Arnold Gehlen

Gehlens anthropologische Marxismuskritik

Der hier gemeinte Zusammenhang ist bei Gehlen am deutlichsten, aber trifft auch, wenn auch eingeschränkt, für Plessner zu. Grundkategorie für Plessner ist die Kategorie der Exzentrizität. Der Selbstvollzug des Menschen ist bestimmt durch eine Verdoppelung, daher notwendige Selbstentfremdung. Der Mensch vollzieht sein Sein und steht gleichzeitig innerhalb und außerhalb seines Vollzuges. Er muß sich die Mitte erst erstellen, auf deren Grund er stehen kann. Der Mensch ist das sich selbst herstellende Wesen: in diesem Satz stimmt gegenwärtige Anthropologie mit dem Marxismus überein. Im Unterschied zum Marxismus aber wird in gegenwärtiger Anthropologie ein Modell vorausgesetzt, bzw. ihr zugrunde gelegt, das nur rein funktional bestimmbar ist. Die spezifischen, das menschliche Sein ausmachenden Züge und Momente werden auf dem Wege eines abhebenden Vergleichs vom Tier gewonnen. Doch das Maß, an dem Gelingen des Menschseins gemessen wird, ist das reine Funktionieren. Die Konvergenz von Anthropologie und Kybernetik ist begründet im Modell sich selbst regulierender Erhaltung. Gegenwärtige Anthropologie ist implizite Marxismuskritik, weil sie den geschichtlichen Zukunftshorizont einer die Entfremdung überwindenden Erfüllung preisgibt. Der Gedanke eines Geschichtszieles geht verloren. Die Preisgabe der Telos-Kategorie führt aber zu einer Sanktionierung der Strukturen einer die transzendentale Subjektivität verneinenden Praxis, die an der Erhaltung von allem interessiert ist, was bloß ist. In der nun folgenden Interpretation Gehlens,[19] dessen Theorie durch die Berücksichtigung, die sie im gegenwärtigen Marxismus findet - siehe Lukács und Harich - eine erhöhte Bedeutung zukommt, soll der Schwerpunkt auf den für sie zentralen Zusammenhang von Subjektivität und Selbsterhaltung gelegt werden. Die These, daß Subjektivität überhaupt als etwas Krankhaftes und der Geist, der sich als eigener behaupten will, als bloßes Zersetzungsprodukt zu werten sei, hat Gehlen schon zu einer Zeit vertreten, als unsere Gesellschaft noch nicht so fortgeschritten war.[20]
In der im Jahre 1931 erschienenen Habilitationsschrift >Wirklicher und unwirklicher Geist <, einer Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie, hat Gehlen den Gang der Reflexion beschrieben, welcher in ihm die Überzeugung befestigte, von der er nicht mehr abweichen sollte, daß die Unwirklichkeit des nur vorstellenden und sich nicht in Handlungen realisierenden Geistes offenkundig und nur eine Philosophie vertretbar sei, »die sich im Empirischen und jederzeit Gegebenen hält«. Es ist sehr zu bedauern, daß diese für die Genesis von Gehlens Denken außerordentlich aufschlußreiche Schrift so wenig Beachtung fand und die ungewöhnliche Konsequenz, mit der Gehlen seinem Ansatz treu blieb, oft nicht bemerkt wurde. Viele Mißverständnisse wären nicht entstanden, hätte man mit Aufmerksamkeit gelesen, was hier auf der ersten Seite steht: »Religion und Metaphysik haben die Motivationskraft verloren«, und man wäre darüber belehrt gewesen, was von der Prognose zu halten ist, die Gehlen der Religion in seiner größeren Veröffentlichung, >Die Seele im technischen Zeitalter< stellt: »Das Abstraktwerden der Künste und Wissenschaften bedeutet umgekehrt die Stabilisierung der Religion auf dem eigentlichen Bereiche der Weltanschauung. Für sie sind also die neuen Künste noch in einem besonderen Doppelsinne gegenstandslos <, und die Kirchen können sich ihrer mit der selben Unbefangenheit bedienen wie des Fernsehens, des Radios und Telefons«.[21]
Ablehnung wie Zulassung der Religion unterliegen also bei Gehlen dem unverändert beibehaltenen Kriterium des pragmatischen Wahrheitsbegriffs. Im einen Fall wird sie wegen mangelnder Motivationskraft abgewiesen, im andern zugelassen, weil die Wissenschaft und die Kunst abstrakt und esoterisch geworden seien und sich des Einflusses auf die Massen kraft einer immanenten Logik der Entwicklung selbst beraubt hätten. Die Religion habe so die Chance, das entstandene Vacuum zu besetzen und als weltanschauliches Orientierungs-, als moralisches Führungs- und Zuchtsystem stabilisierend auf die orientierungslos gewordenen Massen zu wirken. Es kann hier nur vermutet werden, daß Gehlen durch seinen Versuch, die Religion mit dem Argument zu rehabilitieren, es sei gut, daß es sie in einer von der Anarchie der zerfallender Subjektivität bedrohten Gesellschaft gebe, einer weit verbreiteten Mentalität entgegenkommt. Eine genauere Analyse der kirchlich-öffentlichen Praxis und ihrer theoretischen Begründungen könnte sehr wohl zeigen, in welchem Maß die pragmatische Rechtfertigung der Wahrheit fast zu einer selbstverständlichen Voraussetzung unseres Bewußtseins geworden ist. Was diese Einstellung für das Verhältnis zur Wahrheit selbst bedeutet und was sie alles impliziert, kann eine Auseinandersetzung mit Gehlen zeigen und macht diese unumgänglich.
Gehlen hat nie verhehlt, daß er die größte Gefahr für den Bestand jeder und damit auch der gegenwärtigen Gesellschaft im Subjekt sieht, wenn es nicht bereit ist, sich von den Institutionen »konsumieren« zu lassen. Er scheint auch damit nur an eine Wahrheit zu erinnern, die heute recht häufig vergessen wird; in der allgemeinen Ablehnung, der etwa Hegels Lehre vom objektiven Geist begegnet, kommt das sehr prägnant zum Ausdruck. So nachdrücklich aber in Gehlens Soziologie sich das Subjekt darauf befragen lassen muß, welche Realität seinen Vorstellungen entspricht, und so schnöde es »zur Ordnung« gerufen wird, wenn es sich nicht als durch das »Objektive« gedeckt ausweisen kann, so sehr vermißt man eine gleich strenge Beurteilung der Institutionen. Sie weisen sich offensichtlich schon dadurch aus, daß sie funktionieren, und das heißt, daß sie eine die Gesellschaft integrierende und stabilisierende Kraft entfalten. Man wird weder den Institutionen der faschistischen noch denen der kommunistischen Gesellschaft absprechen wollen, daß sie funktionieren oder funktioniert haben; die katholische Kirche aber ist am meisten durch jene diskreditiert worden, die zwar nicht an Christus glaubten, sie jedoch um ihrer Kunst willen, als Institution die Jahrhunderte zu überdauern und die Gesellschaft zu stabilisieren, rückhaltlos bewunderten. An die französischen Traditionalisten im achtzehnten, den Comteschen Positivismus im 19. Jahrhundert und an die Action francaise sei in diesem Zusammenhang nur erinnert. Auch in der Gegenwart ist die Neigung noch nicht überwunden, auf den Bereich der religiösen und geistigen Wahrheiten pragmatische Kategorien anzuwenden. Durch die Zustimmung zu einer sozialen und anthropologischen Apologetik wird aber das Christentum zu einer Ideologie unter anderen, die außerstande ist, den Kampf mit den politischen Ideologien unserer Zeit aufzunehmen - er ist verloren, noch ehe er begonnen hat. Der eigentliche Gegner ist heute jene Gesinnung, welche Wahrheit nur funktional und pragmatisch zu begreifen vermag. Deshalb müssen vor allem die Voraussetzungen und die Funktion des Wahrheitsbegriffes, der hier im Spiel ist, geklärt werden.
Gehlen hat seinen Kritikern, die seiner Aussage über das Wesen des Menschen entgegenhielten, daß eine philosophische Anthropologie nur im Rahmen einer Ontologie möglich sei, geantwortet, »daß es kein sicheres Kriterium dafür gebe, welche Gestaltungen des Geistes sich eine metaphysische Bedeutung bloß anmaßen und welche sie haben«. Im übrigen nimmt er den Standpunkt ein, wenn jemand die von ihm gewählten Hypothesen aus metaphysischen Gründen verwerfe, folge für ihn daraus nicht einmal die Verpflichtung zur Diskussion, »weil wir ja nur eine Wissenschaft von Menschen wollen, nicht aber Einwirkung auf Überzeugung anderer«.[22] Hier ist mit wünschenswerter Deutlichkeit ausgesprochen, daß die rationale positivistische Wissenschaft für Gehlen die einzige Instanz darstellt, die berechtigt ist, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen. Metaphysik hat es demgegenüber nur mit Überzeugungen von rein subjektiver Geltung zu tun, ist also eine Ideologie. Was aber ist Wirklichkeit und was bedeutet Wissenschaft? Wissenschaft ist der Zusammenhang von Aussagen, die sich als Tatsachen verifizieren lassen, und als Tatsache gilt das, was sich geeignet erweist, methodisch verifiziert zu werden. Philosophisch will Gehlens Anthropologie der Versuch sein, »mit dem Material dieser Einzelwissenschaft und über ihre Grenzen hinweg Aussagen über den Menschen als Ganzen zu machen, und zwar selbst wieder empirisch-wissenschaftliche Aussagen«.[23] Es ist klar, daß diese Art von Aussagen, die den Menschen als ein Ganzes betreffen, selbst nicht mehr im strengen Sinn wissenschaftlich verifizierbar ist und ihre Überzeugungskraft von einer anderen Instanz als der Einzel Wissenschaft empfängt. Das Kriterium, dem sie unterliegen, ist denkökonomischer, pragmatischer Art: sie vereinigen Hypothesen inhaltlich verschiedener Struktur funktional auf solche Weise, daß das vom Forscher gesetzte Ziel eines in sich stimmigen und möglichst aus einem Prinzip zu begreifenden Zusammenhangs erreicht wird. »Das hier skizzierte Verfahren, das wir gleich bis in die Technik der Problemstellungen hinein kennenlernen werden, kann nicht >positivistisch< genannt werden, es ist vielmehr ein Spezialfall jedes praktischen Verfahrens, nämlich ein >erkenntnispraktisches<«.[24] Das Verfahren, in welchem Wahrheit als pragmatische erwiesen werden soll, wird also bereits selbst nach dem pragmatischen Wahrheitsbegriff beurteilt. Eine Wahrheit, die den selbst gesetzten Kriterien nicht zu genügen imstande ist, gilt a priori als verdächtig, bloß subjektiv und damit als irreal. Die Entscheidung für diese und keine anderen Kriterien geht damit für Gehlen seinen anthropologischen und soziologischen Forschungen sowohl zeitlich wie sachlich voraus. Dieses Dokument, in welchem Gehlen sich Rechenschaft gibt über die Gründe seiner Wahl, ist die oben erwähnte Schrift über den wirklichen und unwirklichen Geist.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: auch hier wird die Entscheidung für die pragmatischen Wahrheitskriterien nicht aus der Sache selbst vernunftgemäß begründet. Denn die Feststellung, daß Metaphysik und Religion ihre Motivationskraft verloren haben, sagt nichts über das Recht und die Notwendigkeit aus, mit der sie diese verloren haben, sondern stellt lediglich ein Faktum fest. Wenn es an einer anderen Stelle heißt: »Ich behaupte, daß die Grundthesen des Idealismus und des Spiritualismus heute in echtem Sinne von Verstehen unverstehbar geworden sind«,[25] dann ist auch hier der pragmatische Wahrheitsbegriff bereits vorausgesetzt, der festlegt, was in echtem Sinne verstehen heißt und was nicht. Die Art, wie Diltheys Theorie des Verstehens in dieser Schrift abgewiesen wird, da sie das verstehende Subjekt introvertiere und ästhetisiere, schließt die Annahme aus, daß hier eine andere Auslegung des Verstehens gemeint sei. Gehlen hat einfach die Hypothesen satt, und er weiß auch warum: »Der Geist eines vom unmittelbaren Leben abgeschnürten Individuums reflektiert in ihnen über die verborgene Realität, und wir vermögen heute einem solchen Geiste nichts mehr zu glauben, sondern für uns, begierig, unser Leben wiederherzustellen, sind nur die aus der Handlung erwachsenen Erkenntnisse verbindlich«.[26] Das in dieser Formulierung ziemlich unbestimmt bleibende »Wir« ist heute leichter zu identifizieren, denn »unsere Idee heißt Gemeinschaft«.[27] Und wenn wir in derselben Schrift noch erfahren, »daß es in tiefem Sinne gleichgültig ist, was geschieht, wenn nur überhaupt etwas geschieht«[28] und »das Wollen-Können« den Erfolg »erzwingt«, dann verstehen wir, warum auf diesem Boden »die alte christliche Idee der individuellen subjektiven Seele in diesem undialektischen Sinne nicht mehr zu halten sein wird«,[29] und wir beginnen zu begreifen, wie unbillig es ist, hier nach Vernunftgründen für die Annahme der pragmatischen Wahrheitskriterien zu suchen. Der Geist vermag ja keine Handlung mehr zu motivieren, durch die das Ganze der intensiven Realität erreicht werden könnte, und das Gebot der Stunde heißt Einsatz und Handeln, auch wenn es Fälle gibt, »in denen wir aus Seinsgründen den Andern leiden lassen müssen, damit er zu seiner Wirklichkeit kommt«.[30]
Wir möchten nicht mißverstanden werden, wenn wir hier auf eine Schrift hinweisen, von welcher der Autor selbst sagt, daß sie mit Recht vergessen sei, allerdings nicht ohne hinzuzufügen, daß er sie »mit Recht« nicht vergessen habe. Das Recht auch für uns, an diese Untersuchung zu erinnern, besteht sachlich darin, daß es keine andere Möglichkeit gibt, die Genesis von Gehlens Denken in jenen Zügen zu erfassen, in denen seine Schärfe am meisten zutage tritt. Auch sind die fundamentalen Einsichten dieses frühen Buches in abgewandelter Form von Gehlen bis heute immer wiederholt worden. Der Gang der Geschichte hat für Gehlens Denken keine grundsätzliche Wandlung in den Voraussetzungen erzwungen, sondern sie ihm vielmehr bestätigt. Gehlen hatte sich gegen den Zugriff der geschichtlichen Erfahrungen dadurch gesichert, daß er der positiven und rationalen Wissenschaft die Funktion einer Kontrollinstanz in seinen anthropologischen und soziologischen Forschungen über Wirklichkeit und Unwirklichkeit eines Sachverhaltes oder Zusammenhangs übertrug. In seiner Frühschrift geht allerdings die geschichtlich erfahrene Ohnmacht des Geistes und die Unwirklichkeit des reflektierend bei sich bleibenden Subjekts in das Denken Gehlens mit so unmittelbarer Kraft ein wie später nicht wieder. Die Kritik Gehlens an der Philosophie, die sich nur noch als kritische Theorie der Erkenntnis verstehe und in immer weiter getriebenen Abstraktionen und Formalisierungen den Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu verlieren drohe, bestimmt aber seinen Weg von der Philosophie zur Anthropologie.
Gehlens Anthropologie gründet in der Zerstörung jeder idealistischen Metaphysik; das umgrenzt positiv wie negativ ihre Bedeutung. Sie bestätigt ihre Herkunft aus der Absicht, die unwirklich gewordene Metaphysik zu zerstören durch den Zwang, die Inhalte der alten Metaphysik funktional zu interpretieren. Die traditionellen Theorien der Metaphysik werden in einem den modernen Entlarvungstechniken analogen Verfahren nicht als das genommen, was sie ihrem eigenen geschichtlichen Verständnis nach sein wollen, sondern auf ihre Funktion hin »durchschaut«, ein konstitutionell so gefährdetes Wesen wie den Menschen am Leben zu erhalten. Sie werden auf die Tendenz des theoretischen Subjekts zurückgeführt, Momente, die im Handlungsvollzuge geeint sind, dinghaft zu verselbständigen. Theoretisch unlösbar erscheinende Probleme sind im realen Vollzug der Handlung immer schon gelöst. Wie es zur Ausbildung einer von der Praxis abgespaltenen Theorie kommen konnte, ist selber nicht theoretisch zu erklären, sondern nur durch eine entlarvende Psychologie, welche die Theorie aus den besonderen Daseinsbedingungen des reflektierenden, vom Handlungszusammenhang des Lebens abgelösten Subjekts erstehen läßt. Das der Theorie gewidmete Dasein ist für Gehlen, wie aus vielen Äußerungen zu belegen wäre, eine der größten Seltsamkeiten, welche diese Welt aufzuweisen hat, und zugleich ein ständiger Anreiz für den Psychologen, selber Theorien zu entwickeln, die das schwer verständliche Phänomen einer über die Ananke hinausgehobenen Existenz begreifbar erscheinen lassen.
Jede Bewegung, die das Individuum über den Zwang hinausführt, die Mittel zur biologischen Daseinsfristung zu beschaffen, wird als illusionär oder als bedenkliches Symptom einer Dekadenz hingestellt, in welcher der Mensch erschlafft und entartet. Den Satz aus dem »Unwirklichen Geist«: »Das Leben, um ganz es selber zu sein, muß das Negative aufsuchen, und damit der Geist immanent werde, muß er auf sich verzichtet haben«, hat Gehlen nicht wieder vergessen. Selten ist aber auch in einer zynischeren Weise dem Menschen das als gut und gesund empfohlen worden, was zur Bestürzung seines Gewissens die Geschichte zu einer solchen des menschlichen Leidens gemacht hat. An Nietzsche, den Gehlen häufig zitiert, darf in diesem Zusammenhang nicht erinnert werden, denn das erste Opfer der unmenschlichen Wahrheit, die er in der Geschichte erkannt zu haben glaubte, war er selbst. Die griechische Tragödie weiß, daß der Mensch durch Leiden lernt, und die Bibel begreift die Sorge des Menschen um die Beschaffung der Existenzmittel durch die eigene Arbeit als eine Folge seiner Schuld, die über ihn verhängt wurde, damit er lerne, wer Gott ist. Die moderne Anthropologie, für die das Absolute das »Gegebene« ist, weiß von alledem selbstverständlich nichts, sie glaubt aber zu wissen, daß der Mensch als vitales Wesen verkommt, wenn er sich der Ananke entziehen will. Um die Begründung der Freiheit als Unabhängigkeit von vornherein unmöglich zu machen, schafft Gehlen die Geschichte selbst ab und nimmt sie in den Zusammenhang natürlicher Erhaltung zurück. Nur psychologisch gilt die Kategorie der Entfremdung als reell und ehrlich. »Seither ist die Brauchbarkeit dieser Formel auf das Gebiet eingeschränkt worden, in dem ihr reelles und ehrliches Gebiet der Anwendung liegt: das psychologische.«[31] Das heißt aber nichts anderes, als daß die Überwindung der Entfremdung mit der Abschaffung von Subjektivität überhaupt zusammenfällt.
Wie stark Gehlens Konzeption der Anthropologie durch seine metaphysikfeindliche Einstellung bestimmt wird, geht aus der Begründung des empirischen Ansatzes hervor: »Aus dem gezeigten Vorsatz: im Anschaulichen, im Unmittelbaren und Faktischen, im Bereich dessen zu bleiben, zu dessen Anerkennung zu zwingen die Wissenschaft Mittel hat, folgt, daß die Darstellung ganz diesseits der Existenzprobleme einer reflektierenden Existenz bleibt, also diesseits der dichterischen oder religiösen Existenz.«[32] Was zunächst wie eine methodische Beschränkung auf den Bereich verifizierbarer Aussagen empfunden werden kann, schließt den Anspruch ein, die metaphysisch und religiös irreal gewordenen Zusammenhänge so zu interpretieren, daß ihr funktional und pragmatisch vollziehbarer Sinn deutlich wird. »Man sieht wohl gleich, wie hier die >funktionale< die Vollzugsbetrachtung sich der ontologischen gegenüber als fruchtbar erweist«. Durch die umfassende Perspektive, in die Gehlen seine Anthropologie rückt, gelingt es ihm, so seltsam das zunächst klingen mag, den Biologismus in der Betrachtung des Menschen zu überwinden. Das schließt aber nicht aus, daß die tierische Zielbestimmung der bloßen Daseinsfristung beibehalten wird. Die Definition des Menschen als eines biologischen Mängelwesens wurde auf dem Weg eines abhebenden Vergleichs mit dem Tier gewonnen, das seinem Ausschnittsmilieu bruchlos angepaßt ist. Die dem Menschen eignende Nichtidentität mit sich selbst, die Problematik der Entfremdung, wird im Ansatz Gehlens im Wesen des Biologischen fixiert und als geschichtliches Problem somit ausgelöscht. »Der Grundgedanke ist der, daß die «amtlichen Mängel< der menschlichen Konstitution, welche unter natürlichen, sozusagen tierischen Bedingungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellen, vom Menschen selbsttätig und handelnd gerade zu Mitteln seiner Existenz gemacht werden, worin die Bestimmung des Menschen zur Handlung und seine unvergleichliche Sonderstellung zuletzt beruhen.«[33] Weil der Mensch kraft seiner Natur auf ein Handeln gestellt ist, das die Vorteile des tierischen Handelns ausgleichen kann, ist ihm die Kultur als die ins Lebensdienliche umgewandelte Natur »natürlich«. Der gleiche Ansatz umgreift aber auch die Notwendigkeit, das Bewußtsein, die Sprache, alle spezifisch geistigen Leistungen des Menschen aus seiner organischen Grundsituation abzuleiten, aus dem Zwang, sich als so gefährdetes Wesen zu behaupten. Da die Möglichkeit zu verunglücken zum Wesen des Menschen gehört, wird das bloße Sich-am-Leben-Erhalten zu einer eminenten und nicht genug zu bewundernden Leistung.
Es ist keine Frage, daß Gehlens Anthropologie scharfsinnig die Momente herausarbeitet, die den Weltentwurf des homo faber bestimmen. Eine Anthropologie, die den Menschen als das sich selbst herstellende Wesen denkt, trifft allerdings im Kern die Struktur dessen, was er heute geworden ist. Da aber Gehlen das Bewußtsein nur als Funktion der Selbsterhaltung zu begreifen vermag und damit das konkrete Subjektsein des Anthropologen, ja in gewisser Weise den Menschen selbst und seine Geschichte ausklammert, wird der Anspruch, über den Menschen im ganzen empirisch wissenschaftliche Aussagen von fragloser Objektivität machen zu können, zu einer leicht zu durchschauenden Illusion. Eine Methode, die, auf den Menschen angewandt, in einem sehr präzisen Sinn unmenschlich ist, muß sich in unlösbare Widersprüche mit sich selbst verwickeln. »Warum ist das Sich-am-Leben-Erhalten und die Steigerung des Lebens ein höchster Wert, von dem her alle seine Funktionen begriffen werden können? Diese Frage kann auf dem Boden der anthropologisch-biologischen Besinnung nicht beantwortet werden. Für sie bleibt das nackte >Daß< des Lebens als ein letztes Faktum, auf das sich der Mensch in solcher Art der Besinnung zurückgeworfen sieht; sie führt zuletzt nur zur Einsicht in die Sinnlosigkeit jeder Frage nach dem Warum, indes diese doch von Anfang an der Antrieb allen philosophischen Denkens war. Läßt man freilich den anthropologisch-biologischen Gesichtspunkt als den letztlich maßgeblichen gelten, dann muß eine solche Frage verborgen bleiben, weil ihre Zulassung seine eigenen Voraussetzungen aufheben würde.«[34]
Auch gegen die von Gehlen in seinem Werk >Urmensch und Spätkultur < entwickelte Philosophie der Institutionen wäre grundsätzlich geltend zu machen, daß in ihr die in einer modernen Anthropologie ausgebildeten Kategorien zu unkritisch gehandhabt werden und durch einen polemischen Akzent gegen das, was Gehlen eine Spätkultur nennt, belastet sind. In einem Punkt dürfte Gehlen freilich zweifellos recht haben: in der Annahme, daß in einer rituell-magischen Kultur die von ihm so sehr bekämpfte Subjektivität keine Rolle gespielt hat. Er wagt es denn auch, das Funktionieren der Institution in der Vorwelt wenigstens indirekt als für uns vorbildlich hinzustellen, da es hier dem Menschen gelungen sei, mit ihrer Hilfe sein vergängliches menschliches Dasein auf Dauer zu stellen. »Die Thematisierung der eigenen Subjektivität ist in der Welt nicht unterzubringen, sie ist institutionell steril« - ein Satz, der zeigt, daß auch eine stärkere Berücksichtigung der Institutionen und damit des Sozialen Gehlen dazu dient, die Aufklärung rückgängig zu machen, die einmal die Institutionen am Ziel menschlicher Selbstentwicklung maß.
Der Antagonismus von Subjektivität und Selbsterhaltung ist auf dem Boden des Gehlenschen Denkens unüberwindbar. Da der Mensch unter die konstruierten Bedingungen seiner Selbsterhaltung subsumiert wird, bleibt kein Platz für Subjektivität. Daß die Sinnfrage als ein stabilitätsbedrohendes Element ausgeschaltet wird, ist folgerichtig, da sie einen Inhalt ins Spiel bringen könnte, der vom Ansatz Gehlens her nicht zugelassen werden kann, es sei denn, er wäre als virtuelle Handlung deutbar. Das formale Verfahren des Denkens in Modellen bringt mit der substantiellen geschichtlichen Bestimmtheit des menschlichen Daseins dieses selbst als personales zum Verschwinden. Während das marxistische Denken die Aufhebung des Individuums in die allgemeine gesellschaftliche Gattungsnatur als seine Erfüllung und damit als die Verwirklichung der Freiheit begreift, ist Freiheit im System Gehlens keine denkmögliche Kategorie. Freiheit ist mit dem Vollzug ihrer Selbstaufgabe identisch. Jeder substantielle Inhalt ist bei Gehlen im Prinzip und radikaler verneint, als das in den nihilistischen und atheistischen Bewegungen der Neuzeit der Fall war. Diese fanden lediglich dort keinen Sinn, wo er als vorhanden unterstellt wurde; hier aber wird jeder mögliche Sinn im Dienst sinnloser Selbsterhaltung »verbraucht«.
Für eine Darstellung der Grundpositionen impliziter Marxismuskritik sind folgende Gesichtspunkte maßgebend:
1.die ungeschichtliche, Entfremdung in der Natur des Menschen fixierende Tendenz, die daher jede auf Aufhebung von Entfremdung gerichtete Praxis verneint.
2.die abstrakte Verneinung der transzendentalen Fragestellung des deutschen Idealismus.
3.Die pragmatische Anthropologie setzt an die Stelle der Utopie die These vom Ende der Geschichte, die zynisch paradoxe Überzeugung, daß in einer total verdinglichten Welt, deren Verhältnisse versteinerten, dem Einzelnen nichts bleibe, als in stoischem Gleichmut sich von den Institutionen konsumieren zu lassen.