»Die typische Kleinfamilie ist tödlich für
eine emanzipatorische Entwicklung von Mädchen«
(Grundschullehrerin)
Erster Schultag. 30 aufgeregte Kinder werden in die Klasse geführt, sitzen verwirrt in den Reihen und warten auf das, was da kommen wird. Das Mädchen Beate etwas ängstlich, darauf bedacht, ordentlich zu sitzen und alles, was jetzt verlangt wird, richtig zu machen und dann vielleicht gelobt zu werden.
Das Mädchen Ulla ist weniger ängstlich als vielmehr neugierig, gespannt. Tatendurstig schiebt sie die Ärmel hoch und wippt ungeduldig mit dem Stuhl.
Die Lehrerin stellt sich vor und erklärt die Aufgabe für diese erste Rechenstunde.
Beate hört genau zu und nimmt dann das Lineal und die Stifte heraus. Sie arbeitet langsam und methodisch. Erst teilt sie ihr Papier in drei Teile ein, dann zeichnet sie in den ersten Kasten einen Drachen, in den nächsten zwei Eistüten, in den dritten drei Bälle. Als die Lehrerin zu ihr kommt, um ihre Arbeit anzusehen, ist sie begeistert: »Das ist die schönste Arbeit. Ich werde sie am Bord festmachen, damit ihr sie alle sehen könnt.« Beate lächelt stolz glühend und nimmt sich vor, morgen noch sauberer und noch schöner zu zeichnen.
Ulla hatte in der Zwischenzeit mit Feuereifer und ein paar Buntstiften links oben auf dem Papier einen Drachen schweben lassen, zwei dicke Eistüten in die Mitte placiert, und rechts unten hüpften drei Bälle davon. Sie findet ihr Bild wunderbar, die Lehrerin allerdings nicht. Die einzelnen Dinge sollten doch nebeneinander stehen, und so ohne Lineal sieht das Ganze ja nicht recht ordentlich aus...
Auf Ullas verwirrten Einwand: »Ja, aber warum müssen die Dinge denn so nebenein...« legt die Lehrerin den Arm um sie und meint: »Aber, das wird schon noch werden.« Ulla weiß gar nicht, was »schon noch werden« soll, sie sieht sich um, sieht rechts und links die Reihen von Tischen und Stühlen, in denen sie jetzt jeden Vormittag still sitzen muß. Sie fühlt sich plötzlich entmutigt und beengt.
Dies ist der erste Tag einer Entwicklung, die eigentlich schon vor sechs Jahren anfing. Beate ist von klein auf darin erzogen worden, ein Mädchen zu sein: sauber, ordentlich, gehorsam, freundlich, hilfsbereit. Sie spielt mit anderen Mädchen, mit Baukästen, Puppen, Bällen, an Schaukeln. Manchmal ist ihr Bruder mit dabei, aber oft spielt er mit anderen Jungen. Wenn sie Cowboy spielen, wollen sie, daß die Mädchen sich fangen lassen. Dazu hat Beate keine Lust, dann spielt sie lieber gleich etwas anderes. Ulla ist es anders ergangen. In der Nachbarschaft gibt es kaum Mädchen. Ihre Eltern haben nichts dagegen, daß sie alles mit den Jungen zusammen macht. Sie finden es gut, daß Ulla sich zu einem starken, selbständigen Mädchen entwickelt. Beim Spielen und Zeichnen ermutigen sie Ulla, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen.
Diese beiden Familiensituationen sind sehr unterschiedliche Ausgangsbasen für die Mädchen. Aber den äußeren Einflüssen (Verwandtschaft, Schule, Medien, Freunde etc.) sind alle in gleicher Weise ausgesetzt.
Auf den folgenden Seiten gehe ich kurz auf den Einfluß der Familie im Sozialisationsprozeß ein. Ich bin daran interessiert herauszufinden, wo die Widersprüche in der Erziehung von Mädchen liegen: in den Erwartungen und Anforderungen, die an sie gestellt werden einerseits und in den Bedürfnissen und Zielvorstellungen, die sie selbst entwickeln andererseits. Ich meine, daß diese Widersprüche charakteristisch für die Sozialisation und die inneren Konflikte von Frauen sind. Das Durchschauen dieser Widersprüche kann uns Möglichkeiten bieten, Strategien zur Veränderung zu entwickeln.
Geschlechtsspezifische Funktionen wie auch andere Funktionen und die damit verbundenen Verhaltensnormen werden in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt übernommen. Diesen Prozeß, in dem das Kind erwachsen wird und eine Persönlichkeit entwickelt, nennen wir Sozialisation. Antje Kunstmann äußert sich dazu folgendermaßen: »Die Gesellschaft produziert sich selbst, indem sie den jungen Menschen bereits von Geburt an ihre Wertungen und Normen eintrichtert. So bestimmt letztlich die Gesellschaft mit ihren Bedürfnissen die Prägung des Kindes.[1]
Die Kleinfamilie ist die Hauptinstanz für die Vermittlung der gesellschaftlich erwünschten und benötigten Funktionen an Mädchen und Jungen. Aufgrund der geschlechtsspezifischen Funktionsverteilung von Mann und Frau erfahren sie die Familie nicht als Einheit. Die Funktionsverteilung macht sich an den Tätigkeiten der Eltern fest. So spielt die Familie eine bedeutende Rolle in der Vermittlung geschlechtsspezifischer Leitbilder. Auch eine berufstätige Mutter muß den Haushalt noch zusätzlich bewältigen.
Unterschiedliche Stimulierung
Schon dem ungeborenen Mädchen gegenüber besteht häufig eine negative Einstellung. Nur wenige Männer mögen Frauen sein, während der Prozentsatz der Frauen, die Männer sein mögen, beträchtlich hoch ist.[2] Als Resultat sind Frauen weiterhin darauf fixiert, Jungen zu gebären.[3]
Wie früh die unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen einsetzt, beschreibt Belotti, wenn sie über das Verhalten von Müttern beim Stillen spricht. Eine von ihr zitierte Untersuchung zeigt auf, daß weibliche Babies kürzere Mahlzeiten erhalten und früher entwöhnt werden.[4] Den Jungen wird mehr Zeit, mehr Aufmerksamkeit, mehr körperliche Bereitschaft zugestanden. »Der Wunsch, sich von Anfang an als Autoritätsperson aufzudrängen, ein Kind zu beherrschen, ist stärker, wenn es sich bei dem Kind um ein Mädchen handelt. Der Junge, so klein und hilflos er auch sein mag, ist bereits ein Symbol der Autorität, der auch die Mutter unterworfen ist.[5]
In den ersten Lebenswochen sind kinästhetische (Bewegungsempfindung) und taktile (den Tastsinn betreffende) Stimulationen von großer Bedeutung. Je mehr Säuglinge taktil stimuliert werden (z.B. durch Hochheben, Herumtragen) und je weniger sie in ihren Bewegungen eingeschränkt werden (z.B. durch Festbinden), desto besser können sie kognitive und soziale Fähigkeiten und körperliche Aktivität entwickeln.
Untersuchungen haben gezeigt, daß männliche Babies auf beiden Gebieten mehr Aufmerksamkeit erhalten als weibliche.[6]
Visuelle Stimulation fördert die Ausbildung visueller, motorischer und intellektueller Fähigkeiten entscheidend. Akustische Stimulation beeinflußt die Sprachentwicklung. In der Untersuchung von A.H. Moss zeigt sich, daß Mütter bei Jungen das visuelle Vermögen mehr stimulieren, während Mädchen mehr akustische Stimulation erhalten. Scheu zitiert Anne Oakley hierzu:
»Diese akustische Stimulation, die bei kleinen Mädchen häufiger angewandt wird als bei Jungen, ist wahrscheinlich u.a. auch verantwortlich für die spätere verbale Überlegenheit der Mädchen. Denn eine ausgeprägte akustische Stimulation ist eine wichtige Voraussetzung für die Sprachentwicklung, und häufige akustische Stimulation fördert sie.[7]
Dies ist eine wichtige Beobachtung für uns, denn sie erklärt wenigstens ansatzweise, daß die sprachliche Begabung von Mädchen nicht »wesenseigen«, sondern auch antrainiert ist.
Zunächst erscheint diese akustische Stimulation ein Vorteil für Mädchen zu sein. Es stellt sich jedoch heraus, daß Jungen in einer Lebensphase stärker optisch stimuliert werden, in der der visuellen Stimulation größere Bedeutung zukommt als der akustischen. Außerdem ist zwar die akustische Stimulation bei Mädchen häufiger, hat aber einen nachahmenden Charakter, während an den Jungen neue Laute herangetragen werden.
Die größere Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit (>affection<), die die Mutter von Geburt an dem Jungen schenkt, setzen beim Mädchen erst mit drei Monaten ein. Jetzt wird der Junge zum Jungen erzogen, seine Muskelaktivität gefördert, während das Mädchen, das im Vergleich dazu in den ersten Wochen etwas vernachlässigt wurde, viel herumgetragen und geschaukelt wird. D.h. beim Mädchen beginnt hier die Förderung des »sozialen Verhaltens«, während beim Jungen Unabhängigkeit und Explorationsbedürfnis stimuliert werden.
Ursula Scheu schreibt: »Auffallend ist, daß die jeweiligen Schwergewichte in der Stimulierung beim Mädchen immer konträr den jeweiligen Bedürfnissen liegen und beim Jungen konform diesen Bedürfnissen.«[8]
In den ersten Lebensmonaten wird also schon die Grundlage für die Entwicklung unterschiedlicher Fähigkeiten und Verhaltensweisen gelegt, die später damit erklärt werden, daß sie dem weiblichen bzw. männlichen Geschlecht »wesenseigen« seien: Mädchen sind schwächer, hängen mehr an Personen, sind begrenzter in ihren Interessen und in ihrer Kreativität.
Diese unterschiedliche Behandlung setzt sich fort. Michael Lewis fand, daß Mütter ihre Söhne nach sechs Monaten nicht nur weniger oft anfassen als ihre Töchter, sondern im Spiel von sich fort auf Gegenstände hin dirigieren. Lewis schreibt: Mütter glauben, daß Jungen und nicht so sehr Mädchen unabhängig sein und dazu ermutigt werden sollten, ihre Welt zu erkunden und zu meistern.«[9]
Die meisten Untersuchungen werden nur mit Müttern und Kindern gemacht. Väter zeigen kein qualitativ unterschiedliches Verhalten. Trotzdem ist es wünschenswert, daß ihre Rolle in der Sozialisation näher bestimmt wird.
Einschränkungen in der körperlichen Entwicklung
Diese körperlichen und geistigen Einschränkungen werden in den nächsten Jahren fortgesetzt. So wird von Mädchen erwartet, daß sie sauber sind, sich zurückhaltend benehmen, mit Puppen spielen, sich mehr im Haus als außerhalb aufhalten, im Haushalt mithelfen und die jüngeren Geschwister versorgen, d.h. die Hausfrauenfunktion einüben. Durch diese Tätigkeiten werden sie mehr ans Haus und an geschlossene Räume gebunden. Dadurch werden sie daran gehindert, sich wie Jungen körperlich zu betätigen, ihre Körperkräfte im Spiel zu entwickeln und zu testen. Mädchen erleben diese Einschränkungen bewußt als Benachteiligung Jungen gegenüber:
»Wenn ich ein Junge wäre, gäbe es mehr Möglichkeiten zum Spielen Ein Junge hat's besser. Er muß im Haus nicht helfen. Jedesmal wenn ich in mein Baumlager will, sagt meine Mutter >Und wenn du herunterfliegst?< Wenn ich ein Junge wäre, würde sie das nicht sagen, weil Jungen, so behauptet meine Mutter, besser klettern können.«
(5. Klasse, Realschule)
Inzwischen ist wissenschaftlich immer mehr erwiesen, daß diese Einschränkungen Folgen für die Entwicklung von Persönlichkeit und Intellekt haben. Untersuchungen in den USA mit behinderten sowie mit besonders begabten Kindern zeigten, daß körperlicher Konditionierung mit intellektueller Entwicklung im Zusammenhang steht.[10] In West-Berlin wird gegenwärtig ein Projekt mit Vorschulkindern durchgeführt, um zu testen, ob durch vermehrte Bewegungserziehung frühe Haltungsschäden, motorische und Entwicklungsstörungen vermieden werden können, und um zu sehen, ob Motorik und Intelligenz sowie Sozialverhalten verbessert werden.
Das Reaktionsvermögen der Kinder scheint sich im Laufe der Untersuchung überdurchschnittlich entwickelt zu haben. Es gelang den Kindern, besser und schneller den Anweisungen der Erzieher und Studenten nachzukommen. Diese auf Verstehen beruhende Fertigkeit hängt zweifelsohne mit der Intelligenzentwicklung zusammen.[11]
Wir können nur hoffen, daß die Verbreitung solcher Forschungsergebnisse dazu beiträgt, daß Mädchen in Familie und Schule bessere Voraussetzungen für ihre körperliche und geistige Entwicklung bekommen. Untersuchungen dieser Art unter geschlechtsspezifischen Aspekten sind auch wichtig, um noch immer akzeptierte Theorien über angeborene Fähigkeiten zu widerlegen. So schreibt Roswitha Burgard in ihrem Buch Wie Frauen »verrückt« gemacht werden:
- .... nur, so kann nachgewiesen werden, daß die erzwungene geistige wie körperliche Passivität von Mädchen zu psychischen Symptomen führen kann. Wissenschaftler gehen noch immer von einer angeborenen geringeren Aktivität, Rationalität und Reaktionsvermögen bei Frauen aus und liefern somit einen deutlichen Beweis für die Verwechslung von Ursache und Wirkung.[12]
Wie falsch ein solcher biologistischer Ansatz ist, wird z.B. in den klinischen Daten von Money and Ehrhardt erwiesen. Sie berichten u.a. folgenden Fall: Bei männlichen eineiigen Zwillingen wurde durch einen chirurgischen Unglücksfall der Penis des einen Jungen während der in den USA üblichen Beschneidung so stark verletzt, daß er amputiert wurde. Die Eltern zogen den Jungen daraufhin als Mädchen auf. In den Berichten der Mutter wird deutlich, daß der Junge aufgrund der entsprechenden Erziehungsmaßnahmen zu einem »perfekten« Mädchen wurde, das sich von dem Bruder in Spielgewohnheiten, allgemeinem Verhalten und Zukunftszielen entsprechend den stereotypen Erwartungen unterschied.
Die Auswirkungen von Erziehungsmethoden sind in anderen Untersuchungen verdeutlicht worden. Eine Langzeituntersuchung zeigte, daß Mädchen von Müttern, die sehr beschützend waren, mehr feminine Interessen in ihrer Kindheit und als Erwachsene entwickelten.[13]
Witkin fand, daß Mütter von »analytischen« Kindern sie zur Eigeninitiative ermutigten, während Mütter von »nicht-analytischen« Kindern Abhängigkeit förderten und Durchsetzungsvermögen entmutigten.[14] Analytisches Denken ist besonders erforderlich für wissenschaftliche Arbeit, ein Gebiet, in dem eine Minderheit von Frauen zu finden ist. Burgard zitiert eine Untersuchung von Charles Bried, die aufzeigt, daß Mädchen einen anderen Spielstil als Jungen haben. Bried fand bei Mädchen weniger Aggressivität und Aktivität und mehr Riten und Zeremonien.[15] Der Mangel an körperlicher Auseinandersetzung und die Forderung Erwachsener, aggressives Verhalten zu vermeiden, führen dazu, daß Mädchen Frustrationen und Aggressionen eher gegen sich selbst richten als gegen andere.[16]
Wie sich dies in der Schule auswirken kann, wird in folgendem Gespräch mit einer Grundschullehrerin deutlich (L=Lehrerin, I=Interviewerin):
L: Die Mädchen in der 6. Klasse leiden ziemlich darunter, wenn die Jungen ihnen an die Brust fassen - im Vorbeilaufen, mit fiesem Gekicher.
I: Wie reagieren sie?
L: Fast heulend. Und wenn ich dann sage: »Also hört mal, ihr könnt mir hier nicht immer die Ohren volljammern, nun tut euch doch mal zusammen und macht was dagegen!«, heißt es dann: »Nein, einige Mädchen, die nicht selbst betroffen sind, würden sich auf die Seite der Jungen stellen, und wenn wirklich Dresche ausgeteilt würde, dann würde keine den ersten Schlag abbekommen wollen.«
I: Ist das Kräfteverhältnis schon so unterschiedlich?
L: Nicht einmal unbedingt. Es sind viele mit dabei, die sind im Sport wirklich genauso gut wie Jungen, aber im Laufe der Zeit fingen sie an, sich immer mehr zu drücken, und ich habe wirklich Brachialgewalt anwenden müssen, um sie genauso am Sport zu beteiligen. Auch wenn die Mädchen wahrscheinlich gar nicht schwächer sind als die Jungen, haben sie schon die Zuschlagschranke.
I: Kann das schichtbedingt sein?
L: Vielleicht neigen die Mädchen aus der Unterschicht in den ersten Jahren eher dazu zuzuhauen, aber das geht sehr schnell vorbei.
Hier wird deutlich, daß schon in frühem Alter körperliche Verteidigung für Mädchen ein Problem ist. Die Hemmschranke, die sie entwickeln, scheint Hand in Hand zu gehen mit einem Abfall des sportlichen Interesses, was wiederum dazu führt, daß sie nicht mehr die gleichen Leistungen wie Jungen im Sport erbringen. Ein gleichwertiges Körpertraining sollte schon früh geschaffen werden, bevor die Verluste und die Anstrengung, den Unterschied aufzuholen, zu groß werden.
Die körperliche Unterlegenheit wird Mädchen so stark vermittelt, daß sie sich schon in einem Alter, in dem noch kein Stärkenunterschied besteht, schwächer fühlen. In Schulaufsätzen zum Thema »Wenn ich ein Junge wäre« kommt der Zusammenhang zwischen körperlicher Unterlegenheit und Spielformen sowie sportlicher Betätigung deutlich heraus:[17]
»Ich würde jeden Tag Fußball spielen oder raufen... Ich müßte meiner Mutter nicht in der Küche oder beim Bettenmachen helfen, aber als Junge könnte ich mit meinem Vater viel Sport treiben.«
»Die Jungen können draußen bleiben, denn sie haben manchmal keine Angst. Jungen lassen sich auch nichts von Mädchen gefallen. Die Jungen (Männer) gehen Kegeln und Golfspielen, was man von den Mädchen nicht behaupten kann. Ein Junge kann Fußballspielen, aber ein Mädchen nicht, und er kann einem Lehrer immer den Projektor bringen und tragen.«
Der Wunsch ist da, stärker zu sein, und bei vielen auch der Wunsch zu Aktivitäten, die für Jungen selbstverständlich sind.
»Sobald mir durch das Rollenspiel auffiel, daß ich ein Mädchen war, wollte ich lieber ein Junge sein. Ich bin ziemlich empfindlich und konnte nie ertragen, als schwach angesehen zu werden. Mädchenrollen schienen irgendsowas zu beinhalten.«[18]
Andererseits sind die Mädchen schon so von den stereotypen Erwartungen und Forderungen, die an sie gestellt werden, beeinflußt, daß sie zumindest vorgeben, Dinge, die Jungen tun, würden ihnen keinen Spaß machen: »Viele Jungen spielen Fußball. Als Junge würde ich auch spielen, aber als Mädchen macht es mir keinen Spaß.«
Dies ist wohl eine der erschütterndsten Folgen geschlechtsspezifischer Sozialisation. Nur ein Mädchen von 13 Jahren endete ihren Aufsatz mit dem aufrührerischen Satz: »Aber wenn ich dann ausgewachsen bin, kaufe ich mir eine Maschine (Motorrad), ob ich nun ein Mädchen oder ein Junge bin.«
Erziehung zur Sauberkeit
Dieser Prozeß beginnt im Säuglingsalter, wenn Mädchen früher als Jungen zu Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit angehalten werden. Von Mädchen wird schon ganz früh erwartet, daß sie sich einem fremden Willen unterordnen und anpassen. Ursula Scheu schreibt, daß Mädchen hier in ihrem eigenen Rhythmus gebrochen werden, daß ihre Autonomie gar nicht erst akzeptiert wird. Sie fährt fort:
Bezeichnend hierbei ist auch, wo dies geschieht. Nämlich in Bereichen, in denen eine frühe Fertigkeit des kleinen Mädchens arbeitsersparend für die Erziehungsperson ist. Wenn sie früher selbständig ißt und ihre Windeln nicht mehr naß macht, macht dies eindeutig weniger Arbeit.[19]
Die Sauberkeitserziehung zieht sich durch unsere Kindheit. Bei Jungen wird es als normal angesehen, wenn sie sich beim Spielen schmutzig machen; bei Mädchen wird es als böswillig ausgelegt. Dahinter steht, daß Mädchen »saubere« Spiele spielen sollen, also gar keinen Grund haben, schmutzig nach Hause zu kommen. Auch dies ist Kindern durchaus bewußt:
»Wenn ich ein Junge wäre, gäbe es mehr Möglichkeiten zum Spielen. Als Junge könnte ich mich im Dreck herumwälzen.« »Ich müßte nie im Haushalt helfen und könnte mich auch mal schmutzig machen, weil das ja bei Jungen so üblich ist.« (Mädchen, 5. Klasse Realschule)
Ein Junge aus dieser Klasse schreibt hingegen folgendes:
»Wenn ich ein Mädchen wäre, müßte ich Röcke anziehen. Mittags würde ich mit Puppen spielen oder seilhüpfen. Ich könnte zum Beispiel nicht in einen Fußballverein gehen und dürfte mich nicht schmutzig machen. Müßte auf die Kleider aufpassen, daß sie nicht kaputt werden.«
Hier sehen wir auch, wie die Bewegungsbeschränkung, von der ich bereits sprach, durch Kleidung verstärkt wird. Obwohl die Mode für Mädchen sich teilweise der für Jungen angeglichen hat, spielt sie hier noch eine wichtige Rolle: In fast jedem Aufsatz der Kinder taucht Kleidung als ein Aspekt, der ihr Leben als Mädchen oder Junge mitbestimmt, auf.
Das Sauberkeitstraining, das Mädchen zu Hause durchmachen, kommt ihnen später in der Schule scheinbar zugute. In einer Institution, in der Disziplin, Anpassung, Ordnung, Sauberkeit entscheidend für das Funktionieren sind, werden diese Eigenschaften positiv bewertet. Da sie bei Jungen im Widerspruch zur bisherigen Sozialisation stehen, werden sie hauptsächlich von Mädchen erwartet. Ein Mädchen kann also mit diesen Eigenschaften ein Stück des Weges durch die Schule gut bestreiten. Die Situation ändert sich dann, wenn intellektuelle Fähigkeiten wichtiger werden: An diesem Punkt verlieren Mädchen den scheinbaren Vorsprung, den sie vor Jungen hatten.
Hausarbeit
Sauberkeit hängt eng mit Hausarbeit zusammen. So lernen Mädchen früh, ihre Kleidung in Ordnung zu halten, ihr Bett zu machen, abzuwaschen, zu kochen, waschen und bügeln - und all diese Arbeiten auch für andere zu machen. Jungen hingegen verrichten, wenn sie im Haushalt helfen müssen, Arbeiten wie Mülleimer ausleeren, Kartoffeln und Kohlen holen.
Fast alle Kinder erleben diesen Unterschied konkret im täglichen Leben. Nur in der Oberschicht wird er abgeschwächt, wenn weder an Jungen noch an Mädchen Anforderungen in der Hausarbeit gestellt werden.
»Wenn man ein Junge ist, muß man nicht: Bettenmachen lernen, Kochen lernen, einkaufen und abtrocknen oder spülen.«
(Mädchen, 5. Klasse Realschule)
»Das Mädchenleben ist Scheiße, weil die Mädchen die Klappe vor den Jungen halten müssen und wenn sie verheiratet sind, in der Küche 'rumstehen müssen und auf die Kinder aufpassen müssen.«
(Junge, 8. Klasse Hauptschule)
»Die weiblich-männliche Teilung in drinnen/draußen ist offensichtlich.«[20] Während Jungen anfangs noch mithelfen, verringert sich ihre Beteiligung mit zunehmendem Alter; bei Mädchen dagegen steigt sie. Ursula Scheu zitiert folgende Statistik:[21]
Täglich über 1 1/2 Stunden im Haushalt helfen:
in der 6. Klasse 3 Jungen: 5 Mädchen
in der 8. Klasse 3 Jungen 6 Mädchen
in der 10. Klasse 3 Jungen 12 Mädchen
Sie schreibt: »Welche Ausmaße die reale Belastung von Mädchen bei Hausarbeit und Kindererziehung annimmt, kann man bei diesen Daten nur ahnen.«[22]
»Die meisten Jungen müssen etwas zu Hause helfen, aber bei weitem nicht so wie die Mädchen.«
(Hauptschullehrerin)
»Die Mädchen haben viel zu Hause zu tun. Eine muß z.B. das Kind der Schwester hüten. Eine andere hilft in der Kneipe bei der Mutter mit.«
(Realschullehrerin)
»Ein Mädchen hat einen kranken Freund - er ist 10 Jahre älter - sie versorgt ihn. Sie wird mal den Haushalt machen, er wird Hilfsarbeiter werden. Sie wird die Hosen anhaben, aber mit Selbstverwirklichung hat das nichts zu tun.«
(Sonderschullehrerin)
Roswitha Burgard stellte in mehreren ihrer Interviews mit Frauen fest, daß Arbeit in der Familie zu Schwierigkeiten in der Schule führte:
Sabine... machte neben der Schule noch die ganze Büroarbeit ihres Vaters. >In den Ferien hatte ich immer die ganze Zeit zu Hause zu arbeiten, ohne etwas dafür zu bekommen...< (Die Brüder allerdings sollten das väterliche Geschäft übernehmen...)[23]
...da (Gisela) schon früh putzen, spülen und staubwischen mußte, sind ihr die Schulaufgaben immer etwas schwer gefallen. Gisela wurde Hilfsarbeiterin, bis sie heiratete: >Ich bin in die Ehe gegangen und habe mich gleich wie zu Hause gefühlt, weil ich sofort weitergemacht habe mit der Arbeit und so.<[24]
Wir können nur spekulieren, wie sehr diese ständige Arbeitsbelastung (Mädchen werden zu den regelmäßigen Hausarbeiten doppelt so viel wie Jungen herangezogen) die Schulleistungen von Mädchen beeinflußt.
Trotz dieser frühen Doppelbelastung schaffen einige Mädchen mehr als Jungen:
»In meinen Klassen haben die Mädchen sich hervorgetan und die Jungen mitgerissen. Die Mädchen entwickeln sich manchmal so aufgrund ihrer häuslichen Situation. Oft sind dort viele Geschwister, z. T. Hilfsschüler. Es kristallisiert sich ein Mädchen heraus, die alles in der Familie durchzieht - sie hat ein breites Spektrum von Erfahrungen und ist hart mit sich selbst. Es ist erstaunlich, welche Stärke sie trotz desolater Familiensituationen entwickeln.«
(Hauptschullehrerin)
Sicher hat es Folgen für die Entwicklung von Mädchen, wenn sie ihrer Mutter im Haushalt helfen, während Jungen außer Haus mit ihren Freunden ihren Freizeitbeschäftigungen nachgehen. Sie entwickeln sich körperlich weniger (Abtrocknen und Staubsaugen erfordern weniger Gewandheit und Muskelstärke als Bäumeklettern und Fußballspielen). Sie kommen mit einem engeren Bereich in Berührung als Jungen, die sich Abenteuerspiele ausdenken, basteln, mit technischen Dingen umgehen lernen. Die Phantasie und Kreativität der Mädchen werden also wenig angeregt. Hinzu kommt, daß sie viel mehr Zeit mit einer erwachsenen Person, zu der sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, verbringen als Jungen, die mehr mit Gleichaltrigen zusammen sind und mehr Kontakte zu Gruppen entwickeln.
Andererseits sehen wir aus dem Zitat der Hauptschullehrerin, daß Mädchen gerade aus der ihnen übertragenen Verantwortung Stärke gewinnen können. Deshalb ist es so wichtig, Mädchen Anerkennung für die Fähigkeiten, die sie haben und die Leistungen, die sie erbringen, zu vermitteln. Eine solche Anerkennung kann ihnen helfen, Widerstandsformen zu entwickeln gegen eine Außenwelt, die ihre Fähigkeiten nicht anerkennt und dagegen, von Männern, Familie und Arbeitgebern ausgenutzt zu werden.
Diese widersprüchliche Erziehung bezweckt, daß Frauen einen Großteil gesellschaftlich notwendiger Arbeit verrichten, ohne sie selbst als entlohnungswürdige Arbeit einzuschätzen. Stattdessen sollen sie sich für ihr Ansehen als sexuelles Wesen und (potentielle) Mutter geschmeichelt fühlen. Dieser Tatbestand ist für das überleben der patriarchalischen Gesellschaft entscheidend. Wenn Frauen sich und ihre Arbeitskraft verweigern, bricht diese Gesellschaft zusammen. Frauen haben schon lange mehr oder weniger offene Widerstandsformen entwickelt. Wenn sie ihre Fähigkeiten erkennen und ihre Macht erproben, können sie ein System, das auf der Unterdrückung aus Ausbeutung ihres Geschlechts, sowie von Rassen und Klassen beruht, in eine menschlichere Gesellschaft umwandeln.
Bestrafung und Belohnung
Unterschiedliche Erwartungen ziehen auch unterschiedliche Bestrafung und Belohnung nach sich. Zunächst ist da immer der Vergleich mit Jungen bzw. Mädchen:
»Wenn ein Mädchen mal 'was macht, dann sagt die Mutter: Wie ein Junge! Du bist doch kein Junge, du mußt dich ein bißchen besser benehmen!' Das hasse ich, da möcht' ich gleich ein Junge sein. Zum Beispiel wenn ich rülpse - wenn ich einen Bruder hätte, dann dürfte der das sicher. Mein Vater sagt mir das dann aber, und dann macht er es selbst - da könnte ich vor Wut an die Decke gehen.«
(Mädchen, 6. Klasse Grundschule)
Für Jungen ist der Vergleich eindeutig: »Warum hast du denn Angst vor einer Spinne? Du bist doch kein Mädchen!« Oder: »Flenn doch nicht wie eine Heulsuse. Ein Junge weint doch nicht!« Diese Aussprüche zeigen klar, daß mit Mädchensein Schwäche assoziiert wird und wer möchte gern schwach sein?
Für Mädchen sieht es anders aus. Der Vergleich mit Jungen beinhaltet einen fatalen Widerspruch. Man würde meinen, daß Sich-Schmutzigmachen, laut Sein, Sich-schlagen negativ bewertete Verhaltensweisen sind. Sie sind jedoch in unserer Gesellschaft mit Stärke, Auseinandersetzungsfreudigkeit, Abenteuerlust verbunden. Den Mädchen wird also mit diesem Vergleich gesagt, daß es sich nicht für sie schickt, stark und ungezügelt und phantasievoll zu sein, sondern daß sie gehorsam und hilfreich zu sein haben.
Da Sauberkeit jedoch ein notwendiges Prinzip bleibt, muß jemand dafür verantwortlich sein, und das sind Mädchen und Frauen. Mädchen müssen also schon ganz früh lernen, daß sie die Kleidung von Männern sauber zu halten haben, also Männer zu bedienen haben. Dies wird ihnen manchmal auf eindeutige Weise klargemacht:
»Meine Freundin hat 'nen Bruder. Wenn er seine Sachen nicht machen will, kriegt sie Prügel von ihm, wenn sie es nicht für ihn macht.«
(Mädchen, 6. Klasse Grundschule).
Ab sieben Jahren mußte Sabine E. jeden Tag spülen, samstags das Badezimmer putzen und jeden Tag die Küche aufräumen.
»Ich wurde manchmal noch geschlagen, wenn ich samstags vergessen hatte, die Schuhe von meinen Brüdern und von meinem Vater zu putzen.«[25]
Mit diesen unterschiedlichen Einschätzungen hängt auch ein anderer Aspekt der Sanktionierungen zusammen. Jungen werden für ungehöriges Benehmen getadelt, aber gleichzeitig wird akzeptiert, daß ein solches Verhalten zu ihrer Entwicklung gehört; nicht so sehr das Verhalten selbst als die unangenehmen Auswirkungen werden getadelt (z.B. nicht das Fußballspielen, sondern die zerbrochene Scheibe, die bezahlt werden muß). Bei den Mädchen hingegen steht hinter dem Tadel die Kritik am Verhalten: »So wirst du nie eine nette junge Dame.« »Wenn du so weitermachst, nimmt dich kein Mann.« Das heißt, ein Junge kannst du nicht sein, und du schaffst es nicht einmal, ein richtiges Mädchen zu sein.«
Schließlich ist besonders für die Mittelklasse charakteristisch, daß Jungen mehr durch körperliche Züchtigung bestraft werden und Mädchen mehr durch verbale Kritik und Liebesentzug. Dies bestärkt bei Mädchen die emotionale Abhängigkeit von einzelnen Personen, die später die Grundlage des Ehe- und Hausfrauendaseins bildet. Hausarbeit ist nicht gesellschaftlich anerkannt, die Frau wird für sie nicht entlohnt, und es gibt keine festgesetzten Leistungsnormen. Das heißt, daß die Frau ökonomisch unselbständig ist und, um anerkannt zu werden, völlig von der Laune des Mannes und der Kinder abhängt. Sie wird als Kind schon daraufhin trainiert, sich psychisch auf eine derartige Abhängigkeit von individuellen Personen einzustellen.
Körperliche Züchtigung, wie sie oft von Vätern, Brüdern und später Ehemännern vorgenommen wird (siehe obige Zitate), sollen den Unterwerfungsprozeß vervollkommnen und absichern.
Zusammenfassung
Diese Bedingungen, unter denen Mädchen aufwachsen, werden in der Sozialisationsforschung häufig als Vorteil der Mädchen gegenüber Jungen interpretiert. Das Argument ist üblich, daß Mädchen sich von klein auf, ohne Bruch, mit der Person identifizieren können, die auch das Leitbild für ihre zukünftige Erwachsenenfunktion ist.[26] Jungen hingegen verbringen die erste Zeit ihres Lebens hauptsächlich mit der Mutter und müssen sich dann auf ihr eigentliches Identifikationsmodell, den Vater, umstellen. Für Mädchen ist also das Erwachsenwerden angeblich viel einfacher. Sie haben noch den zusätzlichen »Vorteil«, daß sie ihre Funktion schon in ganz frühem Alter zusammen mit ihrem Vorbild einüben können, d.h. nicht nur durch Spiele mit Puppen, sondern auch durch Mädchenarbeit im Haushalt, durch Verantwortung für kleine' Geschwister. Jungen hingegen können ihre Erwachsenenfunktionen »nur« in Spiel und Phantasie sowie mit Gleichaltrigen erproben, bis der Vater sich intensiver mit ihnen beschäftigt, mit ihnen Sport treibt, sie bei der Autoreparatur mithelfen läßt etc.
Diese Interpretation möchte ich jedoch als geradezu zynisch bezeichnen. Wie wir gesehen haben, verläuft die frühkindliche Sozialisation so, daß sie durchaus nicht im Gegensatz zur Identifikation mit der männlichen Rolle steht. Was die Funktion des Mannes in der Familie betrifft, haben Jungen durchaus Gelegenheit, diese frühzeitig einzuüben: Sie werden von Mutter und Schwestern bedient, sie lernen, daß sie das Recht auf eine solche Bedienung haben oder wie sie sie durchsetzen können.
»Dann kommt er nach Hause und sagt: Mutter, ich will jetzt eine Stulle haben, wo ist meine Stulle, ich bin müde und hungrig, weil der Vater das auch macht und weil er so sein will wie der Vater.«
(Mädchen, 6. Klasse Grundschule)
Wenn Mädchen das stereotype Leitbild mit einer positiven Einstellung übernehmen, dann wohl meist in der Erkenntnis, daß sie keine andere Wahl haben. Sie können nicht Jungen werden - warum also nicht die weiblichen Züge annehmen, die einen gewissen gesellschaftlichen Wert haben?
Nur selten wird überhaupt die Frage gestellt, ob Mädchen nicht doch Schwierigkeiten haben, sich mit der Mutter- und Hausfrauenrolle zu identifizieren. Im Gegenteil, es wird auch von manchen Feministinnen angenommen, daß es für einen femininen Jungen sehr viel schwieriger ist, die aktiven Seiten der männlichen Rolle zu übernehmen, als für ein Mädchen, ihr jungenhaftes (>tomboy<) Verhalten aufzugeben.[27] Andererseits wird behauptet, daß Mädchen sich eher wie tomboys verhalten dürfen, da männliche Aktivitäten einen höheren Status als weibliche haben, während besonders Männer voll Horror reagieren, wenn Jungen feminin sind.[28] Wäre es dann nicht zumindestens der Untersuchung wert, ob es Jungen wirklich schwerer fällt, von verachteten femininen auf die statusversprechenden maskulinen Aktivitäten umzuschalten, als Mädchen auf die femininen Aktivitäten, die kein Prestige versprechen? Meine Gespräche mit Frauen, die diesen Prozeß besonders bewußt durchgemacht haben, zeigten mir, daß er ganz ernsthafte Konflikte mit sich brachte und ein Gefühl der aufgezwungenen Erniedrigung und Ohnmacht hinterließ. Sich mit Mädchen zu identifizieren, bedeutete, Stärken, die sie sich erkämpft hatten, aufzugeben. Ein solches Gefühl wird wohl kaum bei Jungen erzeugt, die sich durch Aufgabe femininer und Übernahme maskuliner Züge persönliche und gesellschaftliche Macht einhandeln.
Ein Grund für das Desinteresse an den Identifikationskonflikten von Mädchen ist, daß die Identifikation mit der Mutter als eine »wesenseigene« angesehen wird. Es gibt aber durchaus Mädchen, die sich gegen die Übernahme dieses Leitbildes wehren. Was oft als die »Phase« des »tomboys« dargestellt wird, ist ein Kampf um das Recht, sich als Person entwickeln zu können. Wie lange Mädchen diesen Kampf durchführen und wie erfolgreich sie dabei sind, hängt von den Umständen ab und von der Unterstützung, die sie von außen erhalten.
Die Kontroverse über genetische und umweltbedingte Ursachen
Die Diskriminierung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft hat ihre Legitimierung in mehr oder weniger biologistischen Theorien über die Ursachen geschlechtsspezifischer Unterschiede gefunden. Diese Theorien üben weiterhin eine populärwissenschaftliche Wirkung aus und beeinflussen, wie wir sehen werden, auch das Erziehungssystem. Ich will daher kurz auf die Ergebnisse der Vielzahl von Untersuchungen eingehen, die sich mit der Frage genetischer Geschlechtscharakteristika befassen.
Ursula Scheu spricht in ihrem Buch über frühkindliche Sozialisation von drei theoretischen Ansätzen:
- dem biologistischen, der die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die andersartige gesellschaftliche Stellung der Frau und damit auch die Herrschaft von Männern über Frauen von biologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern ableitet;
- dem Ansatz der gesellschaftlichen Bedingtheit, der Frauen aufgrund gewisser verbleibender »natürlicher Unterschiede« zwar nicht als minderwertig, aber als »andersartig« einstuft (diesen Ansatz vertreten u.a. sozialistische Theoretiker);
- dem Ansatz der totalen gesellschaftlichen Bedingtheit, der in der Gebärfähigkeit den einzigen Unterschied sieht und auch die daraus abgeleitete »soziale Mutterschaft« als gesellschaftlich bedingt begreift. Vertreter(innen) berufen sich u.a. auf eine wachsende Anzahl von Untersuchungen über matriarchalische Gesellschaften, die darlegen, daß jeder Unterschied außer der Gebärfähigkeit eine Folge der geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse und der Arbeitsteilung ist.
Der Widerstand von Frauen facht die Diskussion über biologische contra gesellschaftliche Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede immer wieder an. Es ist kein Zufall, daß Ende der Sechziger und im Laufe der Siebziger Jahre, als die neue Frauenbewegung in den USA einen Höhepunkt an öffentlicher Wirksamkeit erreicht hatte, die Forschung über mögliche genetische Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen einen immensen Aufschwung nahm. Als Anhängerin des dritten Ansatzes scheint mir diese Forschung zur Bestimmung der Ursachen geschlechtsspezifischer Unterschiede weitgehend irrelevant. Die Forschungsergebnisse bestätigen meinen Standpunkt.
Eleanor Emmons Maccoby und Carol Nagy Jacklin (1974) werteten über 2000 Untersuchungen und Bücher zu dem Thema aus, eine Arbeit, die 1977 von Carol Tavris und Carol Offir erweitert wurde.
Bei Persönlichkeitscharakteristika wurden keine Unterschiede festgestellt, bzw. die Forschungsergebnisse waren widersprüchlich. Nur im Hinblick auf Aggressivität zeigte sich, daß Jungen vom Vorschulalter an aggressiver als Mädchen sind. Aber was sagt ein solches Ergebnis aus? Ist es überraschend, wenn die frühkindliche Erziehung - begleitet von geschlechtsspezifischem Spielzeug, Kinderbüchern, Kinderliedern - zu einer größeren Aggressivität bei Jungen führt? Wichtiger scheint mir die Auseinandersetzung darüber, welche Arten und Komponenten von Aggressivität wünschenswert sind: Aggressivität reicht von Durchsetzungsvermögen bis zu Vergewaltigung und Mord.
Dasselbe gilt für stärkere Konkurrenzbestrebungen, die bei Jungen festgestellt wurden. Auch dieser Zug ist von den Sozialisationsprozessen einer Gesellschaft bedingt, deren gesellschaftliche Produktionsformen Konkurrenz vornehmlich unter Männer fordern (und sie bei Frauen auf Konkurrenz um Männer beschränken).
Die Forschungsergebnisse konnten keine Unterschiede in Intelligenz, Kreativität und kognitivem Stil (cognitive style) finden. Sozialisationsbedingte Ursachen für die verbale Überlegenheit von Mädchen habe ich schon am Anfang des Kapitels erwähnt. Mädchen zeigen im Schulalter erst ab der 4. und 5. Klasse ein stärkeres verbales Vermögen, was durchaus ein Ergebnis des auf Lesen und Schreiben zentrierten Grundschulcurriculums sein kann. Dieser Schwerpunkt kommt wiederum Jungen zugute, die ihre in der frühkindlichen Phase weniger geförderten verbalen Fähigkeiten hier aufbauen können. Mädchen hingegen haben wenig Gelegenheit, ihre vernachlässigten analytischen und mathematischen Fähigkeiten in der Grundschule und später weiterzuentwickeln. Dasselbe gilt für räumliches Vorstellungsvermögen, in dem sich Jungen nach der Pubertät überlegen zeigen.
Die Ergebnisse bezüglich physischer Fähigkeiten sind zumindest zweideutig. Größere Fingerfertigkeit fand man bei Mädchen, wenn auf Schnelligkeit getestet wurde - meiner Einschätzung nach eindeutig ein Ergebnis, das nicht genetisch begründet ist, sondern auf das Training in Hausarbeit zurückzuführen ist. Man stellte fest, daß Mädchen ebenso aktiv wie Jungen sind. Körperliche Stärke wurde differenziert beurteilt: Jungen sind muskulärer, aber gesundheitlich anfälliger. Auch hier muß jedoch Sozialisation und Arbeitsteilung in Betracht gezogen werden: Untersuchungen über matriarchalische Staaten mit einer Umkehrung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung führen zu dem Schluß, daß die körperliche Kondition Ergebnis und nicht Ursache geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ist. In unserer Gesellschaft werden Jungen von Geburt an in der Entwicklung physischer Kräfte gefördert. Im Gegensatz dazu wird diese Entwicklung bei Mädchen unterbunden. Koedukation im Sportunterricht z.B. wird gerade in dem Alter (10 bis 11 Jahre) von geschlechtsspezifischem Training abgelöst, in dem Mädchen angeblich einen Vorsprung vor Jungen in der körperlichen Entwicklung haben.
Das Ergebnis all dieser Untersuchungen ist also weitgehend eindeutig, obwohl es nicht immer so interpretiert wird: Allgemein angenommene geschlechtsspezifische Unterschiede in Persönlichkeitscharakteristika, intellektuellen Fähigkeiten und körperlicher Konstitution sind Resultat von Sozialisationsprozessen und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.
Sexualität
Ähnlich wie Mädchen in verschiedenen Entwicklungsprozessen blockiert und in bestimmte Richtungen gedrängt werden, so werden sie auch im Erfahren ihrer Sexualität gebremst und in Widersprüche verwickelt,
Jungen sind von klein auf mit ihrem Geschlechtsteil vertraut. Dadurch daß der Penis auch die Funktion des Urinierens hat, ist das Berühren des Penis eine tägliche, selbstverständliche Angelegenheit. Oft sieht man kleine Jungen mit ihrem Penis spielen oder ihn stolz vorzeigen. Das Spielen mit dem Geschlechtsteil wird beim Jungen im allgemeinen mit Nachsicht behandelt, während es beim Mädchen meist rigide abgeblockt wird. Es verstößt gegen die »natürliche« weibliche Schamhaftigkeit.
So schreibt Elena G. Belotti ironisch: »Man kann sehr gut eine Frau werden, ohne die eigene Sexualität bewußt zu erleben, aber man kann kein Mann werden, wenn man seinen Geschlechtstrieb nicht voll ausgelebt hat und sich dessen bewußt ist...«[29]
Es gibt durchaus Orte und Zeiten, in denen auch Jungen und Männer davon abgehalten wurden, ihre Sexualität frei zu entwickeln. So wurden im 19. Jahrhundert in den USA junge Männer davor gewarnt, ihre Energien durch Geschlechtsverkehr oder Masturbation zu verschwenden. Ihnen wurde geraten, eine Arbeitsumgebung zu suchen, die frei von Frauen war.[30] Männer sollten sich von Frauen abkapseln, um Großes zu leisten; Frauen sollten weder ihre Sexualität noch ihre geistigen Kräfte entwickeln. Für sie hatte die Ideologie vorgesehen, daß geistige Beschäftigung zur Unterentwicklung des Uterus führen würde.
Frauen, die sich nicht in ihre Rolle fügten, wurden »hysterisch« benannt. »Hysterie« (hystera = Gebärmutter) wurde mit Operationen wie Gebärmutter- oder Eierstockentfernung »behandelt«. Sexuelle Bedürfnisse wurden Frauen nicht zugestanden; sie konnten deswegen für körperlich oder geistig krank erklärt werden [31] - nicht zuletzt, weil weibliche Sexualität unvereinbar war mit dem Bild der Reinheit und Unschuld, eben dem der Heiligen, das sie für Männer zu verkörpern hatten. Andererseits wurde jedoch von ihnen erwartet, daß sie als außereheliche Geliebte, als Prostituierte, als Nackttänzerin usw. zum Anheizen der männlichen Potenz zur Verfügung standen: der alte Widerspruch (Heilige: Hure), der sich bis heute erhalten hat.
Dahinter steht die Angst, Frauen könnten sich bei Bewußtwerden ihrer eigenen Sexualität aus der sexuellen Verfügbarkeit und finanziellen Abhängigkeit vom Mann befreien, sich dann männlichen Moralvorstellungen und Besitzansprüchen nicht mehr fügen und eigene Ansprüche entwickeln. Bis heute werden Frauen von Männern gekauft als Ehe- und Hausfrau, als Call-Girl oder als Geliebte.
Wie schon ein 13-jähriges Mädchen aus der Hauptschule sich selbst und Frauen in ihrer Umgebung ausschließlich als Sexualobjekt ohne eigenen Willen begreift, zeigt folgender Aufsatz,[32] der von ihr selbst, ihrem 10-jährigen Bruder und zwei 12-jährigen Freundinnen verfaßt wurde:
- »Seitdem nahm sie immer die Antibabypille »
Es war einmal ein Mädchen, die hieß Mona. Die wollte so gerne einen Freund haben. Einmal ging sie baden, verlor ihre Hose und sie schrie ganz laut und sprang ins Wasser. Da zog sie sich die Hose hoch - die Männer haben gekiekt. Da war ein Junge dabei, der sagte zu Mona: »Willst du meine Freundin sein?« »Ja, gerne, wenn du nicht zuviel Unfug anstellst.« »Was denn für'n Unfug?« »Du weißt schon.« »Was denn, sag schon!« »Die andern Mädchen hinterhersehen. Ins Gebüsch gehen mit ihnen. Abknutschen. Bumsen. Ficken.« Da sagt Rainer: »Wollen wir ins Gebüsch gehen?« Mona sagt: »Ja.« Helga sagt: »Ich würd mit 14 noch kein Kind haben wollen.« Mona sagt: »Meine Mutter hatte schon mit 17 ein Kind.« Da kommt plötzlich ein Junge angeflogen, weil er die Superpille nimmt und fragt Helga: »Wollen wir beide ficken?« Helga sagt ja und da sagt der Junge: »Bei dir zu Hause im Bett.« Beide gehen ins Bett und bumsen. Plötzlich kommen Mutter und Vater rein: »Au weia, was macht ihr denn da?« Vater sagt zu Mutter: »Komm, das machen wir auch!« Beide ziehen sich aus und vögeln, ficken.
Da kommt die Polizei und klingelt. Mutter geht nackend zur Tür. Der Polizist sagt: »Schämen Sie sich gar nicht?« und ging rein und küßte sie. Da wurde der Mann eifersüchtig und schlug den Polizisten in die Fresse und warf ihn raus.
Da kam Helga und küßte Vater auf den Puller und Vater küßte sie auf die Titten. Helga bekam nach 9 Monaten ein Kind. Das Kind brachte sie ins Waisenhaus. Seitdem nahm sie immer die Antibabypille.
Die extremste Form von Verfügung über Frauen und ihre Sexualität ist die Klitoridektomie (Wegschneiden der Klitoris). Immer noch werden Mädchen in vielen Ländern wie zum Beispiel Ägypten, Äthiopien, Sudan, Kenia, Tansania verstümmelt. Die letzte bekanntgewordene Klitoridektomie in den USA wurde 1948 an einem 5-jährigen Mädchen vorgenommen, das sich selbst befriedigte.[33] Aber erst kürzlich wurde mir berichtet, daß an einem Mädchen in den USA aus demselben Grund Anfang der Sechziger Jahre (!) eine solche »Operation« an der Klitoris gemacht wurde. Die meisten Fälle werden nicht bekannt; es ist anzunehmen, daß es hier eine hohe Dunkelziffer gibt.
In der letzten Zeit ist mehr über die Klitoridektomie veröffentlicht worden. Aufgrund eines Artikels in EMMA schlossen sich Hunderte von Frauen zu Protestaktionen zusammen und sammelten Unterschriften, um die Öffentlichkeit, die UNO, die Weltgesundheitsbehörde usw. gegen dieses Verbrechen zu mobilisieren.[34]
Daß in »zivilisierten« Ländern neue Methoden entwickelt werden, ist weniger bekannt: In der BRD wird das Hormonpräparat Androcur Mädchen verabreicht, die »zuviel« onanieren. Das Präparat wurde Mädchen ab 2 1/2 Jahren gegeben, obwohl sogar die Herstellerfirma Shering sagt, daß es nicht vor der Geschlechtsreife und vor abgeschlossenem Knochenwachstum angewandt werden soll.[35] Die Mädchen wurden zum Teil passiv und nahmen an Gewicht zu. Dasselbe Präparat wird bei männlichen Sittlichkeitsverbrechern verwendet!
Mädchen sollen über ihr Lustempfinden nicht frei entscheiden. Sie sollen auch keine starken emotionalen und gar sexuellen Beziehungen zu anderen Mädchen haben. Schon sehr junge Mädchen begreifen, daß solche Freundschaften nicht akzeptabel sind. Ich habe mit vielen Frauen gesprochen, die sich erst in einer intensiven Unterhaltung daran erinnerten, mit einer Freundin oder Kusine eine erotische Freundschaft gehabt zu haben. Sie hatten dies meist vor Erwachsenen oder auch Gleichaltrigen verheimlichen müssen und verdrängten diese oft sehr positiven Beziehungen. »Mädchenfreundschaften sind nichts wert« - das ist eine verbreitete Einstellung. Statt dessen wird von Eltern Konkurrenz zwischen Mädchen häufig unterstützt. So gibt es Eltern, die ihren Töchtern raten, nicht so hübsche Freundinnen zu haben, und sie anspornen, sich besser zu kleiden und mädchenhafter zu verhalten als die Gleichaltrigen.
Der Widerspruch, mit dem Mädchen in Bezug auf ihre Sexualität aufwachsen, wird schon in ganz frühem Alter angelegt. Im ersten Lebensjahr ist bei Mädchen und Jungen gleichermaßen eine gewisse Koketterie zu beobachten.[36] Während sie bei Mädchen als weibliches Verhalten bestärkt wird, wird sie bei Jungen nicht unterstützt und daher bald von ihnen abgelegt. Bei Mädchen geht das sich steigernd kokette Verhalten Hand in Hand mit der Unterdrückung von Energie, Spontaneität und Selbständigkeit. So lernt das Mädchen, »daß es mehr erreicht, indem es verführerisch und kokett ist, anstatt zornig mit den Füßen zu stampfen oder direkt und respektvoll um das zu bitten, was es haben will.«[37]
Die Rolle des Vaters
Darüber, welche Rolle der Vater bei der Sozialisation des Mädchens spielt, gibt es nur wenige Untersuchungen, die allerdings gezeigt haben, daß Väter noch stärker als Mütter an einer konservativen Geschlechterrollen-Konditionierung interessiert sind.[38] Väter sind sehr viel besorgter als Mütter, in ihren Söhnen Maskulinität zu betonen. Ebenso scheint ihnen die Feminität der Töchter als persönliche Bestätigung zu dienen; zur Stärke erzogene Mädchen könnten eine Gefahr für die männliche Machtposition sein.
Evelyn Goddenough Pitchers Befragung von Eltern in den USA zeigte, daß Väter nicht nur feminines Verhalten bei Mädchen fördern, sondern daß in ihrem Verhältnis zu Töchtern auch in sehr frühem Alter eine sexuelle Komponente mitspielt. Väter beschrieben ihre Töchter z.B. so:
»Sehr kokett. Galanterie und Umsicht machen Eindruck auf mich.«
Verführerisch, überzeugend, weiß, wie sie mich dazu kriegt, Dinge zu tun, die ihre Mutter nicht erlaubt.«
»Sie flirtet ein bißchen mit fast allen, besonders mit Fremden, manchmal auch mit mir. Kurze scheue Blicke und Lächeln, Tricks, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich bin wahrscheinlich völlig vernarrt in sie.«
»Ihre Scheu und ihr Flirten, ihr >komm doch mal und besuch mich<-Verhalten. Sie schmiegt sich gerne an. Sie wird mal sexy sein - meine Frau ärgert sich, wenn ich das sage.«
Während Väter die Koketterie der Tochter immer auf sich bezogen, sprachen Mütter davon, daß die Tochter mit dem Vater oder mit anderen flirtet. Ein Vater sagte: »Man ist sich dessen bewußt, daß zwischen einem kleinen weiblichen Kind und seinem Vater »ein sexueller Faktor eine gewisse Rolle spielt«, ein anderer: »Feminität kann meiner Ansicht nach nicht von einem gewissen Maß an Sexualität getrennt werden.«
Erst wenn man diese Einstellung vom Vater zur Tochter begreift, ist es möglich, deren Auswirkungen zu erkennen. So fiel mir im Bekanntenkreis auf, daß ein Vater seine 7-jährige Tochter häufig aufforderte, ihn zu küssen und auf seinen Schoß zu kommen, z.B. wenn sie Erlaubnis für irgendetwas haben wollte. Als er sie einmal mehrmals bat, mit ihm und der Mutter Mittagsschlaf zu halten, fragte ich ihn, warum er nicht seinen Sohn dazu auffordere. Er antwortete: »Es ist doch viel schöner mit einem kleinen Mädchen.« Die Auswirkungen dieser Erziehung sind deutlich sichtbar: Das Mädchen hat gelernt, daß sie durch Flirten etwas erreichen kann, und zwar besonders bei Männern. Die Mutter und andere Erwachsene bestätigen dieses Verhalten, indem sie das Mädchen »niedlich« finden. Ab und zu heißt es dann: »Was ist sie doch für ein gerissenes kleines Luder!«
Es ist erschütternd, aber gar nicht selten, daß viele Väter ihre Töchter sexuell mißbrauchen. In Diskussionen mit geschlagenen Frauen liefen die Aussagen der Mütter über die Männer immer wieder auf das gleiche hinaus: Die Väter wollten ihre Töchter erst einmal »ordentlich durchbumsen«, bevor diese eine sexuelle Beziehung mit einem Freund eingingen. Aus den Gesprächen ging hervor, daß Schlagen ebenfalls eine Form sexuellen Mißbrauchs ist: z.B. wenn Väter ihren Teenager-Töchtern die Unterhosen ausziehen, um sie auf den nackten Po zu schlagen. Vor kurzem erschien in EMMA ein erster Bericht über »Das Verbrechen, über das niemand spricht« und das statistisch kaum erfaßt ist. Bei den Fällen, die bekannt wurden, ergab z.B. eine 1969 in Brooklyn, New York, durchgeführte Untersuchung, daß bei jedem vierten Kind der eigene Vater oder Stiefvater die Tochter sexuell mißbraucht hatte. Die Zwiespältigkeit in der Sozialisation von Mädchen und ihre Abhängigkeit wird nirgendwo so brutal ausgenützt wie bei sexuellem Mißbrauch von Vätern und Verwandten an Mädchen. Dabei ist wesentlich, daß in unserer frauenfeindlichen Gesellschaft der Täter nicht nur gedeckt, sondern in vielen Fällen unterstützt wird. Davon wird auch in dem EMMA-Artikel gesprochen:
In der Literatur ist das Thema vorwiegend »prickelnd« (de Sade etc.), und in der Wissenschaft wird es zunehmend zu einer Sache, die sich zwischen zwei Menschen abspielt und die - so die Progressiven - ganz zu Unrecht bestraft wird.
So setzten sich die progressiven Sexualwissenschaftler in der BRD für eine Reform des Inzest-§ 173 ein. Ein Beispiel aus dem Vorwort zum »lnzest«-Buch von Maisch: »Mit Ausnahme von Tötungsdelikten an Intimpartnern gibt es wohl kaum einen Strafbestand, der Täter und Opfer in so enger, oft tragischer Verkettung von Zuneigung und Ablehnung, Angst und Faszination, Fürsorge und Rücksichtslosigkeit kurz, der ganzen Zwiespältigkeit, die gerade den engsten zwischenmenschlichen Beziehungen innewohnen kann - gemeinsam verstrickt.«[39]
Hier wird also vorgegeben, es handle sich bei dem Vergewaltiger und seinem Opfer um Partner. Ähnlich wie später Frauen als schuldig für Vergewaltigungen angesehen werden, steht hier schon der Gedanke im Hintergrund, daß eigentlich das Mädchen die Verführerin sei allein aufgrund ihrer Weiblichkeit.
Statistisch ist der sexuelle Mißbrauch von Mädchen kaum erfaßt. Die Untersuchungen von Gerichtsfällen in der Bundesrepublik und in den USA haben gezeigt, daß über 90% der Opfer weiblich und die Täter zu einem noch höheren Prozentsatz männlich sind. Gleichzeitig wurde festgestellt, daß 90 oder mehr Prozent der Täter Väter, Stiefväter oder Großväter waren. Inzestfälle zwischen Müttern und Söhnen sind verschwindend gering (4% und weniger).[40] Man mag argumentieren, daß Statistiken, die auf Gerichtsfällen basieren, nicht zu verallgemeinern sind. Die Ergebnisse von Kinnes u.a. bestätigen jedoch diese Diskrepanz zwischen den Erfahrungen von Mädchen und Jungen bezüglich sexueller Übergriffe von Erwachsenen.[41]
In einem Aufsatz über Vater-Tochter-Inzest berichten Judith Herman und Lisa Hirschman, daß Männer, die Inzest begehen, häufig als »Familientyrannen« beschrieben werden. Sie kommen zu dem Schluß: Die Wahrscheinlichkeit von Vater-Tochter-Inzest steigt mit dem Grad der männlichen Vorherrschaft in einer gegebenen Kultur.[42] Ich stelle gleichzeitig die Hypothese auf, daß die Gewalt von Männern gegen Frauen mit einer wachsenden Frauenbewegung und Frauenopposition zunimmt; dies schließt auch sexuellen Mißbrauch seitens männlicher Verwandter ein. Um so dringender muß die Tabuisierung dieses Verbrechens abgeschafft werden, Mädchen müssen Möglichkeiten gegeben werden, sich zu wehren.
Therapeutische Gespräche mit Frauen, die von ihrem Vater mißbraucht wurden (von fünfzehn Vätern waren übrigens acht Angestellte und Akademiker), brachten eine Reihe von Aspekten ans Licht. Sehr bezeichnend fand ich den Bericht einer Frau, die erzählte, daß ihr Vater, nachdem sie sich gegen Penetration gewehrt hatte, offene sexuelle Übergriffe unterließ, aber bald einen Grund fand, sie zu schlagen.[43] Viele dieser Frauen litten unter einer Distanz anderen Menschen gegenüber, dem Gefühl, anders und vereinsamt zu sein, und der Unfähigkeit, Kontakte zu schließen. Die Therapeut(inn)en führten diese Schwierigkeiten darauf zurück, daß die Frauen den sexuellen Kontakt mit dem Vater überstanden, indem sie passiven Widerstand ausübten und sich von ihren Gefühlen dissoziierten. So berichtete eine Frau, daß sie sich immer wieder sagte: »Das passiert eigentlich gar nicht.«
Eine andere Möglichkeit, mit der Hilflosigkeit und der erzwungenen konspirativen Beziehung zum Vater umzugehen, besteht darin, sich selbst eine negative Macht zuzuschreiben. So beschrieben sich mehrere Frauen als »Hexe«, als »Teufelskind«, als »gezeichnet«. Meist war die Beziehung zur Mutter sehr schwierig, oft voller Haß und Verachtung. Die Töchter sahen die Mütter bestenfalls als hilflose Opfer, unfähig, sich selbst, geschweige denn ihre Kinder zu verteidigen. Die Therapeut(inn)en erklärten diese tiefen Schuldgefühle und Gefühle von Scham, Erniedrigung und Wertlosigkeit mit der Machtposition der Tochter in der Familie durch die verschwiegene Inzestbeziehung, mit dem Bewußtsein bei vielen von ihnen, irgendeinen Gefallen an der Beziehung gefunden zu haben und mit den Vätern den Haß auf die Mütter zu teilen.
Die Autorinnen des zitierten Aufsatzes sehen in einer therapeutischen Behandlung nur eine begrenzte Hilfestellung, die die Notwendigkeit für präventive Maßnahmen nur um so deutlicher macht. Sie meinen, daß die Bestätigung in Selbsterfahrungsgruppen, mit diesen Erlebnissen nicht alleine zu stehen, sowie die öffentliche Anprangerung und Diskussion von tabuisierten Formen der Gewalt gegen Frauen mindestens so hilfreich sind wie die individuelle Therapie. Darüber hinaus müßten die Stellung der Mutter gestärkt und unterstützt und die Gesetze gegen Inzest, einschließlich der Rehabilitationsmaßnahmen, verschärft werden. »So lange Töchter in ihrer Kindheit sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind, wird keine erwachsene Frau frei sein. Vater-Tochter-Inzest wird, wie Prostitution und Vergewaltigung, erst verschwinden, wenn die männliche Vorherrschaft beendet ist.«[44]
Folgender Bericht der Tochter eines gehobenen Beamten beschreibt eine Situation, die viele Mädchen und Frauen auf ähnliche Weise erlebt haben. Die meisten ziehen nicht die Konsequenzen, zu denen Elke sich entschloss. Stattdessen verdrängen wir solche Ereignisse, nehmen Argumente auf, die uns täglich begegnen, wie »Es war ja nicht so gemeint«, ich muß nicht so empfindlich sein«, Männer sind eben so« und, was am gefährlichsten für unser Selbstbild ist: »Vielleicht war es meine Schuld«. Es scheint zunächst leichter, so mit dem Erlebnis umzugehen. Für Elke bedeutete ihr Entschluß, von zu Hause fortzugehen, gleichzeitig die Schulausbildung abzubrechen und ohne finanzielle Unterstützung dazustehen. Sie hat ihren Schritt jedoch nicht bereut, sondern hat viel Stärke aus ihrer offenen Ablehnung des Verhaltens ihres Vaters gezogen.
»Mein Vater ist ein ganz normaler Vater. In der Familie hat er alle Rechte. Das sieht so aus, daß er sonntags das größte Stück Fleisch bekommt und häufig sagt: >Wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.< Das Verhältnis zu meiner Mutter ist ebenfalls normal Er beherrscht sie. Sie hat sich zu fügen. Nur in einem Punkt hat sie sich durchgesetzt: sie verweigert sich ihm. Das heißt, daß schon seit ca. 20 Jahren nichts mehr mit Geschlechtsverkehr läuft. Mein Vater hat es hingenommen. Meine Mutter erzählte mir, daß sie es nicht wolle, weil sie keinen Spaß daran habe. Als ich 13 Jahre alt war, faßte mich mein Vater zum ersten Mal an die Brust. Ich kam von einer Feier nach Hause und war betrunken. Als ich im Bett lag, kam mein Vater, um mir >Gute Nacht< zu sagen, wie jeden Abend. Da muß er wohl gesehen haben, was mit mir los war. Er zog mich fest an sich, versuchte mich mit offenem Mund zu küssen. Er griff mir unter mein Nachthemd und streichelte meinen Bauch. Als er dann mit der Hand höher an meinen Busen fuhr und anfing, ihn zu streicheln, machte ich mich los und sagte zu ihm, daß er das lassen solle. Er lächelte, sagte: >Gute Nacht< und ging hinaus.
Ich traute mich nicht, mit meiner Mutter darüber zu reden. Mit meiner Freundin und meinem Freund redete ich über alles. Mein Vater und ich berührten dieses Thema nie wieder. Knapp vier Jahre danach faßte mein Vater noch einmal meinen Busen an. Es war Weihnachten. Als ich meinen Vater fragte, was er sich zu Weihnachten wünsche, sagte er: Eine Tochter, die ihren Vater lieb hat, mit ihm mal ins Theater geht, usw. usw. Er fing an zu weinen und nahm mich in den Arm. Er versuchte mich wieder mit offenem Mund zu küssen und ging mit einer Hand unter meinen Pullover. Er streichelte meine Brust. Durch seine Tränen war ich total verunsichert und wie versteinert. Ich wehrte mich nicht. Als meine Mutter aus dem Wohnzimmer kam, ließ er mich schnell los. Sie merkte nichts. Vierzehn Tage später zog ich von zu Hause aus.
Ich ging zum Vormundschaftsgericht, weil ich meine Volljährigkeit beantragen wollte. Es kam schließlich zu einer Anzeige, weil ich dort die Ereignisse erzählte, um meinen Antrag durchsetzen zu können. Die Justizangestellten einigten sich dann irgendwie mit meinem Vater - ich hörte jedoch nie wieder etwas von der Anzeige. Als ich dann einmal mit meiner Mutter darüber redete, glaubte sie mir nicht. Später hatte ich einmal ein Gespräch mit meinem Vater. Er gab schließlich zu, daß diese Dinge sich ereignet hatten, gab jedoch keine Erklärung oder Entschuldigung. Stattdessen sagte er, er wolle nicht, daß ich ihm dies über Jahre vorhalte.«
(Elke, 20)
Die Rolle der Mutter kann in solchen Fällen sehr problematisch sein. Töchter wollen oft der Mutter die Wahrheit ersparen, schützen aber dadurch den Vater. Elkes Mutter glaubte ihrer Tochter nicht. Eine solche Haltung ist aus der ökonomischen und psychischen Abhängigkeit von dem Mann erklärbar. Es ist jedoch wichtig, daß Frauen nicht die Augen vor dem Verhalten ihrer Männer verschließen. Mangelnde Solidarisierung kann zu Verachtung und Haß der Tochter auf die Mutter führen, ganz davon abgesehen, daß sie zunächst die einzige ist, die der Tochter überhaupt helfen kann.
Fast jede Frau wird über Situationen mit männlichen Verwandten berichten können, die einen mehr oder weniger offensichtlichen sexuellen Charakter hatten und in denen der Mann als Erwachsener Macht über das Mädchen hatte. Fast jede Frau wird sich erinnern, daß sie Hemmungen hatte, anderen über diesen Vater oder Onkel zu berichten, daß sie sich eher als die Schuldige empfand oder Angst hatte, als Lügnerin dazustehen. Genau hierin liegt das Fatale dieser Sozialisation: Einerseits werden Mädchen dazu erzogen, ihr Äußeres für Männer attraktiv herzurichten und zu flirten, um sich auf diese Weise gesellschaftliche Anerkennung zu holen. Andererseits dient dieses Verhalten Männern als Legitimation - »die wollen es ja nicht anders... die hat's doch so gewollt« - wenn sie Mädchen und Frauen als Sexualobjekte mißbrauchen.
Der Fall einer Schülerin in den USA verdeutlicht diese Einstellung (und der Ton des Berichterstatters ist bezeichnend!):
Mädchen sollen sexuell aufreizend, aber doch zurückhaltend sein. Der Mann muß die Kontrolle über die sexuelle Annäherung behalten. »Fängt man als Mädchen an, dann ist man sofort stadtbekannt. Dann ist man so eine.«[45]
Zurückhaltung ist erwünscht - sie gibt dem Mann die Gelegenheit, der »Eroberer« zu sein (siehe Ovid: »... und wenn ich dich bitte, >ja< zu sagen, sage >nein<. Dann laß mich draußen vor deiner verriegelten Tür liegen... So wird mein Verlangen stärker und stärker werden...«[46] ), und macht sexuelle Annäherung von Männern in vielen Situationen gesellschaftlich akzeptabel. Die Gewöhnung der Gesellschaft an aggressives sexuelles Verhalten von Männern geht bis zur Tolerierung von Vergewaltigung. Dadurch, daß von Frauen Zurückhaltung erwartet wird, können Männer auch Verweigerung immer mehr als Zurückhaltung für sich auslegen. Bei der Frau kann diese konfliktreiche Situation dazu führen, daß sie etwa Vergewaltigung in der Ehe akzeptiert, weil sie nicht gelernt hat, offensiv zu sein, und oft keine Unterstützung von außen erhält.
Die Eigenschaften, die Mädchen sich aneignen sollen, sind mehr negativ als positiv belegt; Anpassung und Charme z.B. werden oft als Dummheit und Schwäche ausgelegt. Gleichzeitig wird das Bild der Frau als Verführerin der Männer immer wieder reproduziert; auf diese Weise verkörpert sie dann das Böse, das die Gewalt von Männern ihr gegenüber rechtfertigt. Sexualität wird also als etwas Verbotenes dargestellt, aber Männer (einschließlich der Väter, Onkel, Lehrer etc.) begegnen Mädchen in einer mehr oder weniger offenen sexuellen Weise, die ihnen bald klarmacht, daß sie zu dem Personenkreis gehören, der in erster Linie auf seine Geschlechtszugehörigkeit hin behandelt und beurteilt wird.
Sie sollen diesen Konflikt lösen, indem sie die zweite für Frauen vorgesehene Verhaltensstruktur erlernen, nämlich Haushälterin, Mutter, Dienerin des Mannes zu sein (also unbezahlte Arbeitskraft für den Mann und den Staat, was vom Mann dann so ausgedrückt wird: »Ich verdiene jetzt genug, um mir eine Frau leisten zu können.«). Auch diese Funktion wird nicht eindeutig positiv bewertet, ist sie doch nur die einer Dienerin, und auch die treueste Dienerin wird für ihre Unterwürfigkeit verachtet.
Väter tragen häufig entscheidend zur Entwicklung dieser konfliktreichen Situation bei. Wie katastrophal der Einfluß des Vaters und die stillschweigende Hinnahme seitens der Mutter sein kann, zeigt dieser
Bericht einer Lehrerin:
»Ich hatte ein Mädchen in der Klasse, die war 13. Ihr Vater hatte wohl keinen Geschlechtsverkehr mit ihr, das war wohl auch gegen seine Religion, aber er hat sie ganz eindeutig als Frau dargestellt, und zwar sowohl negiert als auch akzeptiert. Er hat ihr also jegliche Freundschaft mit Jungen verboten, alles verboten, was man eigentlich verbieten kann, und auf der anderen Seite ist er aber mit ihr Tanzen gegangen. Er hat sie z.B. auch zum Amüsement seiner Kollegen benutzt. Er hat sie also nachts um 2 aus dem Bett geschmissen, wenn er mit Kollegen nach Hause kam, und dann mußte sie Essen für die kochen usw. Und sie ist also ganz dabei baden gegangen. Sie ist auf den Strich gegangen, ist in meinem Beisein von ihren Eltern als Hure beschimpft worden.
Dies ist ein sehr extremer Fall, aber ich glaube, solche Sachen laufen, wenn auch nicht so extrem, sehr häufig ab. Sie liegt jetzt im Krankenhaus, ist im 6. Monat schwanger, weiß nicht von wem und ist total fertig. Ich hab' gehört, sie hatte gedroht, das Kind umzubringen, und ist deshalb ins Krankenhaus gesteckt worden. Sie ist jetzt 14 und ist kaputt. Und das war ein sehr aufgewecktes Mädchen. Sie war bei Schülern und Lehrern gleich beliebt und anerkannt und hatte eigentlich von sich her keine Schwierigkeiten.«[47]
(Hauptschullehrerin)
Eine derartige Verkrüppelung von Impulsen, Energien, Anlagen und potentiellen Fähigkeiten ist notwendig, um das »Wesen« Frau zu entwickeln, eine Person, die anscheinend im Gegensatz zum Mann dazu geschaffen ist, »unqualifizierte« Arbeiterin, Hausarbeiterin, Mutter, Helferin, Pflegerin, Trösterin, Verführerin zu sein.
Elena G. Belotti schreibt: »Die Überlegenheit und Macht beim einen Geschlecht ist ausschließlich dadurch möglich, daß das andere Geschlecht schwach und unfähig ist.«[48] Ich stimme nicht ganz damit überein. Unsere Schwäche liegt da, wo man es schafft, uns glauben zu machen, daß wir zu schwach und unfähig sind, unser Leben in unsere Hände zu nehmen und damit gegen die Macht, die andere über uns ausüben, anzukämpfen.
Die Erziehung von Mädchen verläuft auf allen Ebenen zwiespältig: Sie sollen körperlich schwächer als Männer sein, aber sie sollen Stärke und Ausdauer entwickeln, um den Nachwuchs zu gebären und aufzuziehen. Sie sollen nicht aktiv, sondern angepaßt und abwartend sein, ohne dabei langweilig zu werden. Sie sollen nicht zu intelligent sein, aber doch fähig, die neue Generation zu erziehen, eine Familie zu organisieren, möglicherweise gleichzeitig eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Sie sollen schutzbedürftig, aber zugleich für das physische und psychische Wohl von anderen verantwortlich sein. Sie sollen emotional und sensibel, doch stabil genug sein, Schwerarbeit auszuführen und dies mit der Zusatzbelastung Hausarbeit. Und diese »weiblichen« Fähigkeiten werden dann als gesellschaftlich minderwertig abqualifiziert, bringen den Frauen weniger Entfaltungsmöglichkeiten, werden aber gleichzeitig durch den Ehe- und Mutterschaftsmythos aufgewertet.
In der Familienerziehung wird die Grundlage für die spezifische Funktionalisierung von Mädchen und Frauen gelegt. Wie wir gesehen haben, geschieht dies teils in sehr unverbrämter Weise, teils aber so subtil, daß viele Eltern sich dessen nicht bewußt sind. Erwachsene müssen sich dieses Bewußtsein erarbeiten, damit Mädchen die Entwicklungsmöglichkeiten bekommen, die ihnen zustehen. Dazu gehört die Bereitschaft, Selbstkritik zu üben und die eigene Lebensweise zu verändern.
Die Botschaft der Medien
Was Mädchen in der Familie lernen, wird ihnen oft noch intensiver von den Medien beigebracht. Egal, ob es sich um Kinderbücher, Filme, Fernsehen oder Rundfunk handelt: Mädchen werden bestenfalls als Zuträgerinnen und Bewunderinnen von Jungen gezeigt und müssen von ihnen auch noch beschützt werden, oder sie kommen überhaupt gar nicht erst vor. Daran hat sich nichts geändert, im Gegenteil. In Frankreich z.B. wurde festgestellt, daß der Prozentsatz an männlichen Hauptpersonen in Kinderbüchern immer mehr steigt, während der an weiblichen fällt.[40]
Die Botschaft wird durch Wort und Bild übertragen. Jungen sagen Mädchen, was sie tun sollen, und Mädchen gehorchen. In Kinderliedern geht Hänschen wohlgemut und ganz allein in die Welt hinaus und hinterläßt die weinende Mutter, während Mädchen den fleißigen Waschfrauen, die den ganzen Tag lang waschen, hängen, bügeln, zuschauen und zugleich mit dem Singen lernen, die, entsprechenden Bewegungen auszuführen.
Untersuchungen von Kinderbüchern in Großbritannien, Frankreich und den USA ergeben alle dasselbe Bild: Jungen werden mutig, unabhängig, erfolgreich und kontaktfreudig, Mädchen ergeben, ängstlich und emotional dargestellt. Das Leben von Mädchen und Müttern spielt sich hauptsächlich im Haus ab, während die Väter mit ihren Söhnen abenteuerlichen oder wichtigen Freizeitaktivitäten nachgehen. Abends liest der Vater die Zeitung, woran die Mutter wenig Interesse zu haben scheint.[50]
Werden Berufe dargestellt, sind es vor allem Männerberufe; diejenigen, in denen Frauen gezeigt werden, sind meist untergeordneter Art. Gaby Karsten fand z.B. in ihrer Untersuchung von Grundschullesebüchern, daß in elf verschiedenen Büchern 178 Berufe für Männer und 23 für Frauen erwähnt werden, wovon 88,6% »typische« Männerberufe sind und für Frauen nur Tätigkeiten als Dienst- oder Hilfskräfte übrigbleiben.[51]
Zu oft dreht es sich in den Mädchenbüchern um Probleme, die für Mädchen angeblich realistisch sein sollen, ihnen aber wenig Phantasie und alternative Vorstellungen bieten: Sie sind auf Jungen zentriert oder wälzen Probleme, die mit Familie und Schwangerschaft zu tun haben, während Jungen gemeinsam spannende Abenteuer erleben. Hier einige Klappentexte von Mädchenbüchern:
Ein Urlaub auf Mallorca führt Uschi und Doreen zusammen. Doch bald trennen sich ihre Wege. Beide Mädchen stehen vor eigenen Problemen, für die sie Antworten suchen: Schule, Freundschaft, Schwangerschaft, Familie.[52]
Ana, das Mädchen aus dem Valon, möchte in die Welt hinaus. Statt dessen verliert sie bei einer Explosion, die ihr Bruder verursacht, ihr Augenlicht. Sie erblindet und wird nun ihr Leben lang auf die Hilfe anderer angewiesen sein.[53]
In Sarahs Zimmer hat Jenny zwar die Fähigkeit zu fliegen, aber sie fliegt nicht etwa in eine abenteuerliche Welt, sondern in ein Puppenhaus, wo sie sich »sogar« das Babybett ansieht.[54]
Von diesen Beispielen könnte ich noch viele bringen.
Inzwischen gibt es eine Reihe von Büchern, die Mädchen direkt ansprechen und ihnen ein besseres Selbst- und Zukunftsbild vermitteln wollen. In einigen werden sie als aktive Hauptpersonen gezeigt wie z.B. in Julie von den Wölfen von der englischen Schriftstellerin Jean C. George.[55] Andere Bücher veröffentlichen Berichte von Schüler- und Lehrerinnen sowie Aufzeichnungen von Mädchen, die zwar eine Realität vermitteln, aber selten weiterführende Wege aufzeigen. Sie haben teilweise den Anspruch, lehrreich zu sein und zu Diskussionen anzuregen,
aber ohne helfenden Kommentar kann das auch zu falschen Schlüssen führen.[56] Weitergehend ist da Das rosarote Mädchenbuch von Hedy Wyss,[57] das nicht nur viel Stoff zum Nachdenken bietet, sondern darüber hinaus zur Veränderung ermutigt.
Auswirkungen in Spielen
Natürlich schlägt sich dieses ständige Bombardement mit eindeutigen Botschaften auch in den Spielen von Kindern nieder. Jungen erhalten Spielzeug, das teurer und vielfältiger ist sowie mehr Aktivität verlangt.[58] Eine Untersuchung in den USA ergab, daß für Mädchen kein einziges wissenschaftliches Spielzeug gekauft wurde.[59] Jungen spielen mehr Konstruktionsspiele (Bausteine, Baukästen usw.), wodurch sie lernen, mit Materialien umzugehen, die auf ihre spätere Funktion im Produktionsprozeß hinweisen. Und eben das lernen auch Mädchen: Sie stricken, sticken, waschen Kleider für Puppen! Der nachstehende Artikel beweist, wie ihnen ihre zukünftigen Funktionen über das Spielzeug antrainiert werden.[60]
Bei Mädchen herrschen Rollenspiele vor, die zwischenmenschliche Beziehungen betonen.[61] Wenn sie beim Spiel mit Jungen zusammentreffen, finden wir eine oft erschütternde Reproduktion der gesellschaftlichen Realität: Der Junge ist Arzt, das Mädchen Assistentin, er Chef, sie Verkäuferin; sie wird von Cowboys oder Indianern geraubt, gefesselt und - wenn sie Glück hat - von Jungen gerettet.
Nicht nur die zukünftigen geschlechtsspezifischen Funktionen erscheinen in den Spielen, sondern auch eine Brutalität, die das Verhältnis von Männern zu Frauen häufig charakterisiert. Kürzlich sah ich, wie ein Junge einen Messerwerfer imitierte und ein Mädchen immer wieder mit Bällen bewarf. Als sie mehrere Bälle gegen die Brust bekommen hatte, lief sie schließlich weg und beschimpfte ihn halb weinend. Ich fragte den Jungen, was er sich dabei gedacht habe, und er antwortete: »Was wollen Sie denn, ich hab' sie doch schließlich nicht vergewaltigt!«
Es gibt durchaus Mädchen, die, zumindest bis zu einem gewissen Grad, im Spiel von Jungen anerkannt werden. Jedoch sind sie ebenso in der Minderheit wie Mädchen, die miteinander nicht-stereotype Spiele spielen. Gerade über sie aber sollten wir in Büchern und den anderen Medien mehr erfahren.
Die folgenden Berichte geben einen Einblick, welche Auswirkungen unterschiedliche Sozialisations- und Lebensbedingungen für Frauen haben. Sie zeigen, wie das Verhalten von Eltern Mädchen beeinflussen kann, ihre Stärke zu entwickeln bzw. zu unterdrücken. In Inges Geschichte sehen wir, wie die Erfahrung der eigenen Durchsetzungskraft sie dazu befähigt hat, einen Lebensweg einzuschlagen, den sie sich sonst vielleicht nicht zugetraut hätte.
Ich hab' mich nicht unterkriegen lassen ...
Meine Großmutter hatte nie einen Beruf gelernt. Mein Großvater war bäuerlicher Herkunft und mein Vater kam aus einem großbürgerlichen Offiziershaushalt. Er war innerhalb seiner Familie das sogenannte schwarze Schaf, weil er zwar ein großer Maulheld war, aber im Prinzip nie so recht was zustande gebracht hatte. Er war sein Leben lang, was man heute Facharbeiter nennen würde. Aber sein großbürgerliches Herkunftsmilieu bewirkte, daß er uns Kindern immer versuchte, Bildungsgüter einzutrichtern, obwohl unser Lebensstandard eigentlich nicht dazu paßte. Wir wurden am Abendbrottisch nach irgendwelchen Sachen abgefragt und mußten wie die Marionetten Auskunft geben. Ich bin die mittlere von insgesamt drei Töchtern, die Große war vier Jahre älter und die Kleine war acht Jahre jünger als ich. Die war so ein Nachkömmling. Meine Mutter war eine zwar ungebildete, aber sehr intelligente Frau von einer vitalen Begeisterungsfähigkeit; wahrscheinlich war sie auch hochbegabt und hat immer unter ihren Einschränkungen gelitten. Da mein Vater nicht in der Lage war, die Familie materiell abzusichern, haben wir in dickster Armut vor uns her gelebt und meine Mutter hat versucht, das mit ihren Talenten auszugleichen. Die ersten Kindheitsjahre waren bei mir, glaube ich, ganz in Ordnung. Bei uns spielten die Kinder eine positive Rolle. Ich hatte zudem noch das Schwein, daß ich Vaters Lieblingstochter war, weil ich talentiert zu sein schien. Mir fiel die Schule sehr leicht und ich hatte Erfolge; bei einem Zeichenwettbewerb habe ich mal den ersten Preis gemacht und das stand dann in der Zeitung. Für meinen Vater, der versuchte, seine Minderwertigkeitsgefühle mit uns kompensatorisch auszugleichen, war das natürlich ganz toll: >...seine Tochter, mit seinen genetischen Anlagen!<
Als ich elf war, sind meine Eltern geschieden worden; da ich dann schon etwas vernünftiger war, ist mir dann auch erstmal klar geworden, was das für eine schlimme Ehe gewesen sein muß. Meine Mutter war, soweit ich mich erinnern kann und soweit ich das bewußt wahrgenommen habe, immer »krank«, d.h. sie hatte Depressionen und zwar hochgradige; für uns Kinder hieß das immer, die Mutter sei nervenkrank. Sie lebte immer nur in Extremen, entweder war sie in den gesunden Phasen eine himmelhochjauchzende, begeisterungsfähige Frau, plötzlich, von einem Tag zum anderen wurde sie grau, aschfahl, saß da und weinte, war nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu machen. Mein Vater hat sie dann durch sämtliche Ost-Berliner Kliniken geschleppt. Zu dem damaligen Zeitpunkt hat man als Therapie noch Elektroschocks gemacht. Die Abstände wurden im Laufe der Ehe immer kürzer. . . Ich habe immer fürchterliche Szenen miterlebt, Abwehrreaktionen, wenn sie ins Krankenhaus geschafft wurde; aber ich habe nie so ganz mitgekriegt, ob mein Vater sie nun gegen ihren Willen gezwungen hat... Das nervenkranke Dasein der Mutter wurde von Vaters Seite sehr häufig erwähnt. Das war der erste Punkt, wo wir Töchter getrimmt wurden, im Haushalt mitzumachen; Mein Vater hat dann nachher darauf verzichtet, sie in die Klinik zu bringen, weil das nichts gebracht hat - dann hat sie versucht, medikamentöse Schocks mit Pervitin zu Hause zu machen. Für mich als Kind hat das bedeutet, daß ich sie häufig in fürchterlichen Situationen im Schlafzimmer vorgefunden habe, schweißgebadet, krampfartige Zuckungen usw. Am nächsten Tag war es dann wieder gut und es ging dann wieder eine Weile. Offensichtlich waren die Hauptursachen die Ehe mit meinem Vater, die gesamten Frustrationen ihres Lebens und da wir immer am Hungertuche nagten. Wir mußten manchmal zum Monatsende Flaschen verkaufen, damit wir noch Geld für Kartoffeln hatten. Ihr Lebensunwille wurde immer größer und sie hat schon öfter von Selbstmord gesprochen und gesagt, wir Kinder hätten es besser ohne sie, sie wäre für die ganze Familie nur eine Belastung, sie wolle nicht mehr und sie könne nicht mehr. Das schlimmste traumatische Erlebnis für mich war, als ich sie bei einem Selbstmordversuch erwischte. Sie versuchte, sich im Schlafzimmer zu erdrosseln. Ich habe sie dann noch gerettet. Da war ich neun Jahre alt. In den Phasen, wo sie so total krank war, hatte ich als beste Schülerin zu Hause zu bleiben, mußte nach dem Rechten sehen, einkaufen, Haushalt machen und auch ein bißchen auf sie aufpassen, damit sie sich nichts antat.
Als meine Eltern geschieden wurden, ist mein Vater - er war damals schon eine ganze Weile Grenzgänger, hat in einer Fabrik in Westberlin gearbeitet, aber noch in Ostberlin mit uns gelebt - ganz nach Westberlin gezogen. Dieses Scheidungsurteil sah in Bezug auf den Versorgungsanspruch derartig katastrophal für uns aus, daß Mutter gezwungen war, einen illegalen Weg zu beschreiten, indem sie den offiziellen Satz von ihm in West kassiert hat und dann 1:4 umtauschte, um uns über die Runden zu bringen.
Als wir dann alleine lebten, zeichnete sich vorübergehend ein heller Streifen am Horizont ab, weil wir offensichtlich spannungsfreier ohne ihn lebten. Meine Mutter hat versuchsweise immer mal wieder gearbeitet, in der Schokoladenfabrik, auch mal als Verkäuferin, aber das hat sie aus gesundheitlichen Gründen nie lange geschafft. Meine große Schwester, die in die Pubertät kam und schon Männergeschichten hatte, ist dann rausgeflogen. Dann war ich also mit meiner Mutter und mit meiner kleinen Schwester alleine. Meine Mutter hat nochmal eine Reise gemacht. Das schien ihr gut bekommen zu sein, weil sie dort auch einen Mann kennengelernt hatte. Vorübergehend gab es eine richtig euphorische Phase. Zu diesem Zeitpunkt war ich ungefähr vierzehn und habe mich irrsinnig gut verstanden mit ihr, weil ich auch meine ersten Schwärmereien in Bezug auf Jungens bei ihr ablassen konnte. Dann kam von dem Mann, den sie auf der Reise kennengelernt hatte, ein Brief, der eine persönliche Abfuhr beinhaltete. Danach ist sie sofort wieder in die Depression zurückgerutscht und fing auch wieder an, mit Selbstmordgedanken zu spielen.
Eines Tages kam die Direktorin ins Zimmer reingerannt und sagte, ich müßte nach Hause, die Russischarbeit bräuchte ich nicht mitzuschreiben - alle gröhlten - >He, hat die ein Schwein!< meine Mutter wäre verunglückt. Ich konnte mir schon etwas denken. Ich mußte noch mit der U-Bahn fahren; wir wohnten in einer Straße, die man, wenn man vom Bahnhof kam, in der ganzen Länge schon einsehen konnte, obwohl wir ganz hinten erst wohnten, und da sah ich schon Feuerwehrautos stehen und ein Menschengewühl. Das war ein Spießrutenlaufen vom Anfang der Straße bis dahin. Als ich dann ankam - die Taktlosigkeit der Menge ist ja auch durch nichts zu überbieten - da tuschelte man dann sehr laut >Ach, das ist das arme Kind von der Frau, die sich da oben das Leben genommen hat, laßt die mal durch!< Wir sind dann nach Westberlin gegangen, in der Hoffnung, daß unser Vater uns nehmen würde. Irgendwann kam der Vater in das Flüchtlingslager und hat mit einem gönnerhaften Ton gesagt, er hätte sich durchgerungen, eine von uns zu nehmen und zwar mich. Weil ich ja seine Lieblingstochter sei. Die anderen beiden müßten nach Westdeutschland zu seiner Schwester.
Nach zwei Jahren stellte mein Vater die Zahlungen an seine Schwester für das Kind ein. (Meine große Schwester hatte sich selbständig gemacht.)
Mein Werdegang war inzwischen so, daß ich bei meinem Vater einquartiert wurde, offensichtlich gegen den großen Protest dieser Frau, die zu dem Zeitpunkt noch nicht mit ihm verheiratet war. Ich sollte sofort in die Fabrik Geld verdienen. Da habe ich an das >mehr scheinen als sein<-Gefühl meines Vaters appelliert, nach dem Motto, daß er das doch wohl von mir nicht wollte, daß ich, die ich angeblich so hochbegabt war, in die Fabrik müßte und ich wollte doch Medizin studieren. Er hat dann gesagt, nun, ausnahmsweise, dann sieh dich mal um nach einem medizinischen Hilfsberuf, wenn das schnell geht, dann kannst du das machen. Dann bin ich alleine zum Arbeitsamt getigert und habe dort erfahren, daß es nur einen medizinischen Hilfsberuf gibt, der nur zwei Jahre dauert. Den habe ich dann erlernen dürfen. Die Lernperiode begann erst am 1. April. Da es Februar war, bin ich zu einer Zahnärztin in die Aushilfe gegangen, als Vorgeschmack auf den späteren Beruf. Hier durfte ich den Fußboden schrubben und Kachelöfen heizen. Ich bekam keinen Pfennig Taschengeld. Ich lief mit meinen Ost-Fummeln rum, die nicht sonderlicher Natur waren; ich kriegte richtig Zustände auf den Straßen, weil ich mich von den Blicken verfolgt fühlte. Was habe ich gemacht? In der »Filmrevue« war ein Wettbewerb ausgeschrieben: >Leser äußern ihre Meinung zu einem bestimmten Star und die Artikel, die sehr gut sind, werden veröffentlicht und honoriert<; da habe ich 50 DM gekriegt, und mir dafür Klamotten gekauft, Zu Hause hat das einen Riesen-Trouble gegeben, aber ich habe durchgesetzt, daß ich das nicht abzugeben brauchte. Dann fing ich meine Lehre in Kreuzberg an. Inzwischen spitzte sich die Situation zu Hause so zu - also >zu Hause< kann man dazu nicht sagen; ich war von Anfang an ein Eindringling, dem das so deutlich vermittelt wurde, daß das schon nicht mehr zum Aushalten war. Ich habe verschimmelte Brote mit zur Arbeit gekriegt, mußte die schlimmste Dreckarbeit im Haushalt machen, durfte bestimmte Räume der Wohnung nie betreten.
Ich war die einzige in der Familie mit roten Haaren. Dafür wurde ich bestraft: die Frau hob jedes rote Haar vom Teppich und sagte: »Wie eklig, nur Hexen haben rote Haare.«
Ich hatte immer ein ganz kleines Foto von meiner Mutter auf dem Nachtisch zu stehen. Das Foto lag eines Abends in 97 Schnitzel zerrissen auf meinem Kopfkissen. Das war so diabolisch, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Der Haß dieser Frau hat sich dann so eskaliert, ich konnte da schon nicht mehr atmen. Mein Lehrherr hat das dann gemerkt, der hat ein bißchen von den häuslichen Verhältnissen gewußt, dem tat ich auch sehr leid und der hat gesagt >das ist doch wohl nicht zu fassen!< als ich am nächsten Tag flennend ankam; Ich hatte richtig einen Nervenzusammenbruch, ich schlotterte am ganzen Körper als ich zur Arbeit kam, und das, obwohl ich eigentlich ein fröhliches, sehr kommunikationsfreudiges, robustes Mädchen war. Mein Chef setzte sich für mich ein und schaffte es, daß ich mit 15 1/2 für volljährig erklärt wurde, zwar mit allen möglichen Beschränkungen und Auflagen, aber daß ich das Elternhaus verlassen konnte und mein eigenes möbliertes Zimmer beziehen durfte. Für die finanzielle Seite spielte er den Bürgen, denn mit 50 DM Lehrgeld war ja nicht viel zu machen; Die 50 DM für die Miete hat auch der Vater erstmal zahlen müssen. Gelebt habe ich von meinem Lehrgeld und meine Schwester schickte mir monatlich auch noch etwas. Es war irrsinnig wenig, aber es ging. Ich weiß noch, daß ich mir manchmal überlegt habe, ob ich mir noch für 10 Pfennig Sahnebonbons leisten kann oder nicht. Ich bin zur Arbeit gelaufen, um das Fahrgeld zu sparen. Aber ich war frei. Ich habe mich sehr gut im Beruf entwickelt durch diesen neuen Freiheitsanspruch.
Dann kam das Ereignis, daß meine Schwester hier auf dem Flughafen abgeholt werden mußte von meinem Vater, der sie wieder übernehmen sollte. Meine große Schwester war in der Zwischenzeit wieder nach Berlin gezogen, hatte geheiratet und sich eine richtig gutbürgerliche Existenz aufgebaut. Der Vater hat die Kleine dann zu Hause in das
Leben integriert, aus dem ich gerade ausgebrochen war. Ich hatte immer dieses Verantwortungsgefühl, weil meine Mutter zu mir gesagt hatte, bei ihren ganzen Selbstmordattitüden >Versprich mir, daß du dich um die Kleine kümmerst, wenn ich mal von euch gehe. Du wirst das schon machen.< Der Großen hat sie das eigentlich auch immer gesagt, aber die war darauf wohl weniger ansprechbar, die hat darauf immer gesagt >Ach, du spinnst< und so. Meine Schwester weigerte sich: »Das tut mir auch alles furchtbar leid für die Kleine, aber dieses Schwein von Vater soll sehen, wie er allein damit zurecht kommt.« Meine kleine Schwester wurde immer zum Wochenende zu mir verfrachtet, ich wohnte ja ganz in der Nähe, damit dann dieses glückliche Pärchen seinem Leben frönen konnte. Dann hatte ich von 17 bis 18 in der Woche meine Arbeit und am Wochenende meine kleine Schwester; mit der bin ich dann in die Kindervorstellung gegangen, auf den Rummel und was weiß ich! Jede Form von Freundschaft zu Jungens habe ich immer sofort eingebüßt, denn die Schwester war ja immer dabei. Die Kleine wurde völlig verschüchtert, war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ich wollte nicht, daß sie ins Heim kommt. Eines Nachts, nachdem ich immer die Wochenendfamilie für meine Schwester gespielt hatte, klingelte es bei meiner Wirtin und bei mir und da stand der Vater mit einem Koffer und der Kleinen an der Hand und sagte, seine Frau hätte verrückt gespielt und das Kind raugeschmissen. Ich sollte sie nehmen, sonst müßte sie ins Heim oder würde totgeschlagen. Ich fragte: >Ja, kannst du denn dagegen nichts machen?< Da sagte er: >Die schmeißt mich ja mit raus und ich bin von der finanziell abhängig.< Da hatte ich die Kleine. Und dann kam der größte Klops, meine Vermieterin verlangte, daß ich dann die doppelte Miete bezahlte. Dann haben wir also in so einem vermiesten und verplüschten Zimmer, wo man nichts verändern durfte, zu zweit gehaust. Ich hatte gerade ausgelernt und habe mein erstes Geld verdient, 280 DM netto, das werde ich nie vergessen. Vom Vater bekam ich monatlich 70 DM für das Kind. Ich versuchte, aus der Kleinen wieder einen Menschen zu machen. Dann habe ich versucht, eine Wohnung zu kriegen, das war aber nicht möglich. Wieso sollte ich für zwei Personen eine Wohnung beantragen - damals gab es noch das Wohnungsamt - der Vater existierte ja. Aber der Vater hat sich nie um irgendetwas gekümmert. Er kam einmal im Monat und brachte 70 DM und fragte irgendwelche blöden Sachen >Geht's euch gut? Nun, sieht man ja, machst ja prima, meine Große...< und klopfte mir vertraulich-plump auf die Schulter und einmal wagte er sogar zu sagen, er wäre sehr stolz auf
mich, aber ohne seine genetischen Chromosomen wäre das ja nicht drin gewesen. Das hätte er schon immer gewußt, daß ich Vaters Tochter bin. Da habe ich ihn dann rausgeschmissen.
In der Zwischenzeit arbeitete ich in einer Praxis in der Nähe vom Rathaus Schöneberg. In der Mittagspause bin ich immer zum Rathaus Schöneberg gegangen und habe mich in den Flur der Abteilung gesetzt, wo die Wohnungen vergeben wurden. Ich bin dann in das Sekretariat rein und habe gesagt, >ich bleibe hier und komme jeden Tag wieder, bis ich eine Wohnung gekriegt habe.< Das habe ich dann ein halbes Jahr lang gemacht, bis denen die Puste ausgegangen ist. Sie haben mich als »Fall« dem Regierenden Bürgermeister ins Zimmerchen gegeben. Plötzlich hatte ich die Wahl zwischen zwei Neubauwohnungen, 1 1/2 Zimmer. Dann sind wir hier eingezogen und ich habe noch dafür gesorgt, daß meine Schwester einen Beruf erlernt hat. Ihre dicken Macken hatte sie aber schon längst abgekriegt, sie war schulgestört und verhaltensgestört, nach wie vor introvertiert, ich hatte nur das große Glück, daß wir immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt hatten. Die Kleine war mir immer sehr zugetan, ich habe für sie eine Art Vorbild bedeutet; Sie muß aber wahnsinnig darunter gelitten haben, daß es immer hieß >diese Große, das ist ja ungeheuerlich, wie die das meistert!< Ich sehe als Kontrast zu meiner eigenen Entwicklung, daß sie in frühester Jugend schon so viel abgekriegt hat und dann auch noch hin und her geschoben wurde, keiner wollte sie haben.
Ohne es selbst direkt wahrgenommen zu haben, habe ich mich zu einer ziemlich robusten, durchsetzungsfreudigen Person entwickelt, was ich für eine normale Entwicklung hielt und nie hinterfragte. Als ich dann auf erste zwischenmenschliche Beziehungen traf und mich mit anderen Menschen auseinandersetzte, habe ich mich gefragt, >Verdammte Scheiße, was sind das alles für labile, kaputte Leute, so ein bißchen Entscheidungsfähigkeit muß doch wohl jeder haben.< Irgendwann hat mir dann einmal ein Freund gesagt, ob ich denn das überhaupt richtig beurteilen könne und hat mich sehr nachdenklich gestimmt, weil er mich darauf hingewiesen hat, daß das wahrscheinlich nicht alles ursächlich auf meinem eigenen Mist gewachsen sei, sondern daß das Lebensumstände sind. Da fing ich an, mich ein bißchen für Psychologie und eigene Verhaltensweisen zu interessieren und bin dann zu gruppendynamischen Sitzungen gegangen und mir fiel wie Schuppen von den Augen, mit welcher ungeheueren und fast assozialen Forderung ich meinen Mitmenschen begegnete, wie ich sie zwang, stark, dynamisch und kräftig zu sein, so nach dem Motto: >das was ich kann, das könnt ihr schon lange. Es gehört dazu nur ein bißchen Sich-Zusammennehmen, Zähnezusammenbeißen<. Das brachte eine neue Wende in mein Leben. Meine Kontakte zur Umwelt sind sehr viel besser geworden, und auch die Fähigkeiten, bestimmte gesellschaftliche Dinge kritisch zu sehen. Dazu brauchte ich erstmal ein funktionierendes Selbstwahrnehmungsvermögen.
Alle Welt hat mir immer prophezeit, daß ich unter diesen Bedingungen nur untergehen kann. Für mich gibt es die positivere Motivation: je mehr Steine du mir in den Weg legst, desto energiegeladener werde ich. Ich kann nur sagen, daß ich eben doch das Schwein hatte, ein paar intakte frühkindliche Jahre gehabt zu haben, die meiner Schwester völlig abgegangen sind.
Der Entschluß, ein Studium zu machen, war eigentlich immer da, bis meine Schwester kam, das hat mir sozusagen die Zukunft vermauert, weil ich nicht wußte, wie lange sie bei mir wohnen wollte. Ich hatte mir vorgenommen, daß sie so lange bleiben könnte, wie sie wollte, und wenn es ein ganzes Leben wäre. Weil ich diesen bescheuerten Beruf hatte, der von morgens 8 bis abends um 8 ging, war ich nicht in der Lage, eine Schule zu besuchen und das Abitur zu machen. Ich hatte immer schon das Gefühl, daß ich in meinem Beruf unterfordert war. Irgendwann fragte ein sehr überlegener Freund, ob ich nicht das Abitur machen wollte und dann noch das Medizinstudium. Ich sagte, >Wie soll ich das denn machen, das geht doch gar nicht; das schaffe ich doch finanziell gar nicht.< Dann hat er ausgekundschaftet, daß es ein Begabtenabitur gibt. Ich erfüllte die Bedingungen. Ich habe dann die halbe Nacht durchgelernt, aber ich hatte auch einen sehr duften Chef, der das sehr gefördert hat, mich auch mal um vier oder fünf nach Hause gehen ließ. Auch die Tage, an denen ich Prüfung hatte, wurden mir weder vom Gehalt noch vom Urlaub abgezogen. Das war eigentlich das Gute, daß ich bei meinen Chefs immer Anerkennung gefunden habe. Ich durfte alles machen, habe im Verhältnis zu den anderen gut verdient, aber trotzdem war da das Limit. Mit Worten wurde ich gestreichelt und durfte für alles den Kopf hinhalten, weil ich ja auch so verantwortungsfreudig war, aber weiter kam ich nicht. Mir ging es ja nie darum, mehr Geld zu verdienen. In der Zwischenzeit hatte ich schon viele Aggressionen in meiner Branche gesammelt, durch den Scheiß, der hinter den Kulissen passierte, daß ich das Gefühl hatte, das kannst du anders machen.
Mit 26 habe ich das Abitur in der Tasche gehabt und habe dann weiter gearbeitet, denn eine 3 im Abitur war für Zahnmedizin ein Witz. Ich hab mich immer wieder beworben und mit 30 bekam ich schließlich einen Studienplatz in Zahnmedizin.
Inge
Ich wollte unabhängig sein...
Als ich etwa 3 Jahre alt war, mußte ich täglich einen Mittagschlaf machen. Weil ich jedoch oft nicht müde war, vertrieb ich mir die Zeit mit allem anderen als schlafen. So kam mir eines Tages der Gedanke, daß ich mir nur die Haare abzuschneiden brauchte, um ein Junge zu sein. Gedacht - getan, zum Entsetzen meiner Eltern. Die Haare waren nun ab, doch fehlte mir am Jungesein immer noch das Im-bogen-pinkeln. Ich übte unverdrossen, doch mit meinen Freunden konnte ich trotz aber Anstrengungen nicht mithalten. Ich war das einzige Mädchen in einer Gruppe von 8-10 Jungen. Mit Mädchen wollte ich nie spielen, denn deren Hauptinteresse waren Puppen. Mir machte es viel mehr Spaß, mit Tieren zu spielen oder Räuber und Gendarm oder Hütten auf Bäumen und unter der Erde zu bauen, in denen wir uns gegenseitig die Hosen auszogen und Doktor spielten. Ich bin auf dem Lande großgeworden, dadurch wurden wir in unserem Tun weniger kontrolliert und konnten uns freier entwickeln. In meiner Gruppe war ich als einziges Mädchen der Boß, keiner der Jungen ging spielen, ohne mich vorher abzuholen. Ich war viel stärker als die meisten Jungen und setzte somit meine Kraft auch als Machtmittel ein. Ich erinnere mich an eine Situation, die mich damals etwas traurig gestimmt hatte: ich war auf dem Weg nach Hause von der Schule, als mir ein Freund aus der Gruppe begegnete. Ich war mit einem anderen Mädchen aus meiner Klasse, die ich gerne als Freundin gehabt hätte. Ich sagte zu ihr, daß der Peter eigentlich von mir noch Prügel bekommen würde, doch heute sähe er so blaß aus, darum wollte ich ihn nochmal verschonen. Das Mädchen wurde erst viel später meine Freundin, da sie Angst vor mir bekommen hatte, wie sie mir irgendwann erzählte.
Ich lernte schon sehr früh mit dem Traktor oder dem Motorrad meines Bruders zu fahren, meine Freunde durften mitfahren, doch hatten sie meistens Angst.
Mit meinem 3 Jahre älteren besten Freund hatte ich sexuelle Spiele, bis uns eines Tages mein Vater dabei erwischte. Er verbot meinem Freund, mich weiter zum Spielen abzuholen. So machten sich in meiner Erinnerung die ersten sexuellen Tabus fest.
Nach der Grundschule besuchte ich die Realschule in einer anderen Stadt. Ich mußte eine Stunde mit dem Bus hin und zurück fahren. Mit dem Schulwechsel änderten sich auch mein Freundeskreis. Ich traf mich nun mehr mit Mädchen, die so wie ich auch aktiv Sport betrieben. Mein Bruder war ein guter Leistungssportler und hatte mich schon als kleines Mädchen zu all seinen Wettkämpfen mitgenommen. So wollte ich auch Leistungssportlerin werden. Neben der Realschule besuchte ich Wochenendseminare in einer Sportschule oder wurde vom Sportverein zu besonderen Lehrgängen geschickt. Durch den Sport lernte ich, mit Disziplin zu arbeiten, nach der Formel »Ohne Fleiß kein Preis«. Ich trainierte sehr fleißig und lernte, mit einigermaßen guten Erfolgen auf Landesebene um 1. Preise zu kämpfen. Im Lokalen Sportverein leitete ich Mädchengruppen und durfte in der Schule manchmal die Sportlehrerin vertreten.
Da meine Mutter durch die viele Landarbeit nur wenig Zeit für mich hatte, wurde ich sehr früh zur Selbständigkeit angehalten. Nach der Schule mußte ich allein meine Hausaufgaben erledigen und sie meiner Mutter danach bei ihrer Arbeit vortragen. So übte sie mit mir z.B. bei der Kartoffelernte das kleine und große Ein mal Eins. Sie war darin, zu meinem Verdruß, sehr hartnäckig. Während meiner ganzen Jugend ermunterte mich meine Mutter immer wieder, mir mein Leben so einzurichten, daß ich selbständig und unabhängig von anderen Menschen bin.
Nach dem Realschulabschluß wechselte ich zu einem Mädchengymnasium in einer noch weiter von der Heimatstadt entfernten Großstadt. Ein halbes Jahr lang wohnte ich im Internat der Schule, bis ich meine Eltern bat, mir ein möbliertes Zimmer zu suchen. Das Internatsleben war nach all meinen freiheitsliebenden Jahren für mich wie ein Gefängnis.
Mit dem Schulwechsel wurde ich auch Mitglied eines anderen Sportvereins. Hier erfuhr ich mit Entsetzen, daß ich nur eine Nummer war und nicht als Mensch gesehen wurde. Ich sollte auf Hochleistung gezüchtet werden. Mit dieser Erkenntnis beendete ich den Leistungssport und wandte mich mehr der Kunst zu. Ich wollte nach dem Abitur zur Kunstakademie, doch meine Eltern weigerten sich, so ein Studium zu finanzieren. Die Umstellung von der zuvor gemischten Schule auf eine Mädchenschule bekam mir sehr gut. Ich war plötzlich in den naturwissenschaftlichen Fächern die Beste, wo ich doch zuvor nur zum Klassendurchschnitt gehörte. Auch hatte ich das (subjektive) Gefühl, mich freier zu Fragen der Lehrer(innen) äußern zu können. Ich fühlte mich freier. Mein Englisch war und blieb jedoch schlecht. Meine Eltern ermöglichten es mir, ein halbes Jahr nach England zu gehen. Ich war damals 16. Zum ersten Mal lernte ich ein Leben ohne die sonst so selbstverständliche Nestwärme kennen. Die ersten drei Monate in England waren für mich traumatisch. Ich reagierte mit psychosomatischen Erkrankungen und konnte erst nach einigen längeren Telefongesprächen mit meiner Mutter in Deutschland meinen Willen und meine Kräfte zum Positiven lenken.
Den Jahreswechsel nahm ich zum Anlaß, meine Lebenseinstellung zu ändern: in Momenten, in denen ich zuvor geweint hatte, lachte ich oder sang ein Lied. Es ging mir von diesem Augenblick an so gut, daß ich meinen Englandaufenthalt nicht, wie vom Arzt angeraten, abbrach. Diese Erfahrung hat noch bis heute ihre Nachwirkungen. Ich bewarb mich erfolgreich um ein Stipendium und studierte, zur Zufriedenheit meiner Eltern, ein naturwissenschaftliches Fach. Zu Beginn wußte ich noch nicht, was ich später damit anfangen würde. Ich wußte, daß ich nicht Lehrerin werden durfte, denn bei meinem Sportunterricht hatte ich festgestellt, daß ich immer nur mit meinen »Lieblingen« arbeitete und die anderen vollkommen unberücksichtigt ließ. Ich konnte mir auch kaum vorstellen, gegen diese innere Symphatie zu bestimmten Schülern anzukommen. So blieb mir zur Berufswald nur Industrie oder Forschung übrig. Doch bis dahin war noch genügend Zeit. Ich hatte durch den Englandaufenthalt einen großen Schritt in meiner Ich-Entwicklung gemacht, darum zog es mich noch im Studium wieder ins Ausland. Ich war neugierig geworden auf mich und die Welt.
In all meinen beruflichen Vorhaben erfuhr ich die volle Unterstützung meiner Eltern. Nach einem Aufbaustudium habe ich heute einen Beruf, der mich befriedigt und mir viel Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit gibt.
Erika
Acht Minuten zu spät geboren...
Als Mädchen unerwartet acht Minuten nach dem langgeplanten ersten Sohn einer deutschen Offiziersfamilie kurz vor Kriegsende geboren zu werden, wahrhaftig keine günstige Voraussetzung zu einem freien und unabhängigen Aufwachsen des Mädchens! Oft wurde als Familienanekdote erzählt, wie überrascht und unterschwellig entsetzt mein Vater auf die Geburt der »Kinder« reagierte; ein »Stammhalter« und »kleiner Mann« ja; aber als Anhängsel noch ein Mädchen dazu, das konnte von den Eltern nur verkraftet werden, indem sie schnell ein Bild von einem »Idealpaar« entwarfen: die kleine possierliche Frau und der kleine beschützende Mann, sozusagen als Miniaturausgaben der Eltern. Meine gesundheitlich stark angegriffene Mutter legte - wenn überhaupt - den Jungen an die Brust, ich wurde von einer anderen Frau ernährt. Diese Ausgangssituation mag dazu beigetragen haben, daß ich lange Ängste hatte, zu kurz zu kommen und noch sehr viel später beim Essen Qualen ausstand, daß ich nichts mehr bekäme, oder mich, wenn sich eine unbeobachtete Gelegenheit bot, krampfhaft vollstopfte, gleichgültig, ob ich als »Dickmadame« oder »Nudelrolle« verspottet wurde.
Die Gefahr, als bloße Zugabe mitzulaufen oder ganz untergebuttert zu werden, stärkte aber gleichzeitig meinen Willen zur Selbstbehauptung: ich mußte lauter als der »brave« Bruder schreien, um wahrgenommen zu werden und die Aufmerksamkeit der Eltern zu erhalten; diese Grunderfahrung prägte vieles in mir und bestätigt auf Baby-Bildern, auf denen neben dem ruhig und entspannt dreinblickenden Jungen ein pummliges Mädchen mit verzerrtem oder heulendem Gesichtsausdruck zu sehen ist. Außerdem zog die kindliche Erfahrung, daß ein Junge schon durch sein bloßes Dasein akzeptiert und mit Zukunftshoffnung belegt wird, während ein Mädchen diese Daseinsberechtigung sich lautstark erkämpfen muß, bei mir nach sich, daß ich meinen Bruder heftig beneidete und in ständigen Mimikri-Übungen ihm gleichzukommen versuchte. Nur mußte ich oft erfahren, daß bei diesen Anstrengungen meine Nachahmungen als »altklug, frech und trotzig« beschimpft wurden, während bei ihm ähnliche Verhaltensweisen als »verständig, mutig und selbständig« gelobt wurden. Das machte mir unbewußt klar, was für unterschiedliche geschlechtsspezifische Auf- und Abwertungen es bei gleichen Reaktionen gab; ich konnte mich anstrengen und nachäffen, soviel ich wollte, es war eben nicht das Gleiche, wenn mein Bruder und ich uns vergleichbar verhielten. Blieb als Ausweichmanöver nur, die Elternerwartungen vom »kleinen, süßen Paar« zu übernehmen: mein Bruder, der vernünftige und verantwortungsvolle Mann, ich selbst die drollige, zu Kapriolen und unbeherrschten Gefühlsausbrüchen neigende »kleine Frau«. Obwohl mein Zwillingsbruder von sich aus wenig dominant und eher friedlich, ja sogar passiv war, wurde ihm die Rolle des treuen Beschützers aufgedrängt, der meine koketten und von verzweifelter Selbstbehauptung bestimmten Einfälle und Launen unter behutsamer, besänftigender Kontrolle zu halten hatte. Immer wieder bemühte ich mich, ein sich ergänzendes »Pärchen« aus uns zu modeln, dem nachgehechelten brüderlichen Vorbild mich wenigstens anzunähern.
Vielleicht ergab sich aus diesem schwankenden Verhalten auf der einen Seite meine Neigung, »männliche Züge« zu bewundern und - wo immer möglich - zu kopieren, und andererseits ein sehr labiles Selbstwertgefühl und eine fast aggressive Ablehnung von »weiblichen« Zügen bei mir selbst und auch bei Mädchen meiner Umgebung. Ich lernte geschickt und variationenreich, im Strome des brüderlichen Schutzes mitzusegeln, gleichsam die gebaute, »natürliche« männliche Macht im Rücken wissend, auf Schwäche und Eitelkeit von Mädchen ohne Zwillingsbruder herabzusehen und sie im Gefühl dieses geborgten Selbstbewußtseins zu verachten.
Dieses scheinbare Privileg der Stärke, hervorgerufen durch das ständige Anklammern an den Bruder, nützte ich sogar auch dann noch aus, als ich beim Übergang auf das Gymnasium vom Bruder getrennt wurde und auf eine Mädchenschule kam. Ich sah meine Mitschülerinnen durch »männliche Augen«: ich fand es erbärmlich, wie sie sich plötzlich durch ständiges Herumputzen an ihrem Äußeren den Schülern an der Jungenschule der Kleinstadt zu gefallen versuchten; dabei begriff ich gar nicht, daß sie auf diese unwürdigen Konkurrenzkämpfe angewiesen waren, wollten sie das erreichen, was ich durch meinen Zwillingsbruder gleichsam naturwüchsig hinter mir wußte: Anerkennung und Schutz von der in Wahrheit zählenden Männerwelt. Damals entfachte ich allein gelassen in einer von ranzigen Lehrerinnen und hilflos eitlen Schülerinnen der Mädchenschule Intrigen und Streitereien unter den Mitschülerinnen, immer mit der Hoffnung, aus dem Weiberstall rauszufliegen und wieder zu meinem schmerzhaft vermißten Bruder zu kommen. Das Ergebnis dieser ohnmächtigen Scharmützel die zugleich immer auch Kämpfe gegen mein nicht akzeptiertes Frausein waren, war jedoch vor allem, daß ich bei den Mitschülerinnen als brillant und ehrgeizig, aber zugleich als frech und aufmüpfig galt.
Deutlich wird dieser ständige Ekel gegen eine Institution, in der nur Frauen - ausgenommen der Direktor und einige naturwissenschaftliche Lehrer natürlich! - in zwei Episoden: Ein Mädchen faszinierte mich wegen ihrer Sanftmut und Schönheit. Aber anstatt, daß ich mich selbst ihr gegenüber freundschaftlich öffnete und meine »Intellektuellen-Maske« wenigstens hier fallenließ, hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als sie aus dieser mir läppisch erscheinenden Frauensphäre in die von mir anerkannte Umgebung meines Bruders gleichsam »emporzuheben«, d.h. meinen Zwillingsbruder mit ihr zu verkuppeln und dann verblüfft zu bemerken, daß ich selbst jetzt das dritte Rad am Wagen war. Trotzdem: Erst jetzt als Freundin meines Bruders schien sie mir aus der Trivialität der Mädchenschule herausgehoben zu sein; der Schmerz meiner eigenen Isolation wurde wenigstens teilweise aufgewogen durch meinen Stolz, meinem Bruder etwas »Gutes« angetan zu haben.
Die andere Erinnerung an diese »bruderferne« Zeit unter Frauen beweist noch deutlicher diese Unfähigkeit, aufgrund der symbiotischen Beziehung zu meinem Bruder, Frauen zu akzeptieren oder mir gar meine ambivalenten Gefühle zu ihnen einzugestehen: Eine Lateinlehrerin paßte absolut nicht in meine damalige Frauenfeindlichkeit. Sie war klug, witzig und gleichzeitig fand ich sie schön, anziehend und reizvoll. Sie durchschaute wohl meine sperrige und verquere Haltung zu mir selbst und damit zu anderen Frauen und zwang mich indirekt, Intelligenz und Schönheit nicht in die Prinzipien »männlich« und »weiblich« aufzuspalten. Damals konnte ich dies nicht verkraften; ich führte einen offenen Kampf gegen sie, in dem sie mir aber überlegen war, da sie mich wahrscheinlich durchschaute. Ich wollte aber ebenbürtig sein, und dies schien mir nur über sachliche Kompetenz möglich zu sein. Also paukte ich Latein-Grammatik wie verrückt, damit sie mich anerkennen sollte. Letztlich ist diese Auseinandersetzung mit der ersten mich beeindruckenden Frau, die ich nicht abschieben konnte aber auch nicht akzeptierte, die Ursache, daß ich selbst außer Deutsch Latein studierte und bis heute diese tote und so wenig anschauliche Sprache selbst unterrichte! Vordergründig abgeschlossen wurde diese Zeit voller Widersprüche erst, als ich in den letzten drei Schuljahren bis zum Abitur wieder neben meinem Zwillingsbruder auf der Schulbank saß, sein brüderliches Wohlwollen genoß und in der herkömmlichen Rollenspaltung von ihm die naturwissenschaftlichen Bereiche eingetrichtert erhielt, während ich ihm in den »weiblichen« Fächern wie Kunst, Sprachen und Literatur etwas vorgaukelte.
Dieses vertrackte Sich-Aneinander-Anlehnen hatte für mich auch positive Folgen, besonders in meinem Verhalten gegenüber anderen Männern: Instinktiv trug ich meine Erfahrungen mit meinem Bruder, zu dem ich bis heute intensiven Kontakt habe, an Jungen und später an Männer heran und verglichen mit dem idealisierten Bruder-Bild, wirkte das gockelhafte und kraftmeierische Gehabe von anderen Männern abstoßend und lächerlich auf mich. Gegenüber meiner Suche nach »brüderlichen« Männern fiel ich weniger männlichem Sexualgeprotze und Imponiergehabe zum Opfer. Ich hatte ja fast täglich die Erfahrung gemacht, daß Jungen unter dem Anspruch einer wahrhaft männlichen Erziehung im Elternhaus und Schule ebenso litten und - mindestens wenn sie ehrlich zu sein versuchten - aus diesem Kult der Stärke, des Mutes und der Überlegenheit über Frauen nur mit scheußlichen Verdrängungen und Verkrüppelungen hervorkamen, was allerdings nicht ausschloß, daß sie die Vorteile der männlichen Macht nicht ausnutzten und gegenüber Frauen einsetzten!
Aus diesem »Zwillingspärchen-Syndrom« im Laufe der Jahre mich zu befreien und allmählich zu einem Selbstbewußtsein zu gelangen, das nicht über eine Anlehnung an männliche Muster vermittelt ist, das war und ist ein widerspruchsvoller Prozeß, der ohne die Frauenbewegung undenkbar gewesen wäre.
Irene