Was an der Position von Kojève in unserem Zusammenhang zum ersten Mal überraschend und unübersehbar hervortritt, ist die positive Aufnahme Heideggers in den Versuch einer Erneuerung des marxistischen Denkens. Dieser für die Zukunft des marxistischen Gedankens in unserer Welt so bedeutsame Sachverhalt zwingt uns, einige Hinweise zum Verhältnis von Marx und Heidegger zu geben. Für beider Denken ist die Wendung gegen Verdinglichung zentral und bestimmend. Bei beiden wird Verdinglichung als eine Verfassung des Seins des Menschen gedacht, in welcher dieser, außerhalb seiner selbst, an das Sein des anderen, der Dinge, das öffentliche anonyme Man verfallen ist. Aber bereits hier im Ansatz zeigt sich der fundamentale Unterschied: während es sich bei Marx um einen historisch-faktisch gewordenen und daher auch geschichtlich prinzipiell überwindbaren Zustand handelt, wird er bei Heidegger als Moment einer das Sein des Menschen als solchen ausmachenden Struktur - in »Sein und Zeit« fundamentalontologisch - beim späten Heidegger als Konsequenz eines unvordenklichen, jedem menschlichen Eingriff entzogenen Geschicks gedacht. Der Rückgriff auf Heidegger in positiver Absicht setzt also - und darauf kommt es an - die Anerkennung einer Unüberwindbarkeit von Entfremdung voraus. Ebenso wie in der Bestimmung von Verdinglichung in Abweichung und Gemeinsamkeit Marx und Heidegger sich eigentümlich überschneiden, so verhält es sich auch in der Bestimmung des Vollzugs ihrer Überwindung. Der Vollzug der Überwindung von Verdinglichung wird gefaßt als Akt eines abstrakten Hinausgehens aus dem als unbedingt negativ charakterisierten Zustand. Verdinglichung ist das, was nicht sein soll. Bei Heidegger verwirklicht das Dasein sein Sein als Eigentlichkeit und als Uneigentlichkeit. Das Dasein ist sich selbst der Grund seines Seins, so wie auch bei Marx dem entfremdeten Proletariat die Aufhebung seiner Entfremdung und mit der Aufhebung seiner eigenen die von Entfremdung überhaupt zugemutet wird. Eigentlichkeit des Daseins wird von Heidegger aber nur als eine Modifikation von Uneigentlichkeit gedacht. Es handelt sich um zwei Bezüge, die nicht unabhängig und selbständig voneinander zu denken sind. Eigentlich und uneigentlich ist immer dasselbe, nämlich das Dasein selbst. Auch bei Marx ist das entfremdete und das die Entfremdung aufhebende Subjekt dasselbe.
Grundlegend jedoch ist die Differenz in der Bestimmung der Struktur des Vollzuges der die Verdinglichung aufhebenden Aneignung. Bei Marx ist der Akt in sich dialektisch bestimmt, da das Dasein nicht die reine Aktualität seiner selbst wird, sondern, wie wir sahen, Aufhebung der Entfremdung, die aneignende Veränderung des Entfremdeten einschließt. Praxis ist bei Marx immer gegenständlich bestimmte Praxis. Verwirklichung des menschlichen Seins ist ohne Verwandlung aller, die Objektivität strukturierenden kategorialen Bestimmtheiten undenkbar. Das Festhalten an diesem - in Subjektivität nicht aufzuhebenden - Moment gegenständlichen Seins macht das Wesen dessen aus, was die marxistische Theorie als Tradition des Materialismus sich aneignete.
Im Akt des sich den Dingen entreißenden Vollzuges menschlicher Eigentlichkeit dagegen fällt bei Heidegger[42] das Dasein auf sein je eigenstes Sein zurück. Das Dasein versucht rein bei sich und durch sich selbst zu sein. Unüberbrückbar wird der Unterschied Heideggers zu Marx in der Bestimmung des Telos oder genauer: an die Stelle des Telos bei Marx tritt bei dem Heidegger von >Sein und Zeit< der Tod. Das ist der entscheidende Unterschied: nicht Vollendung, sondern Beendigung. Es ist nun keine Frage - und alle marxistische Kritik dient nur der Verschleierung des entscheidenden Einwandes von Heidegger, die übersieht, daß gegen ihn nur messianisch oder christologisch argumentiert werden kann - daß Heidegger mit einer divinatorischen Sicherheit an die offene Wunde des Marxismus rührt. Aus dem Gedanken einer möglichen Vollendung der menschlichen Gattungsnatur löst Heidegger in der Analyse des Todes den Tod als das Endfaktum heraus, die Vollendung verschwindet in der Theorie der Endlichkeit des Daseins.
Warum übernimmt der Tod bei Heidegger diese quasi-eschatologische Rolle? Weil er die letzte und äußerste Möglichkeit des Daseins selber ist, das sich zu dieser seiner letzten und äußersten Möglichkeit nicht nur verhalten muß, sondern in all seinem Verhalten immer schon von ihr herkommt und durch sie bestimmt ist. Vollendung als Telos wird in die Faktizität geschickhaften Endens zurückgenommen. Mit der abstrakt antithetischen Wendung gegen die gegenständliche und empirische Geschichte fällt aber erfahrbare Geschichte selber aus dem Heideggerschen Denken heraus. In der These von der ontologischen Differenz wird der Hiatus ontologisiert, den Geschichte bei dem scheiternden Versuch ihrer Vollendung produzierte. In der Entwicklung seines Denkens nach >Sein und Zeit< hat sich der in diesem Grundwerk Heideggers abzeichnende Zug, konkrete geschichtliche Praxis, sei es eine solche, die zu ihrem Subjekt die Vernunft oder das über die Notwendigkeit einer menschlichen Selbstbefreiung aufgeklärte Subjekt der Revolution hat, zu destruieren, nur noch verstärkt. Geschichte wird als die Geschichte des Verfalls und Endes der Metaphysik interpretiert. Die Metaphysik verendet an und durch sich selbst, und das heißt, die ganze bisherige Weltgeschichte ist eine solche des Endens. Diese Tendenz, in einer dem marxistischen Geschichtsdenken analogen Weise, die Geschichte als Vergessenheit und als Verlust authentischen Seinsbezuges zu denken, zeigt dich am deutlichsten in seiner Nietzsche-Interpretation.
Heidegger interpretiert Nietzsches Philosophie als Ende der Metaphysik.[43] In Nietzsches Denken komme das Grundprinzip an den Tag, das sich die Metaphysik verdeckte und verstellte; der Wille zur Macht. Bisherige Geschichte war Geschichte der Herrschaft. Ihr Subjekt ist die gegen das Sein vorgehende und aufstehende Subjektivität, die das Sein nicht sein lassen will. Die dem Sein das Seinige nicht zukommenlassende Subjektivität usurpiert dem Sein gegenüber eine Position der Macht aus dem Willen zur Bemächtigung und Beherrschung. Die Konsequenz ist der Nihilismus. Der Marxismus ist dann nichts anderes als die dem Unwesen des technischen Zeitalters entsprechende und es ausdrückende Gestalt dieses Willens. Er treibt die Seinsvergessenheit auf ihre äußerste Spitze und ist gerade darin so geschickhaft notwendig, wie die Schickung des Seins, das sich in ihm zuschickt. Als selbst noch von der Metaphysik geprägt, gelangt der Marxismus nicht in den Grund aller Verfehlung des Seins, und so vermag er nur an ihren Symptomen zu laborieren.
Die Faszination, die Heidegger auf den Marxismus auszuüben beginnt, besteht darin, daß sie die Möglichkeit bietet, geschichtliche Verstrickung als dem Wesen der Geschichte entspringend denken zu können, ohne daß ein Anlaß sich zeigte, die Schuldfrage zu stellen. Es ist die Faszination einer radikalen Kritik, die kraft ihres abstrakten Charakters zugleich sicherstellt, daß sich aus ihr keine praktischen Konsequenzen ergeben. Das Problem der Subjektlosigkeit vernünftiger Praxis versinkt mit der Subjektivität selber in das unvordenkliche Dunkel eines Geschicks, das an seine hörige Annahme das Versprechen einer neuen Ankunft knüpft.