Georg Lukács

Revolution oder Ästhetik

Die wiederholte Revokation seines Werkes durch Lukács selber ändert an der geistesgeschichtlichen Rolle, welche dieses Werk in den Unternehmungen gespielt hat, den Marxismus, trotz der Abschreckung, die von seiner Praxis ausgeht, aktuell und als die Philosophie unserer Epoche erscheinen zu lassen, gar nichts. Worin besteht nun die Leistung dieses Werkes für die Weiterentwicklung des Marxismus und die Durchsetzung seines theoretischen Anspruchs in der nichtkommunistischen Welt? Ausgangspunkt für Lukács ist die Analyse des Phänomens der Verdinglichung. Die gesamte Neuzeit und ihre Philosophie wird im Zusammenhang der für sie, für alle Formen und Gestalten ihrer Theorie und Praxis konstitutiven Verdinglichung begriffen. Das Proletariat wird von Lukács als das durch die geschichtliche Bewegung der Verdinglichung erzeugte Subjekt ihrer Aufhebung ermittelt. Aber nicht seine ökonomische Lage, nicht seine Stellung im materiellen Produktionsprozeß der Gesellschaft prädestiniert es zu dieser Leistung, sondern seine potentielle Qualifikation, sich eine Theorie der Gesellschaft als Totalität anzueignen. Die Rolle des Proletariats als konkretes Subjekt der Identität von Subjekt und Objekt, von Theorie und Praxis mache es zum Hebel einer Umwälzung der Gesamtgesellschaft. Marxismus ist nicht partikuläre Ideologie einer gesellschaftlichen Gruppe, sondern Theorie der modernen Welt im ganzen, die den Anspruch erheben kann, die dieser Welt immanente Aporetik - sprich Entfremdung - überwinden zu können. Ihr Adressat ist im Grunde für Lukács das bürgerliche Bewußtsein, das sich im Marxismus aufzuheben gezwungen ist, wenn es sich durch die Aneignung der marxistischen Theorie als das erkennt, was es ist. Verdinglichung ist keine spezifisch marxistische Kategorie, sondern eine das bürgerliche Denken objektiv beherrschende.
Im Ausgang von Marxens Theorie des Warenfetischismus wird das Sein der bürgerlichen Welt als total verdinglicht analysiert. Alles ist in der bürgerlichen Gesellschaft zur Ware geworden. Verdinglichung meint eine Struktur, der alles subjektive und objektive Sein unterworfen ist. Alle menschlichen Verhältnisse haben in der kapitalistisch organisierten Gesellschaft die Gestalt von Dingen angenommen, einschließlich der Verhältnisse der Menschen zur Natur und zu sich selbst. Die menschlichen Verhältnisse haben ihren Vollzugs- und Aktcharakter verloren und sind zu Dingen erstarrt. Das Erbe von Max Weber setzt sich bei dem frühen Lukács durch, insofern Verdinglichung mit Rationalisierung und Entzauberung der Welt gleichgesetzt wird. Europäische Geschichte ist die Geschichte von Entzauberung und Rationalisierung. Alle Bereiche des Menschen und seiner Welt werden einem rationalen Kalkül unterworfen. Das Sein und der Mensch verschwinden in einem sich ständig perfektionierenden Funktionszusammenhang. Das Modell eines industriell kapitalistisch organisierten Betriebes steht stellvertretend für alle anderen Bereiche, zum Beispiel den des Rechtes.
Es wird gerechnet und kalkuliert. Zukunft wird rational voraussehbar und ihr rationaler Vorentwurf wird in der industriellen Produktion eingeholt. Im Recht werden tendenziell alle nichtrationalen Elemente ausgeschaltet. Für Lukács werden in der modernen Welt alle naturwüchsigen Verhältnisse, also die am Modell des Organismus bestimmbare Totalität des Menschen und seiner Welt, zerschlagen und aufgelöst. Die in ihre rational bestimmbaren Elemente aufgelöste Totalität wird dann nach einem ebenso rational kontrollierbaren Entwurf wieder zusammengesetzt, so daß sie nun den Bedingungen ihrer Kalkulierbarkeit genügt. Zugleich werden diese Elemente verschiedenen, sich zueinander heterogen verhaltenden Rationalisierungssystemen unterworfen. In der partikularen Gestalt von Rationalität aber wird und bleibt das Ganze irrational. Der Zusammenhang der Einzelsysteme bleibt ebenso irrational. Rationalität ist unter den Bedingungen bürgerlicher Gesellschaft formale Rationalität. Die rationalen Systeme bleiben dem Inhalt gegenüber fremd, auf den sie angewendet werden. Freiheit geht mit dem konkreten Inhalt der Substrate in der Gestalt ihrer rationalen Beherrschung verloren. Die Kategorie der Verdinglichung wird universal. Mit ihrer Hilfe glaubt Lukács das Sein der bürgerlichen Welt und ihres Bewußtseins bestimmen zu können, in ihr faßt sich die bürgerliche Welt in dem sie bestimmenden Unwesen zusammen. In der bürgerlich-kapitalistischen Welt ist eben alles verdinglicht. Damit geht dem bürgerlichen Bewußtsein die Fähigkeit verloren, Geschichte als Zukunft zu erkennen. Die bürgerliche Welt ist zukunftserblindet, und das bedeutet: sie ist der Kategorie des novum nicht mächtig. Das Bürgertum hat die Fähigkeit verloren, Zukunft zu gestalten.
Da es sich hier um die Behauptung von Strukturnotwendigkeiten handelt, die das bürgerliche Bewußtsein beherrschen, bleiben nur zwei Möglichkeiten: 1. Abwarten, bis die Nichtmarxisten aussterben, oder 2. Nachhelfen durch Terror oder Krieg. Lukács ist schon in >Geschichte und Klassenbewußtsein < der leninistische Terrorist, als der er sich später zeitweilig zeigte. Lukács bringt, wie ausgeführt, Verdinglichung in Zusammenhang mit Rationalisierung. Vernunft verwandelte sich für das bürgerliche Denken in den Verstand. Vernunft verschwindet in der Funktion, machbare Veränderungen herbeizuführen. In der Bindung an Methode macht Vernunft ihrem Gegenstand sich homogen. Sie vollzieht an der Wirklichkeit eine Abstraktion und unterschlägt sie im Resultat. Wird Vernunft auf ihre Methode ermöglichende Funktion beschränkt, dann wird Wirklichkeit als geschichtliche unerkennbar gemacht, denn nur das methodisch Verifizierbare gilt dann als wirklich. Auf die Erkenntnis der Wirklichkeit im ganzen wird verzichtet. Was aber wird aus der theorieverlassenen Wirklichkeit? Sie wird von irrationalen Kräften in Besitz genommen. Der im Wesen moderner Gesellschaft wurzelnde Faschismus ist damit von Lukács ausgemacht und ermittelt.
Nach Lukács identifiziert neuzeitlich-bürgerliche Philosophie das Erkennbare mit dem Machbaren. Nur das, was ich herstellen kann, kann ich auch erkennen, gefordert ist also Einheit von Theorie und Praxis. An der Herstellung dieser Einheit habe bürgerliche Philosophie laboriert, ohne aber die Forderung auch einlösen zu können. Sie dringe nicht zu einem Subjekt vor, das diese Einheit selber hätte herstellen und vollbringen können. Das Fehlen eines realen Subjektes der Identität von Subjekt und Objekt, von Theorie und Praxis in der kapitalistischen Gesellschaft werde in dem Zwang deutlich, dem das bürgerliche Denken unterliege, das in der Realität vergeblich Gesuchte hypostasieren zu müssen. Die bürgerliche Philosophie erzeuge denkend künstlich ein Subjekt, dem das Vermögen zur postulierten Leistung unterstellt werde: Kants transzendentales Subjekt, Fichtes absolutes Ich, Schillers ästhetisches Ich, Hegels absoluter Geist. In der Form der Hypostasierung werde aber die reale Unlösbarkeit eines Problems auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft verhüllt, das sie selbst erzeugt habe: die Verwirklichung des Menschen in der unentfremdeten Totalität seines Wesens. Wie können auf dem Boden der Verdinglichung die für das Menschsein des Menschen desperaten Konsequenzen vermieden werden? Wie kann das in der Verdinglichung aufgehobene Menschsein wiederhergestellt werden?
An der Lösung dieses Problems ist die bürgerliche Philosophie und damit die Philosophie überhaupt für Lukács gescheitert. Ihr Scheitern soll an ihr selbst und an dem Zwang zu hypostasierenden Setzungen aufgezeigt werden. Sie unterstelle Fiktionen als reale Gegebenheiten. Aus der objektiven Struktur ihres sich selbst Verstelltseins folge ihr antinomisches Wesen. Hegels Philosophie sei unter den Bedingungen bürgerlicher Gesellschaft die höchste Philosophie, weil sie dialektische Philosophie sei. Die Antithesen werden verflüssigt und das Problem der Genese des gesuchten Subjekts werde als ein nur geschichtlich lösbares erkannt. Aber auch die Hegelsche Philosophie bleibt für Lukács an die Schranken des bürgerlichen Bewußtseins gebunden, weil sie, kraft der Gebundenheit an diese Schranken, ein ungeschichtliches Gesamtsubjekt hypostasieren muß: den absoluten Geist.
Als Beispiel für die Hypostasierung steht für Lukács die Konjunktur des Ästhetischen in der Welt neuzeitlich-wissenschaftlicher Aufklärung. Die Emanzipation des Ästhetischen ist nur als eine Konsequenz von Verdinglichung begreifbar. In der verdinglichten Welt hat die unmittelbare menschliche Subjektivität keinen Ort mehr. Als Organ ihrer Wiederherstellung bildet sie die Ästhetik aus. Für die ästhetisch gemeinte Wiederherstellung der Totalität des Menschen in der modernen Welt muß das ästhetische Subjekt mit der Abspaltung von der Wirklichkeit bezahlen. Die Wirklichkeit wird zwar verdoppelt, aber der Antagonismus nicht aufgehoben. Das ästhetische Subjekt muß den im Schönen gewonnenen Anteil am Ganzen mit seiner realen Ohnmacht bezahlen. Also: die bürgerliche Gesellschaft und ihre Philosophie sind nicht imstande, den durch die Verdinglichung vernichteten Menschen wiederherzustellen. Erst durch den Marxismus sei das Problem lösbar geworden, denn er habe das gesuchte Subjekt auch wirklich gefunden: das Proletariat. Es braucht nicht mehr länger künstlich denkend erzeugt zu werden, sondern die Bewegung der Geschichte selber habe es hervorgebracht. Wie aber wird nun von Lukács der Vollzug bestimmt, durch den vom Proletariat die Einheit von Theorie und Praxis, von Subjektivität und Objektivität verwirklicht werden soll?
Bei Marx handelt es sich in der Revolution um eine reale gesellschaftlich ökonomische Veränderung. Bei Lukács eignet sich das Proletariat die Theorie des Totalen an und verändert sich eben durch diese Aneignung. Das Proletariat kann das, weil es der unmittelbar zum Ding gewordene Mensch ist. Am Proletarier ist das an sich zur Ware gewordene Menschsein für sich geworden. Die Veränderung des dinglichen Bewußtseins verändert nicht nur dieses, sondern zugleich die Struktur objektiv verdinglichten Seins. Durch das Sichwissen verändert es sich schon. Im Akt der Aneignung von Theorie vollzieht sich schon Verwirklichung von Philosophie als ihre Aufhebung, also keine kollektive Aktion ökonomischer Revolution. Was sich bei Lukács ereignet, ist in der Tat eine spiritualisierende Verflüchtigung des ökonomisch-politischen Gehalts marxistischer Revolutionstheorie. Dieser Kern Lukácsschen Revisionismus muß in der Form einer zusammenfassenden Darstellung noch einmal verdeutlicht werden, weil Lukács der Vater allen nachmarxschen, theoretisch ernst zu nehmenden Revisionismus ist.
Die bürgerliche Gesellschaft ist blind für Zukunft und damit für Geschichte im Sinne tendenzkundigen Prozesses. Aber warum muß man eigentlich über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehn? Man muß über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehen, weil sie durch ständig sich erneuernde Krisen erschüttert und bedroht wird, mit denen sie nicht fertig werden kann. Beides, Zukunftsblindheit und Krisenanfälligkeit, gehört zusammen, da bürgerliches Bewußtsein Gesellschaft als Totalität nicht erkennen kann und daher mit immanenter Notwendigkeit die Kontrolle über die Prozesse verlieren muß, in denen die Geschichte über die Gestalt bürgerlicher Gesellschaft hinaustreibt. Die Geschichte aber hat im Proletariat das Subjekt einer Aufhebung von verdinglichter Gesellschaft hervorgebracht. Warum ist das Proletariat das Subjekt einer möglichen Praxis, die über die Möglichkeiten bürgerlichen Bewußtseins hinausgeht? Warum ist es das von der Geschichte selbst produzierte Subjekt einer möglichen Einheit von Theorie und Praxis? Weil Selbsterkenntnis des Proletariats als Gestalt verdinglichten Menschseins die Veränderung des Erkennenden durch diese Erkenntnis in sich einschließt. Die ökonomisch-politische Revolution wird zurückgedrängt und an ihre Stelle tritt die Aneignung der Theorie des Warenfetischismus durch das Proletariat. Bleibt aber die Struktur objektiver Verdinglichung durch diesen theoretischen Akt unangetastet? Die Zukunftsrolle des Proletariats besteht nur in der Erkenntnis, deren es fähig ist, nämlich der Erkenntnis einer möglichen Einheit von Theorie und Praxis und einer möglichen Erkenntnis der Geschichte als Totalprozeß. Dem Proletariat gehört nach Lukács die Zukunft, weil es das Subjekt einer wahren Erkenntnis der Gesellschaft als Totalität ist. Es erkennt, daß die Formen der Verdinglichung innerhalb der Schranken des bürgerlichen Bewußtseins durch dieses erzeugt werden und Verdinglichung dem bürgerlichen Bewußtsein ein notwendiger Schein ist. Das Proletariat aber macht hinter diesem Schein Gesellschaft als das wahre Subjekt der Geschichte, als Prozeß aus. Was bedeutet aber dann der Anspruch auf Wahrheit? Die Übereinstimmung mit den aktuellen, die Geschichte in ihre wahre Zukunft treibenden Tendenzen ihres Prozesses und seiner wechselnden Konstellation. Entscheidend muß dann die Frage nach dem legitimen Subjekt der Entscheidung und der Interpretation des aktuellen Standes der Revolution und ihrer Möglichkeiten werden. Daß nun das Proletariat als kollektives Subjekt einer solchen Interpretation und Entscheidung nicht fähig ist, ist so einsehbar, wie die Notwendigkeit einer Delegation an einen Einzelnen oder an die Führungsgruppe einer Partei. Das Proletariat als Kollektivsubjekt wahrer Erkenntnis des Geschichtsprozesses ist eine reine Substruktion, oder besser gesagt, mindestens ebenso erschlichen, wie das Lukács den Hypostasierungen der bürgerlichen Philosophie vorwirft. Es kommt Carl Schmitt das Verdienst zu, den ideologischen Schleier entfernt und die Frage auf ihren politischen Kern und Boden zurückgeführt zu haben, nämlich auf ihre Form: Quis iudicabit? Sie wurde von Lenin und Stalin nach den Regeln politischer, d.h. hier terroristischer Praxis entschieden, vor der Lukács, wenn er nicht gerade Unterwerfung von Theorie theoretisch begründete, sich in die Ästhetik rettete.
Lukács begann als bürgerlicher Literaturtheoretiker. Die Grundthese seiner >Theorie des Romans<[10] besagt: Der Roman ist die Kunstform der bürgerlichen Welt und ihrer transzendentalen Obdachlosigkeit. Der Roman deckt diese Obdachlosigkeit auf. Er drückt aus das Nichtsein menschlicher Totalität in der bürgerlichen Gesellschaft. Transzendenz fehlt oder sie wurde formal und leer. Der Roman reflektiert die reale Abwesenheit des Absoluten in der Gesellschaft: die Idee des Menschen überdauert in der Idee des Romans als einer neuen Gattung. Es klingt nur scheinbar paradox, aber der Schluß ist unausweichlich, daß nämlich Lukács in der »Theorie des Romans« der Substanz marxistischenGeschichtsdenkens und damit der gesellschaftlichen Einsicht in das geschichtlich kontingente Wesen ästhetischer Formen und ihrer Veränderung näher war als der Lukács, der vom bewußt gewählten Standpunkt marxistischer Theorie aus dieser die Ästhetik subsumieren will[11]. Es bedarf keines näheren Nachweises, wie sehr der Begriff des Romans als eines dialektisch vermittelten Ganzen, das sich nur durch Aufnahme des Momentes unverkürzter, die Naivität untergrabender Reflexion verwirklichen kann, der Ästhetik Hegels verpflichtet ist. Die Hegelsche Einsicht, wie sehr die in der Moderne ausgebildete Prosa einer Welt entspricht, die er im Kontrast zum heroischen Weltzustand des Epos die gesetzlich befestigte, vom Subjekt unabhängig bestehende objektive Allgemeinheit nannte, liegt dem Entwurf von Lukács zugrunde. Offenbart sich aber durch die drohende Totalität der Entfremdung der ebenso kunstfeindliche wie inhumane Charakter moderner Gesellschaft, dann wird ihre praktische Veränderung mit dem Ziel einer Erneuerung griechischer Daseinstotalität ein unabweisbares Postulat der Kunstphilosophie.
Was ein Blick auf den vormarxistischen Lukács aufschlußreich erscheinen läßt, ist die Erkenntnis, daß die Forderung nach einer revolutionären Herstellung menschlicher Identität in der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft, bei Lukács letztlich ästhetisch begründet, selbst romantisch-ästhetischer Natur ist. Daß die Kunst im Kommunismus, im Gegensatz zu allen anderen überlieferten Formen des objektiven Geistes, so entschieden und erbittert umkämpft wurde, gründet in der Bedeutung der Kunst für die Frage, ob und wieweit der Kommunismus die geschichtliche Verwirklichung menschlicher Totalität wirklich vollzieht. Nachdem alle übrigen geistigen Instanzen unter Ideologieverdacht gestellt und eindeutig dem Überbau zugerechnet wurden, bleibt nur die Kunst als Enthüllung der gesellschaftlichen Wirklichkeit unter der Herrschaft des Kommunismus übrig, um der doktrinären Unterstellung, daß die humane Bestimmung des Menschen im Kommunismus erreicht sei, entgegenzutreten und als selbst ideologischen Charakters zu entlarven. Die Überantwortung bürgerlicher Gesellschaft an das Gericht der Kunst, die sich in utopischer Bewahrung des menschlichen Sinnes der Welt als Heimat gegen die Realität wendet, schlägt auf die marxistische Ästhetik zurück. Niemandem ist dieser Sachverhalt klarer zum Bewußtsein gekommen als Georg Lukács, der aus der Ersetzung des marxistischdialektischen Begriffs einer geschichtlich sich vermittelnden und verwirklichenden Totalität durch die Leninistische Theorie der Widerspiegelung einer unabhängig vom erkennenden Subjekt existierenden Außenwelt, entschlossen die Konsequenzen gezogen hat.
Der Marxismus wird in der Form geschichtlicher Praxis nicht mehr als die reale transzendentale Ermöglichung von Kunst verstanden, sondern als die Ermöglichung des Fortschritts in ihrer Erkenntnis. Die Position der Kunst als Platzhalterin humaner Vollendung, des utopischen Ideals bruchloser, unentzweiter, glückvoll gelingender Weltlichkeit dankt ab zugunsten ihrer Funktion, die extensive Unendlichkeit geschehener Geschichte intensiv im Bilde zu spiegeln. Kunst als Material geschichtsphilosophischen, das Ganze in den Begriffzwingenden Entwurfes muß sich dem Willen des mehr an Dilthey als an Hegel erinnernden Programms des Historismus fügen. Hatte der geschichtsphilosophisch theologische, am Modell griechischer Kunst gewonnene Ansatz der Theorie des Romans es Lukács ermöglicht, die Notwendigkeit und Positivität der dialektischen Auflösung und Zersetzung des organischen Kunstideals in der modernen Welt zu begreifen, so muß die Kunst nun parieren. Die reaktionäre Tendenz der Lukácsschen Ästhetik - reaktionär auch im Verhältnis zum ursprünglich Marxschen Gedanken - spricht sich nicht nur in einseitig doktrinärer Betrachtung der nachklassischen Kunst, sondern auch in dem Bestreben aus, eine an traditionaler Kunst abgelesene Form zum Kanon zu erheben. Diente ihm dazu in der Theorie des Romans das griechische Epos, so nun die Ästhetik und Kunst der deutschen Klassik. Die hier in der Kunst aufgegangene Bestimmung des in seiner Totalität sich erfüllenden menschlichen Seins soll als das Erbe bürgerlicher Kultur in die kommunistische Zukunftsgesellschaft, als das in ihr sich verwirklichende Ziel einer humanisierten gesellschaftlichen Praxis eingebracht werden. Die Übernahme der marxistischen Geschichtserkenntnis dient Lukács als Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum die in der bürgerlichen Kunst antizipierte humane Bestimmung utopisch bleiben mußte, und warum erst durch die kommunistisch inspirierte Praxis die Bedingungen für ihre Verwirklichung gegeben sind. Durch diese Problemstellung soll dem bürgerlichen Bewußtsein die ideologische Kapitulation in der Einsicht aufgezwungen werden, daß eine verbindliche Tradition der höchsten Güter der bürgerlichen Kultur nur durch den Übergang zum Marxismus möglich ist. Es wird suggeriert, daß die Annahme des Marxismus eine fast automatisch eintretende Folge geschichtlicher Selbsterkenntnis sei.
Spannend ist es zu beobachten, wie sich bei Lukács die apologetischen Bemühungen eines zum Feind übergelaufenen Bürgers, dessen Herkunft aus der von ihm zum Untergang verurteilten Kultur unverkennbar ist, wenn auch vielleicht unbewußt, mit der strategischen Gesinnung eines im Leninismus geschulten Streiters im ideologischen Kampf der Klassen verbindet. Lukács wandte sich von der Ästhetik ab, als er glaubte, in der Gestalt des Proletariats ein Subjekt realer Verwirklichung menschlicher Totalität gefunden zu haben, und er wendet sich ihr wieder zu, als es zweifelhaft wurde, daß die Geschichte unter den Herrschaftsbedingungen des Kommunismus sich in der postulierten Richtung bewegt. In seinem letzten großen Werk, >Die Eigenart des Ästhetischen <, scheint Lukács wieder an seinem Ausgangspunkt, der Ästhetik, angelangt zu sein. An die Stelle von Marx ist Lenin und seine Theorie der Widerspiegelung getreten. Diese Theorie mit ihrem trivialen Grundsatz, daß es eine bewußtseinsunabhängige Außenwelt gibt, will Lukács ontologisch legitimieren. Das Ziel der Geschichte besteht dann in einem Prozeß approximativer Annäherung an eine die Außenwelt in ihrer extensiven und intensiven Unendlichkeit spiegelnde Erkenntnis. Die Tradition moderner ästhetischer Subjektivität muß eliminiert werden.
In einem gewissen Sinn ist der Marxismus durch den späten Lukács bei einem durch Dilthey und Gehlen modifizierten Auguste Comte angekommen. Das letzte Stadium der Geschichte ist das Stadium einer optimalen Adäquation an die Außenwelt. Der Marxismus kehrt zum alten Ladenhüter bürgerlichen Zerfalls, dem Positivismus, zurück. Was der alte Lukács, der von avantgardistischer neomarxistischer Theorie geschmäht und barbarischen Umgangs mit der in der aufgezwungenen Emigration entwöhnten deutschen Sprache geziehen wird, dieser Kritik voraus hat, ist die unmittelbare Erfahrung kommunistischer Herrschaft und die Erfahrung des Scheiterns eines Versuches, sich ihrer zu entledigen. Aber warum wird die Ästhetik zum Asyl enttäuschter Hoffnung? Wie das gesellschaftliche Bewußtsein ist nach Lukács auch das ästhetische eine Form der Widerspiegelung. Aber im ästhetischen Spiegel begegnet die Welt nicht als die entfremdete, sondern als die human versöhnte. Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis, die in der Realität kommunistisch revolutionierter Gesellschaft augenscheinlich nicht zusammenkommen konnten, versöhnen sich im ästhetischen Schein. Der Standpunkt der Schillerschen Ästhetik ist nicht überwunden und hat sich, allen Anstrengungen zum Trotz ihr die Gestalt einer realen Versöhnung zu geben, unverkürzt wieder durchgesetzt. Eine merkwürdige Bilanz eines ein halbes Jahrhundert währenden Kampfes um die reale Verwirklichung des Kommunismus: heraus kommt die Ästhetik als Ort der Versöhnung und über die Wirklichkeit herrscht ein mehr an Comte als an Marx erinnerndes Erkenntnisideal. Auch gemessen an der durch gegenwärtige Kunst reflektierten Erfahrung erweist sich Lukács als Hüter und Bewahrer bürgerlicher Kultur des 19. Jahrhunderts.