Hannah Ahrendt

Politische Probleme einer Überflußgesellschaft

Nach den Erfahrungen mit der terroristischen Praxis totalitärer Systeme im 20. Jahrhundert und dem Verfall politischer Institutionen in den Wohlstandsgesellschaften der Gegenwart ist es nicht erstaunlich, daß die Frage nach dem Wesen und nach einer Begründung des Politischen zu einer zentralen Frage in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus wurde. Auf einer letztlich anthropologischen Grundlage und im Rahmen einer geschichtsphilosophisch entwickelten Verfallstheorie hat Hannah Ahrendt den Versuch gemacht, die Notwendigkeit zu erweisen, nach der die Möglichkeiten politischen Handelns mit dem Wesen einer an der Produktion und Konsumtion ausgerichteten Praxis unvereinbar sind. Die marxistische Theorie vom Absterben des Staates wird durch die des Untergangs des Raumes des Politischen in der auf die Regelung des Stoffwechsels mit der Natur sich immer mehr beschränkenden modernen Gesellschaft ebenso bestätigt wie problematisch.
In ihrem Werk >Vita Activa<[46] entwickelt Hannah Ahrendt ein hierarchisches Modell typischer Tätigkeitsweisen des Menschen. Sie unterscheidet zwischen Arbeit, Herstellen und Handeln. Arbeitend trete der Mensch in den Stoffwechsel mit der Natur ein. Arbeit wird zu einem verschwindenden Moment in dem sich ständig wiederholenden Kreislauf von Produktion und Konsumtion. Angetrieben und in Gang gehalten durch Bedürfnis und Befriedigung wiederhole er sich immer wieder als der gleiche. Erst in der von Hannah Ahrendt als Herstellen bestimmten Tätigkeitsweise gerinne die Tätigkeit zu einem sich vom herstellenden Subjekt ablösenden und sich ihm gegenüber verselbständigenden Objekt, das ihn in seiner animalischen Vergänglichkeit überdauert. Im Handeln hingegen konstituiere sich erst der Mensch als eine moralische und politische Existenz. Erst im Bereich des moralischen und politischen Handelns könne es so etwas wie Entscheidung geben. Erst im Raum sichtbarer und leibhafter Öffentlichkeit trete der Mensch aus Haushalt und Werkstatt als Person hervor. Mit dem Unvorhersehbaren rechnend, greife er handelnd und verändernd in die jeweilig gegebene Situation ein und schaffe neue, unwiderrufliche Gegebenheiten. Dieser zunächst im rein Anthropologischen verbleibende Aufriß wird sodann geschichtsphilosophisch entfaltet.
Der geschichtliche Anfang in der griechischen Polis stehe unter der Dominanz politischen Handelns; am geschichtlichen Ende, in der Gegenwart, überwältige das bloß ökonomische Konsumieren und Produzieren den Raum politischer Öffentlichkeit und Freiheit. Der politische Raum der Polis sei durch Öffentlichkeit ausgezeichnet. Die Polis sei der klassische Ort des Handelns, der Raum der großen moralischen, rechtlichen und politischen Entscheidungen, durch die sich der Mensch als Person konstituiere. Allein die Stadt und ihre politische Öffentlichkeit vermögen den Menschen eine gleichsam irdische Unsterblichkeit zu verleihen. Dem politisch groß und entscheidungsvoll für viele zukünftige Generationen Handelnden verleihe die sich seiner rühmend erinnernde Polis die Dauer unsterblichen Ruhms, in ihrem Gedächtnis gewinne der Mensch Stand und Ewigkeit.
Hannah Ahrendt setzt als für die griechische Polis kennzeichnend antithetisch gegeneinander die Freiheit politischen Handelns in der Öffentlichkeit der Stadt und die Despotie niederdrückender Arbeit im Kreislauf der Familie und des Haushalts. Die Pointe ihrer geschichts-philosophischen Konstruktion ist deutlich: im Prozeß der Geschichte erobert die im Kreislauf von Produktion und Konsumtion verharrende Arbeit, durch welche das geschichtslose, bloß natürliche Leben des Menschen sich reproduziert, den politischen Raum der Öffentlichkeit und löst ihn auf. Der Verfall des Politischen und damit des Initiums eines Handelns, das alles bloß gegebene, nach dem Zyklus von Naturprozessen ablaufende Sein auf ein qualitativ neues hin überholt, der Verlust der Fähigkeit, einen Raum politischer Öffentlichkeit zu gründen, in welchem sich der Mensch als autarke Person bewegen kann, ist der durch die französische Revolution bewirkten Freisetzung der Gesellschaft immanent. Die durch die französische Revolution in Gang gekommene Überwältigung des politischen Raumes in Gestalt der als Naturprozeß ablaufenden Gesellschaft wird vom Marxismus entschlossen aufgenommen und radikal zu Ende geführt.
Aber nicht nur im Kommunismus, sondern in der modernen Industriegesellschaft überhaupt sieht Hannah Ahrendt die Möglichkeit angelegt, daß die menschliche Existenz, die nur in politischer Öffentlichkeit zu sich selbst gelangen könne, in der unpolitischen Anonymität des Konsums verkommt. Wie jede undialektische Geschichtsphilosophie folgt die als Verfall der griechischen Polis gedachte Geschichte dem Fortschritt ihrer Entpolitisierung.
Doch nicht nur in diesem Punkt wird die Theorie Hannah Ahrendts ein Opfer mangelnder Dialektik: Hannah Ahrendts Begriff des Politischen ist selber unpolitisch: ein ästhetisierender Begriff von Politik, dem seine Herkunft vom Modell des ewigen romantischen Gesprächs, in welchem sich die Individualität konstituiert, indem sie sich redend artikuliert, ebenso deutlich anhaftet, wie seine Bestimmtheit durch Kants Freiheitsbegriff als unbedingter Spontaneität und Jaspers' Philosophie existentieller Kommunikation. Der Gehalt der Ahrendtschen Theorie an realisierbarer Marxismuskritik ist so gering, wie es bei einer sich deskriptiv verstehenden Darstellung nicht anders zu erwarten ist. Und doch ist ihre These von großem Gewicht, da durch sie ins allgemeine Bewußtsein gerückt wurde, was für die Zukunft des Kommunismus ebenso bedeutend werden kann, wie für die der westlichen Industriegesellschaft. Politische Freiheit ist nicht nur bedroht durch eine auf die Aufhebung ökonomisch bedingter Entfremdung und damit auf die Beseitigung der Schranken politischer Demokratie gerichtete revolutionäre Praxis, sondern auch durch die Konsequenzen der in den modernen Wohlstandsgesellschaften sich durchsetzenden Entpolitisierung. An dem durch Technik und Industrialisierung erzeugten wirtschaftlichen Reichtum bricht sich nicht nur der Wille revolutionärer Veränderung, sondern ein jeglicher, der dem Gegebenen eine politische Gestalt abringen will.