Das dem Denken Heideggers geschichtlich gleichzeitige von Carl Schmitt[44] hat wesentlich faßbarere und konkretere Folgerungen aus der Daseinsanalyse von >Sein und Zeit< gezogen. Die Analyse des Seins zum Tode wird von Carl Schmitt auf ihren latenten realpolitischen Kern, wie er durch die politische Philosophie des Thomas Hobbes ausgesprochen wurde, zurückgeführt. Dem Sterbenkönnen des Menschen entspricht gleich ursprünglich die Möglichkeit, getötet zu werden. Die Notwendigkeit des Prinzips des Politischen ist bei Carl Schmitt in der Schutzfunktion begründet. Auch eine auf Aufhebung von Herrschaft gerichtete politische Praxis entrinnt nicht der Logik des Politischen. Im Gegenteil. Erst die Totalität eines durchzusetzenden Anspruchs, das Politische selber zu beseitigen, legitimiert die dann totalen Charakter annehmende politische Praxis. Die Schmittsche Theorie wendet sich gegen den Marxismus, insofern diesem die totalitäre Aufhebung des Politischen immanent ist. Die Zurückführung der Notwendigkeit politischer Herrschaft auf das vorpolitische, gesellschaftliche Faktum ökonomischer Ausbeutung im Marxismus zwingt Schmitt, eine Kontraposition zu beziehen, die ihrerseits versucht, das Politische anthropologisch zu begründen. Der mehr vorläufige, heuristische Charakter einer anthropologischen Deduktion der Notwendigkeit politischer Herrschaft macht seine Theorie nicht nur verwundbar durch marxistische Kritik, sondern befestigt auch das Vorurteil, als hinge die Evidenz seiner Einsicht von ihrer durchaus problematischen anthropologischen Begründung ab. Sie empfängt aber ihre Evidenz in einem bei Schmitt mehr vorausgesetzten, als entfalteten Zusammenhang geschichtstheologischen, geschichtsphilosophischen und an der Rolle des Juristen in der modernen Welt orientierten Denkens.
Zunächst einmal stellt sich bei Schmitt die Frage nach dem Standpunkt, von dem aus die Chance, Geschichte zu begreifen, am größten ist. Es kann ja nicht übersehen werden, daß wesentliche Beiträge zum Verständnis der Geschichte der modernen Welt vom Standpunkt der Besiegten geleistet wurden. Man braucht nur an Tocqueville und Burckhardt zu denken. Schmitt gehört zu den vorläufig Besiegten, weil er den Staat retten wollte als eine der emanzipativen Gesellschaft überlegene und den Einzelnen gegen ihren Zugriff schützende Macht, als dessen Hegelsche, substantielle Voraussetzungen sich geschichtlich längst aufgelöst hatten. Gab es aber keine, der modernen Gesellschaft überlegene, als selbstverständlich und verbindlich anerkannte Macht, dann konnte der Staat in einer solchen Situation nur funktional bestimmt werden. Schmitt hat das versucht, indem er an die Katechonrolle erinnerte, die das Imperium im Mittelalter übernommen hatte, um den Rückfall der Welt ins Chaos aufzuhalten, bis der Herr als das einzig berechtigte Subjekt, die Geschichte zu beenden, wiederkehrte. Aus der Perspektive heilstheologisch begründeter Herrschaft mußte der Marxismus Carl Schmitt als diabolische Verwirrung und Zerrüttung der geschichtlichen Grundordnungen der Welt erscheinen. Das hat nichts mit einer billigen Dämonisierung des Kommunismus zu tun, sondern begründete eine prinzipielle Gegnerschaft, die mit dem Kommunismus und seiner Rolle als Bürgerschreck nicht verwechselt werden sollte. Mit diesem hat Carl Schmitt um so weniger zu tun, als seine eigene, aus katholisch-geschichtlicher Substanz gewonnene Position es ihm ermöglichte, den Marxismus als Vollstrecker der mächtigsten Tendenzen der Moderne zu begreifen. Die Macht des Kommunismus ist für ihn die Macht der Auflösung aller eine prinzipielle Entscheidung ermöglichenden geschichtlichen Alternativen im Medium homogen emanzipativen Gesellschaft und des ihr immanenten Trends zur Neutralisierung. Die Überlegenheit des Marxismus ist die über den Liberalismus, der (von Schmitt als Selbstauflösung des Politischen begriffen) mit dem zu einer souveränen Entscheidung befähigten Staat seine eigene geschichtliche Bedingung aufhebt. In seiner Kritik am Verfall des Liberalismus hat Carl Schmitt wesentliche Momente der marxistischen Theorie positiv aufgenommen, wenn sein Ausgangspunkt auch ein anderer war. Grundlegend für Schmitt ist seine Einsicht in die geschichtliche Herkunft des modernen Staates aus der Überwindung des konfessionellen Bürgerkrieges am Beginn der Neuzeit. Nur durch die Konstitution des formalen Rechtsprinzips und einer seine Durchsetzung garantierenden Gewalt konnte der Bürgerkrieg überwunden werden. Die in der Situation des konfessionellen Bürgerkriegs gemachte Erfahrung, daß eine durch partikulare Gruppen usurpierte Wahrheit der Legitimation dienen konnte, Menschen in ihrem Namen zu töten, ist von Schmitt nicht vergessen worden. Die Aufhebung des formellen Rechtsstaates als eines Schutzes des Einzelnen vor der Gesellschaft und als Anerkennung und Garantie eines Spielraumes, in welchem jeder seine Freiheit, auch anders sein zu können, betätigen kann, muß auch dann zur Zerstörung politischer Freiheit führen, wenn an sie die Hoffnung auf eine Verwirklichung totaler Freiheit geknüpft wird.
Schmitt ist mit seiner Theorie geschichtlich gescheitert, nicht zuletzt darum, weil er in ihr wesentliche Prämissen des Gegners übernommen hatte. Für Schmitt wie für den Marxismus ist Verwirklichung des Politischen identisch mit Herrschaft. Für Schmitt wie für den Marxismus gründet der Staat in einer nur gesellschaftlich zu definierenden Homogenität, die er als Staat repräsentiert.
»Die demokratische Gleichheit ist wesentlich Gleichartigkeit, und zwar Gleichartigkeit des Volkes. Der zentrale Begriff der Demokratie ist Volk und nicht Menschheit. Es gibt, wenn Demokratie überhaupt eine politische Form haben soll, nur eine Volks- und keine Menschheitsdemokratie. Auch der Begriff der Klasse kann den Begriff des Volkes für die Demokratie nicht ersetzen. Solange Klasse ein rein ökonomischer Begriff auf rein ökonomischer Grundlage ist, begründet er keine substantielle Homogenität. Wird die Klasse zur Grundlage einer Kampf Organisation und begründet sie eine echte Freund- und Feindgruppierung, so ist Klasse kein rein ökonomischer Begriff, weil eine wirklich kämpfende Klasse nicht mehr eine wesentlich ökonomische, sondern eine politische Größe ist. Gelingt es ihr, den Staat zu beherrschen, so wird die Klasse zum Volk dieses Staates. Der demokratische Begriff des Volkes bleibt immer bestehen und enthält einen Gegensatz sowohl zum Begriff der Menschheit wie auch zum Begriff der Klasse.«[45]
Die Bestimmungen der vorstaatlichen Bedingungen einer politischen Demokratie als Identität und Homogenität des Volkes sind solche bloßer Faktizität. Die Rettung der Substanz politischer Einheit durch die Kategorie der Dezision mußte sich dann als illusionär erweisen, wenn die faktischen Bedingungen einer Demokratie, wie sie Schmitt formuliert hatte, nämlich Identität und Homogenität, nicht mehr gegeben waren. Die Option für den Kommunismus wäre von den juristischen Voraussetzungen Carl Schmitts aus genauso konsequent gewesen wie die für den Faschismus: wenn es dem einen oder dem anderen gelungen wäre, die durch den Bürgerkrieg aufgelöste Identität und Homogenität des Volkes wiederherzustellen. Die in der Indifferenz gegenüber einer solchen geschichtlich fundamentalen Alternative sich aussprechende Neutralität machte einst die Größe des Juristen in der modernen, noch liberalen Welt aus. Was Carl Schmitt mit seiner These von der prinzipiell gesellschaftlich unabhängigen Konstitution des Politischen klarzumachen und durchzusetzen sich bemühte, ist die in keine gesellschaftlich-homogene Bedürfnisnatur aufzuhebende Subjektivität des einzelnen, mit welcher Freiheit selbst geschichtlich untergehen würde. Der immanente Widerspruch der Schmittschen Theorie besteht darin, daß er zwar die gesellschaftlich unabhängige Begründung des Staates forderte, aber keine anderen als formale oder rein ungeschichtlich anthropologische Bedingungen beizubringen vermochte. Der Kampf Carl Schmitts gegen formale Neutralisierung und gegen die Überwältigung des geschichtlich-substantiellen Staates durch die brutale Faktizität mußte scheitern, weil das, wogegen er sich wandte, seiner Theorie selbst immanent war. In der gegenwärtigen Form einer Alternative von perennierendem Terror einerseits und der Notwendigkeit einer Neubegründung des Prinzips formaler Rechtsgleichheit andererseits kehrt, wenn auch in modifizierter Form, das Schmittsche Grundproblem ebenso wieder wie in dem Weltbürgerkrieg der Gegenwart der konfessionelle am Beginn der Neuzeit.