Sexualreform und Geburtenrückgang

Über die Zusammenhänge von Bevölkerungspolitik und Frauenbewegung
um die Jahrhundertwende

Zum drittenmal in diesem Jahrhundert hat eine große politische Kontroverse um Geburtenrückgang und Bevölkerungspolitik eingesetzt, seitdem Mitte der siebziger Jahre in beiden Teilen Deutschlands die niedrigsten Geburtenziffern der Welt registriert wurden. Der Geburtenrückgang betrifft sozialistische und kapitalistische Industriestaaten gleichermaßen. Wie schon um die Jahrhundertwende und während der dreißiger Jahre werden auch in der aktuellen Diskussion die Frauenbewegung und der Emanzipationsgedanke als wichtigste Ursachen für den Gebärstreik angesehen.
Die Vergrößerung politischer Macht durch demographishe Zielsetzung bildete die Grundlage der »aktiven positiven Bevölkerungspolitik«, die kurz nach dem 30. Januar 1933 unter Hitler begonnen wurde. Die Nationalsozialisten waren jedoch nicht die ersten, die die Bevölkerungspolitik ins Zentrum der nationalen Machtpolitik rückten.AUe Ideen der faschistischen Politik auf diesem Gebiet waren Produkte einer nationalbiologischen Geschichtsbetrachtung, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde. Danach war der Geburtenwett-lauf zwischen den weißen und gelben Völkern ebenso entscheidend wie die industrielle Entwicklung und die Geburtenziffern ein Faktor der nationalen Sicherheit. Die Geburtenrate sank, die Säuglingssterblichkeit blieb hoch, die Zahl der Militärtauglichen nahm ab, die Zahl der Alkoholiker und Geschlechtskranken nahm zu.[1] Je mehr diese Tatsachen ins Bewußtsein rückten, desto mehr gewann die Auffassung an Boden, die Aufgabe des Staates sei es, die Geburtenrate in jeder Weise zu beeinflussen, um den Nachwuchs an Arbeitskräften und Soldaten zu sichern. Geburtensteigerung und Hebung der biologischen Qualität des Volkes wurden zu nationalen Zielen erhoben. Darwinisten, Rassentheoretiker, Eugeniker, Mediziner waren die Urheber eines Weltbildes, das alles erlaubte, was der Rassenvervollkommnung dienen sollte. Massensterilisierung, Einschläferung »Minderwertiger« und gezielte Menschenzüchtung wurden als rassenpolitische Maßnahmen in aller Öffentlichkeit diskutiert. In vielen Darstellungen des Dritten Reiches und Biografien seiner führenden Vertreter sind die Rassenlehre und Weltanschauung des Nationalsozialismus allzu oberflächlich auf zweitklassige Intellektuelle, auf Landser-Literatur und popularisierende Darstellungen zurückgeführt worden.
Tatsächlich aber ist es ernüchternd zu sehen, wieviele prominente Wissenschaftler und Politiker sich vor dem Ersten Weltkrieg unter den Anhängern einer sozialdarwinistisch orientierten Entwicklungslehre befanden und wieviele linksstehende Intellektuelle, - Künstler/innen, Schriftsteller/innen und Feministinnen sich im Dunstkreis rassenpolitischer Vorstellungen bewegten.
Daß eine expansionistische Bevölkerungspolitik nicht ohne die Mitwirkung der Frauen möglich sein würde, war den Anhängern dieser biologischen Geschichtsauffassung klar. Die Frauenemanzipation stand deshalb für die meisten Anhänger der Rassenlehre im Mittelpunkt ihres Interesses. Sowohl ihre einflußreichsten Gegner wie auch ihre Bündnispartner fand die Frauenbewegung um die Jahrhundertwende unter den Rassentheoretikern und Bevölkerungsideologen.
Mutterschaft sollte an sich verehrt werden; Mütter wurden nach ihrer biologischen Qualität eingeteilt; Mütter sollten Schutzobjekte des Staates sein und der Herrschaft der Unternehmer und des Kapitals zumindest für die Zeiträume entzogen werden, in denen sie hochschwanger oder im Wochenbett waren und stillten.
»Wollen wir ernsthaft Rassenhygiene treiben, müssen wir die Frau zum Gegenstand unserer Fürsorge machen, und zwar die Mutter in der Frau und nicht die Geschlechtsdrohne«, schrieb ein sozialdarwinistischer Autor dieser Zeit.[2]
Wie progressive Reformbewegungen zur Sexualreform und für eine Mutterschutzgesetzgebung mit der rassenhygienischen und eugenischen Bewegung verschmolzen, soll im folgenden dargestellt werden.

1. Monismus, Rassenhygiene und Entartungslehre

Die breite Wirkungsgeschichte des Darwinismus in Deutschland beginnt mit den Veröffentlichungen des Jenaer Zoologieprofessors Ernst Haeckel. Im Herbst 1868 erschien seine »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, in der er das deutsche Publikum mit Darwins Werk »Die Entstehung der Arten« (1859) bekanntmachte. Darwin war für ihn jedoch nicht radikal genug. Er machte den Darwinismus zu einer »totalen Welterklärung«. Die von Darwin aufgestellten Evolutionsprinzipien der natürlichen Auslese und geschlechtlichen Zuchtwahl wurden in seinem Werk Hauptfaktoren der menschlichen Sozialgeschichte. Die Entwicklung der Menschenrassen und die Auslese der Individuen im Kampf ums Dasein werde von einem Aristokratieprinzip beherrscht, das niedere und höher entwickelte Rassen und minder- und höherbegabte Individuen voneinander scheide. Neger und Papuas waren für ihn näher am Menschenaffen als an Goethe.[3] Die Rasse mit Gemeinsamkeiten zur Einigung zu führen, speziell die germanische, für ihn die höchste Stufe der Entwicklung, erklärte er zu seinem Lebensziel. 1899 wurde er durch sein Buch »Das Welträtsel« der Begründer einer Weltanschauung, die er Monismus nannte. Die Schöpfung entwickelte sich aus einem einzigen Prinzip von der Urzelle bis zum sozialen Aufstieg der weißen Menschenrassen fortwährend zum Höheren. Nachdem er sich in Bismarcks Kulturkampf gegen die katholische Kirche an vorderster Front geschlagen hatte, verwandelte er in diesem Buch die Evolution selbst in eine Religion. Diese evolutionistische Religion sollte die ethische Grundlage des Staates werden. Der alte christliche Dualismus von Leib und Seele, der Gegensatz von Natur und Geist sei abgelöst durch die Erkenntnis der Naturwissenschaften. In »Welträtsel« verwandelte er den Darwinismus in eine völkisch orientierte Naturphilosophie. »Natur ist alles, alles ist Natur«. Als neue Religion empfahl er einen Kosmoskult und pantheistische Rituale. Die Sonnenanbetung ließe sich am ehesten mit dem Evolutionsgedanken vereinbaren. Seine Anhängerschaft für diesen Pantheismus fand er in der deutschen Jugendbewegung, die Sonnenwendfeiern und Frühlingsfeste veranstaltete, um die germanische Göttin Ostara (Sprachwurzel für Ostern) und die Wiedergeburt der Natur zu feiern.[4] Bis zum Beginn des Dritten Reiches hatte Haeckels »Welträtsel« eine Auflage von fast 500.000 Exemplaren erreicht und mehrere Generationen von Intellektuellen beeinflußt.
Um auch in der Ära nach Bismarck seinen Kampf gegen die katholische Kirche fortsetzen zu können, gründete der fast Siebzigjährige am 11. Januar 1906 im Zoologischen Institut Jena den »Deutschen Monistenbund«. In dem Aufruf dazu hieß es, daß den Mächten der Vergangenheit eine überlegene geistige Macht in Gestalt einer einheitlichen neuzeitlichen Weltanschauung entgegengestellt werden sollte. »Tausende und Abertausende finden keine Befriedigung mehr in der alten, durch Tradition oder Herkunft geheiligten Weltanschauung; sie suchen nach einer neuen auf naturwissenschaftlicher Grundlage ruhende einheitliche Weltanschauung. Diese Weltanschauung der Zukunft kann nur eine monistische sein, eine solche, die einzig und allein die Herrschaft der reinen Vernunft anerkennt«. Unter den Unterzeichnern des Aufrufs befanden sich der Schweizer Sexualforscher und Eugeniker August Forel, der Sozialist Arnold Dodel, ebenfalls Schweizer, der Herausgeber der Zeitschrift »Jugend« Georg Hirth, der Maler Franz von Stuck, der Rassenbiologe Wilhelm Schallmayer, beide aus München, und der Mitgründer der Deutschen Wandervogelbewegung, Ludwig Gurlitt.[5]
Zur monistischen Weltanschauung bekannten sich aber auch die Brüder Gerhardt und Karl Hauptmann, der ein Schüler Haeckels war, die Begründer der Deutschen Gartenstadtbewegung Kampfmeyer, Schriftsteller wie Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, August Strindberg, die Jugendstilmaler Fidus und Henry van de Velde, politisch linksstehende Publizisten wie Carl von Ossietzky, Anarchisten wie Gustav Landauer und Magnus Hirschfeld, der Kämpfer für Sexualreform, der in Berlin ein Institut für Sexualforschung gründete, und die Frauenrechtlerin Helene Stöcker, die erste deutsche Frau, die in Philosophie promoviert hatte und im Einflußbereich von Haeckels und Nietzsches Ideen zur Vorkämpferin für eine neue Ethik zwischen den Geschlechtern wurde.[6]
In England hatte Herbert Spencer den Entwicklungsgedanken propagiert. Spencer, kein Romantiker wie Haeckel, sondern eher ein Sozialingenieur, war ebenfalls der Ansicht, daß die Gesellschaft sich zur höchstsen sozialen Harmonie hin entwickle.
Er trat für die Rechte der Frauen und Kinder ein, kämpfte gegen die Ungerechtigkeiten des Privateigentums an Grund und Boden, war aber der Meinung, daß die Einmischung des Staates in den natürlichen Ent-wicklungs- und sozialen Ausleseprozeß die Tendenz zur Höherentwicklung und Vervollkommnung des Menschen behindere. Keine Sozialhilfe, keine Unterstützung der Faulen, kein staatliches Eingreifen in den Wohnungsbau, keine staatlich organisierten Schulen und keine Post, keine medizinische Fürsorge durch den Staat, lautete Spencers Rezept.[7] Der Ausschluß der Tuberkulösen, Kriminellen, Krüppel, Alkoholiker, Geschlechts- und Geisteskranken von der Vermehrung wurde die Grundforderung der Eugeniker, einer Sozialbewegung zur Hebung der biologischen Qualität der Rasse, die in England von dem Vetter Darwins, Francis Galton, ins Leben gerufen und von Karl Pearson fortgesetzt wurde.[8] Unter den Sozialdarwinisten lassen sich exzentrische und gutgemeinte Sozialreformer, Rassenvollender und Sozialmediziner von den Brutalisten und Pessimisten unterscheiden, deren Auffassung darin bestand, daß die moderne Kultur mit ihrer Abschaffung der natürlichen Auslesemechanismen die germanische Rasse in wenigen Jahrzehnten in den Rassetod hineintreiben würde, und die deswegen mit allen Mitteln in den Ländern der weißen Rasse das Sinken der Geburtsrate bekämpfen und die Vermehrungsquote steigern wollten, da nur eine unaufhaltsame expansionistische Bevölkerung im Kampf der Rassen erfolgreich sein könne.
Als erste Maßnahme, der angeblich drohenden Entartung der Kulturrassen entgegenzuwirken, bietet sich den Sozialdarwinisten die sogenannte negative Auslese an, also alles, was die angeblich Minderwertigen vorzeitig absterben läßt, mindestens sie aber an einer Fortpflanzung und am Hinterlassen von Nachkommen hindert. Medizin, moderne Hygiene, Wohnungsbau, Sozialgesetzgebung würden kontra-selek-torisch wirken, also waren eine hohe Kindersterblichkeit, Infektionskrankheiten und soziales Elend dort, wo es um das »Ausjäten der Minderwertigen« ging, zu fördern. Der englische Sozialdarwinist John B. Haykraft schreibt in seiner 1895 ins Deutsche übertragene Schrift, der »Tuberkelbazillus ist ein Freund unserer Rasse, weil er nur in schwächlichen Personen wuchert«.[9] Der Deutsche Otto Ammon äußert sich 1893 wie folgt: »Das Aussterben der zahllosen Säuglinge ist ein Vorgang der natürlichen Auslese, der die Grundlage der Gesundheit und der Kraft des Landvolkes dient«.[10] Besonders brutale Ansichten vertrat Alexander Tille, ursprünglich Germanist, dann stellvertretender Geschäftsführer des Verbandes deutscher Industrieller in Berlin und ab 1903 Syndikus der Handelskammer und mehrerer industrieller Verbände in Saarbrücken. Tille schreibt 1895 in seiner programmatischen Schrift »Von Darwin bis Nietzsche«: »Das Darwinsche Gesetz des Kampfes ums Dasein findet auf die Menschheit die Anwendung, daß man soziale Bedingungen schafft, unter denen die von Geburt Begabteren und Tüchtigeren zu reicher Nahrung kommen, während jedermann umso weniger zu essen haben soll, je untüchtiger er ist, so daß also die Untüchtigen unfehlbar zugrundegehen und sich nicht fortpflanzen können.«[11] Tille, der sich selbst als »Sozialaristokraten« bezeichnete, wurde ein Vertrauter des Großindustriellen Freiherr von Stumm-Halberg, eines fanatischen Gegners der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Mit Tille gerät der Darwinismus in den Dienst des deutschen Hochkapitalismus und Imperialismus. Wie dieser Sozialaristokrat dachte, zeigt ein Aufsatz, den Tille 1893 für Maximilian Hardens »Zukunft« geschrieben hat:

»In East London, dem ,darkest England', verdient nur ein Drittel von der Million Einwohner, die hier zusammengedrängt lebt, ihr tägliches Brot durch eigene Arbeit, Zehntausende sind ohne feste Wohnung und nächtigen in öffentlichen Anstalten, zum größten Teil aber ziehen sie eine Unterkunft im Freien vor. Die hier verschlagenen Familien sterben meist schon in der zweiten Generation aus. Denn die Sterblichkeit beträgt hier das Anderthalbfache des übrigen London, und die Zahl der Todesfälle ist doppelt so groß als die der Geburten. Geschlechtliche Ausschweifungen und Alkohol töten sicherer als die anstrengenste Arbeit    
Mit unerbittlicher Strenge scheidet die Natur die zum Tier herabgesunkenen Menschen aus den Reihen der anderen aus, und so fungiert Ostlondon in einem Maße als Nationalheilanstalt, von dem die wenigsten Menschen eine Ahnung haben, und alle Versuche, den ,Unglücklichen' zu helfen, mindern nur die enorme Bedeutung, die es als solche hat.«[12]

Alfred Ploetz, Mediziner und Privatgelehrter, war der deutsche Sozialdarwinist, der die rassenbiologische Diskussion auf einer weitgehend vorurteilsfreien und emotionslosen Basis zu führen vorgab. 1895 hatte er durch sein Buch »Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen« den Begriff »Rassenhygiene« populär gemacht, der im Deutschen Reich anstelle von Eugenik gebraucht wurde. Ploetz verstand darunter jedoch nicht nur eine Fortpflanzungsprophylaxe der »Minderwertigen«, sondern die Erforschung der Bedingungen, unter denen die qualitativ besten Fortpflanzungsergebnisse zu erzielen seien. »...Wenn die Bedingungen der optimalen Erhaltung und Entwicklung einer Rasse als rückläufige Kausalkette bis zu beherrschbaren Faktoren der Gegenwart konstruiert werden, entsteht die Rassenhygiene.«[13] Ploetz war ein Vernunftgläubiger, der sich weder als fanatischer Sozialistengegner noch als fanatischer Antisemit wie viele zeitgenössische Sozialdarwinisten verstand. Trotzdem war für ihn der »ideale Rasseprozeß« durch die strikte Einhaltung von möglichst »natürlichen« Selektionsbedingungen gekennzeichnet. In jeder Generation gebe es schwache und starke Konvarianten. Daß die starken, angepaßten Nachkommen in ihrer Fruchtbarkeit gefördert werden müßten, um ihre Eigenschaften weitervererben zu können, sei der wichtigste Teil der Rassenhygiene. In einem utopischen Ausblick entwarf er eine Fortpflanzungsregelung, die an staatliche Erlaubnis gebunden war und die jedem Ehepaar entsprechend seiner biologischen Qualität eine entsprechende Kinderzahl zugestehen sollte. Zeugung und Sexualität sollten strikt voneinander getrennt werden, die Verhütungspraxis normal sein. »Stellt es sich trotzdem heraus, daß das Neugeborene ein schwächliches und mißratenes Kind ist, so wird ihm vom Ärzte-Kollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium.«[14]
Im Jahr 1904 wurde Ploetz der Herausgeber der rassenhygienischen Zeitschrift »Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie«, in der auf die Aura strenger Wissenschaftlichkeit großer Wert gelegt wurde. Das Ziel des Herausgebers und seiner Mitautoren war es offensichtlich, die Rassenhygiene als Wissenschaft zu etablieren und Lehrstühle für dieses Fach an deutschen Universitäten einzurichten.
Die von Ploetz vorgeschlagenen eugenischen Regelungen orientierten sich an seiner Ansicht nach humanen Prinzipien. So war er der Auffassung, daß die wissenschaftliche Forschung der Rassenhygieniker sich zum Ziel setzen müßte, Möglichkeiten der künstlichen Auslese der Keimzellen zu entwickeln und das Ausjäten minderwertiger Keimzellen schon vor ihrer Vereinigung vorzunehmen (»Abwälzung der Ausmerzung von der Personenstufe auf die Zellstufe«). Denn »wenn keine Schwachen mehr erzeugt werden, brauchen sie auch nicht mehr ausgemerzt werden.«[15]
Daß in bezug auf Euthanasie-Programme für geisteskranke oder als Krüppel geborene Kinder viele für eine fortschrittliche Sexualmoral kämpfende Zeitgenossen ähnlich dachten, zeigt eine Stelle in August Foreis Buch »Die sexuelle Frage«, wo er schreibt: »Es ist eigentlich schrecklich, daß die Gesetze uns zwingen, Früchte, die als Kretins, Idioten und dgl. geboren werden... am Leben zu erhalten. Wird man nicht in Zukunft dazu gelangen, es wenigstens zuzulassen, daß unter Zustimmung der Eltern und nach gründlicher ärztlicher Expertise solche unglückliche Neugeborene durch milde Narkose beseitigt werden. .. Auch hierin schmachtet unsere Gesetzgebung noch unter dem Druck einer alten religiösen Dogmatik... Ehrlich ausgesprochen, täten die aufopfernden Pfleger und Lehrer solcher Idioten besser, letztere sterben zu lassen und selbst tüchtige Kinder zu zeugen!«[16] Für die politische Wirkung sozialdarwinistischer Ideen wurden gerade Autoren am einflußreichsten, die sich mit dem Anschein strengster wissenschaftlicher Tugenden schmückten.
Der bekannteste von ihnen wurde Wilhelm Schallmayer, ein bayerischer Arzt und Privatgelehrter. Er gewann für sein Manuskript »Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, eine staatswissenschaftliche Studie aufgrund der neueren Biologie« den ersten Preis von 50.000 Goldmark in einem Preisausschreiben, das 1900 unter Führung von Ernst Haeckel der Öffentlichkeit übergeben wurde. Das Thema hieß: »Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in bezug auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?«Die hohen Summen, die für die besten Veröffentlichungen zu diesem Thema ausgesetzt wurden, und das Thema selbst stammten von Alfred Friedrich Krupp, der auf eigenen Wunsch erst nach seinem Tode als Gönner genannt wurde.[17] Schallmayer entwickelte in seiner Schrift den Begriff des Rassedienstes und beschwor die Entartungsgefahr, die im modernen Individualismus liege. Beim Menschen habe sich im Gegensatz zu anderen Säugetieren das Gehirn in besonders exzessiver Weise ausgebildet, aber »dieses Gehirn hat die für einen Rassenhygieniker betrübliche Fähigkeit, vorwiegend dem individualistischen Interesse des Menschen zu dienen und damit das generative Interesse zu gefährden, »so daß ein allmähliches freiwilliges Aussterben der Menschheit in einer ferneren Zukunft nicht undenkbar ist.«[18]
Schon in einer rassehygienischen Schrift aus dem Jahr 1891 hatte Schallmayer dafür plädiert, für jede Person von Geburt an eine Art von Erbbiografie anzulegen und zeitlebens fortzuführen. »Diese Erbpersonalien würden Angaben enthalten, erstens über die direkt feststellbaren Erbqualitäten jeder Person, zweitens über solche Tatsachen aus ihrem Leben, die zur indirekten Erkennung der zu erforschenden Erbanlagen beizutragen vermögen.« Gleichzeitig schreibt er, eine Verbreitung »solcher erbbiologischer Porträtierungen mit dem erforderlichen Grade von Treue und Zuverlässigkeit ließe sich aber, wie mir scheint, nur dadurch erreichen, daß der Staat die Sache in die Hand nähme.«[19]
Seit dem Jahre 1904 bestand in Leipzig der Verein zur »Gründung und Erhaltung einer Zentralstelle für deutsche Personen-und Familiengeschichte«. Die Zahl der registrierten Familiennamen wurde auf ungefähr 50.000 geschätzt. Dieser Verein sollte auch Ärzten und Naturforschern bei ihren Untersuchungen über Erblichkeit und den damit zusammenhängenden Fragen von Degeneration und Regeneration Hilfestellung leisten. Der Vorsitzende dieser Zentralstelle, Hans Breymann, arbeitete eng mit Alfred Ploetz zusammen.[20]
In einer weiteren Buchveröffentlichung »Beiträge zu einer Nationalbiologie« trat Schallmayer nachdrücklich dafür ein, ein »Ministerium für den nationalbiologischen Dienst« zu schaffen, das »die Verwaltung der Keim werte der Bevölkerung« übernehmen sollte.[21] Während Ploetz zugunsten der qualitativen Fortpflanzung für die ständige Benutzung von empfängnisverhütenden Mitteln plädierte und die Propaganda dafür verstärkt wissen wollte, war sein bekanntester Autor Schallmayer gegen die weitere Bekanntmachung dieser Mittel, da er die herabgesetzte Fruchtbarkeit selbst als Entartungserscheinung ansah. Ihm und auch dem Mitherausgeber des Archivs, Ernst Rüdin, einem Irrenarzt aus München, kam es vor allen Dingen auf die quantitative Seite der Bevölkerungspolitik an.
Die einzige Autorin, die regelmäßig im »Archiv« publizierte, innerhalb der Frauenbewegung gegen die Freigabe der Abtreibung und für eine totale Mutterschaft kämpfte, war die Ärztin Agnes Bluhm. Sie war eine unermüdliche Warnerin vor dem drohenden Niedergang der Rasse, die sich nach ihrer Ansicht in der zurückgehenden Still- und Gebärfähigkeit der Frau äußerte.
In einem Artikel über »die generative Tüchtigkeit der deutschen Frauen« kommt sie zu dem Schluß, daß es »keinem Zweifel unterliegen« kann, »daß die Fortschritte der ärztlichen Geburtshilfe zur Verschlechterung der Gebärfähigkeit beitragen.«[22]
Da viele rachitische Frauen mit zu engem Becken von den Ärzten bei der Niederkunft gerettet würden, würde die Gebärunfähigkeit von Mutter auf Tochter weitervererbt. Vor allen Dingen träte eine Wehenschwäche auf. Bluhm schreibt »eine weit prägnantere Formel hat Schallmayer ... gefunden, wenn er sagt: so viel scheint sicher: je erfolgreicher die Geburtshilfe sich entwickeln wird, desto mehr werden die kommenden Generationen sie nötig haben.«[23] Da die ärztliche Geburtshilfe durch Zangengeburten und Kaiserschnitte die Vererbung der Gebärunfähigkeit begünstige, legte sie unausgesprochen den Lesern nahe, daß es wohl in solchen Fällen der Rasse günstiger sei, die Mütter sterben zu lassen.
Ebenso wie Ploetz war Schallmayer kein ausgesprochener »Ariomane« wie sein Hauptgegner Ludwig Woltmann, der beim Kruppschen Preisausschreiben nur den 4. Preis gewonnen hatte und in seiner Zeitschrift »Politisch-anthropologische Revue« das Germanentum verherrlichte und gegen den ersten Preisträger Schallmayer wütete. Woltmann, ebenfalls Arzt und Privatgelehrter, war Sozialdemokrat gewesen. Ploetz, Schallmayer und viele andere Rassenhygieniker hatten zumindest zu Beginn ihrer Laufbahn mit dem Sozialismus sympathisiert, ehe sie zu ihrer Doktrin des biologischen Determinismus gekommen waren.[24] Sozialdarwinistische Reformer machten sich sozialistische Forderungen zu eigen. In einer Gesellschaft, in der die Startbedingungen der Individuen so ungleich waren, könnte auch der gesunde und erbbiologisch tüchtige Arbeiter niemals soviele Überlebensvorteile erkämpfen, wie sie der Nachkomme des Kapitalbesitzers von Geburt an besaß. Deswegen waren führende Sozialhygieniker der Ansicht, daß das Erbrecht wegfallen müsse, um erst einmal die Chancengleichheit der auslesenden Einflüsse herzustellen. Bodenreform und Steuergesetzgebung unter dem Gesichtspunkt der Rassentüchtigkeit gehörten deswegen zu den Lieblingsthemen der Rassenhygieniker.[25]
Am 22. Juni 1905 wurde in Berlin-Steglitz von den Herausgebern des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie die »Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene« konstituiert. Die Mitgliederzahl - hauptsächlich interessierte Wissenschaftler - betrug fast 200 zu diesem Zeitpunkt. Sie stammten aus dem Deutschen Reich und Schweden, Österreich, Schweiz, Norwegen, Holland und Nordamerika. Nach den Angaben der Gesellschaft rekrutierten sie sich aus allen politischen Parteien »vom strengen Konservativen bis zum weit links stehenden Demokraten«. Von vornherein hatte sich die Gesellschaft auf eine internationale Basis gestellt, allerdings wollte sie sich auf die »Förderung der Theorie und Praxis der Rassenhygiene unter den weißen Völkern« beschränken. Das sollte, wie es hieß, »eine freundliche Haltung gegenüber ähnlichen Organisationen anderer Rassen nicht ausschließen.«[26]

2. Mutterschutz und Sexualreform

Die sozialdemokratische Haltung zur Bevölkerungsfrage und zur Sexualreform war gespalten. Die Führer und Führerinnen der sozialistischen Frauenbewegung lehnten jede Form der Geburtenbeschränkung als Selbsthilfe des Proletariats ab, die in der Partei organisierten Arbeiter praktizierten sie. August Bebel hielt wie seine Zeitgenossen den Präventivverkehr - Coitus interruptus und Kondome - für widernatürlich, ebenso Masturbation und sexuelle Enthaltsamkeit. Das Proletariat kämpfte um das Recht auf Familiengründung und Sexualität in einer Zeit, in der das Heiratsalter trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs immer noch hoch war. Die sozialdemokratische Presse nahm auf Anweisung von Liebknecht keine Anzeigen für Verhütungsmittel auf. Obwohl der Österreicher Karl Kautsky in den 80er Jahren für Geburtenbeschränkung eingetreten war, war der Standpunkt der Sozialdemokraten zur Geburtenplanung bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges ablehnend, wie sich in programmatischen Aufsätzen von Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg zeigte.[27] Der Rassebegriff - unkritisch gleichgesetzt mit Volk und Nation - war von den Sozialisten voll akzeptiert; er taucht selbst in Lenins Freigabe des Schwangerschaftsabbruches von 1918 auf.[28]
Ein Teil der bürgerlichen Frauenbewegung - Minna Cauer, Anna Pappritz, Frieda Duensing, Adele Schreiber - hatte sich vor der Jahrhundertwende der Prostituierten-Rehabilitierung zugewendet. Sie bekämpften die Zwangsuntersuchungen durch die Polizei, denen Prostituierte unterworfen waren. Nach der Jahrhundertwende war unter den Abolitionistinnen ein Konflikt ausgebrochen, bei dem sich die Vorkämpferinnen für eine neue Sexualmoral von den alten konservativen Vertreterinnen schieden, die die Vorstellung vertraten, die Männer sollten so rein wie die Frauen in die Ehe gehen. Die Anwendung von Verhütungsmitteln wurde von diesen abgelehnt, weil sie die außereheliche Promiskuität fördere. Dagegen wollte Helene Stöcker die abolitionistische Bewegung zum Kampforgan für eine neue Sexualmoral umfunktionieren.
Die sexuelle Unterwerfung der Frau war für sie zentral in diesem Kampf. Prostitution und uneheliche Mutterschaft seien Folgeerscheinungen einer patriarchalischen Gesellschaft, in der der Mann die Normen für das Sexualverhalten der Frau bestimme. Helene Stöcker war die erste Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung, die auf der radikalen sexuellen Emanzipation und Selbstverwirklichung bestand und aus dieser Ansicht ihre politische Praxis entwickelte. Sie stammte aus einer fromm-calvinistischen Familie in Elberfeld, die einer Sekte angehörte, wurde Lehrerin und studierte dann in Zürich Philosophie.[29] In ihrer Propaganda für die freie Liebe und selbstbestimmte Mutterschaft wurde sie von einer Reihe von Frauen unterstützt, die Sozialdarwinistinnen und glühende Nationalistinnen waren, und anderen, die wie sie selbst sich in den 20er Jahren für Sozialismus und Pazifismus entschieden.
Der »Bund für Mutterschutz«, zu dessen erster Vorsitzender Helene Stöcker gewählt wurde, war im Januar/Februar 1905 gegründet worden. Zum Gründungskomitee gehörten u.a. die radikalen Sozialdarwinistinnen Ruth Bré, eine wenig talentierte Schriftstellerin, Maria Lischnewska, Vorsitzende des deutschen Lehrerinnenvereins, und Walter Borgius, damals Generalsekretär eines linksliberalen Verbandes von hanseatischen Kaufleuten und Vertretern der chemischen Industrie.[30] Ruth Bré hatte bereits eine Reihe von Pamphleten verfaßt, in denen sie gegen den Kapitalismus polemisierte, der die Kinderproduktion behindere. Aber auch staatliches Eingreifen in die Kindererziehung lehnte sie ab in ihrer Schrift: »Staatskinder oder Mutterrecht«. Sie forderte die Restauration eines Matriarchats, bestehend aus den Frauen einer Familie, die sich zum Zweck der Kindererziehung in einer gemeinsamen Wohnung oder einem Haus zusammenfinden sollten.[31]
Ruth Brés Ideen schlugen sich im ersten Aufruf des Gründungskomitees für Mutterschutz nieder, das die Errichtung sogenannter Mutterkolonien zum Ziel erklärte, wo unverheiratete Mütter und ihre Kinder, unterstützt von Staatspensionen und leichter landwirtschaftlicher Arbeit, leben sollten. Das Ziel war die »Verbesserung der Nation« durch die Fortpflanzung der Gesunden. Nur ausgewählten gesunden ledigen Müttern, die die Rassengesundheit verbessern konnten, sollte Hilfe zuteil werden.
In dem Aufruf hieß es, rund 180.000 uneheliche Kinder würden jährlich in Deutschland geboren, nahezu ein Zehntel aller Geburten überhaupt. »Und diese gewaltige Quelle unserer Volkskraft, bei der Geburt meist von hoher Lebensstärke, da ihre Eltern in der Blüte der Jugend und Gesundheit stehen, lassen wir verkommen, weil eine rigorose Moralanschauung die ledige Mutter brandmarkt, ihre wirtschaftliche Existenz untergräbt.«[32] Die Säuglingssterblichkeit lag bei den unehelichen Kindern fast doppelt so hoch wie bei den ehelich geborenen. »So züchten wir durch ein unbegründetes moralisches Vorurteil künstlich ein Heer von Feinden der menschlichen Gesellschaft. Dabei ist die Geburtenziffer an sich in Deutschland im relativen Rückgang begriffen. Die sorgsame Erhaltung jedes gesundgeborenen Kindes ist also in jeder Hinsicht ein Gebot rationeller Rassenhygiene und wichtig für die Erhaltung unserer Volkskraft und Gesundheit. Man hat nun versucht, mit Kinderkrippen, Findelhäusern und dgl. hier einzugreifen. Aber Kinderschutz ohne Mutterschutz ist und bleibt Stückwerk; denn die Mutter ist die kräftigste Lebensquelle des Kindes und zu seinem Gedeihen unentbehrlich.«[33]
Unter den Unterzeichnern dieses Aufrufes befanden sich prominente Sozialdemokratinnen, eine Reihe von Frauen des linken Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung und eine Reihe von Männern, die dar-winistischen und rassehygienischen Vorstellungen huldigten, unter ihnen Lily Braun und Henriette Fürth, Sozialdemokratinnen, Hedwig Dohm, Maria Lischnewska, Marie Stritt, Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauen vereine, Adele Schreiber und Helene Stöcker, außerdem die Gräfin Gertrud Bülow von Dennewitz, die unter dem Namen Gisela von Streitberg bereits vor der Jahrhundertwende Emanzipationsschriften verfaßte, unter anderem ein erstes Plädoyer für die Abschaffung des § 218.[34]
Die Männer, die dem Bund und dem Gründungskommitee angehörten, waren fast ausschließlich Rassenhygieniker wie Alfred Ploetz, der Gründer und Herausgeber des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, aber auch Ludwig Woltmann, der Herausgeber der politisch-anthropologischen Revue, und der Verkünder der künstlichen Befruchtung und Polygamie, Christian von Ehrenfels, Professor in Prag, der Kathedersozialist Werner Sombart und der Nationalliberale Friedrich Naumann.[35]
Schon bei der Gründung des Bundes für Mutterschutz aber gab es Auseinandersetzungen zwischen denjenigen, die den Kampf gegen die doppelte Moral und die Hilfe für die ledigen Mütter in den Vordergrund stellten, und den Rassenbiologen, die das Problem der Hilfe für die Mütter nur unter dem Gesichtspunkt der Rasseförderung sahen. In seiner klassischen Schrift über die Rassenhygiene hatte Alfred Ploetz die Mutter »als eine höchst wichtige Persönlichkeit« betrachtet, »der alle möglichen Mittel für das Gedeihen ihrer Leibesfrucht sowie für den ungestörten Ablauf der Geburt« gewährt werden müßten.[36] Jetzt begrüßte der Mitbegründer Ploetz die Mutterschutzinitiative in seiner Zeitschrift: »Der Bund wird naturgemäß von der großen Zahl der hundertachzigtausend ledigen Mütter nur einen sehr geringen Bruchteil unterstützen können. Er muß also eine Auslese treffen. Wenn er dabei weise verfährt und ausschließlich nicht bloß körperlich, sondern auch intellektuell und moralisch gutes Material für seine Zwecke aussucht, kann er den sozialhygienischen mit dem rassehygienischen Nutzen verbinden und wirklich einwandfrei Gutes schaffen. Im anderen Fall jedoch, wenn lax bei der Wahl der Mütter verfahren wird, liegt die Gefahr vor, daß alles wieder auf einen besonderen Schutz der Minderwertigen hinausläuft. Denn darüber hege ich keinen Zweifel, daß die auch vom Aufruf zugestandene durchschnittliche Minderwertigkeit der unehelichen Erwachsenen sich nicht einzig und allein durch die schlechte soziale Umwelt erklären läßt, sondern zu einem guten Teil auch der durchschnittlichen Minderwertigkeit der unehelichen Eltern zur Last gelegt werden muß.«[37]
Nach der Gründung kritisierte Ploetz, daß der am 26. Februar tagende Ausschuß des Bundes es ablehnte, die Fürsorge des Bundes auf gesunde Mütter zu begrenzen, da der Begriff gesund den willkürlichsten Auslegungen ausgesetzt sei, ferner gesunde Mütter kranke Kinder von kranken Vätern haben könnten usw.« Auch in den Satzungen sei das Wort »gesund« fortgefallen. Damit könne der Bund...« vorläufig irgendeinen rassehygienischen Wert nicht beanspruchen.«[38] In einem Aufsatz, der ein Jahr später in Ploetz' Zeitschrift erschien, wird die Frage behandelt, ob »die Unehelichen als Degenerierte zu betrachten« wären und wieweit diese Degeneration als vererbt »aufzufassen ist«. Der Verfasser kommt nach Untersuchung des Zahlenmaterials einer deutschen Irrenanstalt zu dem Schluß, daß eine generelle Disposition der Unehelichen zu Neurosen und Psychosen nachzuweisen sei.[39] Das Brésche Programm wurde von dem Bund nicht übernommen. Als Zweck des Bundes wurden

  • Beihilfe zur Erreichung wirtschaftlicher Selbständigkeit der ledigen Mutter,
  • Mutterschaftsversicherung, 
  • Verbesserung der rechtlichen Lage der Unehelichen,
  • Propaganda jeder Art

bezeichnet. Im Jahr 1912 zählte der Bund 9 Ortsgruppen mit 3.500 Mitgliedern, hatte aber bereits eine konfliktreiche Geschichte hinter sich.[40] Für Helene Stöcker lag das Schwergewicht des Bundes im Kampf und in der Propaganda für eine Neue Moral, die sie in ihrem Bundesblatt »Mutterschutz«, ab 1908 in »Neue Generation« umbenannt, verkündete. Sie wollte die Einstellung zur Sittlichkeit ändern und sah die Veränderung der öffentlichen Meinung als wichtigste Aufgabe des Bundes an. Demgegenüber wollten die Sektionen in der Provinz sich zum größten Teil auf die karitative Arbeit und Beratung beschränken.
Auch Else Lüders, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann schlössen sich dem Kampf um die Sexualreform an. Eine reichsgesetzliche Mutterschutzversicherung, Gleichstellung der ehelichen mit den unehelichen Kindern, leichte Scheidung und die rechtliche Anerkennung »freier Verbindungen« oder »freier Ehen« wurde gefordert. Die Polizei sollte gegen diese Verbindungen nicht mehr einschreiten können, und die Kinder aus diesen freien Verbindungen sollten die gleichen Rechte haben. Dazu legte der Bund eine Reihe von Petitionen an die gesetzgebenden Körperschaften vor. Helene Stöcker trat für eine Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ein. Frauen sollten bewußt Mutterschaft wählen und nicht zwangsweise Mutter werden. Der Bund organisierte Sexualaufklärung vor Arbeiterinnen über empfängnisverhütende Methoden und Mittel. Mitglieder des Bundes organisierten Kampagnen gegen die Aufnahmepraxis Berliner Krankenhäuser, die unverheiratete Schwangere nicht zur Entbindung aufnahmen.[41] Im Jahr 1908 begann die Zeitschrift »Neue Generation« eine neue Aktion, die konfessionell gebundenen Frauenvereine und die konservative Presse auf die Barrikaden trieb. Die Redaktion teilte mit, daß sie an 600 bekannte Persönlichkeiten folgende Frage gerichtet hatte:

Würden Sie eine Änderung der §§ 218 und 219 bei der bevorstehenden Reform des
Strafgesetzbuches für wünschenswert halten?

120 Fragebogen  wurden  bis  November zurückgesandt, 75 der  Antwortenden stimmten mit den Forderungen der Zeitschrift überein, daß Straflosigkeit für eine mit dem Willen der Schwangeren vorgenommene Abtreibung wünschenswert sei. Unter den Zustimmenden waren Ernst Haek-kel, Bruno Wille, Otto Julius Bierbaum, Hedwig Dohm und der sozialdemokratische Jurist Gustav Radbruch. Dagegen wollte der Herausgeber des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie Alfred Ploetz die Straflosigkeit nur bei Vergewaltigung und bei schwerer erblicher Krankheit der Eltern zulassen.[42]
Auf der Jahresversammlung des »Bundes deutscher Frauenvereine« wurde auf Betreiben der radikalen Feministinnen, die meist im »Bund für Mutterschutz« organisiert waren, die Frage der Bestrafung der Abtreibung zu einem Hauptthema gemacht. Für die Straflosigkeit der Abtreibung plädierte die Referentin Camilla Jellinek, eine linksliberale Juristin; dagegen argumentierte die Ärztin Agnes Bluhm, vorwiegend aus rassehygienischen Gründen.[43] Nachdem der »Bund deutscher Frauenvereine« wider Erwarten den Antrag für die Abschaffung des § 218 abgelehnt hatte, brach in den einzelnen Ortsgruppen des »Bundes für Mutterschutz« der Konflikt offen aus. Stöcker wollte die Propanda ausbauen, die Ortsgruppen in der Provinz wollten Mütterheime gründen und die karitative Arbeit verstärken - ein Ziel, das Helene Stöcker ablehnte, da sie die ledigen Mütter nicht als »Gefallene« betreuen, sondern ihnen Achtung vor ihrer Mutterschaft erkämpfen wollte.[44] Obwohl im Zuge dieser Auseinandersetzung einige Ortsgruppen austraten, wurde im September 1911 in Dresden der 1. Internationale Kongreß für den Mutterschutz und Sexualreform abgehalten, der zur Grüngung einer internationalen Vereinigung führte.[45] Der Kongreß vermittelte einen Überblick über die Lage der unehelichen Kinder und der ledigen Mütter in den europäischen Ländern. In Frankreich und Italien galt immer noch die Bestimmung des Code Napoleon, die es verbot, Untersuchungen über die Vaterschaft unehelicher Kinder einzuleiten, in Holland war diese Bestimmung gerade reformiert worden (Erst 1912 reformierte der französische Gesetzgeber diese Bestimmung, nachdem ihm seit 47 Jahren ein Gesetzentwurf dazu vorgelegen hatte). In Österreich galt das nichteheliche Kind zwar mit seiner Mutter verwandt, nicht aber mit ihrer Famile oder mit dem Vater. Krankenversicherungsleistungen bei Entbindungen, Lohnfortzahlung, Unterhaltsansprüche waren nur für einen winzigen Teil aller europäischen Mütter realisierbar. In Österreich, Bayern und Schweden lag der Prozentsatz an unehelichen Geburten am höchsten (ungefähr 14%).[46] Besonders temperamentvoll wurde die Abschaffung der Ehe von der schwedischen Delegierten Frieda Steenhoff gefordert. Durch die Institution der Ehe sei die Mutterschaft im Gegensatz zur Vaterschaft stigmatisiert und kriminalisiert worden. Die Frauen hätten durch die Schaffung der Ehe das Recht verloren, ohne besondere Erlaubnis Kinder in die Welt zu setzen. »Alle Frauen haben dasselbe natürliche Recht zur Mutterschaft, obwohl die Gesellschaftskontrukteure es gestohlen haben und es einem Teil der Frauen auf Kosten der anderen geschenkt haben.«[47]
In ihrem Referat »Ehe und Sexualreform« vertrat Helene Stöcker einen gemäßigteren Standpunkt. Sie wies die »falschen Anschuldigungen« zurück »die uns einer rein egoistischen Genußphilosophie zeigen wollen«. »Unsere moderne Bewegung hat zwei positive Begriffe geschaffen und in das öffentliche Bewußtsein gebracht: Neue Ethik bedeutet das Bekenntnis zu einer Moral der persönlichen Verantwortlichkeit, der Verfeinerung und Individualisierung auf sexuellem Gebiet, - Mutterschutz unfaßt den Inbegriff aller Arbeit und Fürsorge für Mutter und Kind, für Hebung der Rasse, für die kommende Generation als die Konsequenz unserer neuen Erkenntnis der Verantwortlichkeit.«[48] In ihrer Betonung eines individualistischen Persönlichkeitsideals (»Die verantwortliche Persönlichkeit, Mann wie Frau, ist der Mittelpunkt unserer neuen Ethik...«) lag ein Widerspruch zur Haltung vieler Mitstreiterinnen in der Mutterschutzbewegung.
So stellte z. B. der sozialdemokratische Reichtagsabgeordnete Eduard David in der anschließenden Diskussion fest, »der Kernpunkt der Bewegung sei für alle Anwesende die Höherzüchtung der Rasse, das sei klar ausgesprochen worden.« Eine lebhafte Kontroverse entspann sich über die Wahl des Namens, den die internationale Vereinigung tragen sollte. Sehr viele Vorbehalte wurden gegen die Bezeichnung Sexualreform vorgebracht. Dennoch ergab die Schlußabstimmung eine große Mehrheit für den Namen »Internationale Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform.«[49]
In einem Aufruf an Männer und Frauen aller Kulturländer wurden noch einmal die Forderungen der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform vorgestellt. Hier hatten die rassenhygienischen Argumente vor den sexualreformerischen ganz klar Vorrang. »Die erste Vorbedingung aber einer stetigen, aufwärts leitenden Entwicklung ist die Gesunderhaltung der Rasse. Ihr vornehmstes Mittel ist die in der Gattungsfortpflanzung sich vollziehende Auslese. Diese stark, gesund und rein zu erhalten, sie dem Ziele der Vervollkommnung anzupassen und so das Geschlechtsleben des Menschen zugleich dem Wohle der Lebenden und dem Aufstieg der Gattung dienstbar zu machen, ist die höchste Aufgabe der fortschreitenden Zivilisation.«[50]
Auf der Liste der Unterzeichner dieses Aufrufes fällt die große Zahl der Intellektuellen auf. Der Schriftsteller Hermann Bahr, Eduard Bernstein, Mitglied des Reichstages und sozialdemokratischer Revisionist, der Verleger Eugen Diedrichs, der Arzt und Schriftsteller Sigmund Freud, Ernst Haeckel, Karl Hauptmann und eine Reihe von Schriftstellern der Jugendbewegung, aber auch der Rassenbiologe Wilhelm Schallmayer und die Schriftsteller Hermann Sudermann und Frank Wedekind unterzeichneten den Aufruf. Unter den Frauen der Frauenrechtsbewegung, die dem Aufruf ihre Unterschrift gaben, waren Minna Cauer, Hedwig Dohm, Grete Meisel-Heß, Rosa Mayreder und Käthe Kollwitz.
Trotz dieser stärker werdenden Orientierung auf rassenhygienische Ideale war der »Deutsche Bund für Mutterschutz« und die von ihm inspirierten Verbände im europäischen Ausland eine radikale emanzi-patorische Vereinigung, die Themen aufgriff, zu denen die Organe der Arbeiterpresse und der Frauenbewegung keinen Mut hatten und die ihm eine unvergleichliche Öffentlichkeitswirkung verschaffte.[51] Vor allen Dingen fanden die am meisten angegriffenen Forscher dieser Zeit, hervorragende Sexualwissenschaftler, hier Bundesgenossinnen und ein publizistisches Forum von Gewicht. Die Tendenz dieser Forscher -Sigmund Freud, August Forel, Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld - war neomalthusianisch, wie es der Auffassung Stöckers entsprach. Alle waren Befürworter von Geburtenverhütung und lehnten Eingriffe des Strafrechts in das Sexualleben Erwachsener ab. Auf einem sexualwissenschaftlichen Kursus des Deutschen Monistenbundes 1914 attackierte Hirschfeld heftig die immer stärker werdende Meinung, daß Geburtenrückgang mit dem Verbot aller empfängnisverhütender Mittel und Sexualaufklärung bekämpft werden müsse. »Lange genug haben theologische Sexualdiktatoren den Geschlechtstrieb des Menschen geknechtet, unbekümmert um sexuelle Not, Prostitution, Altjungferntum, Syphilis und andere Begleiterscheinungen, die nicht zum geringsten Teil auf das Konto ihres sexuellen Zwangssystems zu setzen sind.« Die Gesundheit und Lebensfreude vieler Männer und Frauen sei durch sexuelle Abstinenz schwer beeinträchtigt. Allein von 100 Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr seien 57% ledig.[52]

3. Das Scheitern der Sexualreform - Reaktion auf den Geburtenrückgang

Seit Ende des 19. Jahrhunderts begannen staatliche Stellen sich für den Schutz der schwangeren Arbeiterin und die Bedingungen der Säuglingspflege zu interessieren, als von den Musterungsbehörden ein immer größerer Prozentsatz von Militärdienstuntauglichen festgestellt wurde. Der Zahnmediziner Rose, der Tausende von Schulkindern und Musterungspflichtigen in seine Untersuchung einbezog, behauptete in einem Untersuchungsbericht, daß unter den diensttauglichen Soldaten die gutgestillten überwogen.
Rachitis und schlechte Zähne, schlechter gesundheitlicher Allgemeinzustand waren für ihn Folgen der mütterlichen Stillunlust. Rose forderte die Regierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Mütter, die nicht stillten, mit empfindlichen Geldstrafen belegen sollte. Die Kinder der Industriearbeiterinnen hatten nicht nur ein niedrigeres Geburtsgewicht, sondern auch geringere Chancen des Überlebens, weil die Arbeiterin an ihren Arbeitsplatz zurückkehren mußte und kaum die Zeit fand, ihr Kind zu stillen.[53]
Sozialpolitische Reformen, um die Mütter- und Säuglingssterblichkeit zu bekämpfen und die Wohn- und Hygieneverhältnisse zu verbessern, fanden deswegen einen eifrigen Kreis von Befürwortern, weil »die Stärkung der Nation« und die Diensttauglichkeit der Rekruten alle Maßnahmen der Sozialhygiene legitimierten.
Henriette Fürth, Sozialdemokratin vom rechten Flügel der Partei, die mit Akribie Statistiken über die Lage der Arbeiterinnen zusammenstellte, verfaßte eine große Schrift über die Mutterschaftsversicherung. Aber auch hier ging es nicht um das Leben der Mutter und ihren individuellen Anspruch auf das Wohlergehen und die Gesundheit des Kindes. Die Argumente für die Mutterschaftsversicherung und Lohnfortzahlung vor und nach der Entbindung lauteten, daß das Deutsche Reich ungefähr 90.000 Sodaten in etwa 20 Jahren mehr produzieren könnte, wenn die Säuglingssterblichkeit eingeschränkt wäre.[54] Die hohe Sterblichkeit der Säuglinge und der Geburtenrückgang waren die bedrohlichen Faktoren für die Entwicklung der Nation - aus dieser Erkenntnis wurde Sozialpolitik gemacht, nicht aus der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Individuums, so wie es Helene Stök-ker vorschwebte.
Zwischen 1910 und 1914 kam es zu einem Stimmungsumschwung gegen den linken Flügel der Frauenbewegung. Die Anhängerinnen völkischer Ideen bekamen ein immer stärkeres Gewicht. Auf den Dienst an Volk und Rasse und ein makelloses sauberes Bild der Mutterschaft konnte sich die Meinung in den mitgliederstarken, konfessionell und vaterländisch orientierten Frauen-Verbänden am ehesten einigen. Helene Lange und Gertrud Bäumer wollten mit freier Liebe und dem Recht auf Sexualität außerhalb der Ehe nichts zu tun haben.[55] Obwohl im Deutschen Reich immer noch ein Geburtenüberschuß zu verzeichnen war, befürchteten Nationalökonomen und Sozialmediziner, daß es über kurz oder lang wie in Frankreich werden würde, wo bereits eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung eingesetzt hatte. Dutzende von Artikeln, Aufsätzen, Büchern und Broschüren wurden zwischen 1910 und 1914 zum Thema Geburtenrückgang publiziert. Die phantastischsten Züchtungsprojekte zur planvollen Vermehrung eines durch Sachverständige ausgewählten rassischen Überdurchschnitts der bürgerlichen Gesellschaft wurden ernsthaft diskutiert. Eine Reihe von Autoren forderte die Einführung der Polygamie oder zumindest der Bigamie bei Unfruchtbarkeit eines Ehepartners. Wissentliche Vereitelung der Mutterschaft seitens der Frau oder des Mannes sollte als Scheidungsgrund ebenso anerkannt werden wie Unfruchtbarkeit. Auch der auf Seriosität bedachte Nationalbiologe Schallmeyer empfahl, tüchtigen Soldaten das Recht auf mehrere Frauen einzuräumen.[56] In den meisten westlichen Ländern kam es zu einer Verschärfung der Strafandrohung für den Verkauf und die Anpreisung von Verhütungsmitteln. Bedeutsam für die Meinungsentwicklung innerhalb der Regierungskreise ist eine Veröffentlichung in einer Schriftreihe des Innenministeriums des Reiches aus dem Jahr 1912.[57] Darin kommt der Regierungsexperte Bornträger zu einer Reihe von Vorschlägen, wie der Geburtenrückgang durch Regierungsmaßnahmen zu bekämpfen sei. Neben einer Fülle von sonstigen Maßnahmen bis hin zur inneren Kolonisation und der Einführung von Heimatlesebüchern in den Volksschulen verlangte Bornträger die Eindämmung der Frauenemanzipation.

»Die heutige Frauenbewegung ist in hervorragender Weise eine Jungfrauenbewegung. Die Bewegung erfolgt in besonderem Maße zugunsten der ledigen Frauen und reißt die Verheirateten mit, stört die völlig zufriedenen und zertrümmert allmählich die guten Eheverhältnisse, woran die Folgen am deutlichsten in Nordamerika zu sehen sind. Die Bewegung ist also in gewissem Sinne ehefeindlich. Sie fängt aber auch schon hier und dort an, entsittlichend zu wirken. In der Generalversammlung des Deutschen Bundes für Mutterschutz in Breslau 1911 sagte z. B. eine Frauenrechtlerin: ,Wie schon das römische Recht eine freie Ehe gekannt hat, so müssen wir auch zu einer anerkannten neuen Form kommen, welche den sogenannten außerehelichen Geschlechtsverkehr in die Sphäre der sittlichen Verantwortlichkeit hebt.' Da haben wir es! Offene Erstrebung des Konkubinats! Warum nicht gleich Verherrlichung der Prostitution!«[58]

Besonders sollte die Ausbildung zur Hausfrau in Haushaltungs- und Kochschulen aller Art gefördert werden. Auch durch Propagandaveranstaltungen und Kinderfeste zum Geburtstag der Königin, Maßnahmen gegen Luxus und übermäßige Vergnügungen wie Beschränkung der Feiertage, Karneval, Kirmes und Schankkonzessionen und dgl. sollte versucht werden, die Geburtenziffern wieder anzuheben. Als besondere polizeiliche und richterliche Maßnahmen werden Anweisungen an die Polizeibehörden vorgeschlagen, auf den Vertrieb von antikonzeptionellen Mitteln dauernd scharf zu achten und die nötigen Anzeigen zu erstatten. Die gegenseitige Benachrichtigung der Polizeibehörden über Bestrafung wegen solcher Delikte sollte veranlaßt werden.
Alle Aborte sollten der ärztlichen Anzeigepflicht unterliegen. Vor allen Dingen sollte nach den Vorschlägen Bornträgers die Ärzteschaft zur direkten Mithilfe im Kampf gegen den Geburtenrückgang gewonnen werden. Vorträge in Fortbildungskursen, Vereinen und auf ärztlichen Kongressen sollten diesem Zweck dienen, außerdem Veröffentlichungen gegen die Geburtenverhütung in medizinischen Zeitschriften und die Gründung einer Presse gegen die künstliche Geburtenhemmung.
Durch Einflußnahme auf die Ärztekammern sollte versucht werden, Maßnahmen der Standesorganisation gegen solche Ärzte, die Propaganda für Abtreibung und Kinderbeschränkung machten, zu erreichen. Auch warnte Bornträger: »Die Gleichstellung unehelicher Mütter mit ehelichen darf meines Erachtens nicht weiter getrieben werden, es muß unbedingt ein Unterschied festgehalten werden.« Am meisten imponiert dem Regierungsexperten Bornträger ein französischer Gesetzesvorschlag, der im Juni 1910 von dem Senator Lannelongue dem Senat vorgelegt wurde. Der Titel dieses Gesetzentwurfes lautete: »Zur Bekämpfung der Entvölkerung durch Maßnahmen, die geeignet sind, die Natalität zu heben.« »Jeder Junggeselle, welcher das Alter von 29 Jahren erreicht hat, wird zu supplementären Militärleistungen herangezogen, sowohl in der Reserve der aktiven Armee als in der Territorialarmee...
Im Artikel zwei dieses Gesetzvorschlages hieß es:

»Niemand kann im Staat, im Departement oder in der Kommune Beamter werden oder bleiben, wenn er nicht beim vollendeten 25 Jahre verheiratet ist.«

Neben einer Reihe von Karrierevorteilen und Pensionszulagen für die Kinderzeugung wurden in diesem Gesetzentwurf Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Lehren über die Geburtenverhütung vorgeschlagen. Darunter:

  1. Ein unbedingter Ausschluß der Öffentlichkeit bei allen Gerichtsverhandlungen, bei denen über Konzeptionsverhütung und Abtreibung verhandelt wird.
  2. Verfolgung und Einziehung aller die Kinderverhütung empfehlend besprechender populärer Schriften als Schmutzliteratur.
  3. Behinderung aller öffentlicher Vorträge, Versammlungen, Kongresse und dgl., welche die Besprechung der Kinderverhütung zum Thema haben. Darunter werden alle Naturheilkundigen, neomalthusianische Vereine, Frauenrechtlerinnen etc. erwähnt.
  4. Eine Beobachtung der Presse und Zeitschriften und ihrer Anzeigenteile, vor allen Dingen auch der Familienblätter und Hebammenpresse, die Artikel über Geburtenverhütung drucken würden.

Die Unterdrückung und Erschwerung des Handels mit antikonzeptionellen und zur Abtreibung geeigneten Mitteln und Apparaten sollte durch Kontrolle der Fabrikation und Einfuhrverbote geregelt werden. Alle Mittel und Gegenstände, welche die Empfängnis erschweren oder verhindern, vor allen Dingen Pessare, Stifte, Seidenfäden, Schwämm-chen und Intrauterinspritzen, sollten generell verboten werden. Als wichtige Maßnahme im Deutschen Reich schätzte Bornträger die Beschränkung der öffentlichen Bekanntgabe der standesamtlichen Nachrichten ein. Da aufgrund der Standesamtnachrichten über Aufgebot, Verlöbnis, Heirat und Geburten den jungen Ehepaaren Prospekte über Kinderverhütung zugeschickt würden, hätten die Amtmänner des Landkreises Recklinghausen bereits beschlossen, die standesamtlichen Nachrichten nicht mehr in den Zeitungen bekanntzugeben. Auch im Regierungsbezirk Düsseldorf sei die Bekanntgabe der standesamtlichen Nachrichten an die Zeitungen verboten worden. Das Fazit, das Bornträger am Ende seines langen Berichtes zieht, lautet, daß bestehende Organisationen wie die von Alfred Ploetz und Max von Gruber gegründete »Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene« keineswegs im Kampf gegen den Geburtenrückgang genüge. Bornträger meint, daß es an der Zeit sei, eine Zentralstelle für dieses Problem zu errichten. »Eine deutsche Organisation zur Bekämpfung der Geburtenbeschränkung, positiv ausgedrückt: zur ungehemmten natürlichen Volksvermehrung, die etwa kurz zu nennen wäre: Deutscher Bund für Volkserhaltung.«[59] Ein Teil der von Bornträger vorgeschlagenen Maßnahmen - vor allen Dingen die propagandistische Belehrung von Ärzten, Hebammen und Fürsorgerinnen - wurde während des I. Weltkrieges verwirklicht. Säuglingskunde und Kinderpflege wurde zum Teil in den Unterrichtsstoff der Volksschulen mit aufgenommen. Vorträge, Wanderausstellungen, Kino, Beratungsstellen sollten der Belehrung der heranwachsenden Mütter dienen. Von den verschiedenen Vorschlägen über die Grundzüge und Finanzierung einer umfassenden Mutterschaftsversicherung, die von den Sozialdemokratinnen Lily Braun und Henriette Fürth, von dem Berliner Medizin-Professor Mayet und von dem »Deutschen Bund für Mutterschutz« gemacht worden waren, wurde zwar keiner verwirklicht, aber die Regierung sah sich dennoch zum Handeln gezwungen.[60] Gleich zu Anfang des I. Weltkrieges entschied sie sich für eine Maßnahme, die die Ehefrauen deutscher Soldaten besser stellen sollte als die anderer kriegsteilnehmender Länder, vor allen Dingen aber auf die Senkung der hohen Säuglingssterblichkeit von rund 17% zielte.
Den Müttern aller Kinder von Kriegsteilnehmern und später von Kindern, deren Väter zum Hilfsdienst eingezogen waren, wurde durch eine Verordnung vom 3. Dezember 1914 und vom 23. April 1915 die Reichswochenhilfe gewährt, die Entbindungskosen, ein achtwöchiges Wochengeld und für 12 Wochen ein tägliches Stillgeld unfaßte. Diese Leistungen wurden auch nichtVersicherten und ledigen Müttern gewährt.[61]

Ausblick

Die Entwicklung der bevölkerungspolitischen Diskussion vor dem I. Weltkrieg ist nicht nur für Historiker von Interesse. Sie ist besonders wichtig zum Verständnis der Rassen- und Bevölkerungspolitik des III. Reiches, die häufig ohne Zusammenhang mit den imperialistischen und rassistischen Ideen des deutschen Kaiserreiches und der anderen Kolonialmächte dieser Zeit dargestellt werden. Begriffe wie Ausmerzen, Minderwertigkeit, Menschenmaterial, Rassentüchtigkeit waren keine Erfindungen der Nationalsozialisten, sondern wurden bedenkenlos in wissenschaftlichen Aufsätzen wie in der Tagespresse vor dem I. Weltkrieg verwendet.
Holocaust für Juden und Zigeuner, Sterilisierung von Angehörigen slawischer Völker, Internierung von Homosexuellen, Straferhöhung für Abtreibung, Euthanasie für Krüppel und Geisteskranke, planmäßige Züchtung der blonden helläugigen Rasse - diese Maßnahmen des NS-Staates waren von völkisch und imperialistisch orientierten Naturwissenschaftlern um die Jahrhundertwerde diskutiert und in utopisch erscheinenden Reformvorschlägen unterbreitet worden. Eine Reihe von Intellektuellen, Sozialisten, Feministinnen und Sexualforschern waren für Ziele wie das der Verbesserung der Rasse ebenfalls empfänglich, da sie mit der Forderung einer neuen freien Sexualmoral auch die Verantwortung für die Gesundheit der kommenden Generation verknüpfen wollten.
Während die Rassenpolitik der Verpönung anheimfiel, ist der andere Teil der bevölkungspolitischen Maßnahmen, die Familienpolitik, ideologisch wieder in voller Blüte - trotz der vielfältigen Versicherungen der Parteien, der Staat habe sich aus Ehe und Familie möglichst herauszuhalten.
Bevölkerungspolitik, auch wenn sie sich Familienpolitik nennt, ist immer Machtpolitik gegenüber Frauen. Es ist ihr Recht auf reproduktive Freiheit, das durch den Staat eingeschränkt wird. Ehestandsdarlehen, Kinder- und Wohnbeihilfen, almosenhafte Zuwendung von Erziehungsgeldern, das ganze Instrumentarium der Familien- und Bevölkerungspolitiker um die Jahrhundertwende soll auch heute das Problem der sinkenden Geburtszahlen bekämpfen helfen. Durch steuerliche Vorteile und Zuwendungen zum Ernährereinkommen soll der geschwundene Zeugungswille geweckt werden. Die Emanzipationsbewegung ist wieder einmal so gefährlich geworden, daß sich eine Reihe von politischen Koalitionen abzeichnet, die dafür sorgen wollen, daß die Hausfrau und Mutter als billigste, nämlich als unbezahlte, Arbeitskraft die Volkswirtschaft weiter in Schwung hält. Einige sozialistische Staaten - Ungarn, die Tschechoslowakei und Rumänien - haben auf den Geburtenmangel bereits wieder mit einer Verschärfung der Abtreibungsbedingungen reagiert. In den USA, wo die Abtreibung bisher nur durch ein Urteil des Obersten Gerichtes, und in Frankreich, wo sie mit der Stimmenmehrheit im Parlament legalisiert wurde, aber noch einmal dem Parlament zur Abstimmung vorgelgt werden muß, zeichnen sich Rückschläge ab. Vor allen Dingen am Beispiel von Frankreich, dem klassischen Land der Familienbeihilfen, hat sich jedoch gezeigt, daß auch eine großzügige Familienpolitik kein erfolgreiches Mittel ist, um Frauen für unentlohnte Dienstleistungen der Kindererziehung zurückzugewinnen.[62] Die Alternative - eine konsequente Emanzipationspolitik - wird nur in einigen skandinavischen Ländern verfolgt. In Frankreich und der Bundesrepublik muß sich die Frauenbewegung auf eine Dekade der Einschüchterung und Restauration einrichten.
Auf einer bevölkerungspolitischen Konferenz mit dem Thema »Die Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft« im Mai 1918 hieß es:

»Wer gute Volkswirtschaft machen will, muß vor allem auf eine gute Familienwirtschaft bedacht sein. Darum muß alles, was die Familie und den Familiensinn, das Familienleben erleichtert, fördert, vertieft, nunmehr ganz besonders unterstützt werden, alles, was dem Familienleben abträglich ist, energisch bekämpft werden. Stärkung der Familie, insbesondere der kinderreichen Familie ist dieserhalb die Forderung des Tages, die in den Mittelpunkt aller bevölkerungspolitischen Bestrebungen, ja aller sozial, wirtschafts-, finanz-, kultur-, machtpolitischen Bestrebungen gerückt werden muß. Es darf... kein Gesetz mehr verabschiedet werden, ohne daß es auf seine bevölkerungspolitische Wirkung vorher eingehend geprüft wurde.«[63]

Wer die Haushaltsdebatte des Bundestages Anfang 1979 verfolgt hat, weiß, daß wir uns wieder mitten in einer solchen Auseinandersetzung befinden.