Es ist überhaupt offen, welche reale Bedeutung jener revisionistischen Entwicklung der marxistischen Theorie für den Ausgang des geschichtlichen Experimentes ihrer Verwirklichung zukommt, die nicht die leibhafte Erfahrung in sich aufgenommen und verarbeitet hat, welche nur die direkte Teilnahme an diesem Experiment zu vermitteln vermag. Am Denken von Kolakowski[16] kann man zeigen, welche Möglichkeiten eine innermarxistische Opposition gegen die institutionelle Verfestigung und Verkehrung von Freiheit in Unterdrückung hat. Denn es ist der Ausgangspunkt von Kolakowski, daß er den Stalinismus als institutionelle Herrschaftsideologie interpretiert. Die Konsequenzen, die Kolakowski aus der Aufgabe, eine Wiederkehr des Stalinismus zu verhindern, zieht, gehen so weit, daß es weder überraschend noch ganz unverständlich ist, wenn er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde und auf Zeit emigrierte. Was sich bei Kolakowski abzuzeichnen beginnt, ist nicht weniger als die Wiederherstellung der für die westeuropäische Aufklärung im 18. Jahrhundert spezifischen Konstellation. Die vom Marxismus erreichte und geforderte Vollendung der Emanzipation fällt bei Kolakowski auf ein in der Perspektive des Marxismus überholtes oder doch für überwunden erklärtes Stadium zurück. Dieser Rückfall in die theoretischen Voraussetzungen des Aufklärungsdenkens reflektiert aber nur die Erfahrung, die er mit der stalinistischen Gewalt gemacht hat, die ja auch strukturell stärker an die vorrevolutionären Verhältnisse unter dem ancien regime erinnerte als an den Marsch in die Zukunft. Die Aufgabe, wie sie Kolakowski bestimmt, besteht in der Auflösung der Herrschaft begründenden und legitimierenden, sich von der Praxis entfernenden und befestigenden Ideologie durch Kritik. Es soll also eine geschichtliche Veränderung erreicht werden durch intellektuell-theoretische Aufklärung über die nichttheoretischen oder einer solchen Rechtfertigung nicht fähigen Voraussetzungen einer bestimmten herrschenden Ideologie, in diesem Falle also des Stalinismus.
Um seine Forderung aber erfüllen zu können, muß Kolakowski den eher an den Neukantianismus als an Marx erinnernden Hiatus zwischen Sein und Sollen wiederherstellen. Warum? Die marxistische Geschichtsphilosophie und ihre stalinistische Anwendung müssen partiell destruiert werden, weil die durch sie unterstellte Einsicht in den gesetzmäßigen Ablauf der Geschichte dazu mißbraucht wurde, Verbrechen als moralische Handlungen zu legitimieren und zu sanktionieren. Die Handlungen seien, so wurde behauptet, notwendig gewesen für den Fortschritt der Geschichte, und diese habe immer recht. Es kommt Kolakowski darauf an, die moralische Verantwortlichkeit des einzelnen Individuums wieder zu begründen. Die pragmatische Nützlichkeit einer Doktrin solle und müsse streng von der Frage nach ihrem Wahrheitsgehalt geschieden werden. Kolakowski ist durchaus bereit, pragmatischen Notwendigkeiten auch von Herrschaft beim Aufbau des Kommunismus Rechnung zu tragen, aber Praxis soll nicht länger a priori der Ort inkarnierter Wahrheit sein. Es ist klar, daß dieses Ziel nur durch eine grundlegende Neuinterpretation des Sinnes sozialistischer Theorie und Praxis wie ihres Zusammenhanges erreicht werden kann. Der Sozialismus muß dann als ein besonderes System von an gesellschaftliche Praxis gebundenen Werten verstanden werden, die an sich gültig sind und von sich aus den Anspruch auf Verwirklichung an den sich zu ihnen bekennenden Einzelnen stellen. Der Marxismus reduziert sich unter dieser Voraussetzung im wesentlichen auf eine Methode soziologischer Analyse, die subsidiär im Zusammenhang der Verwirklichung eines realen gesellschaftlichen Humanismus angewendet werden soll. Die Werte selber sind aber die der Aufklärung: Würde und Autonomie. Jedes Mittel, das nicht mit ihnen übereinstimmt, kann und darf kein Mittel sozialistischer Verwirklichung sein. Die revisionistischen Züge des Denkens von Kolakowski sind unübersehbar. Die den Stalinismus tragende Gleichsetzung von realkommunistischem Fortschritt und notwendigem Ablauf der Geschichte wird aufgehoben. Der Marxismus wird qualitativ verändert. Er wird zu einem Inbegriff seinsollender Werte als Quintessenz realen Humanismus; ihnen hat sich das einzelne Individuum zu unterstellen. Marxistisch humanitäres Handeln muß auch in der Wahl seiner Mittel durch sie legitimiert werden. In der Erneuerung des vom Neukantianismus ausgehenden Revisionismus wird mit der Preisgabe von Dialektik der Marxismus als Theorie der begriffenen Geschichte aufgegeben. Die in der postulierten Einheit des Individuums mit seiner gesellschaftlichen Gattungsnatur als bürgerlich ausgegebene Trennung von Sein und Sollen wird von Kolakowski wiedergewonnen und der Einzelne tritt als Träger zurechenbaren moralischen Handelns wieder hervor. Die verdrängte Subjektivität meldet sich und artikuliert Fragen, an welchen auch der orthodoxe Marxismus, wie das Beispiel von Adam Schaff zeigt, nicht einfach vorübergehen kann. Eine Vervollständigung und Konkretion marxistischer Anthropologie soll ihnen begegnen.