehrerin)

Mädchen sind durch die widersprüchliche Sozialisation schon im vorschulischen Alter (siehe erstes Kapitel) und durch den plötzlichen Anspruch, einen Freund zu haben, meist nicht in der Lage, zum Verhalten der Jungen eindeutig Stellung zu beziehen:

»Situationen kommen vor, die an Vergewaltigung grenzen. Zum Beispiel, daß Mädchen im Keller der Pullover ausgezogen wird. Die Mädchen reagieren häufig zwiespältig auf die Übergriffe der Jungen. Zum Teil schreien sie und sagen »laß das«, zum Teil provozieren sie sie. Aber dieses Provozieren kommt daher, daß sie es vielleicht ganz schön finden, zum anderen, daß sie meinen, sie müssen das machen.«
(Hauptschullehrerin)

Sie müssen Anklang bei Jungen finden - damit steht und fällt ihr zukünftiges Leben. Also, was bleibt ihnen anderes übrig, als sich um die Gunst der Jungen zu bemühen und sich auf deren Verhalten einzustellen? Wollen sie sich wehren, fühlen sie sich häufig körperlich unterlegen, auch wenn sie es gar nicht sind, und/oder haben Schwierigkeiten, sich solidarisch zu verhalten.
Wenn die Mädchen dann eine Freundschaft mit einem Jungen anfangen, ist die Angst, ihn zu verlieren, oft die Motivation, mit ihm zu schlafen:

»Er war 14 und ich war 13. Er wollte. Ich hab ihn unheimlich gern gehabt. Ich wußte, daß er auch schon früher mit anderen Mädchen geschlafen hatte. Da hab' ich gedacht, na ja, machste mit. Ich hatte auch Angst, daß ich ihn sonst verlieren könnte. Jetzt weiß ich auch, daß das falsch gewesen ist. Da hätte ich ihn lieber verlieren sollen, aber das nicht machen Wir hatten das auch gar nicht richtig gemacht, weil es nicht ging. Ich war nicht richtig entwickelt gewesen. Er kam eben nicht rein. Er hat's dreimal versucht und noch ein viertes Mal, aber es ging nicht. Nach vier Monaten sagte er mir dann, wir sollten auseinandergehen. Er hat andere Gründe angegeben, aber ich wußte genau, daß das war, weil er nicht kriegte, was er wollte.«
(Hauptschülerin)

Die ständige Angst, schwanger zu werden, dominiert jetzt das Leben der Mädchen. Häufig beschaffen sie sich heimlich die Pille. Mädchen sowie ihre Eltern sind der von der Pharmaindustrie verbreiteten Illusion erlegen, daß die Pille ab 16 Jahren nicht schädlich ist. Mit Erlaubnis der Eltern verschreiben die meisten Ärzte die Pille jedoch schon vorher, obwohl sie in dieser Entwicklungsphase zusätzlich zu allen anderen Nebenwirkungen Wachstumsstörungen verursachen kann.
Wenn es zwischen Mädchen und Jungen zu Diskussionen über Sexualität kommt, so dreht es sich meist um die Einstellung der Eltern und um die verschiedenen Verhütungsmittel - Vor- und Nachteile, Preis, Zugänglichkeit. Die Art der Sexualität wird nicht in Frage gestellt. Problematisiert wird höchstens, daß es dem Mädchen beim erstenmal weh tun könnte. Untereinander sprechen Mädchen offener über ihre Schwierigkeiten, aber sie haben kaum Gelegenheit, Schlüsse daraus zu ziehen: Es ist nun einmal gesellschaftlich akzeptiert, daß Sexualität und Penetration zusammengehören.
Der folgende Spruch aus einer Mädchentoilette in einer Gesamtschule spiegelt die Einstellung der Mädchen zu der Sexualität, die sie erfahren, wider: »Rot ist die Liebe, schwarz ist das Loch, wenn es auch weh tut, rein muß er doch« Mädchen geben in einem Vertrauensgespräch schnell zu, daß sie Schwierigkeiten mit der von Jungen bestimmten Sexualitätsform haben.[14]
Ein Fragebogen, der von acht Schüler(inne)n einer Sonderschule (vier Mädchen und vier Jungen) im Alter von 15 bis 16 Jahren ausgefüllt wurde, ist ein (selbstverständlich unrepräsentatives) Beispiel für die unterschiedliche Einstellung von Mädchen und Jungen zur Sexualität. Hier die Ergebnisse:
Die Lehrerin fügte dem Fragebogen folgende Notiz bei:

»Nach dem Fragebogen wollte ich von den Mädchen wissen, warum sie glauben, daß Bumsen keinen Spaß macht. Erst als die Jungen die Klasse verlassen hatten, waren die Mädchen bereit, etwas zu sagen.

1. M.: Ich glaube, weil Jungs so grob sind, macht das Bumsen keinen Spaß.
2: M.: Mir macht das, glaube ich, einfach keinen Spaß. Jungs dagegen haben wahrscheinlich immer Spaß.
3. M.: Ich habe Angst, ein Kind zu kriegen.
4. M.: Wenn Jungs bumsen, reagieren sie sich ab.

Das folgende Protokoll eines Gesprächs über Sexualität in der Mädchengruppe eines Jugendfreizeitheims läßt ebenfalls wenig Zweifel daran, daß die Mädchen mit der Art der Jungen und mit dem von ihnen erwarteten Verhalten große Schwierigkeiten haben.

Ein Protokoll - Thema Sexualität
(aus der Mädchengruppe eines Jugendfreizeitheims, 1976)
Obwohl wir schon oft versucht haben, über Sexualität zu sprechen und auch anfingen, von uns zu sprechen, rückten die Mädchen nie mit ihren Erfahrungen raus und kamen ins Kichern oder Tratschen über Mädchen, die gerade nicht anwesend waren, oder sie zogen über Typen her, die besonders unangenehm sind ("Kack" oder »Showtypen«). Wir waren heute nur fünf, und die Mädchen sagten, heute hätten sie Vertrauen zu allen.
Die wichtigsten Vorbehalte gegen die Abwesenden, die sie diesen leider noch nicht offen sagen, kamen dabei raus. M. sei Quatschtante, Modepuppe, total auf Micha abgefahren (auf den alle abgefahren sind). M. meint immer, ihre Probleme seien die wichtigsten, weil sie die Schönste ist. Sie quatscht nur und tut nichts und meint, sie könnte alles besser. Ist nur mit M. zusammen, weil der Motorrad und Lederkluft hat.
E. hängt immer zu dicht mit ihrem Freund W. zusammen. Wir haben E.'s Beziehung sehr oft beredet und wollten ihr W. ausreden. (W. verprügelte E., schlug eine Tür zu dem Raum ein, in dem die Mädchen sich eingeschlossen hatten. E. fühlte sich unter Druck gesetzt, war wieder mit W. zusammen, W. verprügelte E. vor allen, wurde daraufhin von einem anderen Typ verprügelt, W. zerschlug Einrichtung des Freizeitheims, W. war der King, E. blieb eine Weile mit W. dem Jugendfreizeitheim fern.)
S. die mit ihrer Mutter und deren Freund lebt und sexuelle Beziehungen zu verschiedenen Typen hat, ist den anderen Mädchen zu unkonzentriert, erwartet immer, daß andere ihr helfen, nutzt andere aus, redet sie voll mit ihren Problemen (lebt zu Hause unter extrem schwierigen Bedingungen).
Also: Dominierende oder solche Mädchen, die ganz starke Probleme hatten, waren nicht da, keine der anwesenden hat eine »feste Beziehung«. Wir beschließen, reihum zu erzählen. Ich soll anfangen, weigere mich, weil ich nicht weiß, welche Erfahrungen sie haben, und will keine Geschichten erzählen. Sie schlagen vor, vom ersten Kuß zu erzählen (Alter 13 - 15). Sie erzählen lange Geschichten, wie das damals war, Erscheinungen und Daten, kaum von ihren Gefühlen. Dann erzählen sie von ihren Gefühlen, Unsicherheit, nicht wissen, wie man's macht und daß es als eklig empfunden wurde, fast vergewaltigend: Der Typ hatte eine zu rauhe Zunge, steckte sie zu weit rein, machte den Mund zu weit auf und so weiter. Alle haben den ersten Kuß sehr gut in Erinnerung (ich kann mich auch erinnern, wie wichtig das war). Es ist die erste sexuelle Erfahrung, ihre Beziehungen zu Typen haben die Kußebene (mit dem gehe ich, und wenn ich mit jemandem gehe, verstehe ich mich meist nicht mehr so gut mit ihm). Als Koitusersatz, fast gleichwertig, definieren die Typen das Küssen: Mädchen, die mit mehreren Typen knutschen, sind Huren.
Erfahrungen, die übers Küssen hinausgehen:

»Ich habe keine Angst vor den anderen Sachen, aber es stinkt mir, wenn die Typen immer wieder in die Bluse oder Hose wollen und mir dann alles weh tut, so daß ich ihm eine runterhauen will.«
Von einem Typen gehen Gerüchte um: »Wer mit dem knutscht, der kann zwei Tage nicht gehen.« - »Ich trau mich nicht zu sagen, was ich gut finde, auch nicht, was mir weh tut.«
Zur Zeit gehen im Jugendfreizeitheim Pornos um. Die Mädchen finden sie Scheiße. L.: »Geilt mich nicht auf, versteh' ich nicht. Wenn ich geil bin, dann auf Feten, wenn alle knutschen und ich nicht, und wenn ich dann mit Verschiedenen rumknutsche, heißt das, ich bin eine Hure aber Pornos lesen. Ich will nur machen, was ich will, durch das Gequatsche will keiner mehr mit mir gehen, ich habe selbst Krach mit S. (beste Freundin).«

Ein solches Gespräch sollte übrigens nur ein Ansatzpunkt bei der Auseinandersetzung mit Sexualität sein. Sonst besteht die Gefahr, daß der Erfahrungsaustausch nur auf Erlebnisse mit Jungen zentriert bleibt und die Mädchen ihre Beziehungen untereinander und Themen wie etwa Selbstbefriedigung als zweitrangig ansehen.
Nicht alle Mädchen haben so schlechte Erfahrungen: Es gibt natürlich auch Beziehungen unter Jugendlichen, die Zärtlichkeit, konstruktiven emotionalen Austausch und zumindest Versuche gegenseitigen Verständnisses haben., Im allgemeinen sind Beziehungen zwischen Mädchen und Jungen jedoch problematisch - kein Wunder bei dem, was ihnen von der Umwelt und den Medien vermittelt wird. Eines der schwerwiegendsten Probleme bleibt die unterschiedliche Gewichtung, die Mädchen bzw. Jungen einer Beziehung beimessen:

»Ich habe vier Schülerinnen, die alle nicht den Übergang in die Oberstufe schaffen werden. Der Grund: Sie haben Freundschaften mit Jungen, die ihnen so viel zu schaffen machen, daß sie schwänzen, Klausuren verpassen, ihre Arbeit nicht schaffen. Ich habe sie darauf angesprochen und sie gefragt, ob die Jungen sich auch so von Beziehungsproblemen vereinnahmen lassen, daß sie damit ihre Existenz aufs Spiel setzen. Sie schüttelten , den Kopf und guckten verlegen zur Seite.«
(Gymnasiallehrerin)

Es ist traurig zu hören, wie wenig positiv die sexuellen Erfahrungen von Mädchen sind. Um so wichtiger ist es, Mädchen Informationen über Sexualität und ihren Körper zu geben, die gewöhnlich nicht in »Aufklärungsbüchern" stehen. Auch heute noch wird in solchen Büchern oft nicht klar gemacht, daß die Klitoris das Organ ist, durch dessen Stimulierung bei der Frau ein Orgasmus ausgelöst wird. Wenn Mädchen das wissen, werden sie besser verstehen, warum Penetration für sie meist eine unbefriedigende Form der Sexualität ist. Sie können mögliche Minderwertigkeitsgefühle ablegen und vielleicht auch äffen männlichen Partnern ihre Bedürfnisse klar machen. Wir sollten Mädchen darin bestärken, Streicheln, Zärtlichkeit, Küssen schön zu finden, also Formen der Sexualität, die ihren Bedürfnissen oft mehr entsprechen und die nicht eine mögliche Schwangerschaft nach sich ziehen.
Mädchen brauchen auch Ermutigung, Selbstbefriedigung als eine Form der Sexualität anzusehen, die vollwertig ist. Viele Mädchen haben Schwierigkeiten mit Selbstbefriedigung, verbinden sie mit Schuldgefühlen oder meinen, daß sie nur ein Ersatz sei, wie auch dieser Bericht ausdrückt:

»Im Kindergarten begann für mich die Tabuisierung der Selbstbefriedigung. Ich hielt damals oft meine Hände beim Sitzen unter meine Oberschenkel. Das ist unanständig für ein Mädchen, war die Reglementierung der Kindergärtnerin. Meine Eltern gaben mir später sogenannte Aufklärungsbücher, die rigide Moralvorstellungen mit religiösem Charakter vertraten. So fand ich unter »Selbstbefriedigung« und deren Folgeerscheinungen alle möglichen abschreckenden Krankheiten wie Rückenmarksveränderungen, Geistesschwund, Verlust der Fruchtbarkeit aufgeführt. Ich war verwirrt. Einerseits hatte ich das Bedürfnis, mich sexuell zu berühren, andererseits hatte ich diese Palette von Krankheiten in meinem Kopf die mich in meinem Tun bremsten.
Doch mein Onaniebedürfnis war durch nichts zu verdrängen. Trotz all der Verunsicherungen wollte ich mir dieses Vergnügen nicht abgewöhnen. Ich nahm mir vor, mich auf mögliche beschriebene Veränderungen hin zu beobachten Ich war zunächst zurückhaltender und befangener in den Praktiken der Selbstbefriedigung und versuchte, meine Bedürfnisse mit sexuellen Skizzen und Tagebuchaufzeichnungen zu kompensieren
Mit 15 kam ich in ein Internat und teilte das Zimmer mit einem Mädchen. Nachts hörte ich sie öfter lauter und heftig atmen. Mit gespitzten Ohren und gemimten Schlaf hörte ich ihrer Selbstbefriedigung zu und war erleichtert, daß sie es auch tat. Wir sprachen nie miteinander darüber Es war ein Tabu Durch diese nächtlichen Beobachtungen wurde ich wieder und wieder in meinen Bedürfnissen bestätigt. Auch konnte ich keine abnormen Veränderungen an meiner Zimmerpartnerin feststellen Hin und wieder kamen mir jedoch die alten Skrupel
Später erzählte mir ein gleichaltriger Junge, daß er sich täglich befriedigte, ohne daß er bei sich krankhafte Veränderungen beobachtet hatte. Ich sagte niemandem et-was von meinem 'Geheimnis, doch holte ich mir, wo immer ich konnte, Informationen darüber.
Mit der Zeit wurde ich immer selbstsicherer in meinem Tun - zumal ich nach Monaten keine Rückgratsveränderungen, Gedächtnisschwäche etc. an mir feststellen konnte. Ich konnte sogar zu meiner Freundin darüber sprechen und erfuhr, daß sie ähnliche Bedürfnisse wie ich hatte, die sie auch mehr oder weniger schuldbeladen befried4?te. Wir bestätigten uns gegenseitig und tauschten unsere Erfahrungen aus. Der Bann war endlich gebrochen.«

Eine positive Einstellung zu Selbstbefriedigung heißt, sich selbst mehr mögen. Je mehr Mädchen mit diesem Selbstbewußtsein sexuelle Beziehungen, die ihre Bedürfnisse nicht erfüllen, ablehnen, desto mehr Jungen müssen sich mit diesen Ansprüchen auseinandersetzen und ihre eigenen verändern. Dies kann für Jungen eine positive Entwicklung bedeuten, denn sie unterliegen auch vielen Zwängen und einem sexuellen Leistungsdruck, der mit Penetration verbunden ist.
Die Frauenbewegung hat einen wichtigen Stellenwert in der Vermittlung positiver Einstellungen zur weiblichen Sexualität. Der Aufsatz von Anne Koedt »Der Mythos vom vaginalen Orgasmus" 15 brachte in den USA die Diskussion in Gang. Tausende von Frauen aller Altersstufen sprachen in Selbsterfahrungsgruppen zum erstenmal offen über ihre sexuellen Erfahrungen und Bedürfnisse und stellten mit Erleichter-ung fest, daß sie ein Recht auf ihre Unzufriedenheit hatten. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigten die These von Koedt. 16 Das Buch HexengefNster.- Frauen greifen zur Selbsthilfe hat im deutschsprachigen Bereich vielen Frauen geholfen, ein besseres Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität zu entwickeln, wie die Reaktionen auch von sehr jungen Frauen zeigen.[17]
Darüber hinaus gilt es, die Einstellung zur Homosexualitdt zu verändern: Mädchen dürfen bis zur Pubertät enge emotionale und vielleicht auch körperliche Beziehungen untereinander haben - das wird als eine »Phase" abgetan. Von der Pubertät an sind solche Beziehungen dann verpönt. Mädchen, die eine lesbische Beziehung haben, müssen sich total als Außenseiterinnen empfinden: Von Erwachsenen werden sie abgelehnt, aus dem Verband Gleichaltriger als »pervers" ausgeschlossen, bis sie schließlich dem Zwang zur Heterosexualität erliegen.

»Es gibt etwas, das mich sehr beunruhigt: Nämlich die Tatsache, daß ich mich stärker zu Frauen als zu Männern (bzw. Jungen) hingezogen fühle. Zwar verstehe ich mich mit Jungen recht gut, aber ich kann eben nichts für sie empfinden Es ist auch sehr schlimm für mich, daß ich nicht zu meinen Gefühlen stehen darf, sondern den anderen immer wieder recht geben muß, die meinen, daß ich mich bei meiner Schwärmerei eben doch nur in etwas hineinsteigere, was in Wirklichkeit gar nicht da ist. (Es kann ja auch gar nicht sein, daß ein anständiges Mädchen wie ich so eine ist...) Es ist einfach grausam für mich, daß ich mit niemandem über das sprechen kann, was mich bewegt Andere Mädchen dagegen können in aller Öffentlichkeit von ihrem Lieblingsstar oder Freund schwärmen, ohne daß sie von irgend jemandem schief angesehen werden. Natürlich gibt es noch eine Menge von Ungerechtigkeiten, aber was ich sagen will, ist, daß wir Menschen endlich damit aufhören sollten, uns gegenseitig starre Normen zu setzen und uns dermaßen einzuschränken, daß einige von uns daran kaputtgehen. Vielleicht könnte ich dann eines Tages genauso zu meinen Gefühlen stehen, wie andere Mädchen es tun, die sich unsterblich in irgendeinen Superstar verliebt haben, und brauche mich nicht hinter einer Mauer von Lügen und Ausreden zu verstecken.«
(Gymnasialschülerin, 14)

Die, die sich nicht den Moralvorstellungen beugen, sind meist gezwungen, Beziehungen heimlich auszuleben. Was dies bedeutet, können nur Frauen verstehen, die in einer vergleichbaren Situation waren. Auch eine heimliche Liebschaft mit einem Mann bleibt etwas völlig anderes als eine heimliche Beziehung zu einer Frau: Es gibt keinen öffentlichen Ort, wo Mädchen sich unbefangen umarmen, küssen oder auch nur die Hände halten können. Und selten haben sie Freundinnen oder Freunde, die sie einweihen können.
Durch die Frauenbewegung und die Aktivitäten lesbischer Frauen hat sich die Situation zumindest in den Großstädten etwas verändert: Veröffentlichungen über lesbische Liebe tragen zu größerem Verständnis bei und geben Mädchen Gelegenheit zu sehen, daß sie nicht allein sind mit ihren Gefühlen. Wie groß das Bedürfnis unter Schülerinnen ist, zeigt sich bei den jährlichen Pfingsttreffen des lesbischen Aktionszentrums in Berlin. Hier kommen viele Schülerinnen aus verschiedenen Gegenden der BRD, um sich austauschen zu können, sich als Teil einer Gruppe, einer Bewegung zu fühlen.
Während einerseits die Darstellungen von lesbischen Frauen in der Männerpresse in sensationsgeladene Hetzkampagnen ausarten,[18] bietet die Frauenpresse [19] Mädchen die Möglichkeit, eine positive Einstellung zu Frauenbeziehungen zu bekommen. Ausschließliche Heterosexualität wird hier als ein Mittel, Frauen in einer männerbeherrschten Gesellschaft zu unterdrücken, dargestellt, Liebesbeziehungen unter Frauen werden als etwas Natürliches angesehen.
Lesbische Frauen bedeuten eine große Bedrohung, denn sie verweigern zumindest eine Forderung der Gesellschaft an Frauen: häusliche Dienstleistungen für Männer zu erbringen und für sie sexuell verfügbar zu sein. Daher sind wir noch weit von einer positiven Einstellung der Öffentlichkeit entfernt. Aber lesbische Mädchen leben nicht mehr in der totalen Isolation, in der lesbische Frauen sich vor zehn Jahren befanden. Sie können auf eine wachsende Öffentlichkeit von Frauenbeziehungen zurückgreifen, und sie finden Personen, denen sie sich mitteilen können.

»Meine Freundin weiß Bescheid und akzeptiert es mittlerweile auch. Vorher konnte sie mich nie verstehen und wollte mich entwöhnen. Für sie war es unvorstellbar, daß man als Mädchen auch für eine Frau empfinden kann. Ihr großer Schwarm ist der Sänger Bernhard Brink. Ich habe ihr erzählt, daß es bei mir fast genauso wäre wie bei ihr mit Bernhard nur eben umgekehrt. Inzwischen sagt sie nichts Spöttisches mehr.«[20]
(Gymnasialschülerin, 14)

Der folgende Bericht einer Schülerin aus den USA zeigt, wie sie Wege gefunden hat, ihre Gefühle für Frauen positiv zu verarbeiten. Selbsterfahrungs- und Selbsthilfegruppen sind auch hier für Mädchen und Frauen ein wichtiger Ansatzpunkt.

Lesbisch aufwachsen

Ich war elf Jahre alt und ging in die siebte Klasse, als ich mir meiner Homosexualität zum erstenmal bewußt wurde, und zwar auf ziemlich rohe Art. Irgendein Verkleidungsspiel, das ich auf einem Schulausflug mit zwei anderen Mädchen in unserem Hotelzimmer spielte, erregte die Aufmerksamkeit der Klasse. Man tuschelte und lachte über uns, was wir zunächst überhaupt nicht verstanden. Bald dämmerte uns aber, wovon  unsere Freunde redeten, und wir verhielten uns für den Rest des Jahres abwehrend.
Das Erlebnis verfolgte mich in die achte und neunte Klasse. Man behandelte mich oft als Außenseiterin. In »Junior High« hielt man sich strikt an die festgelegten Geschlechterrollen. Kinder gleichen Geschlechts berührten sich einfach nicht gegenseitig; sie sahen sich nicht einmal richtig an. Inder achten Klasse bemerkte einmal eine Freundin, daß ich ihren Körper betrachtete, und sie machte eine Szene deswegen. Nach diesem zweiten Erlebnis fühlte ich mich sehr verzweifelt und alleine. Ich hörte langsam auf, Frauen überhaupt noch anzusehen, denn offensichtlich war damit etwas Beschämendes verbunden. Und natürlich hatte ich Recht mit meinem defensiven Verhalten, denn ich konnte unmöglich zu diesen seltsamen Leuten gehören, über die »man" sprach, oder?
Ich hatte solche Angst. Angst, daß ihr Gerede mich durch die ganze »High School« verfolgen würde. Ich hatte auch Angst, weil mir bewußt war, daß mich Frauen physisch ebenso anzogen wie Männer. Dagegen kämpfte ich an, sooft es auftauchte. Jedesmal wenn ich mich dabei ertappte, über eine Frau zu phantasieren, machte ich tatsächlich ganz schnell eine Phantasie über einen Mann daraus. Aber je öfter ich mich dagegen wehrte, desto hartnäckiger setzte es sich in mir fest, und ich war voller Selbsthaß, sooft es passierte. Ich erinnere mich ganz deutlich an folgende Szene: Ich war etwa 14. Eines Abends, als ich unter der Dusche stand, sah ich plötzlich das Bild einer Frau vor mir, und Verzweiflung überkam mich. Tränen liefen mir übers Gesicht, und ich lehnte mich gegen die Wand, wobei es in mir wiederholte: »Nein, nein, nein Ich befahl mir wie immer, nicht mehr daran zu denken. Aber diesmal wurde ich es nicht los. Ich faßte mich erst wieder, indem ich mir versprach, einmal zum Psychiater zu gehen und mir von ihm helfen zu lassen, wenn »es" nicht verschwinden würde. (Natürlich nahm ich an, daß der Psychiater ein Mann sein würde.) Als ich aus der Dusche stieg, fühlte ich mich innerlich dumpf und leer.
In der Oberstufe stellte mich ein Freund wegen meiner Ablehnung von Homosexualität zur Rede, die ich in Gesprächen als Abwehr an den Tag legte. Von da an fing ich an, mich mit Homosexualität rational auseinanderzusetzen, und kam schließlich zu der Ansicht, daß Menschen mit der Anlage zur Bisexualität geboren werden, die Gesellschaft sie aber heterosexuell prägt. Auf diese Weise legte ich mir zurecht, daß meine sexuellen Gefühle für Frauen ganz natürlich waren. So konnte ich Beziehungen zu Männern haben und mich gleichzeitig ohne allzu schlechtes Gewissen von Frauen angezogen fühlen.
Aber noch immer konnte ich meine Gefühle mit keinem Menschen besprechen. Ich hatte den Eindruck, daß meine Freundinnen den Gedanken, ich könnte mich zu ihnen hingezogen fühlen, als unheimliche Bedrohung empfinden würden - so, als ob ich sie verführen könnte oder so.
Erst die Erkenntnis, daß ich überhaupt nicht allein war mit meinen Gefühlen, half mir, damit gefühlsmäßig und nicht nur intellektuell fertigzuwerden. In einer Frauen-Selbsthilfegruppe über Sexualität sprach ich ganz vorsichtig zum erstenmal mit anderen Frauen darüber und freute mich riesig, erlebte eine riesige Bestätigung, als viele mir versicherten, daß es ihnen genauso ging.
Jetzt merke ich, wie gut es tut, Körper und Geist nicht voneinander zu trennen, wenn ich Frauen liebe. Ich fühle mich nicht nur persönlich wohl dabei, lesbisch zu sein; ich halte Homosexualität auch für eine wichtige Sache in unserer Gesellschaft, wenn ich bedenke, daß das Rollenverhalten, das ich in »Junior High« erlebte - Frauen berühren nur Männer und umgekehrt - immer noch existiert. (Ich spreche von zärtlichen, liebevollen Berührungen - nicht Händeschütteln und konventionelle Begrüßungsumarmungen.) In der »High School" gibt es schon viele Frauen, die sich gegenseitig berühren, aber da sind immer noch diese Leute, die »lezzie, lezzie« hinter ihnen herrufen, wahrscheinlich aus Unsicherheit über ihre eigene Sexualität und weil sie ihre eigenen homosexuellen Gefühle bekämpfen.
Daß ich lerne, aktiv auf andere Frauen zuzugehen, meine Liebe zu ihnen, mit denen ich auf gleicher Stufe stehe, auch physisch auszudrücken, hilft mir auch, von der Rolle wegzukommen, die ich Männern gegenüber gespielt habe. Jetzt, wo ich meine Stärke und mein Selbstbewußtsein aus mir selbst schöpfe, habe ich ein viel gesünderes Verhältnis zu ihnen. Ich bin immer weniger in der Lage, das beschissene Verhalten jener hinzunehmen, die mich unbedingt als passives Weibchen behandeln wollen, und ich verlerne, die staunend lauschende, nie sprechende Kind-Frau zu sein, die ich Männern gegenüber gewöhnlich war.
Warum sage ich »ich bin lesbisch« und nicht »ich bin bisexuell«? Weil es meine Homosexualität ist, die in dieser Gesellschaft unterdrückt wird. Wenn ich mich als bisexuell bezeichnen mrürde, könnten die Leute sagen: »Nun, sie mag ja Frauen lieben, aber so lange sie's noch mit Männern treibt, ist es nicht so schlimm." Ich werde keine Ausreden dafür erfinden, daß ich Frauen liebe - es ist lebenswichtig für mich.
Ich finde es jetzt wichtig, meine Gefühle offen auszusprechen und zu zeigen, besonders wegen der Leute in »Junior High" und der »High School", die sich ihrer Homosexualität bewußt sind und glauben, ganz alleine damit zu sein. Homosexualität gibt es überall, weil es ganz natürlich ist, daß sich Menschen mögen, und es gibt keinerlei Gründe dafür warum ein Teil unserer Gefühle erstickt, der andere dagegen romantisch verklärt werden soll. Homosexualität ist gut, und je eher wir unsere Empfindungen offen ausdrücken, um so eher werden gesündere Beziehungen entstehen, die nicht mehr das kaputte Rollenverhalten zur Grundlage haben.
Mary Arm Deutschmann
Aus: Ann Arbor Youth Liberation, HIGH SCHOOL WOMENS LIBERATION, Ann Arbor, Mich., Youth Liberation Press, 1976. Übersetzt von Yvonne Loritz.

Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?

Grundlegend ist, daß Mädchen eine positive Beziehung zu sich selbst entwickeln. Lehrer(innen) sollten Schülerinnen also so viel und so oft wie möglich darin bestärken, Freude an sich und ihren Aktivitäten zu haben. Sie sollten versuchen, Mädchen klar zu machen, daß sie nicht ihre Zukunft für die Beziehung mit einem Jungen, der umgekehrt selten Schulerfolg, Freunde und Freizeitaktivitäten aufgeben wird, aufs Spiel setzen sollen. Es gilt, ihr Selbstbewußtsein zu stärken und ihnen zu zeigen, daß Selbständigkeit lebensnotwendig für sie ist. Im Hinblick darauf sollten wir Mädchen helfen, Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, die ihnen ein Eigenleben attraktiver machen.
Männliche Lehrer sollten sich insbesondere mit den Einstellungen von Jungen zu Mädchen auseinandersetzen; dazu kann es nützlich sein, Jungengruppen zu bilden, die Gespräche über Sexualität, Rollenverhalten und Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen führen. Ebenso sollten Lehrer(innen) mit Jungen über ihre Beziehungen untereinander sprechen, was dazu führen kann, daß Jungen ihre eigene Sozialisation und die Zwänge, denen sie unterliegen, in Frage stellen. Der Aufsatz eines Jugendlichen in den USA, der in Band 11 dieses Buches abgedruckt ist ("Sexistisch aufwachsen" von Keith Hefner), zeigt, zu welchen Bewußtseinsprozessen dies führen kann.
Mädchenfreundschaften müssen von Lehrer(inne)n und Eltern wichtig genommen werden, auch um Mädchen darin zu unterstützen, ein Konkurrenzverhalten untereinander zu vermeiden und sich selbst und ihre Freundinnen zu respektieren und ernst zu nehmen. Lehrerinnen sollten sich mit ihrer eigenen Einstellung zu Liebesbeziehungen zwischen Frauen auseinandersetzen, denn erst dann können sie Mädchen, die solche Beziehungen haben, ermöglichen, sich mitzuteilen und nicht in Isolation zu leiden.

Mädchengruppen und Mädchenfreundschaften

Fast alle Mädchen haben irgendwann eine Freundin, die sie ihre »beste Freundin« nennen. Diese Freundschaften zeichnen sich durch ein besonders intensives Vertrauen aus: Der besten Freundin kannst du alles erzählen, sie steht auf deiner Seite, du machst fast alles mit ihr zusammen, du würdest nichts auf diese Freundschaft kommen lassen; mit der besten Freundin machst du dich über Jungen lustig, mit ihr kannst du albern oder auch ernsthaft sein, sie akzeptiert dich so wie du bist. Mädchen, die eine solche Freundin nicht haben oder hatten, wissen, was sie vermissen (siehe die »Berichte von Schülerinnen«). Was kann eine solche Freundschaft stören? Entweder, daß eines der Mädchen sich einem dritten Mädchen zuwendet, oder Beziehungen zu Jungen. Das erste tiefe Eifersuchtserlebnis haben Mädchen häufig, wenn sie ihre beste Freundin verlieren.
In dem folgenden Gespräch zwischen Alice Schwarzer und zwei Schülerinnen beschreiben Ela und Ina, was ihnen ihre Freundschaft bedeutet und wieso andere Mädchenfreundschaften auseinandergingen.[21]

Alice: Wie ist eigentlich der Kontakt der Mädchen untereinander in der Klasse?
Ela: Normalerweise ist es so, daß, wenn die Mädchen einen Freund bekamen, die Beziehungen zwischen den Mädchen auseinandergingen. Jetzt haben die meisten 'nen Freund und sind auch wirklich hauptsächlich nur noch auf den Freund konzentriert.
Alice: Also ihre Freundinnen haben sie nicht mehr?
Ina: Wir sind die einzigen, die überstanden haben. Da waren so 15 Mädchen in unserer Klasse, und da gab's immer zwei Frauen, die eine Beziehung hatten. Und die sind alle auseinandergegangen, außer unserer Beziehung. Und nachdem die ersten auseinandergegangen sind, waren einige Frauen eifersüchtig auf uns und haben gesagt.- Na ja, das halt auch nicht mehr lange..
Alice: Warum sind die anderen auseinandergegangen?
Ela: Weil die Freundin einen Freund hatte. Und sowie eine Freundin einen Freund hatte, war der Freund wichtiger als die Freundin Die Tatsache, daß man mit der Freundin schon zwei Jahre zusammen war und mit dem Freund erst seit einer Woche, die spielte überhaupt keine Rolle. Einen Freund braucht man ja zum Vorzeigen. Und wenn die Beziehung zu dem Freund auseinandergegangen ist, ja dann war die Freundin wieder da. (...)
Alice: Und was findet ihr an eurer Freundschaft positiv?
Ina: Also toll finde ich, daß wir voneinander wissen, was wir für Probleme haben und daß wir über alles reden können. Ich finde es auch gut so, daß wir uns so früh kennengelernt haben und daß wir unsere ganze Entwicklung gegenseitig miterlebt haben. Daß ich meist schon im voraus weiß, was Ela sagt, wenn sie nur mal ein Wort andeutet. Umgekehrt ist das genauso. Wir haben die gleichen Erfahrungen gemacht, wir haben die gleichen Erlebnisse.
Ela: Wichtig ist für mich auch, daß Ina eine Frau ist. Daß sie wie ich empfindet und dasselbe erlebt. Meinetwegen, wenn sie angepöbelt oder angerempelt wird. Das motiviert mich viel stärker zum Widerstand, als wenn mir selber was passieren würde. Da ist man ja doch viel eher passiv.

Eine Freundin ist oft der einzige Mensch, mit dem ein Mädchen sich über Sexualität austauschen kann:

Ela: Oder auch, daß man erfährt, wie eine andere Frau Sexualität empfindet. Oder wenn sie erzählt, daß sie genauso Menstruationsschmerzen hat. Oder wenn sie mit einem Jungen schläft, daß ihr das auch weh tut. Ich merke, ich steh' nicht alleine. Gerade in der Sexualität war das doch sehr wichtig, daß die Ina dieselben Empfindungen hat. Das war unheimlich wichtig für mich. Oder meinetwegen, daß sie auch Ausfluß hat. Also ich hatte immer gedacht, das kann doch nicht normal sein. Ich hatte doch von einer Ärztin schon mal was verschrieben bekommen, damit ich nicht mehr soviel Ausfluß hatte. ... Ja, und als Ina mir erzählt hat, daß sie auch Ausfluß hat, da war ich ganz erleichtert. Auch über Selbstbefriedigung haben wir geredet. Ich wußte nicht, daß das, was ich fühlte, ein Orgasmus ist und daß der so ausgelöst wird oder daß sich da und da meine Klitoris befindet. Ich wußte nur, wenn ich mich da irgendwie anfasse, dann ist das schön. Ina und ich, wir haben darüber geredet, daß sie sich auch selbst befriedigt, daß das nicht anormal ist und daß man da nicht allein damit steht. Also früher, ich wäre ja in den Erdboden versunken, wenn mich jemand angesprochen hätte: »Hör mal, befriedigst du dich selbst?" Ich hätte gesagt: »Nein.«

Leider sind solche Freundschaften von einem bestimmten Alter an auch für Erwachsene oft nicht akzeptabel. Der Vater macht plötzlich Anspielungen, daß die Freundin ja wohl lesbisch sei, Lehrer sagen, daß die Mädchen sich doch nicht so kindlich verhalten und nicht immer »zusammenglucken« sollen. Auch die Mütter sind nicht immer einverstanden:

Ina: Unsere Mütter gehen davon aus, daß das überhaupt nicht normal ist, in unserem Alter so eine feste Beziehung zu einer Freundin zu haben. Eher daß man so eine Beziehung hat zu einer Freundin, die so oberflächlich ist. Eine, mit der man alles bequatschen kann, weil sie auch der Meinung ist, daß man mit 'nem Mann nicht alles bereden kann und daß man da seine Geheimnisse haben sollte. Aber daß man eben doch die Freundin nur so nebenbei haben sollte und hauptsächlich einen Freund, den man später heiratet. Und da ich ja ein, zwei Jahre mit einem Jungen zusammen war, der sich sehr gut mit meiner Mutter verstanden hat, war meine Mutter nun sehr, sehr dagegen, daß sich langsam so eine feste Beziehung zur Ela aufgebaut hat und der Junge zurückstehen mußte.
Alice: Und deine Mutter, Ela?
Ela: Na ja, das Übliche. Sie hat es mir aber nicht verboten, weil sie fand, daß ich keine Beziehung zu Mädchen haben sollte, sondern weil sie eifersüchtig war, schwer eifersüchtig.
Ina: Ja, das war meine Mutter, glaub 'ich, auch Alice: Und auf einen Jungen sind sie nicht eifersüchtig?
Ela: Nee, das ist doch normal Da kann man nichts machen als Mutter. Aber 'ne Mutter denkt eben, daß die Tochter die Freundin ist, und wenn die Tochter dann eine andere Freundin hat, dann muß die Mutter natürlich in den Hintergrund treten und das erst mal verkraften...

Trotz dieser Einflüsse von außen und trotz der Konkurrenz, die Beziehungen mit Jungen bringen, erhalten sich doch viele Mädchenfreundschaften, oft sogar bis ins hohe Alter. Mädchen sind sich mehr oder weniger dessen bewußt, daß ihre Freundschaften untereinander auch lebensnotwendig sind. Dieses Bewußtsein beruht auf eigenen Erfahrungen oder auch auf Mitteilungen: die Mutter, die oft sagt: »Männer sind von einem anderen Stern«, Frauen in der Familie, denen in Notsituationen ihre Freundinnen zur Seite stehen, Geschichten über den Zusammenhalt von Frauen in der Verwandtschaft während des Kriegs etc.[22]
Ina und Ela sind Beispiele für eine wachsende Anzahl von jungen Frauen, die sich ein neues Selbstbewußtsein erkämpft haben. Für diese Mädchen ist das mittelbare oder unmittelbare Erleben der Frauenbewegung von großer Bedeutung, durch die Frauenfreundschaften aufgewertet wurden. Ziel ist, sagen zu können: Eine Freundin ist mir ebensoviel oder mehr wert als ein Freund, und zu den emotional-erotischen Seiten der Freundschaft zu stehen, ohne sich selbst »anormal« oder »pervers« vorzukommen.
Die Ansichten von Mädchen über die Frauenbewegung sind dennoch häufig ablehnend oder negativ:

»Meine Freundin und ich sind die einzigen, die immer wieder etwas zum Thema Frauen sagen. Wir werden deshalb schon als Außenseiterinnen behandelt. Die Schüler und Schülerinnen werden immer konservativer. Sie wollen sich mit nichts mehr auseinandersetzen.«
(Gymnasialschülerin)

Aber obwohl dieser Trend zum Konservativen stark ist, sind Schülerinnen wie die hier zitierten und Mädchengruppen, die sich in Jugendfreizeitheimen gebildet haben, Beweise dafür, daß die Frauenbewegung breitere Kreise gezogen hat. Es bilden sich immer mehr Schülerinnengruppen, immer mehr Frauen unter 18 kommen in die Frauenzentren. Dies ist eine Gegenbewegung zu dem von der Arbeitsmarktsituation verursachten und von den Medien geförderten Trend von Mädchen, heiraten zu wollen und dem Gedanken an ökonomische und persönliche Selbständigkeit abzusagen.