Während die bisherigen sich auf Anthropologie reduzierenden Ansätze von Sartre und Gehlen daran scheiterten, daß sie dem Anspruch des Marxismus, eine Theorie der begriffenen Geschichte aufstellen zu können, nicht gerecht wurden, hat Kojève eben diesen Versuch gemacht,[35] in die Anthropologie eine Konzeption weltgeschichtlicher Theorie einzuarbeiten. Für die Marxrezeption der französischen Philosophie in der Gegenwart bietet Kojèves Hegelinterpretation, wie Fetscher gezeigt hat, einen wesentlichen Ausgangspunkt.[36] Kojèves Denken ist anthropologisch, aber er entwickelt seine Anthropologie im Zusammenhang einer Geschichtsphilosophie. Auch er, wie Bloch, nimmt die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus als Indiz für das Versagen marxistischer Theorie ernst. In seine Interpretation Hegels ist sowohl das Denken von Marx, wie auch das von Sartre und Heidegger eingegangen. Er will das traditionale marxistische Geschichtsdenken korrigieren und in einer ganz bestimmten Richtung überholen. Leitend ist die Frage nach der anthropologischen Konstitution von Herrschaft, deren Rolle im Marxismus nicht hinreichend begriffen worden sei.
Herrschaft ist für den Marxismus nur sekundär und abgeleitet. Sie ist durch den Klassencharakter aller bisherigen Gesellschaften bedingt und gründet in dem vorpolitischen Faktum ökonomischer Ausbeutung. In der kommunistischen Zukunftsgesellschaft soll Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt verschwinden und durch die Verwaltung von Sachen ersetzt werden. Diese Theorie von Herrschaft als einer bloß derivativen Funktion einer unbewältigten Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, hat es dem Marxismus unmöglich gemacht, seine eigene Unterwerfung unter ihre Logik angemessen zu begreifen, wie sie ihn auch daran hinderte, den Nationalsozialismus als das zu erkennen, was er gewesen ist. Auch der Versuch der Herstellung einer kommunistischen Gesellschaft führte, im schärfsten Widerspruch zu dem Marxschen Entwurf, zur Ausbildung und Verfestigung totalitärer Herrschaftsstrukturen. Gegenwärtige Theorie muß also die geschichtlichen Wurzeln und Funktionen von Herrschaft plausibel machen. Andererseits aber kann nicht übersehen werden, daß sich die Marxsche Prognose vom Absterben des Staates in Übereinstimmung mit einem realen gesellschaftlichen Prozeß befindet. Marx meinte den Staat, der in Ausübung gesellschaftlicher Funktionen doch an sich eine von der Gesellschaft unabhängige Macht darstellt. Die Trennung von Staat und Gesellschaft aber ist auch in den westlichen Industrienationen in voller Auflösung begriffen. Staat ist eine Funktion der Gesellschaft selber geworden. In der Negation des Staates als einer der Gesellschaft überlegenen Instanz stimmt westliche Praxis mit dem Marxismus überein. Auf ihren schärfsten Begriif ist diese Tendenz in der technokratischen Theorie gebracht worden, der auch für die Sowjetunion eine wachsende Bedeutung zukommt. Sie beinhaltet die Utopie eines herrschaftslosen Zustandes, in welchem nur Sachen und die ihnen immanenten Notwendigkeiten sich mit dem Zwang durchsetzen, der der gewaltlosen Stimme der Vernunft von Selbsterhaltung zugesprochen wird. Die in der Gegenwart sich universal durchsetzende Aufhebung der für Marx noch klassischen Trennung und Entzweiung von Staat und Gesellschaft bedeutet für den Marxismus eine neue Lage und hat unmittelbare Konsequenzen für die traditionale Gestalt seiner Revolutionstheorie.
Kojève geht von der These aus, daß sich zur Zeit Hegels, im Zeitalter Napoleons, die Geschichte vollendet habe, weil in ihr ein Zustand erreicht worden sei, durch welchen der Mensch die volle Befriedigung seines Seins erlangt habe. Volle Befriedigung, das heißt: jeder einzelne Mensch wird in seiner Individualität von allen anderen Menschen anerkannt, es besteht also die universale Anerkennung eines jeden durch jeden. Der durch die Geschichte produzierte Zustand einer universalen Anerkennung kann nicht verstanden werden, wenn man die Geschichte nur, wie das für den traditionellen Marxismus der Fall war, als das Resultat der Dialektik entfremdeter Arbeit begreift. Die gesellschaftliche Arbeit reicht nach der Meinung Kojèves nicht aus, um den Geschichtsprozeß verständlich zu machen. Weltgeschichte ist auch das Ergebnis des Prozesses einer dialektischen Auseinandersetzung von Herren und Knechten. Herrschaft ist für die Geschichte in gleicher Weise konstitutiv wie Arbeit, denn nicht freiwillig ist der Mensch in den Stand der Knechtschaft getreten, sondern gezwungen durch den Herrn. Herrschaft ging nämlich aus einem, dem Verhältnis von Herr und Knecht vorausgehenden Kampf auf Tod und Leben hervor, den der Herr als Sieger beendete. Wie kam es aber zu einem solchen Kampf auf Leben und Tod? Dieser Kampf ist nach Kojève in der Notwendigkeit menschlichen Seins begründet, in der Natur des Menschen als eines selbstbewußten Wesens, das sich seines Seins bewußt ist. Um sich aber seiner selbst bewußt zu sein, mußte der Mensch durch den anderen anerkannt werden. Der Mensch ist Selbstbewußtsein. Er kann das Sein des Seienden offenbar machen durch das Wort, aber theoretisch verhält sich das Subjekt dem Objekt gegenüber passiv. Der Mensch kann die Verlorenheit an das Ding nur überwinden, weil er noch anderes ist als nur Selbstbewußtsein: nämlich Begierde. Er läßt das andere nicht sein, sondern begehrt es, will es besitzen. Er kann es aber nur besitzen, wenn er es verneint. Der Mensch ist die Tat der Negativität. Durch sie überschreitet er aber noch nicht seine biologische Definition. Die Befriedigung führt zur Wiederherstellung der Ausgangslage: der Monotonie der ewigen Wiederkehr desselben.
Die bloße Bedürfnisbefriedigung durch Arbeit verharrt in der noch ungeschichtlich abstrakten Animalität. Der Mensch aber ist Selbstbewußtsein, das heißt, das geschichtliche Sein des Menschen beginnt da, wo er sich als animalisches Wesen überschreitet, er muß sich transzendieren. Was aber bestimmt den Menschen zu diesem Schritt über sich hinaus? Es ist Begierde, aber nicht die Begierde, die sich auf ein natürliches Objekt richtet, sondern nur Begierde einer anderen Begierde, das heißt, der Begierde eines anderen Menschen, in seinem Sein bestätigt und anerkannt, d.h. begehrt zu werden. So kommt es zum Kampf aller um das Anerkanntwerden durch alle. Aus diesem Kampf geht der eine als Sieger, der andere als Besiegter hervor. Er wurde besiegt, weil er vor dem Einsatz seines animalischen Seins zurückwich, und zwar aus Furcht vor dem Tode. Ist das Ziel aber jetzt erreicht? Nein, der Herr zwar wurde vom Knecht, der Knecht aber nicht vom Herrn anerkannt. Der Herr wird von jemandem anerkannt, den er selbst nicht anerkennt. Also ist der Herr nicht befriedigt. Er zwingt den Knecht zur arbeitenden Auseinandersetzung mit der Natur, wodurch dieser die Todesfurcht abarbeitet. Durch sie, durch die Arbeit, wird erst eine menschliche Welt erzeugt. Der Knecht macht sich zum Herrn der Natur, während der Herr zum Knecht seines Knechtes wird. Soweit folgt Kojève der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, wie sie Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« entwickelte.
Nach Kojève aber tritt der in der Arbeit gebildete Knecht noch einmal zu einem Kampf auf Leben und Tod an, der mit der universalen Anerkennung aller durch alle endet. Die Französische Revolution, sie ist hier gemeint, führt zu einer Etablierung der Herrschaft des Rechts. Die Versöhnung im Zeichen des politischen Rechtsprinzips ist erreicht, Napoleon ist der vollendete Mensch. Kojève hat damit einen entscheidenden Schritt zur Überwindung der Trennung von Anthropologie und Geschichte getan. Er hat auf einen wesentlichen Mangel marxistischer Theorie aufmerksam gemacht, auf ihr Unvermögen, die progressive Rolle von Herrschaft in der Geschichte zu begreifen. Aber genügt die anthropologische Ableitung von Herrschaft? Der Herr wird als Sieger im Kampf auf Leben und Tod nicht anerkannt, so lautet die These, da er den ihn Anerkennenden selber nicht anerkennt. Die universale Anerkennung impliziert bei Kojève die Preisgabe von Herrschaft überhaupt. Der Knecht muß sich ändern, weil der Herr sich nicht ändern kann. Eigentlich produktiv ist nur der Knecht. An ihn und seine Arbeit ist der Fortschritt der Geschichte gebunden. Der Herr degeneriert zum reinen Konsumenten. Er ist steril. Er ist nicht mehr frei, denn Freiheit ist nur im Akt des Sichbefreiens. Nur in der Arbeit am Ding gewinnt sich der Mensch als gebildete Subjektivität. Kojève bleibt dem Marxismus treu mit seiner These, daß Vollendung der oder Versöhnung in der Geschichte identisch sei mit der Aufhebung von Herrschaft. Doch entscheidend für die Beurteilung der Position von Kojève ist das Scheitern seines Entwurfes, die »Phänomenologie des Geistes« marxistisch und existentialistisch zu lesen.
Für Kojève ist die Entwicklung der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft das zentrale Thema der Phänomenologie des Geistes. Ihr über die ökonomische Bedürfnisbefriedigung hinausreichender geistiger Sinn besteht für ihn darin, daß es in dieser geschichtlichen Dialektik um die politisch-rechtliche Anerkennung des Einzelnen in seiner Gleichheit mit jedem anderen Einzelnen gehe. »Die Weltgeschichte ist also nichts anderes als die Geschichte der dialektischen, d.h. aktiven Beziehung zwischen Herrschaft und Knechtschaft. - Die Geschichte kommt darum in dem Augenblick zum Abschluß, da die Synthese von Herr und Knecht Wirklichkeit geworden ist, nämlich der integrale, heile Mensch, der Bürger des universellen und homogenen, von Napoleon geschaffenen Staates.«[37] Das politische Moment der Herrschaft ist eine nicht zu übersehende Bedingung des geschichtlichen Prozesses, und es ist durchaus konsequent, wenn Kojève mit ihrer Beseitigung Geschichte überhaupt zu Ende gehen läßt. In dem von Napoleon geschaffenen universellen Staat sieht er diese Bedingung als gegeben, und die »Phänomenologie des Geistes« ist nichts anderes als die Aussprache des Bewußtseins über diesen Zustand und den Prozeß, der zu ihm führte. Das die Geschichte als vollendet begreifende Bewußtsein ist aber das selbst vollendete. Die Hegelsche Philosophie ist Ideologie der Napoleonischen Epoche. Nach dieser kann nur noch die Langeweile darüber kommen, daß der Mensch nach der einmal erreichten politisch-rechtlichen Anerkennung nichts mehr begehren kann, was er nicht schon hätte, oder aber es erfolgt die übermütige Preisgabe des schon Erreichten. In diesem Falle begänne das Spiel noch einmal von neuem. Die Kehrseite und notwendige Konsequenz dieser Deutung der Phänomenologie ist die Interpretation der Hegelschen Religionsphilosophie als Atheismus. »Hegel hat als erster den Versuch einer vollständigen atheistischen und in bezug auf den Menschen finitistischen Philosophie gemacht.«[38] Das heißt, das Christentum war die Ideologie, die der Knecht nötig hatte, solange er noch Knecht war. Nachdem aber die mit dem Christentum in die Welt gekommene Idee der Gleichheit und Freiheit des Einzelnen als Einzelner sich realisiert hat, ist sie überflüssig geworden. Der in der Hegelschen Philosophie vollzogene Abbau der Idee der Unsterblichkeit hat nach der Meinung Kojèves zur Voraussetzung, daß die Hegelsche Philosophie in ihrem Kern Anthropologie sei.
Diese Aufhebung der Substanz in das Subjekt widerspricht aber dem klaren Wortlaut der Hegelschen Aussage.[39] Die Leere des sich als allgemein anerkannt wissenden Ich ist die Leerheit der Form, die keinen Inhalt und kein Wesen hat.
»Aber dies Selbst hat durch seine Leerheit den Inhalt freigelassen; das Bewußtsein ist nur in sich das Wesen; sein eigenes Dasein, das rechtliche Anerkanntsein der Person, ist die unerfüllte Abstraktion; es besitzt also vielmehr nur den Gedanken seiner selbst; oder wie es da ist und sich als Gegenstand weiß, ist es das Unwirkliche. Es ist daher nur die stoische Selbständigkeit des Denkens, und diese findet durch die Bewegung des skeptischen Bewußtseins hindurchgehend seine Wahrheit in derjenigen Gestalt, die das unglückliche Selbstbewußtsein genannt wurde... Es ist das Bewußtsein des Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewißheit seiner und des Verlustes eben dieses Wissens von sich - der Substanz wie des Selbsts, es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist.«[40]
In der abstrakten Allgemeinheit des Rechts geht für Hegel der substantielle Inhalt verloren und die abstrakte Person des Rechts ist die schlechthin vereinzelte, die gerade darin der bloßen Zufälligkeit überantwortet wird. Im homogen universellen Staat kommt nicht, wie Kojève meint, der Geist zu sich selbst, vielmehr geht er in ihm unter. »In dieser ist die Realität des sittlichen Geistes verloren, die inhaltsleeren Geister der Völkerindividuen sind in ein Pantheon versammelt, nicht in ein Pantheon der Vorstellung, deren ohnmächtige Form jeden gewähren läßt, sondern in das Pantheon der abstrakten Allgemeinheit, des reinen Gedankens, der sie entleibt, und dem geistlosen Selbst der einzelnen Person das An- und Fürsichsein erteilt.«[41]