Die Frage nach dem Sinn des Lebens, von der man wähnte, daß sie mit dem Untergang der bürgerlichen Kultur ihre Bedeutung verloren hätte, gewinnt eine neue Dringlichkeit. Die Auseinandersetzung mit dem Existentialismus und zum Teil auch seine Rezeption erscheinen als unvermeidbar.
Jean-Paul Sartre bietet sich als Gesprächspartner und Gegenspieler selbst an. Die Begegnung von Marxismus und Existentialismus wirkt zunächst überraschend, weil beide ja von ihrem Prinzip her einander ausschließen. Im Existentialismus geht es in erster Linie um das Problem der Subjektivität in der modernen Welt. Daß aber die Frage nach der Subjektivität unter kommunistischen Bedingungen wieder aktuell werden konnte, ist selber schon ein Indiz unaufgehobener Entfremdung. Der Existentialismus begreift sich als eine Gegenbewegung gegen die in allen modernen Industriegesellschaften sich abzeichnenden Entwicklungen und drückt den Zerfall der traditionellen Herkunftswelten aus, die sich in ihnen auflösen. Diese Auflösung wird als Verlust des Bodens, als Einbruch totaler Negativität erfahren. »Der Boden unter unseren Füßen versinkt« (Jaspers). In der vermittlungslosen, weil jeden Haltes an substantieller Tradition entbehrenden Rebellion gegen Verdinglichung soll diese durch individuelles Engagement überwunden werden. Was den Existentialismus in seiner ihm eigenen Intention vom Marxismus grundlegend unterscheidet, ist sein als Vermittlungslosigkeit apostrophierter ungeschichtlicher Charakter. Seine Rede von der Geschichtlichkeit ist in sich abstrakt. Der Existentialismus ontologisiert historische Bedingungen und will die in ihnen und durch sie aufgehobene Ontologie wiederherstellen. Kontingent Geschichtliches wird preudo-ontologisch hypostasiert zu einem unveränderlichen An-sich.
Trotz dieses Unterschiedes im Ausgangspunkt hat sich Sartre, aus Gründen, die hier nicht erörtert werden können, dem Marxismus nicht nur genähert, er hat sich zum Marxismus bekehrt.[17] Beide stimmen nun darin überein, Entfremdung als Verdinglichung und als geschichtlich geworden zu begreifen. Beiden ist auch das Ziel gemeinsam: Verdinglichung aufzuheben. Für den Existentialismus des späten Sartre aber ist, im Gegensatz zum Marxismus, das Subjekt der Aufhebung, der Einzelne, das Individuum. Sartre geht zunächst von der kartesischen Voraussetzung des Bewußtseins und später von der individuellen Praxis aus. Unverändert bleibt seine Ontologie des Menschen: die These von seiner Wesenlosigkeit. Er ist, was er nicht ist, und er ist nicht, was er ist. Er ist sein eigener Entwurf auf Zukunft hin, das heißt er gewinnt sich, indem er sich selbst und seine Situation ständig überschreitet. Als der Erfinder seiner selbst entreißt er sich ständig seinem je schon Gewordensein, seiner Vergangenheit. Es ist kein Zufall, daß Sartre in seinen Romanen und Dramen als die konkrete politische und gesellschaftliche Gestalt der Tat der Negativität, in der der Mensch allein ist, das Verbrechen ausgemacht hat. Der Anarchismus, das perennierende Abstoßen vom bloß Gegebenen, bei gleichzeitigem Eingeständnis der Vergeblichkeit, dieses radikal und total los werden zu können, ist dem Sartreschen Denken immanent. Kein Wunder also, daß sich der etablierte und organisierte Kommunismus gegen Sartres Existentialismus mit allen Mitteln, selbst denen persönlicher Diffamierung, gewehrt hat.
Auch der sich an den Marxismus anschließende Sartre fordert diesen noch durch eine radikale Kritik heraus. Denn nur an sich ist der Marxismus die einzige zeitgenössische Philosophie, die »beanspruchen kann, ihr und ihren Erscheinungen und Problemen gewachsen zu sein«. Die Bedingungen, die den Marxismus in seinem geschichtlichen Ursprung notwendig machen, sind unverändert auch die unserer geschichtlichen Gegenwart. Nur der Marxismus selber ist nicht mehr auf seiner eigenen Höhe und damit hinter den wahren Bedürfnissen unserer Zeit zurückgeblieben, denen er andererseits, nach Sartre, einzig und allein zu entsprechen vermöchte. Marxismus ist zur Ideologie geworden, zu einem Dogma erstarrt, er ist realitätsblind und damit im Sinne seiner eigenen Versprechungen, nämlich eine Praxis der Umwälzung und Befreiung zu sein, untüchtig geworden und hat versagt. Warum? Das ist eine Frage, die nicht mit dem Marxismus selber, sondern nur durch einen Marxismus beantwortet werden kann, der die Dimension existentialistischer Erfahrung der Subjektivität in sich aufgenommen hat, wenn auch nur vorübergehend und bis er durch Sartre reformiert worden ist. Für Sartre ist der Marxismus, genuin verstanden, ein sich ewigem Transzendieren einfügender Entwurf, eine bestimmte historisch und soziologisch auszumachende Situation zu überschreiten, und bleibt damit an diese ihn provozierende Situation gebunden.
Sartre will den Marxismus von seinen eigenen existentialistischen Voraussetzungen her aus der Sackgasse herausführen, in die er sich verrannte. Erst der durch den Existentialismus restituierte Marxismus gewinnt seine verlorene Aktualität zurück, erst der Existentialismus vermag seinen verlorenen revolutionären Elan zu erneuern.
Es ist ebenso verräterisch wie bezeichnend für die Situation des Marxismus in unserer Zeit, daß Sartre das Modell spontanen, revolutionären Handelns an dem Beispiel des Anfangs der Französischen Revolution gewinnt. Wie entsteht eine zum revolutionären Handeln bereite und fähige Gruppe? Eine unmittelbar als bedrohend erfahrene Situation provoziert den spontan sich vollziehenden Zusammenschluß mehrerer Individuen zu dem Unternehmen, sie zu überschreiten. Akt der Konstitution revolutionär spontaner Gruppen ist der Treueschwur, das heißt, jeder räumt jedem das Recht ein, den zu töten, der die Gruppe verläßt oder verrät. Der Terror abstrakter Brüderlichkeit wird von Sartre - Robespierre erneuernd - unverhüllt ausgesprochen. Da der Elan der Revolution nur im Vollzug des Überschreitens alles Gegebenen sich verwirklicht und die terroristische Gruppe in der für sie konstitutionellen Gefahr steht, in die von Sartre sogenannte Serialität zurückzufallen, bedarf es der sich ständig erneuernden Anstrengung, die revolutionäre Ausgangssituation immer wieder herzustellen. Die Erneuerung des Marxismus durch Sartre läuft auf das Programm der permanenten Revolution hinaus. Die Revolution muß permanent sein, weil Aufhebung von Verdinglichung von Sartre aus ontologischen Gründen als prinzipiell unmöglich und, über den Vollzug revolutionärer Aktion hinaus, als prinzipiell unerreichbar gedacht wird. Ist es aber unmöglich, Verdinglichung aufzuheben, dann muß Revolution in den Zustand ihrer Permanenz übergehen. Dann ist das Gesetz der Geschichte die ewig sich von neuem herstellende Revolution gegen die ewige Entfremdung.
Das Marxsche Ziel einer Vollendung der Geschichte, oder doch das der Aufhebung bisheriger Vorgeschichte, rückt bei Sartre in das fahle Licht einer schlechten Unendlichkeit. Warum aber ist für Sartre Entfremdung unaufhebbar? Denn es nimmt, wie wir sehen, der Marxismus seine ganze geschichtliche Dynamik aus dem Versprechen, daß die Entfremdung durch ihn und seine revolutionär praktische Verwirklichung aufgehoben und überwunden werden könne. Für Sartre ist die Unaufhebbarkeit von Entfremdung in dem kontingenten, nur hinzunehmenden Faktum des Mangels begründet. Die sich in der Befriedigung potenzierende und ins Unendliche differenzierende menschliche Bedürfnisstruktur verhält sich prinzipiell negativ zum objektiven Bestand der Welt der Dinge. Sartre erneuert eine These neuzeitlicher, bereits bei Hobbes formulierter Anthropologie: einer bestehenden und unüberwindbaren Inkongruenz unendlicher Bedürftigkeit des Menschen und der endlichen Begrenztheit der Mittel, sie zu befriedigen. Die menschliche Intentionalität, die den Hobbesschen Satz begründet erscheinen läßt, daß im Unterschied zum Tier den Menschen schon der zukünftige Hunger hungrig mache, wird bei Sartre zu einem Grundaxiom negativer Ontologie erhoben. Wenn das menschliche Sein Negativität ist, nämlich inkompatibel mit dem Sein der Dinge dazu verurteilt ist, doch wollen zu müssen, selbst wie diese zu sein - also wollen zu müssen, was man nicht kann -, dann ist die Permanenz des Mangels die Bedingung der Plausibilität eben dieser Ontologie. Marx will die Ontologie aufheben, Sartre stellt sie wieder her als Ontologie der Negativität. Die Ontologisierung des Mangels bei Sartre schließt die Möglichkeit aus, die aus einer Gesellschaft materiellen Überflusses sich ergebenden Möglichkeiten und auch Notwendigkeiten zu begreifen. Die Welt materiellen Überflusses wird von Sartre als grundsätzlich unerreichbar hingestellt. Die Behauptung der Kontingenz und die gleichzeitige These der Unüberwindbarkeit von Kontingenz schlägt auf das Sartresche Denken zurück. Bewährt doch die marxistische Theorie im Begriff der Gesellschaft als Geschichte ihre Stärke durch die Einsicht, daß alles, was geschichtlich geworden ist, auch geschichtlich vergehen kann, ein Satz, ohne den auch konservatives Denken in unserer Welt nicht mehr auskommen kann.
Es stellt sich daher die Frage der Notwendigkeit einer negativen Ontologie für Sartre. Ihre Beantwortung ist unlösbar mit der Sartreschen Dezision für den Atheismus verknüpft, so wie der Atheismus, als Negation einer möglichen Erfüllung und Vollendung, die These der Unüberwindbarkeit des Mangels bedingt. Der Mangel als Konstitutivum einer Ontologie des Menschen führt dazu, die Revolution in Permanenz zu begründen. Gott darf es nicht geben um einer möglichen Verwirklichung des Menschen willen, daß aber die Verwirklichung des Menschen die Annahme der Existenz Gottes mit Notwendigkeit ausschließt, ist ebenso von Sartres negativer Ontologie bedingt, wie sie dazu dient, den Atheismus zu begründen. Auch für den sich dem Marxismus assimilierenden Sartre bleibt der Mensch die nutzlose Leidenschaft, als die zu sein er schon dem bürgerlichen Existentialismus des frühen Sartre erschien.
Sartres >Kritik der dialektischen Vernunft < sollte den Entwurf einer strukturellen und geschichtlichen Anthropologie denkbar und durchsichtig machen, sie sollte den Marxismus als die einzige Theorie erscheinen lassen, die es erlaube, Geschichte, ohne Hypostasen theologischen Charakters, zu begreifen, Sartre erhob schließlich den Anspruch zu leisten, woran traditionelle, idealistische und materialistische Philosophie scheiterte, nämlich an der Aufgabe, qualitativ Neues als Produkt der Geschichte zu denken. Wenn man aber Sartres reformierten Marxismus an seinem eigenen Begriff mißt, so ist er gescheitert: denn qualitativ Neues kann es ja, wenigstens prinzipiell und in einem alles bisherige Sein in einem neuen Sein aufhebenden Sinne, nicht geben. Was sich nach Sartre in der Geschichte auch noch durch die sich revolutionär gegen sie wendende revolutionäre Praxis durchsetzt, ist die permanente Katastrophe und die permanente, nach den Kriterien des Marxismus, sinnlose revolutionäre Anstrengung, gegen sie anzugehen. Was sich als ein Angebot darstellte, gegenwärtigen Marxismus aus seiner Verlegenheit zu helfen, führt zu dem Nachweis, daß diese Verlegenheit der Geschichte, ja der condition humaine essentiell innewohnt. Die Rechtfertigung der Gewalt durch Sartre besteht darin, sie als so sinnlos und nutzlos zu erweisen, wie sie in ihrer blanken Faktizität auch geschichtlich erscheint.
Der Differenz zwischen Sartre und seinem Freunde Merleau-Ponty kommt eine allgemeine Bedeutung zu, weil sie sich an der Rolle der Gewalt in der Geschichte entzündete. Merleau-Ponty hat in >Humanisme et Terreur<[18] die Gewalt, den Terror im Kommunismus mit dem Argument zu rechtfertigen versucht, daß er ja im Marxismus seine eigene Abschaffung zum Ziele habe. Terror und Terror sind danach nicht dasselbe. Terror zur Verteidigung und Verfestigung inhumaner Verhältnisse ist qualitativ anders zu bewerten als ein Terror, der mit dem Ziel ihrer Beseitigung eingesetzt wird. Der rote Terror ist gut, der weiße Terror ist schlecht. Es war die Entdeckung der Existenz von Konzentrationslagern in der Sowjetunion, die Merleau die Augen darüber öffnete, daß es einen Grad der Unvereinbarkeit zwischen Mittel und Zweck gibt, der den Zweck selber desavouiert. Merleaus Rückzug auf die Forderung, daß man also gegen die Inhumanität kämpfen müsse, wo immer sie auftrete, mag zwar human sein, aber es ist der Humanismus alten Stils, das heißt, des bloßen Protestes gegen die Gewalt. Der Streit, der Sartre von Merleau trennte, ist einer um das Wesen der Politik und nicht eine Frage der Anthropologie und ihres Verhältnisses zur Geschichte. Wir sahen schon, daß sich im Zeichen einer Auseinandersetzung des Marxismus mit dem Existentialismus eine Aktualisierung der anthropologischen Fragestellung anbahnte, Grundsätzlich ist von der Feststellung auszugehen, daß jeder Versuch, den Marxismus von der Anthropologie her zu begründen, zu kritisieren oder gar ihn zu überholen, hinter Marx auf Feuerbach zurückfällt und alle von Marx gegen Feuerbach entwickelten Argumente herausfordert.
- Anthropologie verfährt prinzipiell ungeschichtlich und ist nicht in der Lage, einen Begriff von Geschichte zu entwickeln, der es ermöglicht, sie als Geschichte zu begreifen oder gar in sie verändernd einzugreifen.
- Anthropologie fixiert Entfremdung, indem sie zu einem Konstituens menschlichen Seins erhoben wird.
- Anthropologie unterliegt einem ihr immanenten Zwang, geschichtlich gewordene und vermittelte Subjektivität zu funktionalisieren und tendenziell zum Verschwinden zu bringen.
- Der Aufstieg der Anthropologie zur ersten Philosophie ist die vielleicht geschichtlich wirksamste Gestalt impliziter Marxismuskritik.