Interaktion zwischen Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n

»Von gleicher Behandlung kann keine Rede sein;
Mädchen werden von Anfang an anders als Jungen behandelt.«
(Gymnasiallehrerin)

»Es stimmt, daß man Jungen und Mädchen verschiedene
Sachen machen läßt. Die Jungen drängeln sich vor,
und man muß dauernd höllisch aufpassen,
daß man sie nicht vorzieht.«
(Grundschullehrerin)

Der Einfluß von Lehrererwartungen auf das eigene Verhalten und das der Schüler(innen) ist im Falle von Schüler(inne)n der Unterschicht und von Minoritäten in den USA mehrfach nachgewiesen worden. Rosenthal und Jacobson [1] waren die ersten, die zu dem Thema arbeiteten. Sie stellten die Hypothese auf, daß es im Klassenzimmer in der Beziehung zwischen Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n sogenannte »self-fulfilling prophecies« gibt, d.h. »sich selbst erfüllende Voraussagungen«,  die die Leistungen von Schüler(inne)n beeinflussen: Wenn ein Lehrer wenig von einem Schüler erwartet, wird der Schüler auch geringe Leistungen erbringen. Dies bestätigte sich in ihrer Untersuchung: Den Lehrer(inne)n wurde am Anfang des Schuljahres gesagt, daß bestimmte Schüler(innen) eindeutige intellektuelle Fortschritte machen würden. Die Lehrer(innen) wußten nicht, daß diese Schüler(innen) willkürlich und nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten ausgesucht worden waren. Die Schüler(innen) verbesserten ihre Leistungen auf unerwartete Weise, offensichtlich als Resultat der unterschiedlichen Erwartungen, die die Lehrer(innen) jetzt an sie stellten.
Schüler(innen) versuchen, die Zustimmung von Lehrer(innen) zu erhalten, indem sie ihren Erwartungen genügen - auch wenn diese niedrig sind und nicht ihrem Leistungspotential entsprechen. Ein folgenreiches Ergebnis der Erziehung zur Anpassung!
Rosenthal und Jacobson wie auch Kollegen, die diese Resultate mit weiteren Untersuchungen untermauerten,[2] unterschieden nicht nach Geschlecht. Da Mädchen jedoch stärker auf Abhängigkeit von personengebundener Bestätigung hin erzogen werden, können wir annehmen, daß sie mehr als Jungen Opfer dieser »self-fulfilling prophecies« werden.

Verschiedene Formen geschlechtsspezifischen Lehrerverhaltens

Es ist anzunehmen, daß die geschlechtsspezifischen Einstellungen von Lehrer(inne)n bestimmte Verhaltensweisen fördern. Diese Verhaltensweisen finden dann wiederum im Verhalten der Schüler(innen) ihre Bestätigung. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß Lehrer(innen) es häufig vorziehen, mit Jungen zu arbeiten. In diesem Kapitel will ich aufzeigen, auf welch vielfältige Weise Mädchen von Lehrer(inne)n benachteiligt werden. Wichtig ist hierbei, zu durchschauen, daß auch ein strafendes Verhalten, das zunächst nicht als Bevorzugung interpretiert wird, sich für Jungen als solche auswirkt.
Die Einstellungen einer Person stehen häufig im Zusammenhang mit ihrem Verhalten. Aber es gibt bisher kaum Untersuchungen, die auf den möglichen Korrelationsgrad in geschlechtsspezifischer Hinsicht eingehen. Felsenthal versuchte, mittels einer Einstellungsskala die Wahrnehmung von Geschlechtsunterschieden bei Lehrer(inne)n zu messen und sie mit dem Unterrichtsgeschehen und den Leseleistungen von Schüler(inne)n in Verbindung zu setzen.[3] Sie fand einige signifikante Geschlechtsunterschiede im Lehrerverhalten: Jungen wurden mehr befragt, mehr kritisiert und ihre Äußerungen öfter akzeptiert oder zurückgewiesen. Mädchen meldeten sich häufiger zu freiwilliger Arbeit, wurden aber weniger aufgerufen; ihre Leseleistungen waren besser.
Es gibt eine Reihe von Ergebnissen, die das unterschiedliche Verhalten von Lehrer(inne)n gegenüber Schüler(inne)n beschreiben. Einige legen dabei den Schülerpunkt auf die Diskriminierung weiblicher Lehrer gegen männliche Schüler. Eine der frühesten und viel zitierten Studien war die von Meyer und Thompson.[4] Ihre Hypothese, daß Lehrerinnen Jungen mehr tadeln als Mädchen, bestätigte sich bei 30-Stunden-Beobachtungen in drei Klassen. Jungen erhielten jedoch gleichzeitig mehr Lob und Zustimmung als Mädchen.
Spaulding [5] stellte einen höheren Interaktionsgrad zwischen Lehrern (13), Lehrerinnen (8) und Jungen fest, und zwar in vier verschiedenen Interaktionsformen: Mißbilligung, Zustimmung, Unterrichten und Zuhören. Cherry [6] zeigte, daß Lehrerinnen mit Jungen (in der Vorschule) mehr reden als mit Mädchen und mit ihnen eher Gespräche einleiten. Eine weitere Untersuchung von Lippitt und Gold ergab, daß Lehrer(innen) gegenüber Mädchen mehr unterstützende Kommentare machten, während Jungen eher kritische Kommentare erhielten.[7] Als die Kinder jedoch nach ihrem Status in der peer Gruppe aufgeteilt wurden, d.h. nach höherem oder niedrigerem sozialen Machtstatus (die Fähigkeit, von anderen Kindern als Führer anerkannt zu werden), zeigte sich, daß Lehrer Mädchen mit niedrigem Status mehr unterstützten und weniger kritisierten als Jungen mit niedrigem Status. Dies bestätigt eine roffenspezifische Einstellung: Ein niedriger Machtstatus wird bei Mädchen erwartet und ruft Bestätigung hervor. Bei Jungen verstößt er gegen Erwartungen von Dominanz und Durchsetzungsvermögen.
Good, Sikes und Brophy unternahmen eine Untersuchung in sechzehn Klassen des 7. und 8. Schuljahres mit je vier weiblichen und männlichen Mathematiklehrern und je vier weiblichen und männlichen Sozialkundelehrern.[8] Sie entdeckten, daß nur mit einer Ausnahme Lehrer(innen) sich in allen Arten von Interaktionen mehr mit Jungen als mit Mädchen beschäftigten. Die Jungen beteiligten sich mehr am Unterricht, und die Lehrer(innen) gaben ihnen mehr Möglichkeiten, sich durch Fragen und Beiträge zu beteiligen. Hier wurde bestätigt, daß die Jungen sowohl mehr positive als auch mehr negative Reaktionen von Lehrer(inne)n erhalten. Unterschiede ergaben sich in der Interaktion von Lehrer(inne)n mit guten und schlechten Schüler(inne)n. Gute Schüler(innen) hatten sehr viel mehr Kontakte mit Lehrer(inne)n. Die Differenz zwischen der Behandlung guter und schlechter Schüler(innen) war jedoch bei Jungen sehr viel größer als bei Mädchen. Schlechte Schüler wurden von weiblichen und männlichen Lehrern viel mehr kritisiert als schlechte Schülerinnen. Die Autoren schreiben:

  • Es ist interessant festzustellen, daß schlechte Schülerinnen jedoch viel Kritik in Bezug auf intellektuelle Fähigkeiten erhalten und daß dieselben Mädchen auffallend wenig Kontakt mit Lehrern initiieren. Vielleicht hat die Kritik der Lehrer diese Mädchen entmutigt, die Lehrer um Hilfe zu bitten.[9]

Good und Brophy [10] fanden heraus, daß leistungsstarke Jungen mehr Lob und Unterstützung als durchschnittliche Schüler erhalten, während leistungsschwache Schüler sehr viel mehr bestraft werden. Leistungsschwache Mädchen werden ignoriert, während Jungen ständig auf Leistungsmöglichkeiten hinerzogen werden. Dies mag mit dem angepaßteren, passiveren Verhalten von Mädchen zusammenhängen.
Diese Ergebnisse wiederholen sich im Hinblick auf positive Kritik und Lob. Torrance [11] bat eine große Anzahl von Lehrer(inne)n, Situationen zu beschreiben, in denen sie Schüler(innen) belohnten (Belohnung bedeutete hier, daß Lehrer(innen) ungewöhnliche Fragen und Ideen der Kinder respektierten und den Kindern halfen, die Konsequenzen ihrer Ideen zu sehen). In 172 von 224 Fällen erwähnten die Lehrer(innen) das Geschlecht der Kinder, 74% davon Jungen und nur 26% Mädchen. Torrances Schlußfolgerung war, daß dies gerechtfertigt sei, da Mädchen ja mehr Bestätigung als Jungen für schulkonformes Verhalten bekämen! Mädchen wird also vermittelt, daß Ruhig- und Bravsein Erwartungen an sie sind und Lob bringen, während kreatives Denken, Originalität und Durchsetzungsvermögen den Jungen vorbehalten bleiben.
In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Aspekt der Schulausbildung infragezustellen. Der Prozentsatz von Jungen in Sonderschulen etc. ist sehr viel höher als der von Mädchen:

  • Männliche Schüler stehen auch den Löwenanteil der Heranwachsenden, deren Verhalten von den Schulautoritäten als unvereinbar mit dem normalen Unterrichtsbetrieb beurteilt wird und die man deshalb einer schulexternen Sonderbehandlung in Erziehungsberatungsstellen, Sonderschulen, Sonderklassen und in Heimen zuzuführen pflegt.[12]

Im allgemeinen wird angenommen, daß Mädchen bessere Möglichkeiten haben, weil sie nicht eine solche Sonderbehandlung erhalten. Häufig ist es jedoch so, daß bei Mädchen aufgrund ihres introvertierten Verhaltens emotionale und soziale Störungen nicht als solche erkannt werden. Sicherlich steht hinter der größeren Aufmerksamkeit, die Jungen geschenkt wird, auch die Einstellung, daß bei ihnen eine Rehabilitation gesellschaftlich notwendiger ist. Ihr Verhalten ist nicht so sehr selbstzerstörerisch wie gesellschaftlich destruktiv, und sie sollen auf dem Arbeitsmarkt eingliederbar sein. Bei Mädchen nimmt man an, daß sie trotz dieser Störungen immer noch fähig sein werden, ihre Hausfrauenfunktion auszuüben.[13]
Daß Mädchen und Jungen unterschiedliche Symptome psychischer Mehrbelastung zeigen, wurde in Untersuchungen in den USA nachgewiesen: Jungen werden am häufigsten wegen aggressiver, destruktiver und rivalisierender Verhaltensweisen zu Erziehungsberatungsstellen gebracht, Mädchen wegen Persönlichkeitsstörungen wie Angst, Mangel an Selbstvertrauen, Minderwertigkeitsgefühle. Burgard weist darauf hin, daß dieselben Symptome später bei erwachsenen Frauen in stärkerer Ausprägung wiederzufinden sind.[14]
Westbrook [15]bestätigte frühere Ergebnisse, daß Lehrer (wobei mögliche Geschlechtsunterschiede nicht berücksichtigt wurden) extrovertiertes Benehmen mehr kritisieren als introvertiertes (Furcht, Schüchternheit, Sensibilität). Nach Ansicht von Klinikern sind introvertiertes Verhalten und Rückzugstendenzen jedoch ernstzunehmender. Jungen zeigen eher extrovertiertes Verhalten: Ullman [16] untersuchte Unterschiede in der Schulanpassung von Mädchen und Jungen und fand, daß Jungen sich verbal und körperlich ausagieren, während Mädchen ihre Konflikte gegen sich selbst richten. Er schloß daraus, daß Lehrer(innen) Mädchen als angepaßter ansehen, dabei aber nicht hinterfragen, wie Mädchen zu ihrer sogenannten »Anpassung« kommen.

Verweigerungstechniken und Störverhalten

Die Schulsituation provoziert Mädchen und Jungen dazu, Verweigerungstechniken zu entwickeln. Immer wieder ist mir von Lehrer(inne)n bestätigt worden, daß das angepaßte Verhalten von Schülerinnen auch charakteristisch für deren Methoden wird, sich gegen die Institution Schule zu wehren. Sogenannte »schwierige« Klassen erwerben sich diesen Ruf meist durch eine Jungengruppe, die den Unterricht stört. Mädchen, die sich in der Schule langweilen oder überfordert fühlen, zeigen ihr Unwohlsein eher, indem sie sich zurückziehen, zu spät kommen, schwänzen, passiv im Unterricht sind.[17] »Es gibt Mädchen, die überhaupt nicht mitmachen. Sie haben Probleme, die nichts mit Sachen Schule zu tun haben« so eine Gesamtschullehrerin. Monika Savier bestätigt dies nach Gesprächen mit Hauptschülerinnen und Heimmädchen:[18]

Mädchen (praktizieren) gerne unauffälligere Verweigerungstechniken. Lieber übernehmen sie frauenspezifische Ordnungsfunktionen (die dem Lehrer oft sehr gelegen kommen) in Situationen, die ihnen unbequem oder schwierig erscheinen, anstatt offensiv eine Veränderung des für sie meist uninteressanten Unterrichts zu fordern. Selbst ein didaktisch bestens konzipierter, z.B. naturwissenschaftlicher Unterricht findet bei den Mädchen kaum Beachtung, da sie bereits mit Sicherheit wissen, daß ihnen entsprechende Berufsmöglichkeiten, gerade weil sie Mädchen sind, vorenthalten bleiben.

  • So lesen sie lieber »Bravo« oder Romanhefte unter der Bank, lackieren sich die Fingernägel, gehen, so oft sie dürfen, möglichst zusammen mit Freundinnen, auf die Toilette, um Frisur und Make-up zu überprüfen und schnell eine Zigarette zu rauchen.
    Mit zu den Verweigerungstechniken der Mädchen in der Schule gehört, daß sie Lehrern gegenüber sehr mißtrauisch sind. Sie erzählen kaum von dem, was ihnen wirklich Spaß macht, was sie in ihrer Freizeit tatsächlich getan haben und so weiter. Ihre Zurückhaltung resultiert aus der Erfahrung, daß Mädchen schon oft im Nachhinein von Lehrern für ihre offenen Zugeständnisse beschimpft und diskriminiert wurden oder die Lehrperson Informationen, z.B. über Sexualität, nachhaltig für >Machtspiele< im Unterricht verwendete.

Die Erwartung, daß Jungen mehr stören als Mädchen, ist also eindeutig. Eine Lehrerin: »Kürzlich sagte ich zu einer Gruppe von Schülerinnen, die herumalberten: Jetzt fangt ihr auch noch an.« Viele Lehrerinnen stimmen darin überein, daß ihre unterschiedlichen Reaktionen mit den Arbeitsbedingungen des Lehrberufs zusammenhängen: »Bei so vielen Schülern und der begrenzten Zeit ist es einfacher, mit den angepaßten zu arbeiten.«  (Gymnasiallehrerin)
Paradox aber ist, daß trotzdem (wie auch in den zitierten Untersuchungen aufgezeigt) mehr mit den nicht-angepaßten Jungen gearbeitet wird - u.a. gerade wegen der schwierigen Arbeitssituation der Lehrer(innen): Um in der Klasse Ruhe herstellen zu können, muß man die nichtangepaßten Schüler(innen) auf seiner Seite haben. Meistens sind dies Jungen, was fast immer auch bedeutet, sich intensiv mit ihnen zu beschäftigen. Folgendes Gespräch mit zwei Lehrerinnen (Hauptschule und Mittelstufenzentrum) verdeutlicht das (I =Interviewerin):

I: Wie seht Ihr die Schwierigkeiten in Eurem Verhalten Jungen und Mädchen gegenüber? Kommt es zum Beispiel häufig vor, daß Ihr den Wortstarken mehr Aufmerksamkeit schenkt?

B: Es ist die Frage, ob du den Unterrichtsrahmen einhalten mußt oder ob du eine Klasse in einer Schule hast, wo du nicht so kontrolliert bist und mit den Schülern etwas anders umgehen kannst, also das Lernziel verschieben und sagen kannst, mir ist jetzt das wichtigste Lernziel auf die stillen Schüler oder auf die Mädchen einzugehen. Aber das ist selten möglich.

A: Ich glaube schon, daß wir da an unserer Schule ziemliche Freiheit haben Aber es ist einfach ein technisches Problem. Wenn da 30 Schüler sitzen und zehn Krach machen, kann ich mit fünf übrigen auch nicht mehr arbeiten Ich habe da z.B. fünf laute Jungen drin und muß die irgendwie ruhe halten, damit überhaupt ein Unterricht möglich ist.

Folgende Unterrichtsbeobachtungen (Unterstufe einer Oberschule) demonstrieren Interaktionsformen, die von geschlechtsspezifisch unterschiedlichem Verhalten geprägt sind:[19]

  • Der Unterricht wird zum großen Teil durch Jungen gestört, die mit lauten Zwischenbemerkungen, emotionalen Ausbrüchen oder mit Unterhaltungen innerhalb der Schülergruppe die Lehrperson in der Unterrichtstätigkeit hindern. Jungen versuchen Mädchen in ihre Unterhaltung oder Blödelei hineinzuziehen, was ihnen bei einigen gelingt. Das Prestige dieser Mädchen steigt vor der übrigen Klasse, wenn sie mit den Ärgsten der Klasse kommunizieren und kurz in eine Oppositionsrolle schlüpfen.
  • Jungen (10. Klasse) zeigen mehr Interesse am Unterrichtsstoff, Diskussionsbereitschaft und Problembewußtsein. Das Sprachverhalten ist zumindest soweit ausgeprägt, daß sie ihre Intention ausdrücken können. Bei Mädchen bleibt unklar, ob sie sich überhaupt nicht artikulieren können oder nichts zur Diskussion beizutragen haben.
  • Mädchen sind eifriger bei Wiederholungen des Stoffes der letzten Stunde beteiligt und melden sich dauernd, obwohl überhaupt nicht gefragt wurde. Jungen stellen mehr Verständnisfragen und wollen selbständige Gedankengänge vermitteln.
  • Jungen können von Lehrern beiderlei Geschlechts nur Schüler gebändigt werden. Sie werden zwar von weiblichen Lehrern ständig zurechtgewiesen, stören sich aber nicht daran. Mädchen befolgen Lehreranweisungen schneller und angepaßter und helfen gern dem Lehrer beim Bücher- und Arbeitsbogen-Austeilen. Jungen sind häufig noch kindlicher und spinnen herum und albern.

Immer wieder zeigt sich die Tendenz, daß Lehrer(innen) mehr auf Jungen eingehen, weil sie sich durch Stören in den Vordergrund spielen. Dieses Störverhalten hat aber noch andere Auswirkungen. Einige Jungen kommen zu dem Schluß, daß sie durch ein von Lehrer(inne)n unabhängiges Verhalten interessante Effekte in der Klasse hervorrufen können. Bardwick [20] meint, daß Jungen in der Schule lernen, von Lehrer(inne)n und Mitschüler(inne)n Beachtung und Respekt für nicht-konformes Verhalten zu bekommen. Dies kann von Mädchen, die ein solches Benehmen an den Tag legen, meist nicht gesagt werden. Im Gegenteil: Diese Schulsituation trägt dazu bei, das Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern zu demonstrieren und zu verfestigen:

  • So kultivieren viele Jungen ihr »Schulverweigererverhalten«,  besonders, wenn es darum geht, Lehrerinnen »mürbe« zu machen. Viele Lehrerinnen vermeiden es deshalb, mit den Jungen der Klasse in Konflikt zu geraten. Sie akzeptieren die Jungen viel mehr als die Mädchen, beziehen sich stärker auf Jungen und vermeiden, Leistungen von Mädchen als positiv herauszustellen.[21]

Lehrerinnen bestätigten mir diesen Geschlechterkampf zwischen ihnen und den Jungen:

»Bei uns an der Schule war es so, daß die Schüler von Frauen erwarteten, daß sie sich genauso wie Männer verhielten, wenn sie akzeptiert werden wollten. Grundsätzlich war erstmal so eine Ablehnung da.« (ehemalige Hauptschullehrerin)

»Du stehst da vor einer Klasse, und die Schüler sagen: >Was wollen Sie eigentlich, Sie können sich ja überhaupt nicht durchsetzen.« (Hauptschullehrerin)

Um ein ganz einfaches Beispiel zu geben: Ich sehe, wie ein mir nicht bekannter Schüler auf dem Gang Papier auf die Erde wirft. Ich sage: >Heb' das mal auf!< Er: >Nee.< Ein Lehrer kommt vorbei und sagt dasselbe. Der Junge hebt das Papier auf Schüler sehen in der Lehrerin erstmal eine Mutterfigur, die sich ähnlich wie die Mutter in der Familie verhalten soll In der Familie hat der Vater die Durchsetzungskraft und Beschlußfähigkeit - entscheidende Erziehungsmaßnahmen werden von ihm getroffen. Letzten Endes ordnet sich die Mutter unter. Die Schüler haben schon früh eine Verachtung Frauen gegenüber entwickelt.
Diese Beobachtung wird mir von Müttern bestätigt. Sie sagen immer wieder: >So benimmt er sich mir gegenüber auch.< Kürzlich erzählte mir eine Mutter, daß ihr Sohn sie nicht durch die Tür gelassen habe und auf diese Weise zeigen wollte, daß er ihr körperlich überlegen war. Eine andere Mutter beklagte sich darüber, daß ihr Sohn sich mit dem von ihr gekochten Essen ans Fenster stellt und beim Essen aus dem Fenster guckt, während sie allein am Tisch sitzt. Die Mütter sind unzufrieden, aber hilflos. Sie finden es Schüler, Verhaltensweisen zu entwickeln, ohne das Verhalten des Vaters zu übernehmen. Ich meine, daß dies eine der wichtigsten Aufgaben von uns Lehrerinnen ist: Verhaltensweisen zu erarbeiten, die nicht wieder auf Konkurrenz und Machtausübung hinauslaufen.« (Gesamtschullehrerin)

Jungen versuchen viel eher, eine Lehrerin als einen Lehrer zu provozieren. Die Familiensituation, ihre Umgebung und die Medien haben ihnen früh genug gezeigt, daß Männer sich alle möglichen Rechte Frauen gegenüber herausnehmen können. Sie benutzen die Familie (Mutter und Schwestern) und die Schule (Lehrerinnen und Mitschülerinnen), um sich im Mannsein zu erproben.
Diese Interaktionsformen zwischen Lehrerinnen und Schülern wirken sich wiederum auf die Mädchen aus:

  • Zusätzlich zum Mangel an ermutigender Verstärkung der Lernmotivation bekommen die Mädchen durch das Verhalten von Jungen gegenüber der Lehrerin bereits einen Vorgeschmack davon, wie es ist, wenn sie Jungen kritisieren.
    Sie erleben aber auch, daß Jungen »immer zusammenhalten«, wenn einer der Clique angegriffen wird. Mädchen dagegen haben dieses feedback in ihrer Gruppe im seltensten Fall. Sie wissen, daß sie mit ihren Konflikten alleine sind, denn selbst Lehrerinnen können sich aufgrund ihrer eigenen Rollenproblematik kaum mit ihnen solidarisieren.[22]

Inhaltliche Bedeutung der Reaktionen

Ein weiterer Aspekt von Interaktionsformen ist die inhaltliche Bedeutung der Reaktionen von Lehrer(inne)n. Spaulding untergliederte den Aspekt »Tadel« bei seinen Unterrichtsbeobachtungen in sieben Kategorien. Als wichtigste ergaben sich Verletzung der Unterrichtsetikette, fehlende Kenntnisse oder Fähigkeiten und mangelnde Aufmerksamkeit. Mangelnde Aufmerksamkeit wurde am häufigsten kritisiert und zwar bei rund 40% der Jungen und Mädchen. Ausschlaggebend ist jedoch, daß weitere 40% aller Tadel Mädchen gegenüber wegen mangelnden Wissens oder mangelnder Fähigkeiten erfolgten, während dieser Prozentsatz bei den Jungen nur 26 betrug. Jungen erhielten dagegen, wie zu erwarten, mehr Kritik wegen Verletzung der Unterrichtsetikette (Jungen 17%, Mädchen 9%).[23] Hier wiederholt sich, was ich zur Kritik in der Familie sagte: Mädchen werden für Versagen kritisiert, Jungen für Stören.
Zinnecker spricht im Zusammenhang mit der Verstärkung geschlechtsspezifischer Charakteristika von einer Rolle des Lehrers als agent provocateur. Er meint, daß der Lehrer aufgrund seiner Vorerwartungen das Verhalten der Jungen herausfordert und die entsprechende Reaktion des Schülers als Bestätigung für seine Voreinstellung wertet: »Der Lehrer sieht sich also veranlaßt, den Schüler realitätsangemessen als Jungen zu behandeln - und hält so den geschlechtsbezogenen Differenzierungsprozeß in Gang.«[24] Das nicht-angepaßte Verhalten der Jungen dient Lehrern wiederum als Argument, die stärkere Zuwendung Jungen gegenüber zu rechtfertigen.
Dasselbe kann natürlich auf Mädchen angewandt werden. Da Mädchen mehr als Jungen daraufhin sozialisiert werden, von personengebundener Bestätigung abhängig zu sein, kann angenommen werden, daß sie sich noch mehr den Erwartungen der Lehrer entsprechend verhalten. Die Abhängigkeit vom Lehrerurteil kann zur Folge haben, daß Mädchen sich intellektuell fordernden Aufgaben entziehen, da sie Angst vor Mißerfolgen und vor negativer Kritik haben, und sich lieber die Gunst der Lehrerin/des Lehrers erhalten, indem sie nicht auffallen und Durchschnittsleistungen erbringen. Levy schreibt hierzu:

  • Kritik, die Jungen erhalten, ist mehr arbeitsorientiert und hilft ihnen mehr, ihre Fähigkeiten auszuwerten. Mädchen erhalten mehr allgemeine und mehr persönliche Kritik. Die letztere Art von Kritik verhindert, was Minuchin [25] »Selbstdifferenzierung... oder ... immer differenziertere Wahrnehmung der eigenen Stärken und Schwächen« nennt, und sie mag dazu führen, daß Mädchen übersensibel auf Kritik reagieren und Aufgaben erfüllen, um soziale Bestätigung zu erhalten, und nicht, um Erwartungen an sich selbst zu erfüllen.[26]
    Geringe Erwartungen können auch zur völligen Negierung der Existenz von Mädchen führen: »Der Lehrer kam in die Klasse rein, in der nur ein Mädchen war. Seine Begrüßung: Guten Morgen, meine Herren![27]

Inhaltliche Behandlung des Unterrichtsstoffes

In der inhaltlichen Behandlung des Unterrichtsstoffes kommt die intellektuelle Minderbewertung der Frau immer wieder deutlich zum Ausdruck. Hierzu trägt die unerhört sexistische Behandlung von Frauen bzw. das Nichtvorhandensein von Frauen in Lehrmitteln natürlich bei.

  • Im »Learning English« werden vier Berufe aufgeführt: an erster Stelle eine Frau als... Stewardeß! An zweiter Stelle ein Mann - Pilot, ein weiterer Mann - Busfahrer und ein dritter Mann - Zollbeamter. B. läßt die Jungen die Rollen der »männlichen« Berufe lesen, für die Mädchen bleibt die Rolle der Stewardeß. Den Wunsch einer Schülerin, auch die Rolle des Piloten lesen zu dürfen, lehnt B. ab mit den Worten: »Es gibt doch keine weiblichen Piloten«,  womit sie den Mädchen indirekt sagt: »Das ist Männersache und bleibt auch so.«
    B. läßt die Schüler(innen) ohne Kommentar die Drills und Bildergeschichten im »Learning English« lesen und einüben, die dicke Klischees von der immer emsigen Hausfrau (gets up at six o'clock... prepares breakfast for her husband and the children... cleans...), der im Haushalt helfenden Tochter und dem allenfalls beim Autowaschen oder im Garten helfenden Sohn vermitteln.
    B. sieht als erste Bezugsperson der Schüler(innen) immer nur die Mutter, obwohl ihren Aussagen zufolge der Hauptteil von Müttern ebenfalls berufstätig ist. So fragt B., warum die Mutter die Hausaufgabe nicht überprüft oder das Merkheft nicht eingesehen hat, warum sie nicht auf rechtzeitiges Aufstehen geachtet hat, etc.[28]

Ein weiterer Hospitationsbericht aus einer anderen Grundschule:

  • Bei der Diskussion über »Kupfer« fragt K.: »Wer hat solche Gegenstände zu Hause? Mutti muß sie ständig putzen.« Klaus weiß es wieder, er ist schier unerschöpflich. K: »Das kommt davon, wenn man viel liest.« Darauf Monika: »Mein Vater hätte das auch gleich gewußt.«
    Beim Kohlestab kommen Ursula und Inge nicht auf »Kohle« als das entsprechende Material. Dazu K.: »Ich würde mir das Denken abgewöhnen.« Jetzt soll das Material genannt werden, woraus ein Faden ist. Hilfestellung von K.: »Woraus macht Mutti die Jacken?«
    Später tauschte K. die Mutti durch den Opa ein. Allerdings, wenn es um Rechenübungen ging bei schwachen Schüler(inne)n, so empfahl sie immer, mit dem Vati zu üben, während für andere Sachen die Mutti oder der Opa herhalten mußten.[29]

Die Darstellung der Frau in Unterrichtsmitteln wird somit meist kritiklos an Mädchen und Jungen weitergegeben.

Ämterverteilung

Bei der Ämterverteilung kommt es immer wieder vor, daß auch Lehrerinnen, die gegen stereotype Rollenvorstellungen angehen, Jungen andere Aufgaben zuweisen als Mädchen. Lehrerinnen haben mir bestätigt: Die Mädchen sortieren Papiere, die Jungen wischen die Tafel, die Mädchen räumen auf und wischen Staub, die Jungen tragen den Projektor.

»Die Mädchen springen, um sauberzumachen. Die Jungen denken nicht daran Viele Lehrer machen das mit, mit der Motivation: >Dann ist es wenigstens getan!< Wenn Mädchen sich weigern, z.B. weil sie zu Hause nichts machen müssen, sind es Unterschichtjungen, die sich so Zuwendung von Lehrern erkaufen Ich hab' schon oft verboten, daß Mädchen diese Arbeit machen«  (Grundschullehrerin)

"Mädchen und Jungen haben zusammen Kochen. Am Ende der Stunde sieht es dann so aus, daß noch schnell alles saubergemacht werden muß. Wenn sich keine Jungen dazu melden, nimmt man es sofort hin, daß die Mädchen es machen, weil so wenig Zeit bleibt. Beim Kochen ist es häufig so, daß die Mädchen das Tägliche machen wie Abwaschen, Kartoffelschälen (die Jungen wissen nicht einmal, wie man Kartoffeln schält), während die Jungen die besonderen Sachen machen wie z.B. die Salatsoße zubereiten«
(Sonderschullehrerin)

Hier werden deutlich die späteren Berufsstrukturen vorbereitet: Mädchen üben sich in der täglichen Hausarbeit, Jungen lernen besondere Fähigkeiten, die ihnen bei einem bezahlten Beruf dienlich sein können.

Stimmlage und Körpersprache

Die Botschaft an Mädchen wird nicht nur in Worten ausgedrückt, sie wird auch durch Stimmlage und Körpersprache übermittelt. Spaulding beobachtete, daß Lehrer(innen) Jungen häufig in barscherem Ton kritisierten als Mädchen.[30] Serbin u.a. fanden bei Hospitationen in Vorschulklassen, daß Lehrerinnen auf aggressives Verhalten von Jungen lauter und stärker reagierten als auf ein solches Verhalten von Mädchen.[31] Auch hier bestätigte sich diese Beobachtung in der Praxis:

  • Die Disziplinierung durch B. erfolgt durch stärkere (in barscherem Ton, mehr Kraftausdrücke, Drohen mit Nachsitzen, Eltern, Klassenlehrerin, Rektor, Verweigerung der Mitfahrt ins Schullandheim etc.) und häufigere Disziplinierung von Jungen; Mädchen werden, wenn überhaupt, sanfter reglementiert.[32]

Sicher reagieren viele Lehrer(innen) auf Jungen in dieser Weise, weil sie annehmen, daß Jungen eine solche Behandlung gewohnt sind. Bei Lehrerinnen kommt hinzu, daß sie häufig in die Situation gedrängt werden, sich mit totalem Mangel an Respekt der Jungen ihnen gegenüber auseinandersetzen. zu müssen. Hier stellt sich dann wieder das Problem, eine Umgangsform zu finden, die wirksam ist, ohne »typisch männliche« Interaktionsformen nachahmen zu müssen.
Die Komponente der physischen Nähe wurde von Serbin und Kollegen untersucht. Das Ergebnis: Mädchen und Jungen in Vorschulklassen erhielten quantitativ dieselbe Aufmerksamkeit nur, wenn sie ganz nah bei der Lehrerin waren. Jungen erhielten jedoch mehr Aufmerksamkeit als Mädchen, wenn sie nicht mehr in unmittelbarer Nähe der Lehrerin waren. Guttman und Bray schreiben:

  • Dieses Lehrerverhalten ermutigt Mädchen dazu, in der Nähe der Lehrerin zu bleiben, und betont die unterstützenden Elemente physischen Kontaktes, einschließlich Lobes durch Kopfnicken, leichte Hilfestellungen und Augenkontakt. Jungen, die in dem Klassenzimmer außer Reichweite der Lehrerin arbeiten, ziehen trotzdem ihre Aufmerksamkeit auf sich und werden ermutigt, wodurch abenteuerliche und unabhängige Aktivitäten unterstützt werden. Offensichtlich ist dies eine subtile, aber starke Form unterschiedlicher Behandlung durch Lehrer(innen).[33]

Und wieder aus der hiesigen Praxis über zwei Lehrerinnen:

Die Kinder gehen wegen jeder Kleinigkeit zu K., zeigen ihr etwas, flüstern ihr etwas ins Ohr, fragen, ob es richtig oder schön ist.

  • Am häufigsten sind Mädchen zu K. gegangen, davon einige ständig. Von den Jungen gingen immer dieselben zu K. Die meisten blieben auf ihren Plätzen sitzen oder riefen K. zu sich.[34]
    B. legt signifikant häufiger den Arm um Mädchen als um Jungen (»Ab einem gewissen Alter mögen es die Jungen nicht mehr«).[35]

Ich beschrieb in dem Kapitel über Familiensozialisation, wie Jungen, im Gegensatz zu Mädchen, von der Mutter dazu ermutigt werden, sich unabhängig zu bewegen und zu beschäftigen. Hier wird also auch wieder ein Sozialisationsprozeß fortgesetzt, der schon in der Familie begann. Eine eingehendere Untersuchung von verbaler Kommunikation und von nicht-verbalen Signalen könnte mehr Licht auf den geschlechtsspezifischen Charakter der Interaktion zwischen Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n werfen und Lehrer(inne)n dazu verhelfen, sich der verschiedenen Formen ihrer Einflußnahme bewußter zu werden.
Der idealtypische Schüler reagiert aggressiv auf eine schwierige Situation, während die Schülerin sich zurückzieht. Diese Reaktionen scheinen im Zusammenhang mit dem verbalen und nicht-verbalen Verhalten von Lehrer(inne)n zu stehen.
Jungen haben oft stärkere Identifikationsmöglichkeiten mit männlichen Lehrern als Mädchen mit Lehrern oder Lehrerinnen. Der Lehrer, der alles zu können scheint, stark ist und von den Mädchen angehimmelt wird, ist für Jungen ein attraktives Vorbild. Sie werden durch emotionalen Kontakt mit solchen Lehrern motiviert; dies besonders im vorpubertären und pubertären Alter, in dem sowieso viel körperlicher Kontakt und unterschweflige Sexualität abläuft. Verbal herrscht ein ganz anderer Ton zwischen Lehrern und Schülern als zwischen Lehrern und Schülerinnen: Lehrer sprechen Schüler kameradschaftlich an, sie behandeln sie als Kumpel oder unterstreichen ihre Autorität mit einem rauhen Umgangston, der Jungen zur Imitation anregt. Dieses verbale Verhalten wird durch Körpersprache - wie etwa einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, einem auffordernden Boxen - unterstützt.
Für Mädchen sieht die Situation anders aus. Levy schreibt hierzu:

  • Wenn die Lehrerkritik an Mädchen weniger barsch ist..., kann es sogar noch schwieriger für Mädchen sein, zu lernen, sich zu verteidigen. Das Mädchen, dem beruhigend (patronisierend?) gesagt wird, daß alles in Ordnung kommen wird, während der Lehrer/die Lehrerin unterstützend (kontrollierend?) seinen/äffen Arm um sie gelegt hat, wird wahrscheinlich nicht selbstbestimmtes Verhalten entwickeln, das die Gefahr von Mißbilligung in sich trägt.[36]

Zusammenfassend kann gesagt werden:

Mädchen

- erhalten weniger Kritik und Aufmerksamkeit
- haben weniger Interaktion mit Lehrer(inne)n
- werden eher zu lehrerkontrollierten Tätigkeiten ermutigt
- sind abhängig von personengebundener Bestätigung
- sehen sich eher der Erwartung von Fleiß und Sauberkeit als der von kreativer Denkfähigkeit gegenüber
- werden mehr für Versagen als für Stören kritisiert
- lernen früh, sich unterzuordnen und anzupassen.

Jungen

- erhalten mehr negative und positive Kritik
- haben mehr Interaktion verschiedenster Art mit Lehrer(inne)n,
- initiieren mehr Interaktion mit Lehrer(inne)n
- werden zu unabhängigen Aktivitäten ermutigt
- orientieren sich mehr an sachgebundener als an personengebundener Bestätigung
- sehen sich der Erwartung problemorientierten und kreativen Lernens gegenüber (Gymnasium) oder zumindest der Erwartung, daß sie die Fähigkeit entwickeln, sich selbst zu ernähren und möglicherweise Familienoberhaupt zu werden
- erkennen früh ihre Machtposition als Mann und nutzen sie gegen weibliche Familienmitglieder, gegen Lehrerinnen und Schülerinnen aus.

Die Erfahrung dieser Interaktionsformen vermittelt Jungen, daß sie wichtiger als Mädchen genommen werden, und Mädchen, daß ihre Lernprozesse und Verhaltensweisen von weniger Interesse für Lehrer(innen) sind als die von Jungen. Ein solches jahrelanges Verhaltenstraining hat tiefgreifende Auswirkungen: Mädchen lernen so, sich selbst nicht ernst und wichtig zu nehmen, ihre Bedürfnisse zurückzustehen, Interessen nicht zu entwickeln, kein Selbstvertrauen zu haben. Wenn Lehrer(innen) passive Mädchen in dieser Haltung bestärken, führen sie sie auf einen Weg, der lebenslange Unterdrückung und die Entwicklung psychischer Krankheiten bedeuten kann.
Ich habe hier die allgemeinen Tendenzen aufgezeigt, die nach kulturellen sowie Klassenunterschieden und deren Auswirkungen noch weiter untersucht werden müssen. Man kann sagen, daß die Tendenzen dieselben bleiben, die Situation sich aber für Arbeitermädchen und -jungen verschärft. Den Jungen fehlen oft die Modelle des fachlichen Leistungsverhaltens; den Mädchen, die durch Anpassung noch eine positive Bewertung erhalten können, gelingt jedoch seltener als ihnen der Sprung in eine Laufbahnschschule, wobei Lehrer, Eltern und Berufsberater eine bedeutende Rolle spielen. Die geringeren Laufbahnchancen der Mädchen reproduzieren sich in jeder Klassenlage.[37]

Reaktionen auf nicht angepaßte Schülerinnen

"Nicht alle Schülerinnen fallen in die Kategorie des ideal-typischen Mädchens. Viele Frauen widerlegen die alten Forschungsergebnisse. Sie sind aktiv, nicht passiv; sie sind autonom, nicht abhängig. Sie sind in Wirklichkeit gar nicht die Art von Frauen, die sie entsprechend der alten Forschung sein sollten. Sie fordern neue Begriffsbildungen heraus, nicht nur durch ihre verbale Kritik, sondern auch einfach durch die Art weiblicher Personen, die sie sind. Sie sind selbst die Daten, die die alten Stereotypen widerlegen. Sie werden wissenschaftliche Daten werden, wenn jemand sie studiert, was zweifellos bald geschehen wird.«[38]
Jede(r) Lehrer(in) kann von besonders aktiven Schülerinnen, die intellektuell und/oder sozial dominieren, berichten. Die Reaktionen von Lehrer(innen) auf nicht-angepaßte Schülerinnen sind unterschiedlich. Manche Lehrerinnen mögen Schülerinnen als Herausforderung an ihr eigenes Selbstbild und Frauenbild empfinden und sie deshalb ablehnen. Viele Lehrerinnen arbeiten jedoch bevorzugt mit diesen Schülerinnen, da sie diese Züge sowohl in Jungen wie auch in Mädchen schätzen. Die Reaktionen männlicher Lehrer sind ebenfalls unterschiedlich.

»B. ist eine gute Schülerin und sehr aktiv im Unterricht. Ein Lehrer zieht sie stark vor. Andere Lehrer lehnen sie als zu dominant ab. Bei Jungen würden sie das nicht tun.«
(Gymnasiallehrerin)

»In der 7. Klasse ist es natürlich, wenn Mädchen wild sind. In der 8. bis 10. Klasse legen die meisten ein solches Benehmen ab. Die anderen fallen somit besonders auf und werden diszipliniert.«
(Gymnasiallehrerin)

»Ich habe den Entwicklungsgang einiger meiner >ungewöhnlichen< Schülerinnen verfolgt. Sie kamen alle aus atypischen Familien, teilweise waren die Eltern Akademiker. Sie setzten sich durch und waren kreativ. Jetzt sind sie 18 und sind so geblieben. Aber sie haben doch auch frauentypische Berufe ergriffen. Von den Lehrern wurden sie abgelehnt, von den Jungen z. T. gefürchtet.«
(Grundschullehrerin)

Gute Leistungen sind oft ausschlaggebend für nicht-angepaßte Mädchen: Bringen Mädchen nicht beeindruckende intellektuelle Leistungen, wenn sie sich auffällig benehmen, sind sie schlecht dran:

»Eine meiner Schülerinnen hatte ein besonders großes Mundwerk. Ein Kollege, der ihr gegenüber negativ eingestellt war, sagte über sie, >die kann einen piesacken...< Er fand ihre Entwicklung nicht gut. Bei einem Jungen hätte er sie als normal empfunden.«
(Sonderschullehrerin)

Ebenso ergeht es jedoch Mädchen, die extrem unauffällig sind:

»Ich kenne zwei Schülerinnen, die von allen als >häßlich und langweilig< angesehen wurden. Sie machten einen traurigen Eindruck und entzogen sich. Die Klasse akzeptierte sie nicht und die Lehrer hatten kein Interesse an ihnen. Sie blieben schließlich sitzen.«
(Hauptschullehrerin)

Im Allgemeinen ist die Ansicht, daß atypische Mädchen, die provozierend wirken und sich nicht zumindest den Leistungsanforderungen anpassen, wenig Chancen haben:

»Solche Mädchen werden nicht geduldet. Sie kriegen schlechte Zensuren und fliegen von der Schule. Ich kenne eine Schülerin, die eigentlich toll war. Sie sah frech und ungewöhnlich aus. Meist kam sie 10 Minuten zu spät in die Klasse, schmiß ihre Klogs mit den Worten >Was ist life?< in die Ecke, setzte sich, nahm ihre Schminksachen raus. Im Unterricht machte sie nicht mit. Nur Vorlesen machte ihr Spaß und das konnte sie auch sehr gut. Auf der Klassenfahrt wurde sie einmal beim Klauen erwischt und rauchte mit den Jungen im Wald. Sie hatte eine dicke Freundin. Die anderen trugen ihre bürgerlichen Maßstäbe an sie heran (>Nun räum doch mal dein Zimmer auf!<) oder waren mitfühlend (>Paß bloß auf!<). Die Jungen hatten oft starke Aggressionen gegen sie. Die Lehrer waren teils verunsichert, teils negativ eingestellt. Sie ging schließlich auf Druck hin an eine andere Oberschule ab.«
(Gesamtschullehrerin)

Mädchen wehren sich teilweise mit Bravo und Lippenstift gegen die Schule. Wenn sie nicht dieses ihnen noch angemessen erscheinende Verhalten zeigen, benehmen sie sich eher wie Jungen: sie schwänzen, sind laut, widersprechen... Dies bedeutet oft, daß sie sich weigern, Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu erfüllen und sich die Handlungsfreiheit von Jungen aneignen wollen.
Wie können Lehrer(innen) Mädchen mit solcher Protesthaltung fördern? Die Probleme werden von einer Gesamtschullehrerin angerissen:

»Ich meine, man muß Mädchen unterstützen, wenn sie sich gegen Eltern und Institutionen wehren Aber das ist oft schwierig. Die meisten ändern sich, ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Denen, die sich nicht ändern, kann man oft nicht zuraten. Ich kenne Schülerinnen, die versuchen, sich überall provozierend durchzusetzen. Sie werden von allen abgelehnt und landen irgendwo. Es ist oft Schüler, sie zu bestätigen, selbst für Lehrer, die Normen hinterfragen, weil ständiges Schwänzen etc. nicht unterstützt werden kann und letzten Endes nicht >sich durchsetzen< bedeutet.«
(Hauptschullehrerin)

Trotz dieser Schwierigkeiten ist es wichtig, Wege zu finden, um diesen Mädchen ansatzweise zur Selbstverwirklichung zu helfen. Eine Möglichkeit ist, der Schülerin zu zeigen, daß sie nicht wegen ihres Verhaltens abgelehnt wird, sondern, daß man Vertrauen in ihre Fähigkeiten hat und Leistungen von ihr erwartet:

»Man muß die Schülerinnen immer wieder fordern, ihnen Aufgaben geben, die zu Erfolgserlebnissen führen. Sie sollen erfahren, daß sie ihr nicht-angepaßtes Verhalten positiv verwerten können.«
(Gymnasiallehrerin)

Lehrer(innen) sollten Erfahrungen darüber austauschen, wie sie Protesthaltungen und Eigeninitiative von nichtangepaßten Mädchen unterstützen. Die Erfolge, die dabei erreicht werden, können auch bei der Arbeit mit den angepaßten Mädchen nützlich sein.

Jamie
Du warst mit 16 stärker
als ich je in meinem Leben.
Das war, als wir uns trafen.
Du, mit Deiner ausgeflippten Mutter
und schwarzen Stiefschwestern und -brüdern.
Du hast nie eine Gelegenheit verpaßt,
einem Lehrer zu widersprechen
oder die Kleidungsregeln zu verletzen
oder auf der Toilette zu rauchen
oder high zu sein
oder down zu sein
oder in Schwierigkeiten
zu geraten.
Ich erinnere mich an den Tag, als du
ein Messer gegen eine Nonne zogst,
weil sie Dich geschlagen hatte.
Du hast immer
Einschränkung widerstanden und
konntest mit Liebe
ebensowenig wie mit Autorität
zurückgehalten werden.
Das einzige, was ich tun konnte, war
Dein Haar streicheln,
Deine Geschichten und Küsse akzeptieren,
Dich für die Stunden, die Du schwänztest, entschuldigen
und im Vorübergehen
Deine Wangen berühren,
nach den Tränen suchend,
die Du nie weintest.

High School Women's Liberation, Ann Arbor: Youth Liberation, 1976, 62.
Übersetzt von Dagmar Schultz