Herbert Marcuse

Marcuses Freudmarxismus

Dieses Verschwinden der Dialektik qualitativen Andersseins in die alle Unterschiede nivellierende und ihrer Erhaltung unterordnende Überflußgesellschaft ist das Grundproblem Herbert Marcuses.[47] Im Denken Herbert Marcuses schickt sich die Theorie des Fortschritts an, die Theorie ihres eigenen Verfalls in sich aufzunehmen. Der Weg Marcuses führt von einem sich zunächst stark an Heidegger anlehnenden Marxismus zu dem, was man Freud-Marxismus genannt hat. Am eindeutigsten erkennt Marcuse an, daß sich die gesellschaftliche Situation gegenüber Marx, in den westlichen Industriegesellschaften wenigstens, grundlegend geändert hat. Das Problem ist nicht mehr die Armut, sondern der Reichtum. Schon dieser Ausgangspunkt erregt begründeten Verdacht gegen den marxistischen Charakter einer Theorie, welche Revolution neu begründen will. Die Schwierigkeit, der sich Herbert Marcuse gegenübersieht, ist nun nicht nur die Frage, wie eine Revolution möglich sei, sondern es muß vielmehr erst gezeigt werden, daß sie notwendig ist. Es kann sehr wohl sein, daß Marcuse in seinem Bestreben, die Notwendigkeit von Revolution zu erweisen, zu dem Eingeständnis gezwungen wird, daß diese zwar notwendig, aber nicht möglich ist. Eine paradoxe Umkehrung des Ausgangspunktes von Marx! Marx konnte sich als konsequente Vollendung der Tradition fortschrittlicher Theorie begreifen, weil die Geschichte die heute erneut zum Problem gewordene Frage selber bereits gelöst hatte: in der Existenz des Proletariats fallen Notwendigkeit und Möglichkeit der Revolution zusammen. In einer Gesellschaft ökonomischen Reichtums aber fällt die von Marx als zwingend anerkannte ökonomische Motivation fort.
Die Psychoanalyse Freuds kann daher im Denken Marcuses nur die Bedeutung haben, für die fortgefallene ökonomische Begründung einen Ersatz zu liefern. Diesem Zweck kann aber Freuds Psychoanalyse nur dienen, wenn sie neu interpretiert, ja umfunktionalisiert wird. Psychoanalyse darf nicht länger als Technik gesellschaftlicher Anpassung verstanden werden, als die sie noch von Gehlen akzeptiert wurde. Entgegen dem Sinn, den sie doch bei Freud hatte, wenn er die Unterordnung des Lust- unter das Realitätsprinzip forderte, muß Marcuse ihr den revolutionären Gehalt erst abgewinnen. Sie muß von ihm als sich therapeutisch maskierender Protest gegen die der gegenwärtigen Welt immanenten Unterdrückungsstrukturen begriffen werden. Es muß »die politische und soziologische Substanz der psychologischen Begriffsbildung« erst entwickelt werden. Was Freud am Individuum ablas, muß als gesellschaftliche Repression erkannt werden, mit der sich das Individuum, wenn auch unbewußt, identifiziert. Die Geschichte der Kultur beinhaltet sukzessives Verdrängen potentieller Erfüllung zugunsten einer Unterwerfung unter die Logik bloßer Selbsterhaltung. Die marxistische Herkunft des Gedankens eines gesellschaftlichen Ursprungs auch unbewußt gebliebener Unterdrückung ist deutlich. Eine in den Dienst der Erneuerung marxistisch-revolutionärer Hoffnung tretende Psychoanalyse hat also primär die Aufgabe, Entfremdung erst bewußt zu machen. Das in der Freudschen Theorie latent gebliebene revolutionäre Potential muß freigesetzt werden. Die Herrschaft des technologischer Vernunft immanenten Prinzips von Unterdrückung muß gebrochen werden. Die negative Dialektik einer der Vernichtung dienenden Produktivität muß von einer menschlicher Erfüllung dienenden Praxis unterworfen werden. Erst die Gesellschaft ökonomischen Überflusses macht die von Marx erhoffte totale Verwirklichung des Menschen möglich. Voraussetzung aber ist die Auflösung des psychischen Mechanismus, durch den das Individuum gesellschaftliche Repression in sich selbst reproduziert. Der ruinöse Zirkel jener Produktivität, die nur der Fortsetzung dieser gesellschaftlichen Dialektik der Zerstörung dient, kann aber nur aufgebrochen werden, wenn das Prinzip destruktiver Selbsterhaltung in der Realität schon aufgehoben ist. Das also, was die revolutionäre Selbst Verwirklichung durch die Gesellschaft möglich macht, macht sie auch gleichzeitig unmöglich. Bedingung revolutionärer Befreiung ist es, daß sie bereits gelang. Das Befreiende ist unter der Struktur der Herrschaft unmittelbar identisch mit der Gewalt der Unterdrückung.
Durch keinen anderen Denker der Gegenwart ist die Überholung des Marxismus durch die Geschichte konsequenter gedacht worden als durch Herbert Marcuse. Jürgen Habermas hat dem Denken Marcuses den Beweis der Fruchtbarkeit gegenwärtiger marxistischer Theorie entnehmen zu können geglaubt.

»Das Allgemeine hat sich von jeher in der Opferung des Glücks und der Freiheit eines großen Teils der Menschen durchgesetzt: es enthielt immer den Widerspruch gegen sich selbst, verkörpert in politischen und geistigen Kräften, die nach einer andern Lebensform drängten. Was der gegenwärtigen Stufe eigen ist, ist die Stillstellung dieses Widerspruchs: die Bewältigung der Spannung zwischen der Positivität - der gegebenen Lebensform - und ihrer Negation - dem Widerspruch gegen diese Lebensform im Namen der geschichtlich möglichen Freiheit... Der totalitäre Staat ist nur eine der Formen - vielleicht eine schon veraltete Form -, in denen sich der Kampf gegen die geschichtliche Möglichkeit abspielt.«[48]

Dieses Zitat Marcuses soll bei Habermas die Aufgabe und Richtung marxistischer Theorie in der Gegenwart anzeigen. Revolutionäre Praxis hat sich in der Gegenwart zu einer bloßen Möglichkeit verflüchtigt. Das Absinken des revolutionären Potentials, die Hineinnahme oppositionellen Widerspruchs in die Gesellschaft, so, daß auch der Widerspruch noch ihrer Erhaltung dienen muß, hat zu der Ausbildung einer Situation geführt, der der Marxismus nicht mehr adäquat ist. »Wenn wir uns ganz kurz ansehen, wie die marxistische Theorie dieser entscheidenden Veränderung gegenübersteht, so müssen wir zunächst zugeben, daß die traditionellen Erklärungen im Angesicht dessen, was in der hochentwickelten Industriegesellschaft vor sich geht, nicht mehr adäquat sind.«[49] Dieses Eingeständnis der Inadäquatheit marxistischer Theorie als einer Theorie der Bedingungen von Freiheit in der Gegenwart, ist um so gewichtiger, als Marcuse die Ursache für diesen Vorgang im Produktionsprozeß selber sucht. »Diese Manifestationen sprechen dafür, daß die Integrierung der Opposition, die Absorbierung des revolutionären Potentials nicht nur eine Oberflächenerscheinung ist, sondern im Produktionsprozeß selbst, in der Änderung der Produktionsweise selbst ihre sehr materielle Basis findet.«[50] Das bedeutet aber nichts anderes, als daß die am Ziel totaler Befreiung orientierte Praxis unvereinbar wurde mit den realen Bedingungen moderner industrieller Gesellschaft, und was der herrschende Kommunismus hervorbringt, ist ja nichts anderes, als die Entwicklung einer solchen Gesellschaft. Ein revolutionärer Eingriff in das Funktionieren des technischen Produktionsapparates würde die schiere Existenz der Gesellschaft selbst in Frage stellen. Es erneuert sich der Verdacht, daß eben die Forderung nach totaler Aufhebung der Entfremdung zu ihrer Totalisierung beiträgt. Das marxistische Programm totaler Vergesellschaftung ist, um ein Wort von Karl Kraus auf es anzuwenden, eher die Krankheit als die Therapie, für die es sich hält. Der Verlust eines zum Vollzug der Revolution geschichtlich qualifizierten Subjektes ist zweifellos mehr als der Ausdruck einer zufälligen geschichtlichen Konstellation, wofür Marcuse ihn hält.

»Bei Marx wird die Arbeiterklasse zum einzigen geschichtlichen Subjekt der Revolution genau darum, weil sie die absolute Negation des Bestehenden darstellt; wenn sie dies nicht mehr tut, dann ist die qualitative Differenz zwischen dieser Klasse und den anderen und damit die Befähigung für die Schaffung einer qualitativ verschiedenen Gesellschaft jedenfalls nicht mehr da. Dann ist aber auch, wenn die Stabilisierung weitergeht, das Bedürfnis nach einer qualitativen Änderung nicht mehr da. Wir müssen uns fragen, ob man wirklich so schnell den Marxschen Begriff der Verelendung uminterpretieren oder überhaupt eliminieren kann. Ich weiß, daß Marx wie Engels und der ganze spätere Marxismus daran festgehalten haben, daß Verelendung durchaus nicht die Bedingung der revolutionären Entwicklung sein muß, daß vielleicht sogar die Höchstentwickelten, auch materiell höchstgestellten Kreise der Arbeiterklasse ein revolutionäres Subjekt werden können. Diese Interpretation müssen wir uns heute noch einmal ansehen. D.h., wir müssen die Frage stellen, ob eine Revolution denkbar ist, wo das vitale Bedürfnis nach Revolution nicht mehr vorliegt. Denn das vitale Bedürfnis nach der Revolution ist sehr verschieden von den vitalen Bedürfnissen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen, nach mehr Gütern, mehr Freizeit, Freiheit und Befriedigung im Bestehenden. Warum soll der Umsturz des Bestehenden eine Lebensnotwendigkeit für diejenigen sein, die innerhalb des Bestehenden ein eigenes Haus, Automobil, Fernsehgeräte, ausreichende Kleidung und Nahrung haben oder erwarten können? Ich brauche mich in diesem Kreis nicht zu entschuldigen, wenn ich eine pessimistische Analyse vorgelegt habe. Ich glaube aber, daß es gerade in dieser Situation und für jeden, der den Sozialismus wirklich ernst nimmt, ein Gebot gibt, das nicht verletzt werden darf: Der Marxist darf keiner Illusion und keiner Mystifikation verfallen. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, daß wir nicht in der Lage sind, das Subjekt, das konkrete Subjekt der Revolution identifizieren zu können. Es hat schon vorher Situationen gegeben, in denen dieses Subjekt eben latent war. Das widerlegt nicht den Marxismus.«[51]