Leistungsbewertung von Lehrer(inne)n

Die Struktur der Schule und die Einstellungen der Lehrer(innen) schlagen sich auch in der Leistungsbewertung nieder. Folgende Tatbestände beschreiben die Situation der Schülerin in Bezug auf Leistung und Zensuren.
Schülerinnen erhalten im allgemeinen bessere Zensuren als Schüler.[1]
Tests, die mit Kindern im Kindergarten durchgeführt wurden, zeigten ähnliche Resultate für Mädchen und Jungen bezüglich Intelligenz, physischer Fähigkeit, Wahrnehmung und Denkvorgängen.[2] Häufig schneiden Mädchen in Intelligenztests sogar besser als Jungen ab, und in der Grundschule sind sie diesen in Lesen, Schreiben, Buchstabieren und sogar im Rechnen voraus.[3] Auch in den weiterführenden Schulstufen bestätigt sich die Tendenz, daß Mädchen die besseren Zensuren erhalten. Hier setzt jedoch ein neuer Prozeß ein: Mädchen fallen in den Fächern ab, die mit »männlichen« Berufen identifiziert werden: Naturwissenschaften, Mathematik. Jungen haben in höheren Klassen ihre analytischen Fähigkeiten oft weiter entwickelt als Mädchen Sharpe weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß bei Leistungsunterschieden die Überschneidungen zwischen Mädchen und Jungen zu berücksichtigen seien sowie auch die Streuung innerhalb einer Geschlechtsgruppe, die so groß sein kann wie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern.[4]
Am Beispiel von leistungsschwachen Schüle(rinne)n kann man die Tendenzen in der unterschiedlichen Beurteilung auch aufzeigen. Während erwartungswidrig leistungsschwache Jungen Schulprobleme schon ab der 3. Klasse entwickeln, treten diese bei Mädchen erst in der Pubertät auf.[5] Andererseits weisen leistungsschwache Schüler eine günstigere Testleistungs- und Intelligenzstruktur auf als leistungsschwache Schülerinnen.[6] Nach Befragungen von Kemmler und Rank sind sich Lehrer(innen) auch durchaus dessen bewußt, daß die erfolglosen Schüler einige kognitive Vorteile gegenüber erfolglosen Schülerinnen haben; die Lehrer(innen) vertraten die Auffassung, sie seien kritischer, produktiver, würden besser begreifen und Unterrichtsfragen treffender beantworten.[7]
Nach Höhns Meinung dagegen werden schlechte Schülerinnen eher nach Bereichen, die mit dem Leistungsausfall zu tun haben, beurteilt (unbegabt, zerstreut, träge, uninteressiert), während schlechte Schüler nicht nur als noch fauler und nachlässiger dargestellt werden, sondern bei ihnen darüber hinaus affektive Bereiche (unehrlich, böse, feige, ungezogen) ins Gewicht fallen. [8]
Gegenläufige Forschungsergebnisse besagen, daß Lehrer(innen) schlechten Schülern auch im affektiven Bereich mehr positive Charakterzüge zusprechen als Schülerinnen. Während bei diesen hauptsächlich die größere Anpassungsfähigkeit und Arbeitswilligkeit bewertet wird, werden leistungsschwache Schüler als selbstbewußter, kontaktfreudiger, belastbarer, aktiver angesehen.[9] Höhn teilt leistungsschwache Schüler in drei Gruppen auf: die »faulen Begabten«, die »fleißigen Dummen« und die »dummen Sporthelden«.[10] Hier wird deutlich: Auch ein schlechter Schüler zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich und ruft bei Lehrer(inne)n eine differenziertere Berurteilung hervor als eine leistungsschwache Schülerin
Nicht-kognitive Einflüsse bei Schüler(inne)n haben also eine unterschiedliche Wirkungsrichtung, die Zinnecker folgendermaßen beschreibt:
Den Mädchen gestatten sie, im Bedarfsfall einige fehlende intellektuelle Leistungsvoraussetzungen zu kompensieren, indem sie sich ihr schuladäquates Gesamtverhalten von den Lehrern honorieren lassen. Die für den bestehenden Unterrichtsbetrieb geringere Tauglichkeit einiger nicht-kognitiver Persönlichkeitsstrukturen der männlichen Schüler hat zur Folge, daß der Schulerfolg von Jungen auch bei ausreichenden intellektuellen Voraussetzungen leicht gestört oder zunichte gemacht werden kann.[11]
Die positive Leistungsbewertung verschleiert jedoch nur die negativen Auswirkungen der Schulsozialisation auf Mädchen, bzw. kann sie sogar noch verstärken. So schreibt Belotti: »Die Mädchen sind dermaßen effizient, daß keine Lehrerin der Versuchung widerstehen kann, sie dafür zu loben, aber gerade dieses Lob schwächt ihr Bewußtsein, daß sie als Individuen und nicht als Dienstpersonal und Putzfrauen wertvoll sind.«[12] Genau diese Einschätzung versteckt sich hinter den guten Zensuren der Mädchen. Lilly Kemmler fand in einer faktorenanalytischen Untersuchung von erfolgreichen Grundschüler(inne)n, daß sich die leistungsstarken Jungen durch ein breites Wissen, umfassende Orientierung im anschaulichen Bereich, Rechenleistungen, Originalität, schlußfolgerndes Denken und einen spezifischen Rechtschreibfaktor auszeichneten. Die leistungsstarken Mädchen hingegen zeigten vor allem Genauigkeit, Ordnungssinn, Konzentration, Schnelligkeit, Anpassung und Betonung der eigentlichen Schulleistungen. Kemmler argumentiert, daß die Jungen eine »differenziertere und prägnantere Begabungsstruktur«[13] erkennen lassen. Dieselbe Einschätzung findet sich dann an Hochschulen wieder, wo Dozenten Studentinnen gleichwertige Studienleistungen zugestehen, aber sich weigern, dasselbe auch für die zugrundeliegenden »Begabungen« zuzugeben.[14] Es ergibt sich also eine Art Teufelskreis: Mädchen werden daraufhin sozialisiert, die Schulbedingungen erfüllen zu können, aber die negative Einstellung diesen Charakterdispositionen gegenüber macht es dann möglich, ihre Leistungen abzuwerten. Zinnecker zieht den Schluß:
Ebenso wie die Dienste, die die Bildungsinstitutionen den bürgerlichen Klassen leisten, hinter der Fassade schulischer Autonomie verborgen werden, entpuppt sich die scheinbar den Frauen günstige Schulsituation als versteckte Hilfeleistung für die Ausbildung des dominierenden männlichen Geschlechtscharakters.[15]
Die häufig günstigere Beurteilung von Mädchen schlägt sich in den Versetzungsquoten nieder: Sie stellen relativ weniger Sitzenbleiber und bei den Hauptschulabsolventen mehr Schulabgänger mit Abschlußzeugnis,[16] reagieren bei Leistungsschwierigkeiten und Sitzenbleiben jedoch schneller und häufiger als Jungen mit Schulabgang - ein Muster, das besonders im Gymnasium auftritt.[17] Erwartungen von Lehrer(inne)n und insbesondere Eltern spielen hier eine wichtige Rolle, zumal für Mädchen trotz einem steigenden Anteil an Gymnasialschülern der Realschulabschluß weiterhin als ein Frauen angemessener Ausbildungsgang angesehen wird. (Zinnecker verweist auf die historische Bedeutung dieses Abschlusses, die in der »höheren Mädchenschule« begründet ist.)[18]
In England stellte man fest, daß die Zahl der Mädchen, die Schulabschluß- und College-Aufnahmeexamen bestehen, in allen Fächern proportional schneller stieg als die der Jungen.[19] Diese besseren Lernerfolge können nicht nur geschlechtsspezifischer Leistungsbeurteilung zugeschrieben werden. Auch in der Bundesrepublik wird gemeldet, daß Mädchen bessere Leistungen als Jungen erzielen. Die Reaktion ist bezeichnend: Wann ist je so schnell ein wissenschaftliches Gremium mit der Untersuchung möglicher Benachteiligung von Mädchen beauftragt worden?[20]

                     

Eine ganze Reihe von Leserinnen reagierten mit Empörung auf diese Meldung aus Niedersachsen; sie erklären sich eine solche Maßnahme aus der Frauenfeindlichkeit unserer Gesellschaft: Obwohl die erwähnten Untersuchungen zum Thema Leistungsbewertung teilweise sehr widersprüchliche Ergebnisse aufzeigen, können wir zusammenfassend sagen:

  • - Mädchen erhalten bessere Zensuren als Jungen und weisen auch in Leistungstests bessere Ergebnisse in den frühen Jahren auf;
  • - Jungen holen ihren Rückstand, der besonders in Sprachleistungen auftritt. bis zum Ende der Grundschule gewöhnlich auf. In der Adoleszenz realisieren sie ihr Bildungspotential, während die Leistungen von Mädchen in dieser Zeit abfallen.

Als Erklärung für diese Entwicklung und die Leistungsbewertung von Lehrer(inne)n gibt es verschiedene Begründungen, die ich für inkorrekt halte; so z.B. der angebliche Einfluß der »Feminisierung« der Grundschule und die unterschiedlich schnelle Entwicklung von Mädchen und Jungen. Ich schließe mich Zinnecker an, der die unterschiedliche Wirkungsrichtung der nicht-kognitiven Faktoren bei Mädchen und Jungen als auschlaggebend ansieht. [21]
Eleanor Maccoby beschreibt sechsjährige Kinder, von denen zu erwarten ist, daß ihr Intelligenzquotient (IQ) bis zum zehnten Lebensjahr steigen wird. Sie zeigen Konkurrenzverhalten, Durchsetzungsvermögen, Unabhängigkeit und sind dominant in der Interaktion mit anderen Kindern. Die Kinder, deren IQ in den nächsten Jahren fallen wird, sind passiv, scheu und abhängig. Dies sind genau die Eigenschaften, die jeweils Jungen und Mädchen anerzogen werden. [22]
Verhaltensmuster von Mädchen sind meist schulkonform. Sie werden in der Leistungsbeurteilung so wesentlich, daß ihre Leistungsmotivation durch Honorierung ihres nicht-kognitiven Verhaltens und geringe Erwartungen an ihre intellektuellen Leistungen absorbiert wird. Bei Jungen dagegen werden viele nicht-kognitive Verhaltensweisen negativ beurteilt, was sich auf die Zensuren auswirkt, und gleichzeitig akzeptiert man bei ihnen nicht-konformes Verhalten als Jungen angemessen, beurteilt es in mancher Hinsicht sogar als positiv. Darüber hinaus stellen Lehrer(innen) bei Jungen Erwartungen an intellektuelle Leistungen und berufsbezogene Zukunftsorientierung.
Wenn Mädchen während der Pubertät in ihren Leistungen abfallen und sich nicht auf eine berufliche Karriere vorbereiten, sehen das viele Lehrer(innen) als »normal« an. Diese Einstellung wirkt sich besonders bei den Mädchen aus, die schon früh leistungsschwach sind: Sie definieren sich daraufhin als nicht intelligent, internalisieren und reflektieren die begrenzten Erwartungen der Lehrer(innen). In einer solchen Position befinden sich vor allem Arbeitermädchen.
Die Folgen der Fehlbeurteilung von Mädchen - Zensieren von nichtkognitiven Faktoren - sind für viele Schülerinnen schwerwiegend. Sie entziehen sich immer mehr intellektuellen Anforderungen, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern. Die Einstellung der Lehrer(innen) wird für sie mit steigendem Alter immer ungünstiger:

»Von der 7. bis zur 10. Klasse wirkt sich Passivität am günstigsten aus, weil dies das Alter ist, in dem Jungen am schwierigsten sind. In höheren Klassen wird Mädchen Passivität zum Vorwurf gemacht. Dieser Trend wird mit steigendem Leistungsdruck durch die Oberstufenreform immer stärker. Heute heißt es schon in der Einführungsphase. >Die kann ja nur auswendiglernen.<»
(Gymnsiallehrerin)

Leider gibt es meines Wissens kaum Untersuchungen über die Kehrseite, nämlich die Auswirkungen von Eigenschaften, die als »typisch jungenhaft« eingestuft werden, auf die Beurteilung von Mädchen. Lehrerinnen bestätigten mir jedoch: Schlechte Handschrift, Unsauberkeit und aggressives Verhalten werden bei Mädchen negativer beurteilt als bei Jungen.
Ingenkamp schreibt in Bezug auf subjektive Fehlerquellen in der Zensurengebung:
An erster Stelle der Wertschätzung standen rigide und konforme Mädchen, gefolgt von Jungen mit gleichen Verhaltensmerkmalen, während sich unabhängig zeigende Jungen die vorletzte und unabhängige und ihr Recht verteidigende Mädchen die letzte Position einnahmen.[23]
Nicht-konformes Verhalten von Schülerinnen, sei es besondere Leistungsschwäche oder besonderer Durchsetzungswille, ruft also eine negative Beurteilung (oft negativer als bei Jungen) durch Lehrer(innen) hervor. Eine Schülerin verdeutlicht diese Tatsache durch die Schilderung ihrer Erfahrung:

»Ein paar Lehrern, die links sind, bin ich sympathischer als die strebsamen, stillen Mädchen. Andere Lehrer haben ihre festen Vorstellungen. Sie sagen, daß die Schüler den Unterricht akzeptieren müssen. Wenn ich sage, der Unterricht muß auch so gemacht werden, daß die Schüler ihn akzeptieren können, paßt ihnen das nicht. Wenn ich Auseinandersetzungen mit Lehrern habe und nicht alles hinnehme, was sie sagen, wirkt sich das auch auf die Zensuren aus.«

Wenn idealtypisches Verhalten mit guten Zensuren belohnt wird und sich nicht-konformes Verhalten negativ auf die Zensuren niederschlägt, so trägt dies zu den Schwierigkeiten bei, die Frauen später in der Gesefischaft und im Beruf haben. Ein wachsendes Bewußtsein über diese Zusammenhänge hat bei vielen Lehrerinnen eine kritische Selbstbeobachtung in der Behandluiig und Beurteilung von Schülerinnen hervorgerufen. Imnwr mehr Lehrerinnen hinterfragen ihre Einschätzungen verschiedener Mädchen"typen« und tun dies auch bei Kolleg(inn)en und deren Leistungsbeurteilungen.