Frauen und ihre Arbeit im Nationalsozialismus*

  • *Dieser Beitrag ist die vorläufige Fassung einer ausführlicher dokumentierten Arbeit, die in einem Sammelband zur Geschichte »Frauen in der Weimarer Republik und unter dem Nationalsozialismus« erscheinen wird. Er wird bearbeitet von der Vorbereitungsgruppe der Tagung, die zu diesem Thema im Juni 1978 mit rund 100 Teilnehmerinnen aus dem In- und Ausland in Berlin stattfand, und wird einige der laufenden Forschungen der anwesenden Frauen dokumentieren. Insgesamt gehen die vorgesehenen Beiträge insofern über die bisher vorhandene Literatur hinaus, als sie Fragestellungen verfolgen, welche die neuere Frauenbewegung in ihren Kämpfen aufgeworfen und auch an die vergangene Geschichte von Frauen gestellt hat.

I. Terminologien und Topoi

Seit Frauen ihre »natürliche Rolle« als Hausfrau, Gattin, Mutter in Frage stellen und sie als unbezahlte, für andere recht profitliche Arbeit erkennen, geben auch gewisse »natürliche« Regelungen im Sprachgebrauch von Historikern zu denken. Ein Blick auf die neuere Literatur über Frauen im Nationalsozialismus vermag eine Vorstellung von dem Einfallsreichtum zu geben, mit dem für einen Bereich, der zu einem vorzüglichen Gegenstand nationalsozialistischer Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Sozialpolitik wurde, der Begriff »Hausarbeit« oder gar »Arbeit« umschifft wird. So gibt es »junge Hausfrauen und Mütter in allen gesellschaftlichen Klassen, die zu Hause blieben, um nach ihren Männern und ihren ein oder zwei Kindern zu sehen. Es war eine beschränkte Rolle.« Für eine »überängstlich besitzergreifende Mutter, die ihre Ambitionen auf ihr Kind verlagert, kann ein einziger Sohn oder eine einzige Tochter eine beträchtliche Last sein«; »Frauen, die sowohl außer Haus arbeiten wie ihren Haushalt versorgen,« gehen ihrer »häuslichen Routine« nach, der »drückenden Last, Woche für Woche mit wenig auszukommen«, und tragen die »Verantwortung, das Familen-budget zu verwalten.« Ihre »häusliche Rolle als Mutter und Hausfrau« bringt mit sich »Plackerei, unablässiges Sparen, ängstliche Sorge, Selbstverleugnung und die höchst beschränkte Perspektive eines Lebens, das um den Haushalt kreist.« Es wird gefragt nach dem Verhältnis zwischen »der Tatsache, verheiratet zu sein, und der Tatsache, zu arbeiten«, nach den »Mittelklasse-Frauen, die ihr Leben damit zubringen, nach ihren Ehemännern zu sehen.« Ein Abschnitt über »Fortpflanzung«, der häusliche Arbeit nicht erwähnt, endet: »Weitere Aufschlüsse über diese Thematik erhalten wir im folgenden durch eine kurze Betrachtung der Frauenarbeit.«[1] »Frauenarbeit im ,Dritten Reich'«, ist auch der irreführende Titel eines Buches, demzufolge Frauen »nach der Familiengründung die Arbeit aufgeben,« die berufstätigen Frauen »sehr viel leichter zu erfassen (waren) als die nichtarbeitenden« und »den Hausfrauen die notwendige Freizeit zur Hausarbeit gegeben werden« mußte.[2] In der ausführlichsten unter den neueren Arbeiten heißt es: »Frauen wurde nahegelegt, die Arbeit aufzugeben, um stattdessen ihre Zeit zuhause zu verbringen, und viele Kinder zu haben, um diese Zeit zu füllen.«[3]
Schon die Terminologie macht hier die häusliche Arbeit von Frauen als Arbeit unsichtbar. Ein mehr als nur terminologischer Topos geht darüber noch hinaus: »Die (NS) Frauenschaft,« so lesen wir unter dem Titel »Gehege für Leitkühe«, »war eher ein riesenhaft aufgequollenes Damenkränzchen, das die Frauen vollends aus dem politischen Gefecht ziehen und zwischen Bett und Bratpfanne bannen sollte. Die Frauenschaft war der leibhaftige organisatorische Beweis, mit welcher Geringschätzung, ja Verachtung, der Nationalsozialismus das andere Geschlecht betrachtete: als Haushälterin und Gebärerin.« Es waren »sehr enge und sehr massive Schranken, hinter die die Frau da zurückgewiesen wurde. Sie begrenzten ihren Wirkungskreis sehr eindeutig auf Heim und Herd. Doch der Führer wußte diese Zurechtweisung seinen Millionen Anhängerinnen schmackhaft zu machen.«[4] Die Frage drängt sich auf, ob nicht diejenige Verachtung der Arbeit von Frauen und der Frauen selbst, die dem Nationalsozialismus zugeschrieben wird, sich in solcher Terminologie unreflektiert gerade auch heute niederschlägt: zumal wenn sie von Männern gebraucht wird, die doch von dieser Arbeit einen beträchtlichen Nutzen ziehen. Um den Blick auf den Nationalsozialismus selbst zu lenken: was ist das Verhältnis zwischen seiner »Verachtung« und seiner angeblichen »Aufwertung« häuslicher Frauenarbeit, zwischen dem nationalsozialistischen »Antifeminismus« und dem in vielen Varianten behaupteten »großen Ausmaß aktiver und passiver Unterstützung, die das Dritte Reich von deutschen Frauen erhielt, einem größeren Ausmaß, als es sie von Männern erhielt«?[5]

Fachwissenschaftliche Beiträge
Der Topos kulminiert in der Bemühung meist männlicher Autoren - die hierfür wenn überhaupt nur von Männern, meist Nationalsozialisten, stammende Belege anführen -, die orgastisch-masochistischen Züge des weiblichen Hitler-Anhangs glaubhaft zu machen: Hitlers »Spekulation auf die Hingabefähigkeit des Weibes und ihr Verlangen nach Autorität ging ... glänzend auf. Das massenpsychologische Konzept stimmte, die Frauen folgten begeistert Hitlers Reden, ... bis ihm schließlich begeisterte Zustimmung sicher war. Eine Zustimmung, die in Raserei umschlug. Es war Brunst, was er mit seinen Reden gerade unter der weiblichen Zuhörerschaft zu entfesseln vermochte.« Als Bürgen für den weiblichen Orgasmus werden zitiert: Hermann Rauschning und Otto Strasser.[6]
Zweifel an diesen durchaus geläufigen Klischees melden sich an verschiedenen Punkten an: an dem geringen Erklärungswert der Beweisführungen; an einer Terminologie, die nicht nur die Arbeit von Frauen unsichtbar macht, sondern darüber hinaus den Sadismus männlicher Vergewaltigungsphantasien in die (auch heute geltende) Meinung ummünzt, Frauen hätten Lust bei der Vergewaltigung; an den öden Wiederholungen, der Dürftigkeit der Quellen, sprachlichen Unsauberkeiten und Entgleisungen salopper und pseudo-ironischer Passagen. Die Zweifel verstärken sich angesichts merkwürdiger Anführungszeichen und Einschübe: »natürlich nur die .reinrassigen'«, die »arischen«, die »deutschen« Frauen ist eine beliebte Floskel. Wer sind die Frauen, deren Existenz allenfalls als Negation von »arisch« usw. angedeutet wird und die, negiert und eingesperrt zwischen Anführungszeichen und Kommata, unsichtbar bleiben, obwohl die Titel der Arbeiten immer »die« Frauen ankünden? In den Schlußfolgerungen tauchen sie nicht mehr auf: »Die Stellung der Frauen in der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit, einschließlich der akademischen Berufe, wurde insgesamt gefestigt und nicht ausgehöhlt, während zugleich der Status der Hausfrau und Mutter erhöht wurde.«[7] Oder: »Der Druck des totalitären Staats verband sich mit dem einer industriellen und im Prozeß der Industrialisierung befindlichen Gesellschaft; zusammen schufen sie für Frauen, wie sie ihn für die Arbeiter im allgemeinen geschaffen hatten, einen neuen Status relativ unkonventioneller Gleichheit.«[8] Sollte tatsächlich der Nationalsozialismus, sei es willentlich, sei es gegen seinen Willen -darüber sind sich die genannten Autoren uneins -, am Ende doch wenigstens den Frauen etwas gebracht haben? Was Wunder dann, daß sie sich am Anfang so orgastisch-masochistisch für ihn aussprachen! Hier treffen wir auf einen Zirkelschluß, den zu sprengen die folgenden Überlegungen und Dokumente beitragen sollen.

II Arbeitszwang und Berufsverbot für Mütter

In den ersten drei Jahren des Regimes wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, die unmittelbar die häusliche Arbeit von Frauen, mit Kindern und ohne, zum Gegenstand hatten; es waren die gleichen Jahre, in denen der Bereich der Erwerbsarbeit9 gesetzlich neu geregelt wurde. Als erster Schritt wurden am 26. Mai 1933 die im Jahr 1926 abgeschafften §§ 219 und 220 des Strafgesetzbuchs wiedereingeführt, die zusätzlich zum § 218 die Abtreibung schärfer verfolgen und bestrafen sollten. In der Tat wuchs die Zahl der Strafprozesse wegen Schwangerschaftsunterbrechung seit 1933 schnell an.[10] Die Verschärfung kam keineswegs überraschend: War doch die seit der Jahrhundertwende rapide sinkende Zahl der Geburten - seit 1913 in der Öffentlichkeit als »Gebärstreik«11 bekannt - während der Weltwirtschaftskrise tiefer als in irgendeinem andern Land gefallen und hatte eine Schwemme von Schriften, Organisationen, Appellen zur Steigerung der Geburtenrate hervorgerufen. Verhütungsmittel, Abtreibung, Enthaltsamkeit und vor allem der Coitus interruptus waren die Mittel gewesen, mit denen Geburten verhindert wurden; das Jahr 1931 sah eine Massenkampagne zur Abschaffung des § 218, in der sich auch die KPD engagierte.[12] Mit ihrem Appell, den drohenden »Volkstod« der Deutschen zu stoppen, den Verlauf der Geburtenrate umzukehren, dem »Materialismus« von Frauen zu wehren, die sich der Arbeit (und dem gesundheitlichen Ruin) verweigerten, und gleichzeitig die Lage der Familien mit Kindern zu verbessern, standen die Nationalsozialisten in Deutschland nicht allein; auch in andern Ländern wurde, auf die eigene Nation bzw. »Rasse« zugeschnitten, Ähnliches gefordert. Die zweite wichtige Maßnahme war das »Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit« vom 1. Juni 1933, das in seinem 5. Abschnitt unter dem Titel »Förderung der Eheschließungen« die Vergabe von Ehestandsdarlehen in der Höhe von maximal 1000.- RM vorsah, und zwar für diejenigen Männer, deren Frauen bei der Eheschließung den außerhäuslichen Erwerb aufgaben. Stand zu Anfang die Absicht im Vordergrund, auf diese Weise Arbeitsplätze für Männer zu schaffen, so war doch auch frühzeitig die »bevölkerungspolitische« Seite des Gesetzes von Bedeutung, und zwar im Sinn der Regulierung der unbezahlten Arbeit von Frauen: sowohl an ihren Männern wie als Mütter. Der letztere Gesichtspunkt wurde in der wenige Wochen später erlassenen (20. Juni 1933) Durchführungsverordnung verankert, die pro Kind den Erlaß eines Viertels jenes Darlehens vorsah: mit dem neuen Wort »abkindern« gaben die Zeitgenossen den hohen Zielen der Nationalsozialisten - Stärkung »der Volkskraft, d. h. der Arbeitskraft, der Wehrkraft, der Fortpflanzungskraft«[13] - allerdings eine recht prosaische Umschreibung. Ganz neu waren diese und vergleichbare spätere Maßnahmen des Regimes nicht: in den Jahren der Weimarer Republik waren, als Reaktion auf den Gebärstreik, zahlreiche Vorschläge zur finanziellen Besserstellung kinderreicher Familien aufgekommen. Neu war allerdings - etwa auch im Vergleich mit Frankreich, wo eine finanzielle Bevölkerungspolitik schon früher einsetzte - daß nicht nur das Kinderkriegen und -aufziehen, sondern schon die Eheschließung dem Herrn im Haus einen finanziellen Vorteil versprach. Läßt sich der erste der beiden Schritte verstehen als Zwang zur Arbeit des Gebarens und Erziehens gegenüber Frauen, die keine oder weniger Kinder wollten, der zweite als Förderung unbezahlter Arbeit von Frauen an ihren Ehemännern, so folgen diesen ersten Schritten weitere Maßnahmen, die gewöhnlich bei der Beschreibung nationalsozialistischer Frauen-, Familien- und Bevölkerungspolitik nicht berücksichtigt werden, in der Tat aber für sie entscheidend sind. In den ersten Apriltagen, zwei Monate nach der Machtergreifung, wandte sich Fritz Sauckel (Gauleiter und Ministerpräsident von Thüringen und ab 1942 »Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz« insbesondere »fremdvölkischer« oder »Gastarbeiter« aus ganz Europa) an das Reichsministerium des Innern mit der Bitte, ein »Reichsgesetz über Erbgesundheitspflege oder über künstliche Unfruchtbarmachung Minderwertiger« zu erlassen. Über »die rassenhygienische Bedeutung« eines solchen Gesetzes, glaubte er, müsse »kein Wort mehr verloren ... werden.« Wichtig war ihm außerdem, »daß gegebenenfalls auch gegen den Willen des zu Sterilisierenden oder seines gesetzlichen Vertreters die Unfruchtbarmachung zuzulassen ist.«[14] Drei Monate später, am 14. Juli 1933, wurde das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« - kurz Sterilisierungsgesetz genannt - beschlossen: »Erbkrank ist im Sinne dieses Gesetzes, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:

  1. angeborenem Schwachsinn,
  2. Schizophrenie, 
  3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 
  4. erblicher Fallsucht, 
  5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 
  6. erblicher Blindheit, 
  7. erblicher Taubheit, 
  8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung ...

Zuständig für die Entscheidung ist das Erbgesundheitsgericht ... Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig.«[15]
Daß die Sprache des Gesetzgebers sich nur auf Männer zu beziehen scheint, liegt tatsächlich nur an dieser Sprache. In der Tat betraf es in allererster Linie Frauen: sowohl auf direktem Weg diejenigen, die sterilisiert wurden (auf sie will ich später eingehen), wie auf indirektem Weg die Frauen, deren Mann oder Freund sterilisiert wurde (es gibt Hinweise auf die Dramen, die sich abspielten, wenn eine Frau, die ein Kind wollte, erfuhr, daß ihr Mann sterilisiert war, und umgekehrt). Da Kinder grundsätzlich im Leben der Frauen eine größere Rolle spielten als in dem des Mannes, war das Gesetz, trotz seiner Sprache, vor allem für Frauen von Bedeutung. Solche, die Kinder haben wollten, sollten damit aufgrund von »eugenischen« bzw. »rassenhygienischen« Kriterien, die mit Begriffen der Psychiatrie und der Medizin umschrieben wurden, an der Produktion von Nachwuchs gehindert werden. Erstaunlicherweise gibt es kaum neuere Literatur, die sich mit dem Komplex von »Eugenik«, »Rassenhygiene«, »Psychiatrie« und »Medizin« im Nationalsozialismus befaßt, obwohl »Gesundheit« und »Erbgesundheit« zum gängigen politischen und ökonomischen Vokabular gehörten. Genauer: die vorhandene Literatur betrifft fast ausschließlich das, was seit den Nürnberger Prozessen als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« nur in Verbindung mit dem Krieg definiert wurde. Was das Sterilisierungsgesetz, d. h. den Ausschluß bestimmter Frauen von dem so hoch gepriesenen weiblichen Beruf der Mutterschaft betrifft, sind die Informationen bisher spärlich, ebenso bezüglich einer Medizin und Gesundheitspflege, die unter dem Nationalsozialismus präzis auf die ökonomischen Erfordernisse der »Arbeitskraft, Wehrkraft, Fortpflanzungskraft« orientiert wurde. Ihr insbesondere Frauen betreffendes Motto war, in einer Formulierung des Reichsarztes der Hitlerjugend von 1939: »Dein Körper gehört deiner Nation.«[16] Bevor ich einige Hinweise auf die Praxis dieses Berufsverbots für Mütter zusammenstelle, soll die Liste einschlägiger Gesetze vervollständigt werden. Am 18. Dezember 1933 folgte die Bestimmung, daß nur 10% aller Studierenden weiblichen Geschlechts sein dürften: ein gravierender Schlag gegen die Kämpfe der Frauenbewegung um Zulassung zu höherer Bildung, der aber dennoch die Behauptung nicht rechtfertigen kann: »Der Abbau begann an der Spitze.«[17] In der Tat hatte er um diese Zeit an der »Basis« längst begonnen und wurde am 3. Juli 1934 mit dem »Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« fortgesetzt. Dieses Gesetz sorgte, nachdem 1933 die Erbgesundheitsgerichte eingesetzt worden waren, für die Einrichtung von »Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege« bei den ebenfalls neugeschaffenen Gesundheitsämtern, die Aufgaben der Ehe- und Erbgesundheitsberatung zu übernehmen hatten. Am 8. Januar 1934 ergriff Reichsärzteführer Wagner die Initiative für eine Zulassung von Schwangerschaftsunterbrechungen aus »eugenischen«, d. h. »Erbkrankheits«-Gründen, die, im September 1934 von Hitler begrüßt, wegen des Widerstands der Kirchen zuerst geheimgehalten wurde und schließlich am 26. Juni 1935 Gesetzeskraft erlangte.[18] Kaum einen Monat später, am 18. Juli 1935, bestimmte eine Durchführungsverordnung zum Sterilisierungsgesetz, daß jegliche Fehlgeburt, die Ärzten und Hebammen zur Kenntnis kam, dem Kreisarzt gemeldet werden mußte. Von dort wurden die Informationen an die Kriminalpolizei weitergereicht, die unter den Fehlgeburtsmeldungen die vermutlichen Abtreibungen aufspürte und verfolgte.[19] Am 15. September 1935 folgten die »Nürnberger Gesetze«, die Jüdinnen und Juden vom Reichsbürgerrecht und von der Heirat mit »Deutschblütigen« (so hießen die »Norden« und »Arier« von nun an) ausschlössen; eine Durchführungsverordnung vom 14. November erweiterte das Heiratsverbot dahingehend, »nicht nur das Eindringen von Judenblut, sondern auch sonstigem fremdrassigem Blut, z. B. von Negern, Zigeunern oder Bastardblut zu verhüten.«[20] Zwischen den beiden letztgenannten Daten, nämlich am 18. Oktober, kam schließlich das »Ehegesundheitsgesetz«, das diejenigen Krankheiten - nicht nur »Erb«-Krankheiten - aufzählte, bei denen die Eheschließung verboten wurde: Standes- und Gesundheitsbeamte wurden die ausführenden Organe.[21]
Erst die Arbeit, dann das Geld: jetzt erst, nach der gesetzlichen Regulierung von Zwangsarbeit und Berufsverbot für Mütter, nach der staatlichen Bestimmung, wer für wessen Lebensunterhalt aufzukommen und wer für wen Hausarbeit zu leisten habe, setzten die in der Geschichtsschreibung häufiger behandelten finanziellen Zuwendungen und materiellen Hilfestellungen ein. Im vierten Abschnitt sollen sie näher behandelt werden.
Es ist nicht leicht, die tatsächliche Bedeutung dieser doppelten Zwangsgesetzgebung für das Leben der Frauen zu ermessen. Es fällt umso schwerer, als der nationalsozialistische Rassismus mit seinen Vorläufern, dessen sozialpolitische Dimension über die Judenverfolgung noch hinausging und ihr umgekehrt zugrunde lag, kaum Gegenstand sozialhistorischer Untersuchungen geworden ist. Allenfalls wird diese Dimension in den Bereich von »Ideologie«, der Kontroverse um »Rationalität« oder »Irrationalität« des Nationalsozialismus, einer »seltsamen, rückwärtsgewandten Philosophie« oder auch von »komischen Einfällen« abgeschoben.[22] Wird, wie üblich, diese Dimension in ihrer Bedeutung gerade für Frauen übersehen oder gar geleugnet, so führen die Untersuchungen zu falschen Ergebnissen. Ohne es hier im einzelnen belegen zu können, möchte ich dagegengehalten, daß es sich bei der bevölkerungs- und frauenpolitischen Rassenhygiene der Nationalsozialisten erstens nicht um eine bloße Ideologie handelte, sondern um eine auch schon vor 1933 vielfach zutage getretene und durch ein verbreitetes Sozialverhalten getragene Politik handelte, die ihren »theoretischen«, »wissenschaftlichen« oder gar »philosophischen« Ausdruck im Rassismus, Sozialdarwinismus und in der Eugenik der voraufgegangenen zwei Generationen fand; zweitens daß, weit entfernt davon, eine rückwärtsgewandte Attitüde zu sein, diese Politik teilweise recht kontinuierlich den Sexualitätsdiskurs der zwanziger Jahre (»Rationalisierung der Geburten«, »Sexualreform«) mit den modernsten Mitteln der Medizin und Psychiatrie fortsetzte.[23]
Seit der großen Gebärstreikdebatte vor dem ersten Weltkrieg marschierte die bevölkerungspolitische Offensive gegen die Frauenbewegung und den Fall der Geburtenrate gleichsam in doppelter Formation: mit der Forderung nach Quantität wie auch Qualität des Nachwuchses. Die beiden Forderungen liefen, ob sie im linken oder rechten Lager debattiert wurden, teils unverbunden parallel, teils wurden sie gegeneinander ausgespielt; im Nationalsozialismus wurden sie systematisch miteinander kombiniert. Die rassenhygienisch-eugenische Interpretation der Geburtenrate und die aus ihr resultierende Gegenoffensive war, wie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in populären und wissenschaftlichen Varianten nachzulesen,[24] folgende: die Geburtenrate sinkt und tritt ins öffentliche Bewußtsein, als sie auch die Industriearbeiterschaft und die ländliche Bevölkerung erfaßt; dabei vermehren sich die »wertvollen« bzw. »sozial höherstehenden Elemente« schwächer als die »minderwertigen« bzw. »sozial tief erstehenden«, (»Gegenauslese«); eine Steigerung der Geburtenrate soll die ersten, nicht aber die letzteren betreffen. Gegenstand rassenhygienischer Bevölkerungspolitik wurden damit gleichzeitig der Geburtenrückgang und die Herde sozialer Unruhe und Abweichung von der Norm. Oder, um es in Bezug auf Frauen noch pointierter zu formulieren: Gegenstand jener Politik war sowohl ihr Gebärstreik wie ihre Erziehung der Kinder zur sozial geltenden Norm - beides war Arbeit von Frauen. Die Diskussion um die solchermaßen »differenzierte«[25] Geburtenrate war komplex und in vielen Punkten widersprüchlich. Ich will trotzdem versuchen, im folgenden einige ihrer für die Frauen im Nationalsozialismus wichtigen Ergebnisse zu umreißen.

III. Vom »Gebärstreik« zum »Geburtenkrieg«

Der »Geburtenkrieg«,[26] den Nationalsozialisten und ihre Anhänger den Trägerinnen und Trägern des Gebärstreiks angesagt hatten, zielte nicht so sehr auf einen »Triumph der Zahl« als Basis ihrer »Macht«,[27] sondern war, wie sie es oft genug selbst verkündet hatten, rassistisch-eugenische »Selektion« (so hieß es später auch im KZ), »Ausmerze« und »Auslese«. Inwieweit sie vermochten, diese im Verlauf ihrer zwölfjährigen Herrschaft in die Tat umzusetzen, ist schwierig zu beurteilen. Zwei Bereiche sollen hier als Ausgangspunkt für eine Antwort dienen: der Verlauf der Geburtenrate und derjenige der Sterilisationen. Das Wiederansteigen der außerordentlich tief gesunkenen Geburtenrate seit 1933 wurde von den Nationalsozialisten gern als Erfolg ihrer Politik verbucht, als »ein völlig freiwilliger und spontaner Vertrauensbeweis des deutschen Volkes zu seinem Reich, zu seinem Führer, zu seiner Zukunft, ein Bekenntnis, wie es schöner nicht gedacht werden kann«, kurz: als »Kinder des Vertrauens«.[28] Auch in anderen Ländern, in denen die Geburtenrate schon lange vor der deutschen zu sinken begonnen hatte, erregte dieses Wiederansteigen die Aufmerksamkeit bewundernder oder skeptischer Beobachter.[29] Nicht selten und bis heute wurde es als Beleg dafür angeführt, daß Frauen dem Regime eher anhingen als es ablehnten und sich nach der »Emanzipation« der zwanziger Jahre wieder auf Kinder, Küche, Kirche orientierten: eine Argumentation, in der die Gleichsetzung von Kinderlosigkeit und Befreiung, von Arbeit und Befreiung, von Mutterschaft und Rückständigkeit sich auf eigentümliche Weise mischt. Seit den dreißiger Jahren wird über die Berechtigung der nationalsozialistischen Triumphpose in dieser Frage bzw. über die tatsächlichen Gründe des Geburtenaufschwungs debattiert. Diese demographische Debatte, welche die mehr als zwanzigjährige andere um die Gründe des Geburtenrückgangs ablöste, kann hier nicht ausführlich wiedergegeben und erst recht nicht entschieden, sondern nur in einigen ihrer entscheidenden Argumente genannt werden; die meisten dieser Argumente - einschließlich derjenigen, die die Berechtigung des nationalsozialistischen Triumphs in Frage stellten - wurden auch unter Politikern und Demographen des Regimes erwogen.[30]
Der erste Komplex von Argumenten besagt, daß die Zunahme der Geburten auch unabhängig von der Machtergreifung stattgefunden hätte: Die Zahlen lagen 1932 derart tief, daß weiteres Sinken oder auch nur Stagnieren kaum denkbar schien; viele Geburten wurden während der Zeit der Erwerbslosigkeit lediglich aufgeschoben, ihre sprunghafte Zunahme war eher der Zunahme an Eheschließungen als einem verstärkten »Willen zum Kind« zuzuschreiben; auch andere Länder (England, Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen) hatten gleichzeitig einen Geburtenanstieg zu verzeichnen. Der zweite Komplex von Argumenten relativierte das Ausmaß des Geburtenanstiegs: die Geburtenrate stieg während der dreißiger Jahre nicht höher als um die Mitte der zwanziger, als ihr Tiefstand schon heftig beklagt wurde; der ältere Trend zur 2-,1-, 0-Kinder-Ehe dauerte an, vor allem bei jüngeren Paaren; insgesamt blieb die Geburtenrate hinter dem von Politikern und Demographen geforderten »Geburtensoll«, der »Geburtenleistung«[31] beträchtlich zurück.
Eine dritte Argumentationsreihe hebt hervor, daß der Geburtenanstieg nicht auf ein gestiegenes Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Führung zurückzuführen war, sondern schlicht auf den Zwang des Abtreibungsverbots: es gibt Hinweise darauf, daß die Geburten etwa um so viel zunahmen, wie abgetrieben worden wäre, falls die Abtreibungsziffer von 1932 konstant geblieben wäre.32 Da das schärfere Abtreibungsverbot in der Tat die einzig direkte Zwangsmaßnahme zur Geburtensteigerung war, käme diesem Argument eine entscheidende Bedeutung zu, wenn nicht seine statistische Basis (zum Glück für die betroffenen Frauen) umstritten bleiben müßte: Dunkelziffer und das nicht bzw. schwer meßbare Verhältnis von spontanen und induzierten Aborten machen eine präzise und überregionale Aussage unmöglich. Während für die Zeit zwischen 1930 und 1932 die Abtreibungen auf 800 000 bis 1000 000 pro Jahr geschätzt werden, bringt die Analyse eines Frauenarztes von 1939 die Zahl von 220 000 Fehlgeburten, von denen 120 000 als Abtreibungen einzustufen wären; Kriminalisten schätzten die Dunkelziffer auf ebenso hoch wie die bekannt werdenden Zahlen, verschiedene Dokumente sprechen, wie in den zwanziger Jahren, von regionalen »Abtreibungsseuchen« seit Mitte der dreißiger Jahre, verursacht durch Selbstabtreibungen oder »alte Weiber«; Himmler nennt 1937 einmal die Zahl von 400 000, ein anderes Mal von 600 bis 800 000 pro Jahr, während des Krieges scheinen sie zugenommen zu haben, und in Himmlers Reichssicherheitshauptamt wird eine »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibungen« eingerichtet.[33]
Ein quantitativ präzises und schlüssiges Ergebnis erlauben all diese Rechnungen letztlich nicht. Genau an diesem Punkt - nach dem Versuch nämlich, das Verhältnis zwischen NS-Regime und den Frauen auf der Ebene häuslicher Frauenarbeit des Gebärens und Aufziehens von Kindern zu bestimmen - pflegen sich die oben erwähnten Topoi und Terminologien wieder einzustellen: ein »anti-emanzipatorisches«, »anti-feministisches« Programm für die Frauen - und gleichzeitig eine Politik, die in ihnen »Dankbarbeit« gegenüber dem Regime geweckt »haben muß«.[34] Diesen Argumenten möchte ich im folgenden ein neues hinzufügen: die Angst, die dem vielbeschworenen »Willen zum Kinde« zugrundegelegen »haben muß« und die an der Geschichte der Sterilisationen als Teil der NS-Rassenhygiene abgelesen werden kann. »Wir müssen wieder den Mut haben, unser Volk nach seinem Erbwert zu gliedern«, war von Reichsinnenminister Frick 1933 bei der Verkündigung des Sterilisierungsgesetzes zu hören (»Glied« und »gliedern« waren außerordentlich beliebte Worte der Nazis zur Beschreibung ihres »Volkskörpers« und seiner »Gesundheit«). Ein Ergebnis dieser Gliederung war, nach den mir bisher verfügbaren Zahlen: bis zur Mitte des Jahres 1937 hatte man fast 200 000 Menschen sterilisiert, davon 102 218 Männer und 95 165 Frauen (für die Jahre 1935 und 1936 kommen noch 7133 Schwangerschaftsunterbechungen aus »eugenischen« Gründen mit nachfolgender Zwangssterilisation hinzu). Die höhere Zahl der Männer ist wahrscheinlich darin begründet, daß bei ihnen die Zeugungsfähigkeit länger andauert als bei Frauen bzw. ihr Ende nicht so präzis festzustellen ist wie bei diesen; zum anderen in der größeren Gefährlichkeit des Eingriffs bei Frauen. Dieses Operationsrisiko erklärt ein weiteres Ergebnis dieser »Gliederung unseres Volkes nach seinem Erbwert«: 70 Männer starben, unter den Frauen waren es 367 (die Zahl der Opfer gilt nur für 1934-1936; eine Umrechnung auf die erste Hälfte von 1937 ergibt mindestens weitere 7 Männer und 49 Frauen).[35]
Der »Geburtenkrieg« wurde in der Tat mit schweren Waffen geführt; von ihnen ist in kaum einem Buch, eingeschlossen die über Frauen, zu lesen. Die gleichsam en passant aufgestellte Behauptung, in der Frage der Sterilisationen habe es sich lediglich um »zahlreiche persönliche Tragödien« ohne politische Relevanz für die Frauen und ihre Arbeit gehandelt,[36] kann meines Erachtens nur - im besten Fall - aus einer Blindheit für die tatsächliche Situation von Frauen resultieren. Wer waren diese 200 000 Menschen - zu denen später noch viele andere kamen - denen verwehrt wurde, (weitere) Kinder zu haben? Wer waren die rund 500, davon über 400 Frauen, an denen hier fünf Jahre vor der großen und bekannteren Aktion »T 4«[37] die Euthanasie praktiziert wurde? Nur für das Jahr 1934 habe ich weiterführende Zahlen: 53% (der Anteil für Frauen liegt etwas höher) wurden wegen »angeborenem Schwachsinn« sterilisiert, 25% (der Anteil liegt für Frauen etwas darunter) wegen »Schizophrenie«. Wir können davon ausgehen, daß diejenigen »Erbgesunden«, die auf diesem Weg ungewolltem Kindersegen aus dem Weg gehen wollten, kaum darunter waren: auf sie bezog sich einer der Gründe, mit denen die katholische Kirche das Gesetz ablehnte, da ja, wie sie meinte, heutzutage in jeder Familie ein Erbkranker ausfindig zu machen sei.[38] Einem Dokument der NSDAP vom September 1934 zufolge »gelang es tatsächlich, eine große Anzahl von Personen zur Stellung eines Selbstantrages zu veranlassen und die Einsprüche bei den Erbgesundheitsobergerichten waren zunächst selten. Unzweifelhaft ist aber seitdem eine Wendung dahingehend eingetreten, daß die Zahl der Selbstanträge erheblich abgenommen hat und sich die Einsprüche beim Erbgesundheitsobergericht häufen.«[39] Das heißt also, daß schon zwei Monate nach Erlaß des Sterilisierungsgesetzes der Hauptteil der Anträge nicht von den Betreffenden selbst gestellt wurde, bei ihnen oder ihren Angehörigen auf Widerspruch stieß und zwangsweise vollstreckt wurde.

Fachwissenschaftliche Beiträge
Was waren die Kriterien für die Verurteilung? Ein den Ärzten an vertrauter Intelligenzfragebogen listet unter dem Titel »Sittliche Allgemeinvorstellungen« auf: »Warum lernt man? Warum und für wen spart man? Weshalb darf man auch sein eigenes Heim nicht anzünden? Was darf man mit gefundenen 5-20-200 RM machen? Wie denken Sie sich Ihre Zukunft? Was würden Sie tun, wenn Sie das große Los gewönnen? Was ist Treue, Frömmigkeit, Ehrerbietung, Bescheidenheit? Was ist das Gegenteil von Tapferkeit?« Ein gespenstisches Millionenheer von Menschen, die diese Maßstäbe nicht erfüllen, zieht sich durch den ausführlichen Kommentar der Rassen- und Bevölkerungsexperten Gütt, Rüdin und Ruttke zum Sterilisierungsgesetz: Hilfsschüler - »in manchen ländlichen Gemeinden mit Industriebevölkerung steigt der Anteil (der Schwachsinnigen, G. B.) auf 10 bis 15 Prozent (Siemens)« -, »asoziale und antisoziale, schwer erziehbare, stark psychopathische Debile«, geheilte wie in flagranti ertappte Schizophrene, Hysteriker, Epileptiker; Manisch-Depressive, deren »Wärme der Gemütsempfindung und des Verkehrs unter Menschen« gleichwohl nicht geschont werden kann, zumal da »diese Wärme (auch) ohne die Nachteile ebensogut von den Nichtkranken... ausgeht«; Frauen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr, Männer mit häufig wechselnder Arbeit, selbstverständlich »Verbrecher«, und immer wieder: Prostituierte.[40] Grundsätzlich ist die »Abweichung von der Norm« entscheidend; die Norm selbst: Weibes- und Manneszucht, Arbeit und Opfer und Sparsamkeit, der »begabte«, hochqualifizierte Aufsteiger, »deutschblütige, nordrassische Menschen: rechtwinklig an Leib und Seele.«[41]
Mehrere Dokumente legen nahe, daß sich Unruhe und Widerstand in der Bevölkerung, bis hin zur offenen Sabotage des Sterilisationsgesetzes, bald verstärkten. Zuviele ungebildete Parteigenossen und Erbhofbauern waren als schwachsinnig und schizophren denunziert worden, hatten nicht gewußt, wer Mussolini war, dachten, Deutschland stünde im Krieg mit Rußland, beantworteten die Frage nach der geltenden Staatsform mit »Adolf Hitler«, mußten kostspielige Hauslehrer engagieren, um bei der Prüfung nicht durchzufallen. Die notwendig gewordene Revision der »Intelligenz«-Fragen führte dazu, »daß sich die verschiedenen Auffassungen über Erbkrankheiten heute gewandelt haben. Während beim angeborenen Schwachsinn anfänglich nur die ärztliche Diagnose ausschlaggebend gewesen sei, sei heute neben den Defekten wesentlich die Bewährung des Probanden im Leben maßgebend.«[42] In der zweiten Auflage des genannten Kommentars erschien dementsprechend ein neuer Passus über »Lebensbewährung«. Hier kristallisiert sich zusammen, was verstreut schon in der ersten Auflage - und im übrigen in aller rassistisch-eugenischen Literatur - den Kern der Norm ausmacht: Arbeitsfähigkeit, Leistungs- und Aufstiegswille, Arbeitsfreude, kurz: »der deutsche Arbeitscharakter.«[43] Für Frauen hieß er: willige Hausarbeit; sein Gegenpol: die Schlampe, die Prostituierte. Im Sommer 1937 werden im Rheinland unter strenger Geheimhaltung 385 Schwarze zwangssterilisiert: Kinder aus Verbindungen deutscher Frauen mit schwarzen Soldaten der französischen Besatzung nach dem ersten Weltkrieg, »Rheinlandbastarde« genannt. Auch sie wurden als »asozial« eingestuft, und ihre Zwangssterilisation wurde schon seit den 20er Jahren erwogen.[44] Das Band zwischen Rassenhygiene nach innen und außen, gegenüber den »Fremdrassigen« und dem »Fremdrassigen in uns« wurde immer enger. Eine Berliner Polin, Jüdin und Kommunistin wurde 1935 wie viele andere vor die Alternative der Sterilisation (»Schub« von Schizophrenie war die Diagnose), des selbstfinanzierten Anstaltsaufenthalts oder der Ausweisung nach Polen gestellt - sie mußte sich sterilisieren lassen. Ein einziger solcher Fall vermag die Dimension der Angst klarzumachen: bis zu ihrem noch heute währenden Kampf vor der Wiedergutmachungsstelle um eine Entschädigung als »Verfolgte« gilt das Sterilisierungsgesetz als rechtsstaatlich zustandegekommen,[45] und ihr bleibt zur Anerkennung ihrer Ansprüche nur übrig, die »Schizophrenie«-Diagnose als bloßen Vorwand für einen »eigentlich« politischen Grund nachzuweisen. Nach 44 Jahren, in denen sie gerade durch ihren Versuch, nicht als schizophren zu gelten, zur Schizophrenen gestempelt wurde, ist ihr die Möglichkeit aus der Hand genommen, das psychiatrisch und juristisch so wohl begründete Gesetz selbst in Frage zu stellen. »Persönliche Tragödie«? Vielleicht eher: »das Persönliche ist politisch«!
Ob die Angst vor Bestrafung der Abtreibung, die Angst, wegen Verweigerung des Gebarens oder »völkischer« Erziehung als minderwertig zu gelten, ob die mit modernen Mitteln der Psychiatrie und Medizin durchgesetzte Drohung, als schwachsinnig, schizophren, als Verräterin an der »Natur« der Frau zu gelten,46 nicht ebenso viele »Kinder der Angst« wie »Kinder des Vertrauens« hervorgebracht haben mag? Und sollte nicht die zum Leidwesen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitiker zunehmende Zahl der »Asozialen«-Kinder weniger als gefügiges Produzieren von »Gebärmaschinen« denn als Verweigerung gegenüber den gesundheitspolitischen Methoden gesehen werden, die »erbuntüchtige« Kinder »ausmerzen« sollten? Wer in einer von beiden Richtungen von der Norm abwich, riskierte, als »unnützer Esser« zu gelten. Was mit solchen zu geschehen habe, war längst gängiger Topos der sozialdarwinistischen und rassistischen Tendenzen geworden.[47] Trotz der noch heutigen Anerkennung des Sterilisationsgesetzes als formal rechststaatlich wird inhaltlich der Übergang zwischen diesem, dem Ehegesundheitsgesetz, dem »Blutschutz«-Gesetz und den späteren Euthanasie-Aktionen als fließend erkannt.[48] Der Verdacht, der in der Bevölkerung aufgekommen war, war berechtigt: daß die Ausmerze der Nutzlosen nicht bei der Sterilisation stehen bleiben würde. »T 4« bietet uns für die Jahre 1939-41 ein Beispiel für die Subtilität und Struktur des Terrors, aber auch von Widerstand und der Reaktion auf ihn. Vielleicht hatte gerade die Sterilisierung der »Rheinlandbastarde« - diese Aktionen pflegten nicht geheim zu bleiben - die Bevölkerung des Rheingaus, wo um diese Zeit schon über 300 000 Menschen »erbbiologisch erfaßt« waren, sensibilisiert: dort »wird fortgesetzt über die Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens gesprochen ... Wie man mir sagt, rufen schon die Kinder wenn solche Transportwagen kommen: ,Da werden wieder welche vergast.' ... Auch eine andere ernste Frage taucht auf. ... Wer ist anormal, asozial, wer ist hoffnungslos krank? Wer ist gemeinschaftsunfähig? ... Bei alten Leuten hört man die Worte: ,Ja in kein staatliches Krankenhaus! Nach den Schwachsinnigen kommen die Alten als unnütze Esser an die Reihe.'« Dem Druck dieser öffentlichen Meinung, die in erster Linie eine von Frauen, Kindern und Alten war, mußten Hitler und seine SS-Ärzte nachgeben: im August 1941 wurde »T 4« gestoppt, nachdem rund 60 000 von den vorgesehenen 3 Millionen »Schwachsinnigen« umgebracht worden waren. Aber: die Gaskammern wurden abgebaut und zusammen mit dem Personal zur Vernichtung der Juden nach Polen geschickt.[49] Was man in Deutschland nicht wagte, mußte exportiert werden.

IV. Reich ins Heim oder Heim ins Reich?

Einer der umstrittensten Punkte in der Diskussion um die nationalsozialistische Frauen-, Familien- und Bevölkerungspolitik ist immer noch die Frage der finanziellen Anreize, insbesondere des Ehestandsdarlehens, das »abgekindert« werden konnte. Bezüglich seiner Wirkung auf die Geburtenrate geht die eine Meinung dahin, daß - weil es ja tatsächlich die Kosten der Kinder nicht deckte - vorwiegend diejenigen es in Anspruch nahmen, die ohnehin Kinder haben wollten, es eine Steigerung der Geburtenrate also nicht bewirkt haben kann. Die andere Meinung besagt, daß - gerade weil das Ehestandsdarlehen im internationalen Vergleich das einzige wirklich originelle Instrument nationalsozialistischer Geburtenpolitik war - seine Wirksamkeit »wahrscheinlich« sehr groß war. Darüber hinaus wird postuliert, daß diejenigen, die sich mit solchen Produktivitätsprämien bestechen ließen, dem Regime wohl positiv gegenüberstehen mußten.[50] Die »anti-emanzipatorische Wohlfahrtspolitik« des NS beruhe also darauf, daß man in einer Zeit wirtschaftlicher Not durch Geld die Frauen mit dem Antifeminismus des Regimes aussöhnte. Heim ins Reich brachte man die Frauen, indem man sie reich ins Heim lockte.
Angesichts der Widersprüchlichkeit, Doppelmoral und Unbewiesenheit dieser Thesen scheint ein grundsätzlicher Perspektivwechsel in dieser Frage nötig. Dies gilt vor allem dann, wenn man zum einen die Frauenpolitik des Regimes in einen konkreten Zusammenhang mit seiner rassistischen und sexistischen Gesamtpolitik stellen will; zum anderen dann, wenn man die von Frauen erkämpften staatlichen Investitionen in den Bereich der Herstellung von Arbeitskräften, also Hausarbeit, nicht von vornherein für antiemanzipatorischer als Lohnzahlungen im außerhäuslichen Arbeitsbereich hält.***436.5.38*51 Ein solcher Perspektivenwechsel ist möglich, wenn wir uns dreierlei klarmachen: Wer bekommt das Geld und wer bekommt es nicht? Woher kommt es? Was für Auseinandersetzungen und Kämpfe stehen dahinter? In erster Linie ist hier festzuhalten: das Geld ging an den Mann; es betrug durchschnittlich 500 RM. Die gesamte [52] finanzielle Seite der damaligen Bevölkerungspolitik richtete sich in erster Linie an die Männer, die hier als Vermittler derjenigen Forderungen, die der Staat an das Geld knüpfte, gegenüber den Frauen fungierten. Es stellt sich somit die Frage nach dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen innerhalb einer Gesellschaft, die - dem Nationalsozialismus keineswegs eigentümlich - Männern grundsätzlich mehr Macht und Geld zugesteht. Neben der finanziellen Seite stellt sich damit unmittelbar die Frage nach der innerehelichen Sexualität. Während sie in der Weimarer Republik in aller Öffentlichkeit heftig debattiert wurde - meist von Männern und vielfach unter dem Titel »Sexualreform«,[53] - gibt es für den Nationalsozialismus kein vergleichbares Material, allenfalls die im antijüdischen und übrigen Rassismus überdeutliche Thematik der Vergewaltigung, der sexuellen Degeneration und Perversion und die verdeckten Vergewaltigungsphantasien einschlägiger Romane.[54] Auf diese Art Literatur, die für die gestellte Frage wohl sehr aufschlußreich wäre, kann ich hier nicht eingehen. Stattdessen mögen zwei Überlegungen eine mögliche Tendenz illustrieren. Es ist bekannt, daß neben Abtreibung und Verhütungsmitteln der Coitus interruptus und die sexuelle Enthaltung das Hauptmittel der Geburtenverhütung vor 1933 waren. Die beiden letzteren, nicht sehr beliebt in der Männerwelt, wurden sowohl von konservativer (genauer: auf konservativer Seite gilt dies nicht für die Enthaltsamkeit) wie von sexualreformerischer Seite heftig angegriffen, und ein Teil der sexualreformerischen Lobpreisung von Verhütungsmitteln und ihrer Kampagne gegen den Paragrafen 218 läßt sich verstehen als Versuch, Coitus interruptus und Enthaltsamkeit als Geburtenregelungsmittel überflüssig zu machen, kombiniert mit den neuen Theorien über den weiblichen Orgasmus beim Beischlaf. Wir müssen davon ausgehen, daß diese Tendenzen auch nach 1933, als Verhütungsmittel eingeschränkt wurden und die Abtreibung scharf verfolgt war, weiterwirkten. Zweitens waren in Bezug auf männliche Sexualität die Nationalsozialisten alles andere als prüde; nur ein Beispiel: »Unser Aufbruch hat nichts mit bürgerlicher Tugend zu tun. Wir sind der Aufbruch der Kraft unserer Nation. Meinetwegen auch der Kraft ihrer Lenden. Ich werde keinem meiner Leute ihren Spaß verderben. Wenn ich von ihnen das Äußerste verlange, so muß ich ihnen auch freigeben, sich auszutoben, wie sie wollen, nicht wie es alten Betschwestern paßt. Meine Leute sind, weiß Gott, keine Engel, und sollen es nicht sein. Sie sind Landsknechte und sollen es bleiben,« verkündete Hitler, und 1937: »Die Lebensbeziehungen der Geschlechter regeln wir! Das Kind bilden wir!«[55] Ob nicht etwa die innereheliche Sexualität der »Landsknechte«, die in ihren Romanen trotz ansonsten zotiger Sprache ihre Ehefrauen absolut ausklammern, auch eine Rolle in der Steigerung der Geburtenrate gespielt haben mag?[56] Und ob nicht die regierungs- und parteiamtlichen Appelle an die Gebärfreudigkeit der Frauen auch gelesen werden müssen als Appelle an die Männer, die für sie ohnehin unbefriedigenden Formen der Geburtenregelung ad acta zu legen?
Zurück zum Geld: wer bekommt es nicht? Nur ein Drittel bis ein Viertel der Neuverheirateten stellten überhaupt Anträge; von ihnen wurden wiederum rund 4% abgelehnt. Die Eheleute mußten eine ärztliche Untersuchung akzeptieren, die sich auch auf ihre »Sippe« erstreckte und in der sie unter anderem danach getestet wurden, ob sie unters Sterilisierungsgesetz fielen. Waren sie zuvor als potentiell »erbkrank« dem Arzt oder Erbgesundheitsgericht denunziert worden, so konnten sie das Darlehen auch dann nicht bekommen, wenn der Sterilisierungsantrag gerichtlich abgelehnt worden war: sie waren schon verdächtig. Ausgeschlossen vom Darlehen wurden alle, die (und deren »Sippe«) nicht die Gewähr für eine ordentliche deutsche Familie gaben: »Eine ablehnende Beurteilung hat in allen den Fällen zu erfolgen, in denen die Sippe zwar frei von Erbkrankheiten ist, dafür aber die Lebensbewährung der einzelnen Sippenmitglieder ergibt, daß der Gesamterbwert der Antragsteller erheblich unter dem Durchschnitt liegt. Demnach sind Anträge solcher Antragsteller nicht zu befürworten, die einer Sippe entstammen, deren Mitglieder zu einem mehr oder minder großen Teil laufend Konflikte mit Strafgesetzen, der Polizei oder sonstigen Behörden haben oder arbeitsscheu, hemmungslos oder unwirtschaftlich sind, und den Unterhalt für sich oder ihre Kinder dauernd aus fremden Mitteln zu erlangen suchen (d. h. Wohlfahrtsempfänger, G. B.). Ebenso zu bewerten sind Antragsteller aus solchen Sippen, die ohne fremde Hilfe, Beaufsichtigung oder Führung weder einen geordneten Haushalt zu führen oder ihre Kinder zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen vermögen, oder wenn in der Sippe Trinker, Prostituierte, Landstreicher, Rauschgiftsüchtige, Spieler, betrügerische Hausierer usw. nicht als Einzelfall vorkommen. Die Bewährung oder das Versagen in der Leistung oder bei der Eingliederung in die Volksgemeinschaft sind häufig bessere Maßstäbe für den Gesamterbwert einer Sippe als die Ergebnisse kurzer ärztlicher Untersuchungen; sie sind deshalb - wie überall bei der erbpflegerischen Beurteilung - auch bei der Untersuchung und Beurteilung der Ehestandsdarlehensbewerber besonders zu bewerten.«[57] Die vom »Durchschnitt« Abweichenden und Leistungsscheuen wurden - wichtiger Schritt aller rassenhygienischen Programme - erst einmal von bestimmten Einkommensquellen abgeschnitten. Das Zitat mag genügen, es gibt zahlreiche andere. Der Ausschluß von dem angeblichen Geldsegen,[58] der die Frau an »Heim und Herd« binden sollte (wieviele wären froh gewesen, Heim und Herd zu haben!), betraf die rassisch Unerwünschten, die Erbkranken, die Asozialen und vor allem die Kinderreichen unter ihnen. Die Kriterien ihrer Beurteilung waren alles andere als »irrationale und unpraktische Phantasien einer eugenischen und rassischen Ordnung, die nie bei mehr als einer bloßen Sekte Anklang fand«,[59] sondern sehr konkrete, millionenfache behördliche Untersuchungen desjenigen »Erbwerts«, der sich in ordentlicher entlohnter Arbeit beim Mann und in ordentlicher lohnloser Arbeit bei der Frau ausdrückte. Es gibt keine bevölkerungspolitische Initiative (dies gilt auch für Mutterkarte und Mutterkreuz), insbesondere dort, wo sie in Geld umgesetzt wurde, die nicht diese Kriterien zum Maßstab hatte. Es geht am Kern der nationalsozialistischen Frauen-und Bevölkerungspolitik vorbei, zu behaupten,

»daß die eugenische Propaganda der Nazis populistisch war, und nicht ausschließend oder elitär. Die Prinzipien der Selektion waren rassisch und medizinisch, nicht sozial. Während vor 1933 die nationalistische deutsche Oberschicht die bedrohliche Tatsache hervorhob, daß die gebildeten herrschenden Gruppen sich nicht mehr ausreichend reproduzierten, so wurde dies nach 1933 überlagert von Überlegungen, die sich auf die Gesundheit und Stärke der deutschen Rasse als ganzer bezogen: alle Kinder waren willkommen, vorausgesetzt, daß sie nicht an erblichen Defekten litten und ,rassisch rein' waren. Die elterliche Klasse wurde bedeutungslos, und in der Tat sollte die niedrige Geburtenrate der gebildeten Klassen deren Überflüssigkeit als herrschende Elite illustrieren ... Im Bereich von Familien- und Bevölkerungspolitik schien damit der Sozialdarwinismus überlagert zu werden von einem pseudo-egalitären rassischen Darwinismus, der den Feind als außerhalb ,des Volkes' definierte ... Das Regime sprach zu allen deutschen Bürgern (nach ihrer Definition durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935).«

Diese Passage faßt begrifflich zusammen, was in den übrigen neueren Texten zum Thema sich ebenso, wenn auch weniger begrifflich zugespitzt, durchzieht.[60] Eine eingehende Kritik würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, zumal da für diese Frage, wie schon gesagt, kaum Analysen vorliegen, und wenn, dann keine sozialhistorischen, sondern allenfalls ideologiegeschichtliche.[61] Nur soviel sei hier festgehalten: die scheinbar sorgfältige Unterscheidung von »rassisch«, »medizinisch«, »sozial« kann nicht aufrechterhalten werden, es sei denn um den Preis unkritischer Übernahme rassistisch-eugenischer Sprache und Begriffe (»deutsche Rasse«, »vorausgesetzt daß ... «, »nach ihrer Definition ... «). Darüberhinaus beanspruchte die rassistisch-eugenische Tradition gerade das Gegenteil: nämlich jene Unterscheidung für die praktische Sozialpolitik aufzuheben, ausgedrückt in Begriffen wie »politische Biologie«, »Sozialbiologie«, »Erb- und Rassenhygiene« usw. Zugespitzt formuliert: es gibt für diese Tradition keinen »biologischen« Rassismus etwa gegenüber den »Primitiven« schwarzer Hautfarbe, der nicht auch ein »sozialer« wäre, etwa gegenüber »Asozialen« weißer Haut. So machte beispielsweise die »elterliche Klasse« sehr wohl einen Unterschied, es sei denn, man klammere ungelernte und unruhige Arbeiter/ innen und Arbeiterfrauen aus der Betrachtung der Arbeiterklasse aus: »Wer im Berufsleben nicht nur mit mechanischen Arbeiten beschäftigt worden ist und seine Arbeit ordnungsgemäß ausgeführt hat, wer außerdem auch keine Störung des Willens, des Trieblebens und der ethischen Regungen gezeigt hat, wird nicht als schwachsinnig bezeichnet werden können, auch wenn die Verstandesprüfung (des Sterilisationsgerichts, G.B.) gewisse Lücken aufgewiesen haben sollte.«[62] Die Übergänge zwischen »Sozialdarwinismus«, »Rassismus«, »Eugenik«, »rassenhygienischer« Klassen- und Geschlechterpolitik sind fließend. Um zu vermeiden, diese politisch motivierte Wissenschaftssprache und ihre Biologismen unversehens in die eigene Sprache zu übernehmen, scheint es mir angemessen, diesen Zusammenhang als Sozialrassismus zu benennen.
Der Kern der oben angeführten Passage scheint mir indessen gar nicht so sehr der Versuch (oder dessen Ergebnis) einer Analyse des Komplexes der Rassenhygiene zu sein, sondern vielmehr der Versuch, die Ideologie der NS-Volksgemeinschaft als bei »den« Frauen realisiert zu beschreiben, nachdem erwiesen wurde, daß sie in »der« Arbeiterklasse nicht durchgesetzt werden konnte.[63] Die Frauen- und Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten scheint jedoch das Gegenteil zu belegen: sie ist nicht nur ein »sekundärer Rassismus«,[64] sondern sie ist - in der vollen sozialen Bedeutung des Begriffs - ihrem Wesen nach rassistisch und konnte, wenn überhaupt, nur als rassistische funktionieren. Überaus deutlich ist die soziale Umsetzung von Erb- und Rassenpflege, aber auch die sie begleitenden sozialen Konflikte, an den weiteren Initiativen für einen »Familienlastenausgleich« abzulesen. Schon bevor die Kinderbeihilfen ab Oktober 1935 bzw. Juli 1936 ausbezahlt wurden, setzte eine intensive Forschungstätigkeit von Rasse-Experten zur Unterscheidung zwischen »kinderreichen Vollfamilien« und »asozialen Großfamilien« ein.[65] Ihr Objekt waren diejenigen, über die ab Mitte 1936 zahllose Beschwerden bei den zuständigen Behörden eingingen: die Armen gäben ihre rund 65 RM pro Kind (einmalige Beihilfe) und 10-20 RM ab dem dritten Kind (laufende Beihilfe) nicht in volksgemeinschaftlicher Weise aus (es wurde schon mal für Urlaub oder für mäßig luxuriöse Bettwäsche verwandt statt für Winterhilfe oder beruflichen Aufstieg), immer energischer wurde eine Klausel gefordert, die

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erlauben sollte, die Kinderbeihilfe auf die ausstehenden Mieten säumiger Armer anzurechnen, Volkspfleger/innen wurden zur Aufsicht über die angemessene Verwendung eingesetzt. Bald darauf wurde den unteren Verwaltungsbehörden ein Widerspruchsrecht eingeräumt: »Damit sollen auch bei der Gewährung von Kinderbeihilfen asoziale und unwürdige Elemente von der Förderung ausgeschlossen werden.«[66] In der Folge sahen sich die Bürgermeister vieler Städte, die gegen die Anträge ihrer kinderreichen Armen solchen Widerspruch beim Finanzamt eingereicht hatten, einem Ansturm von Frauen und Kindern ausgesetzt, die während und außerhalb der Sprechstunden ihre Bürgermeister auf durchaus unbürokratische Weise zur Rede stellten: sie forderten, ihre Kinder anerkannt zu sehen und ihr Geld zu bekommen. Der »stille Volkstumskampf der Mütter«[67] nahm hier Formen an, die als Widerstand gegen die rassenhygienische Bevölkerungsplanung des Regimes gesehen werden müssen (und wurden): als Widerstand gegen eine Politik, die alle Familien mit Kindern zu unterstützen bloß vorgab; als Kämpfe von Müttern, für die Kinder auch ein Hebel von Macht im Sinn von bargaining power sein konnten - durchaus vergleichbar der »negativen Macht der Arbeiterklasse«, die ihren »passiven Widerstand«, »Druck« und »dumpfen Zwang von unten«[68] als Lohnkämpfe gegen die Politik eines differenzierten Lohnstopps geltend machte. Woher kam das Geld? Auch hier wird die nationalsozialistische Kombination von Sexismus und Rassismus wieder deutlich. Der erste Versuch, die Ehestandsdarlehen durch eine direkte Besteuerung der Ledigen zu finanzieren, scheint am Protest kinderloser erwerbstätiger Frauen gescheitert zu sein:[69] derjenigen also, die - unter andern -Trägerinnen des Gebärstreiks waren und sich dessen Früchte nicht wegnehmen lassen wollten. Eine der Öffentlichkeit weniger sichtbare Lösung der Finanzierungsfrage fand man bald in der stärkeren Verankerung des Familienstands in der Steuerreform vom 16. Oktober 1934. Die Beihilfen ab 1936 waren anfänglich dem Gießkannenprinzip gefolgt: gleichviel Geld für alle (im ersten Jahr mit Ausnahme der hohen Einkommen). Doch schnell wurde auch dies wieder rückgängig gemacht mit der zweiten Steuerreform vom 27. Februar 1939: erstens wurde eine eigene Steuerklasse (II) eingeführt, in die Ehepaare, die nach fünfjähriger Besteuerung in Klasse III noch keine Kinder hatten, aufrückten; zweitens bot die Staffelung nach dem Gehalt die Handhabe, den »hochwertigen« Vertretern der »Ausleseberufe« den Geldsegen für Kinderreichtum in höherem Maß zukommen zu lassen als den »Minderwertigen«.[70] Wie aus diversen Dokumenten hervorgeht, war dies durchaus die bewußte Intention hinter der neuen Steuergesetzgebung. Bis zum Zeitpunkt, wo das deutsche Volk systematisch in einer »Erbwertkartei«, an deren Erstellung die Gesundheitsbehörden von Staat und Partei emsig arbeiteten, »erfaßt« war, mußte man notgedrungen die soziale Schichtung als vorläufigen Indikator des »Erbwerts« veransbhlagen.[71] Daß es dann dabei blieb, nimmt nicht wunder: war doch die Identifikation von »rassenhygienischem Wert« und sozialer Stellung in der gesamten rassistisch-eugenischen Tradition und ihrer Interpretation des »differentiellen« Geburtenrückgangs angelegt. Lediglich zur Zeit des Höhepunkts der NS-Bewegung, in den Jahren kurz vor 1933, wurde er zeitweilig in einem Sinn ausgelegt, der es ermöglichte, den sozial tiefstehenden oder abgesunkenen Schichten unter den NS-Anhängern die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs durch deutsche Arbeit glaubhaft zu machen.
Die anti-emanzipatorische Bedeutung der nationalsozialistischen Wohlfahrtspolitik ist also nicht darin zu suchen, daß sie den Frauen Geld und einen paternalistischen Schutz angedeihen ließ. Vielmehr läßt sie sich eher dahingehend zusammenfassen, daß sie 1) durch ein kleines finanzielles Entgelt die Männer für ihre Familienausgaben entschädigte und, kombiniert mit der außerhäuslichen »Soziallohn«-Politik,[72] Frauen verstärkt an den Lohn ihrer Männer band; 2) daß sie mittels einer rassenhygienischen Sozialpolitik diese Gelder auf eine Weise staffelte, daß die »unnützen Esser« weniger zu essen hatten und die »nützlichen« ihre Nutzbarkeit unter Beweis stellen mußten. Was die daraus folgende Geburtenpolitik betrifft, so waren die nationalsozialistischen Herrschaftsstrategen klug genug zu wissen, daß ihnen ein bloßer »Triumph der Zahl« keine »Macht« verschafft hätte; ihre Macht bezogen sie aus der Spaltung der Unterworfenen, nicht zuletzt in der Frage sexistischer Lohnpolitik. Lohn und Lohndifferenzierung war für sie ein »politisches Ordnungsmittel«;[73] Leistungszwang, vermittelt durch Rassismus und Sexismus, das zentrale Instrument.

V. Die »anderen« Frauen

Nur stichpunkthaft können hier einige Hinweise auf diejenigen Frauen gegeben werden, die am unteren Ende der rassenhygienischen »Erb-wert«-Skala angesiedelt wurden. Wenn sie in der Literatur über Frauen im Nationalsozialismus nicht erwähnt werden, so entspricht dies einer in den Rassetheorien verbreiteten Auffassung, daß nur in der »nordischen« Rasse die Geschlechterdifferenzierung und -polarität voll ausgebildet sei: die Frauen der »Fremdrassigen« und diejenigen mit minderem »Erbwert« unterscheiden sich angeblich weniger von den Männern ihrer »Rasse«.[74] Dem entspricht beispielsweise auch die Unsicht-barkeit von Millionen deutscher und ausländischer Frauen in der Arbeitskräftestatistik des zweiten Weltkriegs, die glauben macht, daß Frauen zum Arbeitseinsatz nicht herangezogen wurden. Ausländische Zwangsarbeiterinnen und die Insassinnen der meisten Lager wurden dabei bis heute nicht, oder nicht als Frauen, mitgezählt.[75] Um mit den Ausländerinnen und deutschen Jüdinnen zu beginnen: ihre Mutterschaft war unerwünscht, Jüdinnen wurde die Schwangerschaftsunterbrechung 1938, im Jahr des Novemberpogroms, »erlaubt«. »Rassenschande« wurde nicht nur zwischen Deutschen und Juden, sondern auch bei anderen Gruppen verfolgt: Strafprozeß für den Mann, demütigende öffentliche Anprangerung und Lager für die Frau. Für die Frauen im Osten wurden unter Leitung von Reichsgesundheitsführer Conti Chemikalien zur massen- und zwangsweisen Geburtenverhütung erforscht. Kinder aus Verbindungen zwischen Zwangsarbeitern und deutschen Frauen oder Zwangsarbeiterinnen und deutschen Männern wurden nach ihrem »nordischen« Einschlag geprüft; hielten sie dieser Prüfung stand, wurden sie der deutschen Mutter belassen, der ausländischen Mutter weggenommen und zur »Eindeutschung« in ein Heim oder eine deutsche Familie gesteckt. Ungelöst blieben die Probleme der ausländischen Arbeitskräfte, deren Familien nachgekommen waren. Das erweiterte Mutterschutzgesetz von 1942 wurde partiell und wohl nur in der Theorie auf ausländische Frauen ausgedehnt. Tatsächlich waren jedoch erzwungene Sterilisation und Abtreibung an der Tagesordnung.[76]
Aber, so wurde eingewandt, das betrifft doch gar nicht so sehr die deutschen Frauen? Ganz abgesehen von den deutschen Jüdinnen, den deutschen Frauen ausländischer Männer, den Insassinnen der Lager ist das Argument aus mehreren weiteren Gründen nicht stichhaltig. Die nationalsozialistische Frauen- und Bevölkerungspolitik darf, gerade aufgrund ihres Rassismus und ihrer »Lebensraum«-Ambitionen, auf keinen Fall in einem fiktiv nationalen Maßstab betrachtet werden (wie übrigens auch keine Bevölkerungspolitik vorher und nachher).[77] Zweitens wurden auch unter Angehörigen anderer Staaten Differenzierungen nach dem »Erbwert« gemacht: die Behandlung von Franzosen/innen, Kroaten/innen, Polen/innen war unterschiedlich nach Lohn, Verpflegung und sexuellen Zugeständnissen, und unter ihnen wurde wieder nach Graden der Arbeitsleistung und beruflichen Qualifikation unterschieden. Drittens mag inzwischen klar sein, daß die politische Umsetzung der rassenhygienischen Tradition keineswegs vor den Deutschen selbst halt machte: dies betraf insbesondere jene deutschen Frauen, die man als erbkrank oder asozial einzustufen beliebte. Versuchen wir, diese rassenhygienischen Kategorien aufzuschlüsseln, so finden wir hier an erster Stelle drei Gruppen: ledige Mütter, arme kinderreiche Familien, lesbische Frauen und Prostituierte (die natürlich alle nicht scharf voneinander zu trennen sind).
»Ein uneheliches Kind war keine Schande«, ist häufig zu lesen.[78] Es ist eine der vielen Halb Wahrheiten über die Situation der Frau unterm Nationalsozialismus. Richtig daran ist, daß es seit Mitte der dreißiger Jahre eine leidenschaftliche Debatte darüber gab, ob die rechtliche und finanzielle Stellung der unverheirateten Mutter gebessert werden sollte, um einer größeren Zahl von Geburten und um polygamer Zugeständnisse an die (SS-)Männer willen. Aber auch diese Debatte wurde unter rassenhygienischer Perspektive geführt: die geplante Besserstellung betraf lediglich diejenigen, die sich, getragen von Zucht und Anstand, in die Volksgemeinschaft »einzugliedern« trachteten. Die Trennungslinie in dieser Frage lief nicht zwischen einer »konservativen« Position der Familienstabilisierung und einer »liberalen« oder »radikalen«, die die Familienstruktur zu überwinden suchte und von der - »paradoxerweise« pflegt man zu sagen - befreiungsdurstige Frauen hätten profitieren können. Sie lief allenfalls zwischen einer konservativ-elitären und einer rassistisch-elitären Position; gemeinsam ist ihnen jedoch die Vorstellung: »Alle Mütter sollen gleichermaßen geehrt werden. Natürlich bezieht sich das nicht auf die asozialen Elemente, die meistens nicht einmal wissen, wer der Vater ihres Kindes ist.«[79]
Was arme kinderreiche Familien betrifft, so wurden die Bemühungen um Differenzierung zwischen kinderreichen »Vollfamilien« und asozialen »Großfamilien« schon genannt. Die Asozialen-Erforschung machte in den dreißiger Jahren beträchtliche Fortschritte. Ihr Hauptproblem war, neben jener aus finanziellen Gründen wichtigen Unterscheidung, das weitere: wie konnte man solche Familien von der Nachwuchsproduktion abhalten auch dann, wenn sie nicht unter das Sterilisierungsgesetz fielen? Ein Mittel war, diese Arbeitsverweigerer in speziellen Lagern nach Geschlechtern zu trennen und zur Arbeit zu zwingen. Städtischen und parteigebundenen Wohlfahrtsbehörden wurde die Aufsicht übertragen. Eine ihrer Hauptaufgaben war die Beobachtung der Betreffenden daraufhin, ob sie für eine Sterilisierung in Frage kamen: die Männer und Frauen der NS-Volkswohlfahrt scheinen sich dabei außerordentlich hervorgetan zu haben.[80] »Asoziale« stellten ein großes Kontingent derjenigen, die in der zweiten Verhaftungswelle (1936-1941) in die KZ kamen, - und dort seitens der Mitgefangenen, nicht zuletzt der »bewußten« und »politischen«, wenig besser eingestuft wurden als außerhalb des Lagers.[81] Als viele von ihnen zu Beginn der dritten Welle der KZ-Einlieferungen aus Gründen des Arbeitseinsatzes »frei« gelassen wurden, lag das Gesetz, das Zwangssterilisierung und Zwangsarbeit auch für nicht »Erbkranke« dieser Kategorie vorsah, schon auf den Schreibtischen.
Die Frauen unter ihnen wurden definiert als das Gegenteil derjenigen »deutschblütigen« Frau, die ihre unbezahlte Hausarbeit und ihre schlecht entlohnte Erwerbstätigkeit im Bewußtsein ihres Diensts am Volk verrichtete. Eine der Definitionen besagte: »gemeinschaftsunfähig ist..., wer besonders unwirtschaftlich und hemmungslos ist und aus Mangel an eigenem Verantwortungsbewußtsein weder einen geordneten Haushalt zu führen, noch Kinder zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen vermag,... schließlich Personen, die durch unsittlichen Lebenswandel aus der Volksgemeinschaft herausfallen bzw. ihren Lebensunterhalt dadurch verdienen.«[82]
Die Verweigerung der staatlich verordneten unbezahlten Frauenarbeit und die Annahme von Geld für sexuelle Dienstleistungen: dies ist der Kern weiblicher Gemeinschaftsunfähigkeit, wie sie von den Nationalsozialisten definiert und bekämpft wurde. Die vielen bebilderten Sippentafeln, die in wissenschaftlichen und Propagandaschriften zur erbwertmäßigen Belehrung unters Volk gestreut wurden, zeigen immer -leicht erkennbar gemacht - das Bild mindestens einer schwachsinnigen »Schlampe« und einer »Prostituierten«, vorwiegend mit »jüdischem« Einschlag und kessem Hütchen. Die Prostituierte wurde zum Symbol des Frauenhasses der nationalsozialistischen Männerwelt - weit mehr und jedenfalls weit dauerhafter als jene Frauen, denen in den zwanziger Jahren der Absprung in qualifizierte Berufe geglückt war. Es liegt in der rassenhygienischen Logik, daß die Jüdin Toni Sender, sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, von den Nazis während der Wahlkampagne von 1932 denunziert wurde, und zwar als Prostituierte; Angst und Abwehr liegt auch der Identifikation von Arbeiterfrauen und Huren zugrunde.[83]
Die politische Bedeutung dieses Symbols zu erklären, würde nötig machen, die Geschichte der Prostituierten seit dem 19. Jahrhundert aufzurollen, insbesondere aber ihrer Kämpfe um die Jahrhundertwende, zur Zeit des Höhepunkts der Frauenbewegung. Mit wachsender Respekta-bilität wandte diese - wie auch die organisierte Linke - sich von diesen Kämpfen ab, während die Zahl der Prostituierten in der Weltwirtschaftskrise stark zunahm.[84] In Hitlers »Mein Kampf finden wir kaum etwas zur vielbeschworenen »Heim-und-Herd«-Ideologie, wohl aber viel zur »Prostituierung der Liebe« als »Verjudung unseres Seelenlebens« und »Mammonisierung unseres Paarungstriebes.« Diese »werden früher oder später unseren gesamten Nachwuchs verderben, denn an Stelle kraftvoller Kinder eines natürlichen Gefühls werden nur mehr die Jammererscheinungen finanzieller Zweckmäßigkeit treten. Denn diese wird immer mehr die Grundlage und einzige Voraussetzung unserer Ehen.«[85] Die Prostituierte stand gewissermaßen im Schnittpunkt von Sexismus und Rassismus. Es überrascht kaum, daß die Nationalsozialisten wenig glücklich darüber waren, wenn die Zunahme der Eheschließungen als Ergebnis finanzieller Anreize gedeutet wurden: wäre dies doch einer neuen Form der »Mammonisierung unseres Paarungstriebes« gleichgekommen. Die nationalsozialistische Frauenverachtung legte größten Wert darauf, daß alle Hausarbeit der Frauen unbezahlt bleibe: »Das ist das Schlimme an der Ehe: sie schafft Rechtsansprüche! Da ist es schon viel richtiger, eine Geliebte zu haben. Die Last fällt weg und alles bleibt ein Geschenk.«[86] Die berühmten »Zehn Gebote für die Gattenwahl« führten einen Prozeß der Identifizierung von Arbeit und Liebe zu Ende, der knappe 200 Jahre früher begonnen hatte: »Heirate nur aus Liebe: Geld ist vergänglich Gut und macht nicht dauernd glücklich. Wo der göttliche Funke der Liebe fehlt, kann kein Glück gedeihen. Reichtum des Herzens und Gemütes ist die beste Gewähr für dauerndes Glück.«
Die rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Planungen standen von Anfang an unter dem Zeichen der Bekämpfung nicht der Prostitution, sondern der Prostituierten, und zwar nicht durch Änderung des Gesetzes von 1927, sondern durch Verschärfung polizeilicher Kontrolle und medizinischer Überwachung. Diejenigen unter ihnen, die sterilisiert wurden, erhielten meist eine Diagnose über »angeborenen Schwachsinn«, der auch »moralischen Schwachsinn« einschließen konnte. Nach dem »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« vom 24. November 1933 konnten Prostituierte, die nach § 361, 6 oder 6a verurteilt wurden, in ein Arbeitshaus eingewiesen werden.[87] Die nächste Station war das KZ mit seiner Parole »Arbeit macht frei«, in dessen Hierarchie sie zur untersten Schicht gehörten; die Verachtung seitens der »Politischen« setzte deren Prostituiertenfeindlichkeit der zwanziger Jahre fort.[88]
Auf drei Ebenen wurde das System der kontrollierten und ausgebeuteten Prostitution während des zweiten Weltkriegs ausgebaut: für die sexuelle Versorgung des Militärs und der SS sorgten das Oberkommando der Wehrmacht und Himmler, soweit sich Soldaten und SS nicht durch Vergewaltigung von Frauen in den eroberten Gebieten selbst versorgten.[89] Im Auslese-System der KZ wurden anpassungsfähige Häftlinge nach dem System »FFF« (Freiheit, Fressen, Frauen) bei Laune und Leistung gehalten, indem man aus anderen KZ Frauen mit dem Versprechen der Freilassung beschaffte.[90] Für die ausländischen Zwangsarbeiter wurden Frauen ihrer Nationalität zwangsdeportiert, die man umso eher als Prostituierte ausbeuten konnte, als »es sich hier um Personen handelt, die nicht als Arbeitskräfte in diesem Sinne angesprochen werden können«, wie der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, der gleiche Sauckel, der das Sterilisierungsgesetz mit initiiert hatte, 1943 betonte.[91]
Im Gegenzug gegen diese kontrollierte Prostitution breitete sich jedoch während des Kriegs eine »heimliche Prostitution« aus, in ähnlichen Formen, wie sie durch die Maßnahmen der vorausgegangenen Jahrzehnte hatten gebannt werden sollen.[92] Sie ging vielfältige Verbindungen mit Verweigerungs-, Widerstands- und Aneignungsformen deutscher und ausländischer Frauen, Jugendlicher und Ausländer ein, sei es als »Rassenschande« oder Versorgung aus SS-Lebensmittellagern, und schuf tiefgehende Beunruhigung unter den Sozialpolitikern der »Heimatfront«. Der Widerstand von Arbeitsverweigerern, vor allem von Frauen, Jugendlichen und Ausländern verstärkte sich während des Kriegs.[93] Ein besonderer Dorn im Auge der Gestapo waren Gruppen junger Frauen und Männer, die sexuell recht freizügige Unternehmungen und »Hot- und Swing-Demonstrationen« inszenierten, sich mit Vorliebe Ohio-Klub, OK-Gang und Harlem-Klub nannten.[94] Hartem war damals schon ein Zentrum schwarzer Autonomie, der Rebellion der »Minderwertigen«; 1943 wurde dort ein Schwarzen-Aufstand blutig unterdrückt. Deutsche - war das noch deutsch? - Jugend begann, den HJ-Liedem die »entartete« Musik der Schwarzen entgegenzusetzen: eine späte Rehabilitierung der »Rheinlandbastarde« und von Schwarzen überhaupt, die seit langem als Inbegriff rassischer Minderwertigkeit und als Symbol der Degeneration Europas galten. Die Vorstellung, nach einem Sieg der Nationalsozialisten sollten »die« deutschen Arbeiter die »Vorarbeiter Europas« am Fließband der Ausländer werden und »die« deutschen Frauen qualifizierte Berufe und eine durch ausländische Dienstmädchen und vollen Familienlastenausgleich geadelte Mutterschaft genießen,[95] scheint, wenn sie auch von Dokumenten nahegelegt wird, ein Euphemismus. Realistischer ist es, die Planung verschiedener NS-Instanzen ernst zu nehmen: im Einklang mit ihrer Sozialpolitik der »Flucht nach vorn«[96] hatten sie vor, die Ausrottungspolitik auf Millionen »rassisch minderwertiger« Deutscher und Ausländer auszudehnen. Wiederum sollte ein umfassendes neues »Gesundheits«-Gesetz, das seit Kriegsbeginn ausgearbeitet wurde, ein Schritt auf diesem Weg sein, um den wachsenden »nichtorgani-sierten«, »asozialen« Widerstand der Arbeits- und Aufstiegsverweigerung auszuschalten.[97]
Was hier Sozialrassismus genannt wurde - Abgrenzung zwischen »Normalität« und »Abweichung von der Norm«, Durchsetzung von geschlechtsspezifischer Arbeitsmoral und Leistungsdisziplin - ist auch heute noch nicht Vergangenheit. Solange in der Forschung über Frauen im Nationalsozialismus das Verhältnis von Sexismus und Rassismus einschließlich des Widerstands dagegen nicht thematisiert wird, drängt sich der Verdacht auf, daß mit dieser Verdrängung eine historische Kontinuität von entscheidender Bedeutung tabuisiert wird.

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