Das Denken Ernst Blochs, der neben Lukács größten Gestalt expliziter Marxismuskritik und im Vergleich zu Lukács auch bedeutend wirksameren, soll in unserem Zusammenhang unter der vor allem in der >Erbschaft dieser Zeit< entfalteten Dialektik von geschichtlich gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit behandelt werden, weil dieser Gesichtspunkt in der nun schon schwer überschaubaren Literatur zur Philosophie von Bloch ungebührlich vernachlässigt worden ist. Was hat es nun mit dieser von Marx so nicht bedachten Gestalt von Dialektik auf sich:
»Das objektiv Ungleichzeitige ist das zur Gegenwart Ferne und Fremde; es umgreift also untergehende Reste wie vor allem unaufgearbeitete Vergangenheit, die kapitalistisch noch nicht >aufgehoben< ist. Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch aktiviert diesen objektiv ungleichzeitigen, so daß beide Widersprüche zusammenkommen, der rebellisch schiefe der gestauten Wut und der objektiv fremde des übergebliebenen Seins und Bewußtseins. Hier sind Elemente alter Gesellschaft und ihrer relativen Ordnung und Erfüllung in der jetzigen ungeordneten, und der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch belebt diese Elemente negativ wie positiv überraschend. Haus, Boden, Volk sind solche objektiv unaufgehobenen Widersprüche des Überkommenen zum kapitalistischen Jetzt, worin sie wachsend zerstört und nicht ersetzt worden sind. Sie sind Widersprüche des Überkommenen zum kapitalistischen Jetzt und Elemente alter Gesellschaft, welche noch nicht gestorben sind: sie sind sogar in ihrem Ursprung Widersprüche gewesen, nämlich zu den vergangenen Formen, welche die gemeinten Inhalte vom Haus, Boden, Volk doch nie ganz realisiert haben ... Niemals aber wäre der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch so scharf, der objektiv ungleichzeitige sichtbar, bestünde kein objektiv gleichzeitiger, nämlich der in- und mit dem heutigen Kapitalismus selbst gesetzte und wachsende.«[12]
Bloch hat das Phänomen des Nationalsozialismus theoretisch ernster genommen als die meisten Marxisten. Die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus wird ihm zum Anstoß einer Kritik an Marx, da es den Nationalsozialismus nach der Marxschen Geschichts- und Zukunftsperspektive eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Daher die Verlegenheit marxistischer Theorie, die den Faschismus nur als ein Verfallsphänomen bürgerlicher Gesellschaft und als Reflex der Transformation des Kapitalismus zum Imperialismus zu interpretieren vermag. Bloch sieht hier eine entscheidende Schwäche des Marxismus: dieser mache es sich zu leicht, und Bloch wird es fraglich, ob eine nur auf ökonomische Ursachen abstellende Geschichtstheorie überhaupt in der Lage ist, zu begreifen, was hier begriffen werden muß. Was den Faschismus stark macht, ist nicht die Widerstandskraft des Kapitalismus gegen seine drohende kommunistische Liquidation allein, sondern es steht im Faschismus etwas gegen den Lauf der Geschichte auf, was durch ihn und auch durch den bürgerlichen Kapitalismus nicht erledigt ist. Es handelt sich um einen Protest der Geschichte selber gegen Entwicklungen, die ihrem realen Stand nicht entsprechen. Der Aufstand gegen die Geschichte als Fortschritt wird nach Bloch durch den Marxismus partiell berechtigt, weil er zu abstrakt ist, um wirklich alle ihre Kräfte und Tendenzen umgreifen und ihnen gerecht werden zu können. Nicht nur politisch, sondern auch ideologisch ist der Marxismus dem Faschismus nicht gewachsen, weil sein Anspruch, die Philosophie weltgeschichtlicher Gegenwart zu sein, durch ihn fragwürdig wird.
Für Bloch gibt es einen der Geschichte gleichzeitigen und einen ungleichzeitigen Widerspruch. Der der Geschichte gleichzeitige Widerspruch wird im Proletariat unter Führung der kommunistischen Partei manifest. Sie verkörpert und repräsentiert das Subjekt, das ihr konform ist. Im Faschismus jedoch meldet sich auch ein Widerspruch gegen die Gegenwart, aber nicht der Widerspruch der möglichen Gesellschaft der Zukunft, sondern der Widerspruch der Vergangenheit gegen die Gegenwart. In der Gestalt des Faschismus rebelliert die in der Gegenwart noch nicht aufgehobene Vergangenheit gegen diese. Es melden sich die soziologischen Gruppen und Schichten, die in der marxistischen Theorie sozusagen ortlos geblieben sind: Angestellte, Kleinbürger, die Bauern und die Jugend. Es meldet sich nicht die kommunistische Zukunft, sondern die Macht der Vergangenheit: Volk, Boden, Reich und Führer. Es sind Formen der Evokation, in denen ein Sein unangemessen und verzerrt opponiert gegen seine Verneinung durch die Gegenwart. Es melden sich Strukturen, die zum Sein des Menschen gehören und es in seiner Geschichtlichkeit bestimmen, wie Bodenständigkeit, die Nation, das Volk. Gemeint ist das faktische Bedürfnis nach Solidarität, nach »Gemeinschaft« als Form menschlichen Zusammenhangs, in welchem der Mensch sich zum andern eben nicht verhält wie zu einem andern. Die Theorie von Tönnies klingt an, der Gedanke einer Gemeinschaft, in welcher gesellschaftliche Funktionalität durch eine Gebundenheit der Menschen in ihrem Wesen ersetzt werden soll. In dem für Bloch so zentralen Gedanken des Reiches, meldet sich religiöses Erbe, Verlangen nach überschwenglicher Erfüllung, Reich Gottes als gelungene Herstellung der Welt als Heimat. In ihr, der Welt als Heimat, verhält sich der Mensch, stets auch drohender Geschichte entronnen, zu sich selbst, zum andern und zur Natur wie zu einem Eigenen: aufgehobene Entfremdung in Subjekt und Objekt zugleich. Das mag phantastisch sein, aber alle diese Gedanken, die zum Zentrum des Blochschen Denkens gehören, sind bedingt durch seine Erfahrung mit ihrer im Faschismus nur verzerrt erscheinenden und durch ihn ausgebeuteten Kraft, in der nicht Zukunft, sondern Vergangenheit gegen kapitalistische Gegenwart rebelliert. Für Bloch hat der Marxismus schon bei Marx für wesentliche ontologische und anthropologische Bestimmungen keinen Ort, obwohl sie für die Wirklichkeit durchaus relevant sind.
Bei Bloch kommt heraus, wie sehr der Marxismus bedingt und abhängig ist von dem, wogegen er sich wendet. Wesentliche Strukturen menschlicher Geschichtlichkeit fallen sowohl in der liberalistischen wie marxistischen Theorie aus. Was aber in der Theorie geleugnet wird, ist in der Wirklichkeit nichtsdestoweniger vorhanden. Der Kommunismus hat zum Beispiel für seine Blindheit den nationalen Traditionen gegenüber schwer bezahlen müssen, und dies nicht nur durch den Sieg des Faschismus in Westeuropa, nicht nur durch die Notwendigkeit, in einer Situation äußerster Gefahr im Kriege an die eigenen russischen Überlieferungen appellieren zu müssen, sondern er wird durch den Zerfall politischer Einheit gegenwärtig bedroht, weil ein nationaler Weg kommunistischer Verwirklichung gefordert wird. Es wird vom Marxismus nicht anerkannt, daß, allen expansiven, weltweiten Tendenzen emanzipativer Gesellschaft zum Trotz, die Nation eine die Abstraktheit des gesellschaftlichen Prozesses kompensierende, wenn auch letztlich ohnmächtige Funktion zu erfüllen hat. Es gibt doch zu denken, daß selbst in unseren Tagen für die Wiederbelebung des Nationalismus die Völker bereit sind, einen Preis zu zahlen, von dem sich die politischen Ökonomen nichts träumen lassen. Daß ortlos gewordene, abstrakt negierte Vergangenheit im Faschismus blind gegen die Gegenwart opponierte, ist von Bloch im Prinzip richtig gesehen worden. Nicht potentielle Zukunft steht auf, sondern der verlassene Ursprung gegen die Gegenwart. Es ist der große, aber vergebliche Versuch von Paul Tillich in seiner >Sozialistischen Entscheidung< gemacht worden, die abstrakte Entgegensetzung von Ursprung und Zukunft auf dem Boden einer aus dem Geist alttestamentarischer Prophetie entwickelten Geschichtsphilosophie im Zeichen der Kategorie des Kairos zu überwinden. Hielt Tillich eine Versöhnung zwischen den beiden durch eine prophetische Kritik ihres absoluten Anspruchs entsagenden Antagonisten im entscheidungsgeladenen Augenblick für möglich, so kam es Bloch darauf an, die durch den Faschismus pervertierte Wahrheit unabgegoltener Geschichte für den Marxismus zu retten und sie marxistisch umzufunktionalisieren.
Das geht aber nicht ohne wesentliche Eingriffe und Korrekturen des kanonisierenden Bestandes überkommener marxistischer Theorie! Eine marxistische Kritik, die Bloch abstrakt am orthodoxen Marxismus oder an den Maßstäben einer auf den heutigen Stand gebrachten Dialektik der Aufklärung mißt und den realgeschichtlichen Anlaß seines Denkens nicht berücksichtigt, wird ihm nicht gerecht. Die Versäumnisse Blochs, die allerdings nicht zufällig sind, liegen für unseren Gesichtspunkt an einer anderen Stelle. Daß der Marxismus uns bei Bloch in einer qualitativ neuen, darum nicht weniger befremdlichen Gestalt entgegentritt, ist nicht zu leugnen. Bloch verwandelt den Marxismus als revolutionäre Theorie zurück oder weiter in eine Ontotogie des Nochnichtseins. Bloch versteht sich als Metaphysiker, als Begründer einer qualitativ neuen Metaphysik. Das hat aber Konsequenzen für die Anthropologie, für die Theorie der Natur und der Geschichte und vor allem für die Theorie der Gegenwart. Das von Marx gesehene, aber mit Ernst nicht bedachte Problem einer Erziehung des Erziehers rückt für Bloch ins Zentrum. Wie sollte die Aufhebung der Schranken der bürgerlichen Gesellschaft als solche schon die Verwirklichung des Menschen in seinem Menschsein bedeuten können? Die anthropologische Reduktion des Menschen auf den Arbeiter genügt nicht. Der Mensch muß, nach Bloch, mehr sein. Was ist das, was den Menschen zu überholender Veränderung seiner Welt treibt?[13] Genügt der Hinweis auf das bloße Vermögen? Grund der Nötigung, verändern zu wollen, liegt für Bloch in der Natur des Menschen. Bloch redet wieder von der Wesensnatur. Freuds Theorie des Unbewußten wird aufgenommen und umfunktionalisiert. Bei Freud wehrt sich die Vergangenheit gegen ihre Verdrängung durch die Gegenwart. Das Verdrängte ist als solches gegenwärtig. Bei Bloch meldet sich das Vergangene als das Noch-nicht der Zukunft. Im Dunkel des gelebten Augenblicks steckt der Mensch als der, der sich noch nicht hat. Die romantische Naturphilosophie wird in den Marxismus hereingenommen. Habermas nennt Bloch einen marxistischen Schelling. Der Geschichtsprozeß ist bei Bloch einbehalten von einer in ihm treibenden Natur; Geschichte wird sozusagen in der Chiffrensprache der Natur gelesen, sie wird damit auf Natur hin mediatisiert. Das hat ebenso Konsequenzen für den Marxschen Begriff der Arbeit. Hinter dem Arbeitsbegriff der modernen Nationalökonomie, wie in dem des Fichteschen Idealismus verbirgt sich eine, unter der Herrschaft mechanistischen Denkens unreellste Natur. In der Technik und Industrie treibt Natur noch unerlöst trotz und wegen abstrakt emanzipativer gesellschaftlicher Befreiung. Der Mensch aber soll dynamische Natur verwirklichen. Der abstrakt quantitative Begriff von Natur soll einen dynamisch qualitativen vermittelnd in sich aufnehmen. Der Begriff der Materie soll im Sinne aristotelisch-averroistischer Tradition uminterpretiert werden. Blochs Philosophie will Ontologie sein. Nicht um Marxismus in Gestalt einer letzten Philosophie oder gar um die Aufhebung von Philosophie überhaupt geht es Bloch, sondern um eine neue Gestalt der Philosophie als prima philosophia. Blochs Anspruch geht auf eine neue Metaphysik, ein Anspruch, der in der üblich gewordenen Zuordnung seines Denkens zu einer Form säkularisierter Eschatologie, mystisch-utopischen Messianismus zu wenig beachtet wird. Die Verwirklichung neuer Metaphysik eignet sich die marxistische Kritik der alten in modifizierter Form an. Diese verfällt dem Verdikt, anamnetisch gewesen zu sein, sie unterlag, nach Bloch, dem Bann erinnernden Eingedenkens ins immer schon gewesene Sein, in ihr war kein Platz für Hoffnung. Sie war blind für Zukunft. Das Noch-nicht des Seins wurde zugunsten des Immer-schon-geworden-seins unterschlagen. Blochs Philosophie begreift sich als Ausfüllung des Nochnicht, als docta spes. Er entdeckt Zukunft in dem Sein, das an der emanzipativen Gesellschaft vergangen ist, zum Beispiel in Religion, Dichtung, Kunst usw. Als Telos des unerlöste Natur einbegreifenden Geschichtsprozesses wird die Herstellung der Welt als Heimat ausgemacht, das Zueinanderwerden von Subjekt und Objekt, Aufhebung der Entfremdung als gelungene Identität von Subjekt und Objekt. Aus der Marxschen Angabe des Kommunismus als Ziel des nächsten Schrittes werden überschwengliche Konsequenzen gezogen. Die Marxsche Zurückhaltung in der Bestimmung des Endzustandes wird entschlossen preisgegeben. Indem die Geschichte in ihr Telos gelangt, kommt das zur Erfüllung, was unabgegolten im Prozeß der Geschichte die in ihr treibende Macht war. Blochs Atheismus ist militant, weil er fromm ist. In sein Denken geht die Gottesdefinition der Metaphysik ein als Identität von Wesen und Existenz. Es ist also ein Mißverständnis, Bloch in einem, Heidegger analogen Sinne, um eine Überwindung der Metaphysik bemüht zu sehen. Das, was unter dem Inkognito Gottes geglaubt wurde, rückt vom Anfang an das Ende des Geschichtsprozesses als wirklich gewordenes Reich. Die Hypostasierung wird aufgehoben, aber der Projektionsraum bleibt nicht leer, sondern ist als das gelichtete Dunkel des gelebten Augenblicks im Zielzustand der Geschichte als erfüllt gemeint.
Berechtigt ist die Frage, was das alles noch mit Marx zu tun hat. Bloch verhält sich zum Marxismus rein instrumental. Marxismus bezeichnet bei Bloch die Methode, den Weg, das nur geträumte bessere Sein nun auch geschichtlich ins Werk setzen und mit der Natur vermitteln zu können. Unmißverständlich deutet Bloch den marxistischen Ideologiebegriff als falsche Präsenz der Wahrheit. Nichts soll in Zukunft von dem verlorengehen, was vor allem in der Bibel und der Metaphysik an Hoffnung auf unentfremdete Verwirklichung des Seins der Welt und des Menschen aufging. Marxismus ist vermittelnde, das vom realen Leben Abgespaltene in unverkürzte Gegenwart übersetzende Praxis. War aber bei Marx der im Proletariat erzeugte wahre Mensch ohne Wirklichkeit, so ist der Proletarier bei Bloch zwar wirklich, aber noch nicht Inkarnation der Wahrheit. Das Proletariat ist nur das mögliche Subjekt der Verwirklichung einer Wahrheit, deren es selbst noch bedürftig ist. Die Erziehung des Erziehers soll die durch die Geschichte noch nicht als geleistet unterstellte Erzeugung eines Subjekts befreiender Praxis möglich machen. Dazu ist Philosophie in einem neuen Sinne notwendig und Bloch bietet sie in seinem >Prinzip Hoffnung< an. Auch im Protest gegen Hegels Dialektik des Kreises, die alles als im Anfang schon enthalten behaupten muß, was am Ende der Geschichte heraustritt, und nicht die Produktion eines qualitativen Novums durch die Geschichte denken könne, muß doch auch Bloch an der virtuellen Identität von Ursprung und Telos festhalten, sonst wäre Metaphysik des Nochnichtseins ebensowenig möglich, wie die Begründung eines Antriebs zur immer auch enttäuschbaren Hoffnung. Auch wenn Genesis vom Anfang an das Ende rückt, so muß sie doch auf Potentialitäten in Subjekt und Objekt auftreffen können, wenn sie nicht als eine Pathogenese gedacht werden soll. Der Anfang des Prozesses der Herstellung von Welt als Heimat wird von Bloch als in jedem Jetzt möglich gedacht. In jedem Augenblick, wenn auch im Dunkel des Augenblicks, gärt noch ungeschiedene Fülle trächtiger Möglichkeiten, ringt das Nochnichtgewordensein gelingender Heimkehr sich von allem bloß Gewordenen frei, wenn die intendierende Spontaneität des Subjekts auf eine sich ihr nach vorn öffnende Dynamik der Natur auf trifft.
Das bei Marx noch offengebliebene Problem einer definitiven Bestimmung des Ziels der Geschichte wird von Bloch aufgenommen. Das zum ändernden Eingriff berufene Subjekt wird von Bloch qualitativ anders gedeutet als von Marx. Um die in dem vermittelnden Prozeß gesellschaftlicher Arbeit zurückgehaltene und unterdrückte Natur wird neu bestimmt und freigesetzt. Die Revolution tritt bei Bloch in den Dienst der Verwirklichung von Bestimmungen, die über den Zusammenhang der als Gesellschaft gedachten Geschichte hinausweisen. Der gesellschaftlich-ökonomischen Veränderung in den Besitzverhältnissen an den ökonomischen Produktionsmitteln wird nur noch der Rang einer bloßen Bedingung zuerkannt. Im Rückgang auf den dunklen Grund von Natur im Menschen wird sein Angelegtsein auf Herstellung einer Totalität sichtbar gemacht, die alle bloß ökonomischen Veränderungen, so wichtig sie als Voraussetzungen sein mögen, unendlich übersteigt. Geschichte wird, wie schon Habermas anmerkte.[14] zur Erzeugungs- und Entbindungsgeschichte der der Natur und den Menschen innewohnende! Potentialitäten.
Die Freisetzung der in der industriell technisch beherrschten, unterdrückten, qualitativ dynamischen Natur, also die Akzentuierung der Marxschen Forderung der Resurrektion der Natur in der Form ihrer Humanisierung durch die Aufnahme romantischer Naturphilosophie bei Bloch, ist ein philosophisch ebenso gewichtiges Motiv, wie es schwer vorstellbar ist, daß fortgeschrittene Industriegesellschaften anders als nach dem Prinzip von Naturbeherrschung verfahren könnten. Bloch versteht sich als Marxist, weil er den Marxismus als die unerläßliche Bedingung begreift, unter der die Utopie einer besseren Welt nun nicht mehr bloß geträumt zu werden braucht. Indem er aber den Marxismus nur als die Bedingung und nicht als den Entwurf revolutionärer Praxis auf dem Boden einer konkreten empirischen Gesellschaftsanalyse ökonomisch politischer Art unter den Verhältnissen und Bedingungen der Gegenwart begreift, besteht hier in der Tat die Gefahr einer Mystifikation.
Es ist verständlich, daß Bloch, solange es nur eben vertretbar war, den Kommunismus auch unter Stalin als auf dem Wege zu seiner Verwirklichung propagierte. Doch diese Unterstellung ist unhaltbar geworden, mindestens ist es uneinsichtig, wie die Herstellung der Welt als Heimat in der kontinuierlichen Verlängerung der Perspektiven stalinistischer Herrschaftspraxis hätte liegen können. Kann aber Praxis als Herstellung einer unmittelbaren und unentfremdeten Einheit von Welt und Mensch nicht mehr als schon geschichtlich gegeben vorausgesetzt werden, dann fällt die in der Blochschen Philosophie sich durchhaltende transzendentale Frage, wie sie angesichts wirklicher Veränderung im Ganzen des Seins denkbar sei, ins Bodenlose. Denn der Begriff der Veränderung als solcher ist zu weit und unbestimmt und der revolutionär marxistische ist zu eng und zu spezifisch, um das leisten zu können, was ihm im Denken Blochs zugemutet wird. Er unterstellt mehr, als er mit gutem Gewissen darf, vorausgesetzt, daß nach dem Begriff marxistischer Geschichtsanalyse die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht übersehen und unterschlagen werden dürfen, wenn es um die Neubegründung des Marxismus für die Gegenwart geht. Die Dominanz der Kategorie des Utopischen ist ja selber, wie sublim immer sie umgedeutet werden mag, eher ein Zeichen für die Rückverwandlung des Marxismus aus Wissenschaft in Utopie als das Gegenteil. Gegenwart fällt nicht nur ontologisch, sondern leider auch realsoziologisch und politisch bei Bloch aus. Zwischen Ursprung und Telos versinkt sie, in einem anderen Sinne als Bloch will, ins Dunkle. Die Gewalt des Bestehenden hat sich gegen den Glauben an die Verwirklichung der Utopie einer Welt als Heimat gekehrt. Die einzige bei Bloch zugelassene Alternative einer möglichen totalen Katastrophe läßt die enttäuschte Hoffnung ohne Trost und vermag sie auch schwerlich so zu aktivieren, wie sich das Bloch vom Ausmalen eines Endes in Schrecken erhofft. Die Frage, wie die Entwicklung des Kommunismus und sein Umschlag in totalitäre Herrschaft marxistisch begriffen werden kann, wird von Bloch so nicht gestellt und auch nicht beantwortet.
Es ist das Verdienst von Herbert Marcuse, diese Frage in seinem Buch >Der sowjetische Marxismus <[15] gestellt und ihre Beantwortung versucht zu haben. Die Ideologisierung der als Theorie der Befreiung gemeinten Lehre des Marxismus kann ja, auch nach den Kriterien von Marx selber, nur schwer bestritten werden. Als Ideologie ist sie in einem so ausschließlichen und eindeutigen Sinne zu einem Instrument von Herrschaft geworden, wie das für die traditionalen politischen Ordnungen nur selten, und dann in vorrevolutionären Zuständen zutraf. Marxistische Ideologie hat im sowjetischen Kommunismus die Funktion zu erfüllen, ein unabhängig von der realen Praxis der Gesellschaft bestehendes Subjekt der Herrschaft zu legitimieren. Sie legitimiert die Herrschaft eines partikularen Subjekts über die Gesellschaft als Ganzes. Hinzu kommt die Erfüllung einer integrierendNichtverwirklichungen Funktion. Die in ihre Elemente aufgelöste Gesellschaft, und zwar durch die Revolution aufgelöste Gesellschaft, muß so weit integriert werden, daß der Wille der Herrschenden von den Beherrschten, also der ihnen fremde Wille, als eigener betrachtet werden kann. Drittens schließlich dient die Ideologie der Legitimation der Praxis, wie Herrschaft ausgeübt und vollzogen wird. Sie erfüllt hier sogar eine gewisse positive Funktion, indem sie nämlich regulierend und limitierend auf das Herrschaftssubjekt zurückwirkt. Die durch den Marxismus produzierte Realität steht im Widerspruch zu den Voraussetzungen und den Zielen einer Theorie, die sie zu verwirklichen beansprucht. Das methodisch höchst bedeutsame Ziel von Marcuse besteht nun darin, die NichtVerwirklichung des genuinen Marxismus im sowjetischen Kommunismus selber noch marxistisch zu begreifen. Er geht von der Verwandlung marxistischer Theorie in eine Ideologie etablierter Herrschaft aus. Diese Verwandlung soll nun erklärt werden. Marcuse gibt für sie im wesentlichen drei Gründe an:
- Der Versuch der Verwirklichung des Marxismus mußte unter Bedingungen gemacht werden, die mit den zur Verwirklichung von ihm selber geforderten nicht identisch waren.
- Entgegen der wahrscheinlich genuin marxistischen Annahme mußte der Kommunismus sich in einem industriell zurückgebliebenen Lande verwirklichen, in welchem weder der Kapitalismus, noch eine rechtsstaatliche Demokratie entwickelt waren.
- Der Kommunismus mußte verwirklicht werden, und das ist für Marcuse entscheidend, unter den Bedingungen einer ständig anhaltenden Auseinandersetzung mit einer dem Kommunismus feindlichen Umwelt.
Der Zwang zur Selbstbehauptung eines kommunistischen Landes gegen eine es bedrohende und feindliche Umwelt führte dann zur Ausbildung der Strukturen, die ihn in seiner gegenwärtigen Verfassung kennzeichnen. Schritte in Richtung auf die Verwirklichung des Marxismus als einer Praxis der Befreiung und nicht der Unterdrückung sind also nur dann möglich, wenn dieser politisch militärische Antagonismus beseitigt oder doch ganz erheblich entspannt wird. Entweder wird die Bedrohung von außen aufgehoben, vielleicht durch Unterwerfung der nichtkommunistischen Welt durch die kommunistische, oder es gelingt doch mindestens, den kommunistischen Herrschern das Gefühl zu nehmen, bedroht zu werden. Die Nichtverwirklichung im Marxismus ist also für Marcuse eine Funktion gegenwärtiger weltpolitischer Konstellation. Die sowjetische Ideologie ist aber nicht nur falsch, sondern die falsche Praxis einer Wahrheit, an die Praxis als ihrem ihr innewohnenden Kriterium auch noch in der Abweichung so lange gebunden bleibt, solange der Kommunismus sie nicht auch offen preisgibt. In aller Verkehrung ist potentiell enthalten ein Moment von Verwirklichung, das über den jeweilig erreichten Stand der Dinge hinaustreibt. Eine endgültige Versteinerung unterdrückter Herrschaft ist nach Marcuse solange ausgeschlossen, als die Fahne kommunistischer Endverheißungen aufgerichtet bleibt, auch dann, wenn man ihr nur in quälend-ritualisierter Form die Reverenz erweist.
Es ist offenbar, daß Marcuses Lösung dieses tödlichen Konfliktes, nach dem Befreiung totale Unterdrückung produzieren muß, wenn die Konstellation gegenwärtiger Bedingungen sich nicht ändert, auf eine Korrektur der Politik der Westmächte gegenüber der Sowjetunion zielt. Wie aber eine Lockerung des Drucks zu einem freiwilligen Abbau totalitärer Herrschaftsstrukturen führen könnte, ist dann um so schwerer nachzuvollziehen, wenn hinreichende Gründe für die Annahme nicht vorliegen, die Technokraten der Sowjetunion verhielten sich zu ihrer »Weltanschauung«, wie Sorel zu seinem Mythos. Die Liberalisierung in der Ökonomie schließt eine Perfektionierung politischer Herrschaft ja nicht nur nicht aus, sondern kann sogar dazu geeignet sein, sie zu befestigen. Die nur ökonomisch definierte Wurzel des Interesses an Freiheit fällt weg, wenn die ökonomischen Bedürfnisse mehr und besser befriedigt werden. Es ist ja denkbar, daß im Osten wie im Westen das Interesse an Freiheit mit den Intellektuellen überlebt, zu deren Existenzbedingungen sie gehört, wenn man einmal von ihrer Korrumpierbarkeit absieht, von der ja nicht nur die Erfahrung des Nazismus zeugt. Auch unter den Bedingungen des Kommunismus hat sich das Interesse an Freiheit und diese selber nur in der Form der Abweichung vom Marxismus zu artikulieren vermocht. Die Kunst ist hier die offene Wunde. Sie würde sich, wenn sie dem sozialistischen Realismus gehorchte, selber aufgeben. Es kommt daher der Frage, wie sich der intellektuelle Widerstand gegen die Verfälschung des Marxismus durch den Stalinismus und unter anderen Formen kommunistischer Herrschaft artikulierte, einige Bedeutung zu.