I. „Seite an Seite mit den Männern"?
oder: Frauenunterdrückung, der Nebenwiderspruch der Geschichte
- »Jede Revolution war die bewußte Bemühung, eine herrschende Gruppe durch eine andere zu ersetzen; aber jede Revolution hat auch Kräfte freigesetzt, die >über das Ziel hinausschießen<, die die Abschaffung aller Herrschaft und Ausnutzung anstrebten. Die Leichtigkeit, mit der sie niedergerungen wurden, verlangt nach einer Erklärung. Weder die herrschende Machtkonstellation, noch die Unreife der produktiven Kräfte, noch das fehlende Klassenbewußtsein liefern eine entsprechende Antwort. Es scheint in jeder Revolution einen historischen Moment gegeben zu haben, wo der Kampf gegen die Herrschaft den Sieg hätte erringen können - aber der Moment ging vorüber.«[1]
Sicherlich muß bei der Suche nach den Gründen für das historische Scheitern von Emanzipationsbewegungen die Frage nach den politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen präzise beantwortet werden, um ein unausgeschöpftes Potential emanzipatorischer Möglichkeiten als vorhandene Restgröße bestimmen zu können. Sollte eine objektive Chance, den individuellen und gesellschaftlichen Handlungsspielraum im Sinne von mehr Vermenschlichung zu vergrößern, subjektiv nicht genutzt worden sein, interessieren uns die tieferliegenden gesellschaftlichen Ursachen.
Einen „historischen Moment", den die proletarische Frauenbewegung, die Frauenorganisation innerhalb der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, in dem zitierten Sinne ungenutzt vorübergehen ließ, hat es während ihres Bestehens sicherlich nicht gegeben. Stattdessen findet sich ein umfangreicher Unterdrückungsapparat, angefangen von diskriminierenden politischen Gesetzen gegen Frauen,[2] ihrer Lohndiskriminierung und Ausbeutung im kapitalistischen Produktionsprozeß [3] über ein bei den Männern der eigenen Partei tief verankerten Antifemi-nismus, der den Kampf der Frauen um mehr gesellschaftlichen Einfluß entscheidend behinderte.
Die Arbeiten, die sich mit der proletarischen Frauenbewegung beschäftigen, machen in erster Linie diese Faktoren für ihr Scheitern und ihre Mißerfolge verantwortlich. Dabei lassen sich noch zwei Richtungen global unterscheiden, bei denen die Beantwortung der Fragestellung ausschlaggebend ist, ob es Mechanismen der Frauenunterdrückung gibt, die neben der politischen und ökonomischen Dimension der Frauenunterdrückung, die in den Kategorien 'Herrschaft' und 'Eigentum' gefaßt werden können, eine dritte Kategorie gibt, den 'Sexus', die geschlechtliche Unterdrückung der Frau, die gegenüber politischen und ökonomischen Kategorien eine Eigendynamik entwickeln könne.[4] Für die Beurteilung der Strategie der proletarischen Frauenbewegung ist diese Frage von Bedeutung. Ist das Klassenverhältnis die Bedingung der Unterdrückung der Frau, ist allein der Kampf mit den Männern derselben Klasse erfolgversprechend. Wird hingegen in der Unterdrückung als Geschlechtswesen eine Eigendynamik gesehen, muß in eine Befreiungsstrategie auch der geschlechtliche Unterdrückungszusammenhang Eingang finden, als Kampf, der dann u.a. gegen die Männer der eigenen Partei hätte geführt werden müssen, die die proletarische Frauenorganisation nicht gerade freudestrahlend bei ihrem Kampf für Organisationsziele der Sozialdemokratie, geschweige denn bei ihren Bemühungen um gleichberechtigte Aufnahme in die Arbeiterorganisationen unterstützt haben.[5]
Streng marxistische Auseinandersetzungen mit der proletarischen Frauenbewegung legen ein affirmatives Verhältnis zu deren Aktivitäten und theoretischen Implikationen an den Tag. Auch das Verhalten der männlichen Genossen innerhalb der Sozialdemokratie gegenüber den Frauen, das sich nachgewiesenermaßen als „proletarischer Antifeminismus" (Werner Thönnessen) charakterisieren läßt, erfährt hier kaum Kritik. Frauenfeindliche Tendenzen innerhalb der Partei werden eher da thematisiert, wo sie als Phänomen des Anfangsstadiums der Arbeiterbewegung entschuldigt werden, die aber mit fortschreitender Entwicklung der Arbeiterbewegung überwunden werden konnten.[6] Die proletarische Frauenbewegung propagierte die Vorrangigkeit des ökonomischen und politischen Kampfes auf dem Weg zur Befreiung der Frau, was folgerichtig in der Agitation und im Handeln, den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutungsbedingungen im Produktionssektor und gegen die politische Diskriminierung von Frauen in den Vordergrund rückte. Unmenschliche Arbeitsbedingungen führten zu Forderungen nach dem Achtstundentag, einem wirksamen Arbeitsschutz, der für Frauen besonders begründet wurde, höheren Löhnen etc. Auch auf institutionell politischer Ebene mußten wichtige Rechte erst noch erkämpft werden. So durften sich Frauen in einigen Staaten Deutschlands bis 1908 nicht in politischen Vereinen betätigen, das Wahlrecht erlangten sie erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mit der Weimarer Verfassung.[7]
Diese eindeutige politische Prioritätensetzung verstellte der proletarischen Frauenbewegung den Blick für andere Bereiche, wie die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, wie den scheinbar „privaten" Raum von Haus und Familie, dessen Form sowohl durch die Klassenzugehörigkeit der Partner als auch durch dessen spezifische patriarchalische Form bestimmt ist.[8] Die Kritik an familialen Machtverhältnissen, Antifeminismus in Genossenehen, die Zuweisung der Hausarbeit ausschließlich an die Frauen, die Kritik an der Haltung der Frauen selbst, die diese Rollenteilung weitgehend verinnerlicht hatten, wurde in den offiziellen Äußerungen der proletarischen Frauenbewegung, in ihrer Presse und ihren Konferenzen so gut wie nicht geleistet. Daß hier auch Veränderungen eintreten mußten, war zwar einhellige Meinung, doch wurde die Bedingung für die Lösung des patriarchalischen Geschlechtsrollenverhaltens in der Existenz der sozialistischen Gesellschaft gesehen, in der die ökonomische Bedingung der Befreiung der Frau „als Frau", gegeben sei. Der proletarischen Frauenbewegung fiel im Kapitalismus daher in erster Linie die Aufgabe zu, Seite an Seite mit den Männern gegen die kapitalistischen Ausbeutungsbedingungen zu kämpfen.
Daß durch diese Prämissen die patriarchalischen Machtstrukturen im Alltag der Männer und Frauen legitimiert wurden, übersehen diese erste Gruppe der Autoren in ihren fatalen Konsequenzen für die proletarische Frauenbewegung.[9] In der Partei setzte sich von Anfang an eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung durch, die in Anlehnung an bürgerliche Postulate für die Frauen Aufgaben vorsah, in denen sie ihre Weiblichkeit und Mütterlichkeit entfalten konnten; Bereiche, die zwar von den Männern akzeptiert wurden, aber ein peripheres Dasein führten und niemals die politische Relevanz erlangten, wie das vergleichbare Handeln der Männer. Indem die Frauen die Tätigkeiten weiter verrichteten, die die Geschlechtsrolle bereits für sie vorsah, wie z.B. Arbeiten im vergleichbaren Sinne von sozialer Fürsorge, Kinderbetreuung etc., wurde ihr Alltag Teil der revolutionären Tat, während die Seite der geschlechtsspezifischen Beschränktheit dieser Tätigkeit nicht reflektiert wurde.[10]
Unter den vorliegenden Arbeiten findet sich eine zweite Richtung, die einen Grund für die Schwierigkeit bei der Durchsetzung der Emanzipationsbestrebungen im Verhalten der männlichen Parteimitglieder sieht. Werner Thönnessen [11] weist in seiner grundlegenden Studie an der Theorie- und Organisationsentwicklung und dem politischen Alltag die frauenfeindlichen Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie nach. Eine sehr detaillierte lokalgeschichtliche Arbeit von Molly Nolan [12] legt am Beispiel der SPD-Ortsgruppe Düsseldorf die hemmende Wirkung der Männer auf die Entwicklung der SPD-Frauenorganisation dar. Durch diese Arbeit wird die These erhärtet, daß der „proletarische Antifeminismus" keineswegs ein Phänomen der revisionistischen Linie innerhalb der Partei war, sondern daß er durchgängig sowohl bei Revisionisten und Antirevisionisten verbucht werden konnte, entgegen der in der Literatur zur proletarischen Frauenbewegung weitverbreiteten Meinung.[13]
In diese kritische Richtung tendieren auch Arbeiten, die der Sozialdemokratie eine mangelnde Beschäftigung mit Fragen gewandelter Geschlechterrollen, Familiendynamik, Sexualität und Geburtenregelung, Fragen des Reproduktionssektors usw. vorwerfen.[14] Marielouise Janssen-Jurreit weiß eine Reihe von Beispielen in der Geschichte der proletarischen Frauenbewegung zu nennen, die veranschaulichen, daß es innerhalb der revolutionären Auseinandersetzungen nicht zur kritischen Reflexion der Geschlechterrollen kommen durfte. Den Grund sieht sie in einem einseitig geführten wirtschaftlichen und politischen Kampf der proletarischen Frauenbewegung, der in der Klassenbefreiung hauptsächlich eine Männerbefreiung sah und der die Frauenemanzipation als Nebenversprechen mitschleppte.[15] Damit konnte die doppelte Unterdrückung der Frau im Kapitalismus weder Gegenstand theoretischer Auseinandersetzungen, noch Inhalt der Kämpfe der proletarischen Frauenbewegung werden. Die Unterdrückung der Genossinnen durch die Genossen, wie sie im scheinbaren Privatbereich, abseits von der politischen Arena erfahrbar war, mag auch aus einem anderen Grund nicht offen Gegenstand der Kritik gewesen sein. Es war immerhin zu befürchten, daß die Genossen den geringen Einfluß, den sie Frauen in der Partei zugestanden, noch stärker beschnitten hätten. Die Priorität lag aus theoretischen wie taktischen Überlegungen in der Beantwortung der „sozialen Frage", mit der „Frauenfrage" als ein Bestandteil.16 Das heißt jedoch nicht, daß der Gegensatz von Geschlechterkampf und Klassenkampf von der proletarischen Frauenbewegung problemlos nach der Seite des Klassenkampfes „Seite an Seite mit den Männern" aufgelöst wurde. Das formale Versprechen der Partei, die Genossinnen gleichberechtigt zu behandeln, für die gleichen Rechte der Frauen im politischen und wirtschaftlichen Leben zu kämpfen, bot genügend Zündstoff für Auseinandersetzungen, da die Frauen immer wieder die Erfahrung machen mußten, daß die Männer ihren Versprechungen nur äußerst zögernd nachkamen.
II. Frauen - >freiwillige Opfer< ihrer Unterdrückung?
Zweifellos lassen sich objektive Gründe finden, die es der proletarischen Frauenbewegung schwer machten, ihren Platz zu behaupten und ihre Einflußsphäre auszuweiten, die hinlänglich zur Erklärung ihres letztendlichen Scheiterns ausreichen. In diesem Beitrag soll jedoch eine andere Dimension des Unterdrückungsverhältnisses der Frauen durch patriarchalisch-kapitalistische Strukturen verfolgt werden. Ich möchte nach den Spuren suchen, die soziale Machtverhältnisse in der Psyche von Frauen als „eigene" Erfahrung, als scheinbar natürliche Empfindungen und Gefühle hinterlassen. Dabei ist weiter zu fragen, ob die Integration erfahrener gesellschaftlicher Ohnmacht und Beschneidung menschlicher Möglichkeiten in einem etwaigen weiblichen Deutungszusammenhang von „Welt" eindimensional als diese Beschränkung erscheint, oder birgt die subjektive Umdeutung gesellschaftlicher Machtlosigkeit noch Widerstandsmomente, mit welch unrealistischer gesamtgesellschaftlicher Perspektive auch immer? Für die Erklärung von gescheiterten Emanzipationsversuchen in der Geschichte ist es notwendig, diese individualpsychologische Betrachtungsweise in die Analyse gesellschaftlicher Strukturen hineinzunehmen. Die Unterdrückung der Frauen basiert ökonomisch auf dem weitgehenden Ausschluß von produktiver Tätigkeit als Resultat eines historischen Prozesses, der in der Ausbreitung kapitalistischer Produktionsstrukturen im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt fand. Die damit einhergehende soziale Abwertung nicht-produktiver Arbeit, also auch des häuslichen Bereiches, der historisch eine Domäne der Frauen wurde, verfestigte sich als spezifisch weibliche Erlebnisstruktur in der subjektiven Einengung gesellschaftlicher Handlungsräume. Das mag erklären, weshalb durch eine Änderung äußerer Faktoren, wie verbesserte Berufschancen für Frauen, verstärkte Vertretung von Frauen in öffentlich politischen Institutionen nicht mechanistisch auf ein verändertes Selbstbild und Selbstbewußtsein von Frauen geschlossen werden kann. Nicht allein die Berufstätigkeit der Frauen, d.h. ökonomische Unabhängigkeit vom (Ehe-)Mann, wie sie von der proletarischen Frauenbewegung - allerdings mit einer etwas verschobenen Intention -propagiert wurde, auch nicht eine etwaige finanzielle Entschädigung für die unentgeltliche Reproduktionsleistung der Frauen als Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter führt „automatisch" dazu, daß das Bewußtsein der Frauen von sich selbst eine Erweiterung und Verstärkung erfährt.[17] Dieses Bewußtsein der Minderwertigkeit, Unzulänglichkeit, das weitgehende Fehlen eines ganzheitlichen Identitätserlebens, die „übermäßige Bereitschaft der Frauen, sich mit dem Vorhandenen zu arrangieren"[18], korrespondiert mit der gesellschaftlichen Position der Frau und des Stellenwerts ihrer Reproduktionsarbeit, sprich „Hausarbeit", im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Arbeitsteilung. Die Minderbewertung der weiblichen Tätigkeit im Reproduktionssektor, die nichts zählt, „weil nur zählt, was Geld einbringt"[19], hat in einem langwierigen Prozeß ihren adäquaten Ausdruck im eigenen Erleben der Frauen selbst gefunden, ist Bestandteil ihrer unmittelbaren Erfahrungsstruktur. Anders kann ein Unterdrückungsverhältnis nicht aufrechterhalten werden. Es gehören immer zwei dazu: Der, der unterdrückt und der, der das mit sich machen läßt! Es hilft nicht viel, immer wieder darauf hinzuweisen, daß Mechanismen der Selbstunterdrückung und Selbstbeschränkung an vorhandenen objektiven Möglichkeiten ihre letzte Ursache in gesellschaftlichen strukturellen Machtverhältnissen haben. Der „Eigenanteil" des Subjekts an seiner Unterdrückung ist bisher kaum Gegenstand historischer Forschung gewesen. Dies würde die Frage nach dem Vorhandensein und der Wirkung der psychischen Kontrollinstanzen im historischen Subjekt, die zwar hereingenommene gesellschaftliche Machtstrukturen reflektieren, aber im Innern des Subjekts ein „Eigenleben" führen und anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind, die sich allein mit sozioökonomischen Kategorien nicht fassen lassen, notwendig machen.
Ein Grund für das mangelnde Interesse von Historikern an der psychischen Dimension des Handelns historischer Gruppen wie der proletarischen Frauenbewegung mag darin zu suchen sein, daß das Auffinden des Anteils der „Selbstunterdrückung" bei den Frauen, leicht mit der Frage nach individueller Schuld an der eigenen Diskriminierung verwechselt werden kann.[20] Dies erklärt u.U., wieso gerade die Sozialgeschichte und die Frauengeschichtsforschung der Untersuchung der Selbstbeschränkung der Individuen kaum Interesse entgegenbringen.21 Ihr Verdienst ist es doch gerade, hinter dem Schein von Harmonie und bürgerlichen Freiheiten die kapitalistisch gesellschaftlichen Strukturen analysiert zu haben, die bestimmend für existierende Machtverhältnisse sind. Die Frage nach dem „Eigenanteil" der Unterdrückten an ihrer Lage muß also auf Abwehrreaktionen stoßen, da tatsächlich die Gefahr besteht, daß die Ergebnisse die den „Fremdanteil" (d. h. objektive Machtverhältnisse, ökonomische Strukturen etc.) ausmachen, in dem Sinne relativiert werden könnten: „die Unterdrückten sind ja selbst schuld, wenn sie sich unterdrücken lassen".
Darum geht es mir bei den folgenden Ausführungen über Erscheinungsformen der Selbstbeschränkung bei Vertreterinnen der proletarischen Frauenbewegung nicht. Mir erscheint es jedoch wichtig festzuhalten, daß Unfreiheit und Unterdrückung von Menschen nach wie vor fortexistieren, und daß ein unausgeschöpftes Maß an gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten existiert, humanere und freiere Verhältnisse durchzusetzen. Daß diese Möglichkeiten nicht genutzt werden, kann nicht allein durch objektive Zwänge erklärt werden, sondern hier dürften psychische Barrieren, autoritäre Strukturen im Subjekt mit ausschlaggebend sein, die ihm bestehende Zwänge als „naturgegeben" erscheinen lassen, auf die es selbst keinerlei Einfluß hat, und die in der Geschichte genauso wirksam waren wie gegenwärtig. Diese Strukturen bilden keine anthropologische Konstante. Sie erfahren ihre Bestimmung durch die spezifische ökonomische Struktur von Gesellschaft und wirken umgekehrt in legitimatorischer Weise auf diese zurück, als bewußter oder unbewußter Akt, wobei Frauenforschung sich nicht affirmativ auf die Erfahrungsstruktur bezieht, sondern darin nach den Bruchstellen sucht, nach individuellen Auswegen von Frauen, in denen sich Widerstandsmomente, wenn auch verformt, zeigen. Die Analyse der „inneren" Legitimation von Herrschaft, ihre Phänomenologie und Kritik muß m. E. stärker als es bisher geschehen ist, Eingang in Sozialgeschichte und Frauengeschichtsforschung finden, um eine ganzheitliche Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene wie Emanzipationsbewegungen zu ermöglichen.[22]
Gerade das Beispiel der proletarischen Frauenbewegung zeigt fatalerweise, daß Frauen teilweise aktiv ihre eigene Unterdrückung gegenüber den sozialdemokratischen Männern betrieben haben. Dabei darf nicht vergessen werden, daß sie auf der anderen Seite genauso aktiv ihre Forderungen nach mehr Handlungsspielraum in der Partei erhoben. „Aktive Selbstbeschränkung" umfaßt zwei Dimensionen. Ein stark ausgeprägtes vitales kämpferisches Potential, das in der Form, in der es geäußert wird, letztlich das Unterdrückungsverhältnis zementiert. Ein glühendes Eintreten für die Freuden der Mutterschaft, wie es in den nun folgenden Quellen dokumentiert wird, läßt auf große persönliche Kraft und Energie schließen. In der Realität der Mutterschaft proletarischer Frauen, die häufig durch Fabrikarbeit, Hausarbeit und die vielen Geburten am Rande des körperlichen Ruins angekommen waren, wurde diese Kraft verschlissen.
Die hier ausgewählten Quellen beleuchten nur aus der sehr beschränkten Perspektive der „Gleichheit",[23] des Organs der proletarischen Frauenbewegung, die Frage nach Strukturen der Selbstbeschränkung und den darin eingeschlossenen Momenten, die über die beschränkte Rolle in Richtung auf Ausweitung der gesellschaftlichen Machtressourcen hinausweisen. Grenzen für die Verallgemeinerbarkeit der Quelleninterpretation als Gedankengut der proletarischen Frauenbewegung sind weiterhin dadurch gesetzt, daß hier die Führerinnen der proletarischen Frauenbewegung zu Wort kommen, weniger dagegen die Basis. Die Struktur der Bewegung war nicht einheitlich. Diese Tatsache wird gerade durch den Charakter der „Gleichheit" verwischt, die von der Publikationspolitik Clara Zetkins geprägt war.[24] Ob die Quellen proletarisches weibliches Bewußtsein dokumentieren, muß stark bezweifelt werden. Diese beschränkte Verallgemeinerungsfähigkeit der Aussagen ist bei der folgenden Interpretation zu berücksichtigen.
III. Dem Reich der Freiheit sollst Du Kinder gebären
Versuche zur Domestizierung weiblicher Wünsche
In den Äußerungen der Vertreterinnen der proletarischen Frauenbewegung in der „Gleichheit" lassen sich zwei Ebenen erkennen. In der einen geht es darum, was die Frauen faktisch tun, wogegen sie kämpfen, unter welchen konkreten historischen Bedingungen, mit welchen Mitteln. Hier geht es um Forderungen, Gesetze, Aktionen, um einen harten alltäglichen Kampf, zusammen mit Männern, die das Handeln der Frauen insgeheim oft nicht ernst nahmen und eher hinderlich als fördernd wirkten.
Die zweite erkennbare Ebene liegt in einer Dimension intensiven Wünschens, von weiblichem Erleben, Sehnsüchten, Träumen, Projektionen, die scheinbar losgelöst von sozio-ökonomischen Kategorien thematisiert werden.
Im folgenden Teil möchte ich einzelne Artikel, die im Zeitraum von 1898 bis 1914 in der „Gleichheit" erschienen sind, im Hinblick auf die hier transportierten verschlüsselten Botschaften der Frauen untersuchen.
Ein immer wiederkehrendes Thema der „Gleichheit" ist die Mutterschaft der Frau. In einem Artikel, der Weihnachten 1904 erschien, wird offenbar, in welchen Formen sich weibliches Erleben und Sinnlichkeit bewegt. Der Artikel ist ein Angriff auf die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die die Fähigkeit der Proletarierin, gesunde Kinder zu gebären, durch unmenschliche Lebensbedingungen gefährdet, aber im Weihnachtsfest heuchlerisch die Geburt des Kindes und Mutter Maria feiert. Auch plädiert die Verfasserin dafür, die sexuelle Betätigung, die der Mutterschaft vorausgeht, von christlichen Sexualtabus zu befreien, die darin ein notwendiges Übel sehen. Dies ist die Ebene der Rationalität, die den Schein des kapitalistischen Profitdenkens und christliche Moralheuchelei entlarvt. Daneben finden wir die deutliche Botschaft, um was es sonst noch geht:
»Der Mutter, der Mutterschaft ihr Recht! Kein Altar mehr, kein Weihrauch für die eine Gottesmutter, aber ungehemmte persönliche Entfaltung, gerechte soziale Wertung, wirksame Fürsorge für die Millionen Menschenmütter. Die Mutterschaft werde befreit von dem Banne der erniedrigenden christlichen Auffassung, daß das glühende Begehren, welches Mann und Weib einander in die Arme zwingt, niedriger Art sei, ein Ausfluß menschlicher Schwäche und Unvoll-kommenheit, ein unvermeidliches Übel, das nur mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis, amtlich abgestempelt einen Anspruch auf Duldung gewinne. Sie werde befreit von dem Joche der beschmutzenden gesellschaftlichen Einflüsse, welche die Vereinigung von Mann und Weib aus einer Tat reifster Freiheit und reinster Liebe in einen gemeinen Schacher verwandeln. Sie werde der Schmerzen, Lasten und Konflikte ledig, mit welchen die kapitalistische Ausbeutung sie für die Armen verquickt.
- Jede Nacht, in der die Liebe gibt und empfängt, ist eine heilige Nacht. Jede Mutter ist berufen, Heilsgebärerin zu sein, ein Leben zu tragen, das in Höherem als einer erdichteten Göttlichkeit, das in voller Menschlichkeit beschlossen ist, ein Leben, das in strebendem Bemühen an sich selbst zum Erlöser, an der Menschheit zum Wohltäter wird. Erst die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft, erst der Sieg der sozialistischen Weltanschauung wird die Mutterschaft in unverletzter Reinheit und Heiligkeit erstehen lassen. Die Messiasgebärerin der Menschheit ist das freie, in edler Menschlichkeit erblühte Weib, das in Erkenntnis mütterlicher Kraft und mütterlicher Pflicht des Gatten wählt und Kindesleben trägt und erzieht. Das Heil der Menschheit kommt nicht von der demütigen Magd, die erklärt: 'des Herrn Wille geschehe', es ruht in den Händen des Weibes, das im stolzen Bewußtsein persönlicher Entfaltung und persönlichen Strebens als Zeugende und Erziehende sagen darf: 'Hier sitze ich und forme Menschen nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei. Auch als das Fest der Mutter mit dem Kinde ist Weihnachten das Symbol unerfüllter Verheißung. Nicht hinter, vor dem Weibe liegt, was es inbrünstig ersehnt, und nicht frommes Beten, zielklarer Kampf schenkt ihm die Zukunft. Unter dem Wettern und Stürmen des proletarischen Klassenkampfes dämmert der Weihetag freier, reiner, geheiligter Mütterlichkeit.«[25]
Die „unverletzte Reinheit" und „Heiligkeit" der Mutterschaft wird hier verteidigt. Sie ist bedroht, weil sie mit sinnlicher Liebe, mit sexueller Lust zwischen Mann und Frau in Verbindung gebracht wird. „Das glühende Begehren, welches Mann und Weib einander in die Arme zwingt", kann nicht wegrationalisiert, es muß unweigerlich erlebt werden. In dieser Form hat es nichts mit Kameradschaft oder ,Erhaltung der Art' zu tun.26 Die sexuelle Vereinigung ist hier die „Tat reifster Freiheit und reinster Liebe". Dieses natürliche Erleben ist aber bedroht, unter einer Woge von Schuldgefühlen und gesellschaftlichen Sexualtabus unterzugehn. Deshalb ist sinnliche Liebe zwischen Mann und Frau nur unter Beschwörung der Zeugungsabsicht erlebbar. Auch in diesem zitierten Beispiel, obwohl zunächst ein gegengesetzter Eindruck entsteht. Der natürliche Umstand der Mutterschaft wird ins mystische verzerrt.
- »Die Messiasgebärerin der Menschheit ist das freie, in edler Menschlichkeit erblühte Weib, das in Erkenntnis mütterlicher Kraft und mütterlicher Pflicht den Gatten wählt und Kindesleben trägt und erzieht.«
Der 'sinnlose Trieb', der einen Selbstzweck in der körperlichen Vereinigung zwischen Mann und Frau sieht, wird durch das Bild der „Heilsge-bärerin" dem Sumpf reiner Körperlichkeit entzogen, damit vor sich selbst legitimiert und in ein tradiertes Denkschema eingepaßt. Das subjektive sinnliche Erleben muß nicht gänzlich tabuiert werden, es wird lediglich in religiöse Kategorien transformiert und damit - wenn auch gebändigt - erhalten. Umgekehrt heißt das, daß dem Trieb, der Lust, per se kein Sinn zukommt, erst durch sein Eingebundensein in Ordnungsmetapher kann er erlebt werden. Das Ausleben vitaler Bedürfnisse hieße bestehende gesellschaftliche Ordnungsstrukturen durchbrechen, die Fremdbestimmtheit der Wünsche in Richtung auf ein authentisches Identitätserlebnis überschreiten. Die Angst, sich in diesem Neuland zu verlieren, sich aufzulösen, keine eigene 'Ökonomie der Bedürfnisse' zu finden und zusätzlich gesellschaftlichen Angriffen ausgesetzt zu sein, mag eine Erklärung dafür liefern, daß hier Erlebnisse von Lust und Sinnlichkeit befriedet und getarnt werden mußten. Wir erhalten aus dem angeführten Abschnitt eine zweite Botschaft, die ebenfalls durchgängig in den entsprechenden Artikeln der „Gleichheit" auftaucht.
- »Das Heil der Menschheit kommt nicht von der demütigen Magd, die erklärt: ,des Herrn Wille geschehe', es ruht in den Händen des Weibes, das im stolzen Bewußtsein persönlicher Entfaltung und persönlichen Strebens als Zeugende und Erziehende sagen darf: >Hier sitze ich und forme Menschen nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei.<«
Hier steht der Wunsch der Schreiberin nach uneingeschränkter Autonomie, Unversehrtheit, grenzenloser Allmacht. Die Frau als Mutter bildet eine autarke Entität. Sie zeugt sich selbst. Ich sitze da und forme Menschen nach meinem Bilde! In diesem Satz wird die grandiose Allmachtsphantasie erlebt, die die alltäglichen Demütigungen, die Schmach, als Frau geboren zu sein, vergessen läßt. In dem Maße, wie ihr eigenes Erleben, ihre Sinnlichkeit tagtäglich mit Füßen getreten wird, greift die Frau zum Mittel der phantastischen Wunschproduktion, wenn ihr andere Wege nicht offen stehen. In diesem Zukunftsentwurf sind keine Männer mehr vorgesehen. Die allmächtige Frau entscheidet über Leben und Tod. Damit rächt sie sich für die ihr angetane Erniedrigung in einem schlechten Leben. Sie ist Göttin, Mutter Erde, ganz wie es der Mythos verheißt. 1910 heißt es an anderer Stelle:
- »Die Zukunft ist der Acker, auf dem die Saaten der Arbeiterklasse reifen. Die Zukunft aber liegt in einer körperlich, geistig, sittlich gesunden proletarischen Jugend beschlossen. Eine solche Jugend bedarf der Mütter, die kraftstrotzenden Leibes Kinder tragen, gebären und nähren, die hellen, kühnen Geistes und starken, treuen Herzens Nachkommen erziehen.«[27]
Das Wohl der Menschheit liegt in der Hand der Mütter. Sie sind über alle Klassenunterschiede hinweg die alleinigen Schöpferinnen menschlichen Lebens und die Garantinnen der Zukunft. Führen wir uns vor Augen, wie die Situation der proletarischen Mütter zu diesem Zeitpunkt wirklich aussah, so werden diese Zukunftsprojektionen verständlich. Es ist nachvollziehbar, daß Männer in diesem utopischen Entwurf nicht einmal als Zeugende vorgesehen sind. Die seitenlangen Schilderungen proletarischer Häuslichkeit in der „Gleichheit", das Elend des Familienlebens, in dem die Frau die Dienstmagd des Mannes und der Kinder war, ganz gleich, ob sie ebenfalls berufstätig war oder nicht und das gleichzeitige Unangetastetlassen patriarchalischer familialer Strukturen,28 lassen die Zukunftsvisionen von einem klassenlosen Frauenstaat als letzte Konsequenz nicht erfüllter weiblicher Bedürfnisse erscheinen. Mittels dieser Hintertür wurde nicht eine Änderung im eigenen konkreten Leben anvisiert. Die Wunschproduktion, die hier auf Erfüllung gedrängt hätte, wurde in die Zukunft projiziert. Die Frauen verzichteten auf Freiheit und erotische Befriedigung in der Ehe, im Verhältnis zu den Genossen, schalteten aber in ihren Entwürfen die Männer vollkommen aus. Die reale Konfliktbewältigung mit dem Partner wurde nicht geleistet. Der Ausbruch endete im Mythos. Gleichzeitig machten sich die Frauen unangreifbar in der Beteuerung maßloser Pflichterfüllung, die aber ständigen Zweifeln nicht Herr werden konnte, allen denkbaren Ansprüchen nicht zu genügen. Damit sind wir bei einem dritten Moment, das übersteigerte Pflichtbewußtsein, das die Schuldgefühle als Reaktion auf erlebte Befreiungswünsche niederhalten soll. Die Frauen mußten glaubhaft machen, daß sie im Ausleben ihrer Macht- und Unabhängigkeitsbedürfnisse nichts anderes als ihre Pflicht gegen Mann, Kinder und Vaterland erfüllten.
In einem Artikel von 1914 >Wir Mütter< heißt es:
- »Wir wären nur Weibchen, keine Mütter, wollten wir unsere Aufgabe darin erschöpft sehen, daß unser Leib die Gußform des Kindes ist. Durch unseren Geist muß das heranwachsende Geschlecht hindurch, wenn wir unsere Pflicht ganz erfassen. Tun wir diese unsere Pflicht! Muttermacht geht über die Rücken und Tücken äußerer Gewalt, geht auch über Kriegsrecht. Muttermacht kann und darf nur eines vorbereiten: die künftigen Siege des Sozialismus. Ihnen leben wir, für sie erziehen wir die Kinder, wir Mütter.«[29]
Oder 1898:
- »Freiheit für die Frau, alle Seiten ihres Wesens kräftig und harmonisch entwik-keln und ausleben zu können. Das Weib und der Mensch in ihr müssen nebeneinander und miteinander zu voller Entfaltung gelangen, ungehemmt durch äußere Schranken, welche die Entwicklung nach der einen oder anderen Seite hin gewaltsam in eine Bahn lenken, ihren Fluß unterbrechen, manche Eigenschaften ertödten oder verkümmern lassen, andere wieder künstlich großziehen. Nur die Frau, die ein weiblicher Vollmensch in des Wortes bester Bedeutung ist, vermag als Mutter, Gattin, Bürgerin das Höchste zu leisten. Sie besitzt klare Erkenntniß ihrer vielseitigen Aufgaben und Kraft, sie zu erfüllen; mit liebevollem Verständnis und achtungsvoller Rücksicht steht sie Dritter Eigenart gegenüber; geduldig und muthvoll vertieft sie sich in die schwierigen Probleme des Mensch- und Gesellschaftslebens; mit nie versagender Thatkraft ist sie jederzeit zum Handeln bereit. Das Leben und Wirken in der Allgemeinheit läßt ihr die hohe Bedeutung ihres Wirkens in der Familie klar erkennen. Die Pflichtleistungen im häuslichen Kreise schärfen ihren Blick und üben ihr Können für die Be-thätigung im öffentlichen Leben. In der Welt und in der Familie wurzelnd und thätig vermag sie den Mann im Hause wieder ganz heimisch zu machen.«[30]
Der Drang, alle Seiten des weiblichen Wesens zu entfalten, kann sich nicht durch das Erleben der beschädigten, beschnittenen weiblichen Identität legitimieren. Der Wunsch „identisch", „ganz" zu sein, wird in seiner Eindeutigkeit nicht erlebt. Er braucht als Maß des Auslebens den institutionellen Rahmen, eine vorgegebene Ordnung, damit gar nicht erst der Gedanke entsteht, die Frau könnte den Wunsch haben, etwas ausschließlich einzig und allein für sich selbst zu wollen. So werden die Anderen erschaffen, die Allgemeinheit, das Volk, der Staat, der Gatte, die Kinder, die sozialistische Gesellschaftsordnung, die Arbeiterklasse, die sich des 'wilden Freiheitsdranges des Weibes' bedienen. Sie spannen ihn vor ihre eigenen Zwecke, machen ihn damit gefügig und auch ungefährlich.
Wir müssen uns bei all dem vor Augen führen, daß wir es hier mit den Phantasien und Projektionen der Frauen zu tun haben. Sie selbst waren es, die sich in ihrer Wunschproduktion derart beschnitten, daß als Relikt nur die gebändigte Sinnlichkeit übrigblieb, daß die eigene Wahrnehmung unter tausend Ansprüchen unterging. Der „weibliche Vollmensch", der als Mutter, Gattin und Bürgerin das Höchste leistet, sollte den Männern die Emanzipation der Frauen schmackhaft machen, diese aber auch vor den Frauen selbst legitimieren. Der unver-schleierte Drang, die Wünsche auszuleben wäre zu bedrohlich gewesen. Für Andere leben, sich aufopfern, zerfließen, ,Sozialarbeit' an Mann und Kindern leisten, .seine' Ideale heben, die eigene authentische Aktivität als 'Nur-Mütterlichkeit' tarnen, beschwichtigt nicht nur die Angst vor dem Unbekannten, der Entdeckung von sich selbst, sondern beruhigt auch die Gegner - in den eigenen Reihen, wie in den Reihen der Männer.[31]
- »Aus dem eigenen reichen, weiten Wirkungskreis heraus erwächst ihr das ungetrübte Verständniß seines (des Mannes, d.V.) Strebens, Ringens, Schaffens. Nicht mehr als gehorsame Magd, nicht bloß als treu besorgte Pflegerin und Hauswirthin steht sie ihm zur Seite, vielmehr als überzeugte, warmfühlende Hegerin seiner Ideale, als Gefährtin seiner Kämpfe, als Genossin seines Mühens und Schaffens, geistig = sittliche Förderung gebend und empfangend... Die starke, klare, in sich gefestigte mütterliche Individualität kann starke Individualitäten zeugen und erziehen; unter der Obhut und dem Einfluß der klarblickenden, schaffensfreudigen Gesellschaftsbürgerin wächst ein Geschlecht heran, dem Bürgertugenden eignen, statt des kleinlich = beschränkten Familienegoismus. Die hohe Entwicklung und freie Bethätigung der Frau als Mensch ist die beste Bürgschaft dafür, daß die Frau im Leben des Mannes und der Kinder eine lebendige Kraft bleibt, statt zur Reminiszenz zu werden an die Tage der ersten Liebesleidenschaft für den einen, an die Zeiten der kindlichen Hilflosigkeit und sorgenden Muttertreue für die anderen. So raubt das Ausleben der Frau als Mensch der Familie nichts, es gibt ihr; es vertieft, erweitert, versittlicht den Inhalt des Heimlebens, der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Mutter und Kind.«[32]
Diese Zeilen spiegeln ein tatsächliches Moment proletarischen Familienlebens (aber nicht nur proletarischen Familienlebens!). Durch seine Berufstätigkeit und als Repräsentant der Gesellschaft wird dem Mann ein weit höheres Maß an Intelligenz und sozialem Einfluß unterstellt. Nach innen, also in der Familie, füllt er nicht selten die Rolle eines verwöhnten Kindes aus, das abhängig von der größeren Emotionalität der Frau ist, und das auf der Durchsetzung seiner Interessen besteht. Diese tyrannisch-infantile Seite des Mannes wird von der Mutter einerseits gefördert, andererseits insgeheim verachtet. Die Frau, dazu da, die Regressionsbedürfnisse des Mannes zu befriedigen, leistet die psychische Reproduktionsarbeit in der Familie. Die Familie gilt als der Schonraum, als „Gegenstruktur zur Gesellschaft".[33] Dies verschafft der Frau zum einen eine mächtige Position, wenn der Mann kindliche Bedürfnisse auf sie projizieren kann, verwehrt ihr aber andererseits das Ausleben anderer, nichtmütterlicher Bedürfnisse.[34] Genossenehen waren häufig dadurch konfliktbeladen, daß der Mann seiner Parteiarbeit nachging und sich kaum noch ums Familienleben kümmerte, andererseits aber von der Frau alles das erwartete, was er selbst nicht leisten konnte und wollte. Für die „Beziehungsarbeit" war allein die Frau zuständig. Das Phänomen des Auseinanderlebens äußerte sich z. B. darin, daß Frauen häufig die Parteiarbeit des Mannes zu verhindern suchten, da dies für sie nur bedeutete: Er geht wieder weg und läßt mich mit den Kindern allein. In dem Moment, wo ihm die Frau aber nicht nur als Pflegerin und Hauswirtin zur Seite steht, sondern als »überzeugte, warmfühlende Hegerin seiner Ideale, als Gefährtin seiner Kämpfe, als Genossin seines Mühens und Schaffens«, wird der Mann auch zu Hause wieder heimisch. Für die Frauen würde das die Anerkennung ihrer Bemühungen, ihres Selbstverzichts bedeuten.
Das Problem ist unschwer zu erkennen. Die Frauen konstatieren ein Gefälle zwischen dem durch die Parteiarbeit geschulten Mann und seiner Frau, die in erster Linie von ihm als Gattin, Hausfrau und Mutter gesehen wird. Doch wie das Problem gelöst werden soll, wirft wieder ein Licht auf das Ausmaß des >Sich selbst nicht erfahrens<. Eigenes Erleben kann nur über den Mann vermittelt werden. Er verkörpert das Maß eigener weiblicher Entwicklung. Kann die Frau ihm gegenwärtig das Wasser nicht reichen, so muß sie höher steigen, bis sie ihn erreicht. Eine Partnerschaft, in der sich beide in ihrer Bewegung angleichen, doch trotzdem jeder seinen eigenen Weg geht, ist nicht vorgesehen. Damit wächst zwar die Frau, doch ist es nicht ihre eigene Identität, die sie hier aufbaut. Indem sie ihre spezifisch weiblichen Wünsche dem männlichen Maß unterwirft, wird deren Inhalt „versittlicht". Wir müssen uns nach dem Inhalt der weiblichen Wünsche fragen. Es sind die vitalen Bedürfnisse, sich als Frau zu fühlen, bei denen die sinnlichen sexuellen Antriebe eine deutliche Rolle spielen. 'An sich' aber ist der Trieb roh, tierisch, erst im Hinblick auf das Ganze ist sein Inhalt „sittlich", wird er gesellschaftsfähig, aber damit seiner weiterreichenden Implikationen beraubt. Seine Anbindung an das Ganze nimmt ihm aber auch seine Sinnlosigkeit. Das Identitätserlebnis ist gerettet, auch wenn es nur in verschleierter Form möglich ist.
- »Von Ausnahmen abgesehen, ist bei sonst gleicher Veranlagung und Kraft die Frau in der Welt die stärkste und leistungsfähigste, die Liebesglück genossen, Mutterfreude empfunden hat, die Hand in Hand mit einem geliebten Manne vorwärts schreitet, umringt von gesunden, begabten Kindern, in denen das Beste der Eltern heranreift. Im Allgemeinen bringt eine solche Frau für die Aufgaben in der Gesellschaft einen größeren Fonds an Kraft und Lebensfrische, an Klarheit und Verständnis mit, als das abgehärmte ältere Mädchen, die unverstandene, wohl gar gemißhandelte Gattin, das beschränkte Mannweib. Das Ausleben der Frau als Weib vernichtet nicht das allgemein Menschliche in ihr, bewahrt vielmehr vor einer äußerlichen, oberflächlichen Kopie des Männlichen. Und das höchste Emporblühen des Menschlichen in ihr tödtet nicht das Weibliche, sondern drängt nur das Weibische zurück, das in Folge einer gehemmten Entwicklungsfreiheit so üppig wie verderblich ins Kraut schießt. Eine äußerlich unbeschränkte soziale Entwicklungsfreiheit der Frau hebt die weibliche Eigenart keineswegs auf, um Mannweiber zu schaffen, die sklavisch abgucken, wie die Vertreter des ,starken Geschlechts' sich räuspern und wie sie spucken. Sie ist vielmehr die Vorbedingung dafür, daß die weibliche Eigenart sich unbeirrt durch künstliche und verkünstelnde Einflüsse entfaltet, daß die Frau in Familie und Gesellschaft wirkt, dem Manne gleichwerthig, aber anders als er, ihrer geistig = sittlichen Individualität nach differenzirt von ihm, aber ihm nicht entfremdet, so daß bei aller Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Persönlichkeit die Einheit gewahrt bleibt, der Gegensatz sich zur Harmonie zusammenschließt.«[34]
Die Frau ist also die stärkste und leistungsfähigste, die Liebesglück genossen hat! Erst an zweiter Stelle stehen die Mutterfreuden. Die Betonung liegt auf dem aktiven weiblichen Erleben von Lust und Sinnlichkeit ohne den Zusatz, daß die Frau damit arterhaltend wirke. In diesem Erleben ist die Frau anders als der Mann, besitzt hier ihre Eigenständigkeit. In dem „Das Ausleben der Frau als Weib vernichtet nicht das allgemein Menschliche in ihr" schlägt sich die Angst der Frauen vor ihrer eigenen Sinnlichkeit nieder, die die Frauen selbst so erlebten. Was hervorbricht, wenn das allgemein Menschliche vernichtet ist, kann nur das Dunkle, Triebhafte, Unberechenbare, Tierische sein. In diesem Konflikt ist die Frau allein. Dieses Thema ist unter den Frauen tabu gewesen. Offen wird es nie in der „Gleichheit" thematisiert. Es bewegt sich in vagen Andeutungen, mystischen Verklärungen, versteckt sich hinter Metaphern. Jede Frau muß diesen Konflikt individuell lösen. Sie löst ihn, indem sie umso eifriger dient. Als Dienerin der Zukunft, als Dienerin des Gatten und der Kinder bringt sie den Konflikt eine Zeitlang zum Schweigen. Nur in ihrer Phantasie kann sie sich mit dem „weiblichen Vollmenschen" identifizieren - gegen die Männer - um das Gefühl zu haben, daß sie aus sich selbst heraus existiert, unabhängig ist. Die Flucht aus der Realität ist die Waffe. Gegen die bedrohte Existenz ihrer Wünsche und ihres weiblichen Erlebens hilft ihr die Auslagerung dieses subjektiven Anteils aus dem Alltag in eine visionäre Zukunft. Nur in der Identifikation mit der imaginären Supermutter kann weibliche Kraft erlebt werden. Hier bleibt auch die Strafangst aus. „Eigentlich sind wir Frauen stärker", heißt die Botschaft. Die Angst des Mannes vor übermächtiger Weiblichkeit wird dadurch versucht zu mildern, daß es letztendlich ja nur Mann und Kindern dient, wenn der weibliche Vollmensch seine Kraft entfaltet.
Diese psychische Verarbeitung des Konflikts, im wesentlichen weibliche Machtressourcen zu sichern, und das gegen immense gesellschaftliche Widerstände, konnte die beschriebenen Erlebnismuster herausbilden. Eine andere Frage ist, welche konkreten historischen Möglichkeiten und Handlungschancen die proletarische Frauenbewegung in sozialen, politischen, ökonomischen und zwischenmenschlichen Feldern besaß. Wir wissen, daß es hier keine offenen Türen einzurennen gab, wenn nur erst der individuelle Wunsch, dies zu tun, in aller Deutlichkeit hätte erlebt werden können. Gesellschaftliche Machtstrukturen bedingen immer eine entsprechende subjektive Erlebnisstruktur, in der das Moment der Freiheit zwar nicht ganz ausgemerzt ist, doch in seiner Ausformung und Artikulation die Male seiner Beschneidung und Unterdrückung noch trägt.
Hier wurde der Frage nachgegangen, welche Barrieren sich im psychischen Erleben der Frauen stellten und schon so verhinderten, daß weibliche Autonomiebestrebungen in Reinform ohne Mystifizierung erlebt werden konnten. Die Selbstbescheidung der Frauen hat ihre Ursachen nicht in deren Bedürfnis, freiwillig ein Opfer zu sein, sondern ist Ausdruck herrschender Machtstrukturen und Resultat einer geschlechtsspezifischen Sozialisation, die in den hier zitierten Quellen ihre bürgerliche Herkunft nicht leugnen kann.35 Die Anpassung an diesen Rahmen birgt jedoch eigene Widerstandsmomente, die hier in ihrer Irrationalität nachgezeichnet worden sind. Im Bewußtwerden der objektiven Schranken liegen die Chancen, das Bedürfnis nach Ausweitung gesellschaftlicher Handlungsräume in realistische Durchsetzungswege zu leiten. Die gesellschaftliche Bestimmtheit der Geschlechterbeziehungen konnte von der proletarischen Frauenbewegung noch nicht mit sämtlichen Implikationen analysiert werden. Alternativen hierzu bleiben nicht zuletzt deswegen im Bereich des 'übersinnlichen', der Gesellschaftslosigkeit.
IV. Gattinnen und Mütter für den Sozialismus
Der rollenkonforme Einsatz der Genossinnen in der Sozialdemokratie
Zwischen der proletarischen Frauenbewegung und der männerbeherrschten Sozialdemokratie setzte sich eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung durch, die das eigene Selbstverständnis der Frauen noch einmal in ihren alltäglichen Aktionen spiegelte. Die Frauen sahen ihre spezifischen Aufgaben darin, Forderungen zum Arbeiterinnen-, Mutter- und Säuglingsschutz zu entwickeln, sie organisierten die Betreuung proletarischer Kinder, griffen in der „Gleichheit" die Probleme der Hausfrau und Mutter auf, beschäftigten sich mit Erziehungsfragen, leisteten während des Krieges karitative Dienste im kommunalen Bereich und halfen der Partei bei wichtigen Anlässen wie z.B. Wahlen durch unermüdliche Kleinarbeit, was die Männer nicht ungern sahen, reproduzierte sich doch in dieser Tätigkeit das überlieferte Rollenverständnis, das die Aufgaben der Frauen klar als die unscheinbare Tätigkeit hinter der Front definierte. Außerdem war diese Tätigkeit aufreibend, mühselig und von den Männern wenig geschätzt. Diese Art Arbeit bildete aber nicht selten die Voraussetzung dafür, daß sich die Kämpfer überhaupt auf dem öffentlichen Schauplatz bewegen konnten. Anläßlich der Reichstagswahlen 1903 heißt es in der „Gleichheit":
- »Genossinnen halfen fleißig beim Abschreiben und Führen der Wählerlisten, beim Adressenschreiben, beim Austragen und Verteilen der Stimmzettel, beim Verbreiten der Wahlflugblätter etc. Sie beteiligten sich eifrig an dem Sammeln von Geldern, agitierten für den Besuch der Versammlungen, suchten im Privatverkehr der Sozialdemokratie Stimmen und Anhänger zu werben und waren am Wahltag unermüdlich, um säumige Wähler aufzuspüren und zur Urne zu führen. Sie kletterten in den großen Mietskasernen treppauf, treppab und wanderten, sozialdemokratische Flugblätter und Broschüren verteilend, vor die Tore der Fabriken, hinaus in die Vororte, die Dörfer. Gerade bei Verteilung der Wahlliteratur hat sich gezeigt, welch äußerst wertvolle Mithilfe die Frau leistet. Aus ihrer Hand, auf ihren freundlichen, überzeugenden Zuspruch hin wurden Flugblätter und Schriftchen in gar mancher kleinbürgerlichen und bäuerlichen Wohnung entgegengenommen, deren Türe einem Genossen vor der Nase zugeschlagen worden wäre.«[36]
Die Männer erkannten, daß sich die Frauen in gewisser Hinsicht besser für die Agitation eigneten, quasi als Lockvogel, und hatten auch unter diesem Gesichtspunkt nichts dagegen einzuwenden. Daß es vielen Genossen nicht in erster Linie darum ging, weibliche Mitglieder für die Partei zu gewinnen, sondern dem negativen Einfluß der politisch rückständigen Ehefrauen der Genossen entgegenzuarbeiten, zeigt eine Broschüre des Landessekretariats der SPD Hessens, in der es unter Punkt „Die weiblichen Mitglieder" heißt:
- »Die tüchtigsten Genossinnen lade man zu einer Besprechung ein und höre ihren Rat über die Agitationsmöglichkeiten unter dem weiblichen Proletariat des Ortes. Dann beteilige man sie an der Arbeit, übertrage ihnen Funktionen, z. B. Austragen der Gleichheit usw. Diese weiblichen Funktionäre müssen dann auch in der Agitation beteiligt werden, Flugblätter verbreiten usw. ... Es empfiehlt sich, den weiblichen Mitgliedern die Gleichheit zu verabfolgen.«[37]
Da die proletarische Frauenbewegung ihrem Selbstverständnis nach keinerlei Sonderziele innerhalb der sozialistischen Bewegung verfolgte, betrachtete sie es als ihre Pflicht, genau diese Funktion für die Sozialdemokratie zu erfüllen. Die Männer, die zu Hause „den Genossen an den Nagel hängten" und sich von ihren Frauen bedienen ließen, beklagten sich auf der anderen Seite, daß diese so rückständig waren und spannten die Genossinnen ein, diesem Übel abzuhelfen. Die mangelnde Vertretung der Fraueninteressen in der Partei machte es wiederum notwendig, daß die Frauen in ihrer politischen Tätigkeit die vernachlässigten Bereiche aufgriffen und diese in Einklang mit dem Klassenkampf des Proletariats zu bringen suchten. Das schwierige Unterfangen, angesichts der frauenfeindlichen Tendenzen in der Partei dieser doch die Stange zu halten und in ihr die Vertreterin der Fraueninteressen zu sehen, die es zu unterstützen galt, machte die Tragik der proletarischen Frauenbewegung aus. Deshalb begnügten sich die Genossinnen mit den selbstgewählten ,Sonderaufgaben' innerhalb der Bewegung, die Ausdruck des geschlechtsspezifischen Rollenverständnisses waren.
Werner Thönnessen sieht in der Tatsache, daß sich die Frauen von den radikalen Emanzipationsbestrebungen den konkreten Möglichkeiten der Verbesserung ihrer Situation zuwandten, den Grund, daß die proletarische Frauenbewegung in die Gesellschaft integriert und um ihre Emanzipation betrogen wurde.[38] Diese Position erscheint mir nicht stichhaltig, da sie voraussetzt, daß die „radikalen Emanzipationsbestrebungen" die Emanzipation der Frauen als strukturelles Moment enthielten. Davon kann jedoch nach den bisherigen Ausführungen nicht ausgegangen werden. Nicht daß sie sich den konkreten Möglichkeiten der Reform zuwandten, sondern wie sie es taten muß m. E. in Betracht gezogen werden.
Der Reformismus, der in der proletarischen Frauenbewegung nach 1900 Fuß faßte, ist nicht mit dem Revisionismus der Partei zu verwechseln, der ganz offen von den Emanzipationsbestrebungen der Frauen Abstand nahm und sich in Edmund Fischer exponierte, der der Frau allein den Platz in der Familie zugedachte.[39]
Das Rollenklischee, das die Frau auf die Funktion als Mutter, Gattin und Hausfrau reduzierte, konnte von den proletarischen Frauen nicht angegriffen werden. Sie leisteten ihm im Gegenteil Folge durch die Art und Weise, wie sie ihre spezifischen Aufgaben in der Sozialdemokratie wahrnahmen. War die Festschreibung auf die biologische und soziale Mutterschaft zum einen Ausfluß der antifeministischen Haltung der Partei, so machte die proletarische Frauenbewegung das Problem „Mutterschaft" mit allen Begleitfolgen zum Aufhänger ihrer Agitation unter den Frauen. Die Proletarierin wurde als Mutter angesprochen, wenn es sich um die Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit handelte, als Mutter während der Friedenskundgebungen der Frauen im Ersten Weltkrieg. Nur als Mutter ihres Sohnes im Felde und als Ehefrau sollte sie ein Interesse an der baldigen Beendigung des Krieges haben. In ihrer Eigenschaft als „Mutter für viele"[40] arbeitete die Frau in den Kinderschutzkommissionen. Ihren Beitrag für die Zukunft leistete sie als Gebärerin des proletarischen Heldengeschlechts, als Bildnerin der Kinder im Geiste des Sozialismus, damit der Kampf des Proletariats siegreich zu Ende geführt werden konnte.
Die proletarische Frauenbewegung wollte ihre Geschlechtsgenossinnen nie ihrer Pflichten als Gattinen und Mütter entfremden, so liest
sich zumindest die offizielle Version, sondern dazu beitragen, daß sie diese vollkommener erfüllen können, weil an ihrem ganzen Handeln
immer der Makel der Unzulänglichkeit klebte.
Die organisatorische Trennung der proletarischen Frauenbewegung von der Sozialdemokratie, die bis 1908, dem Fall der Vereinsgesetze,
die Frauen die politische Betätigung in Vereinen untersagten, bestand, gewährleistete zwar ihre Sonderstellung gegenüber den männlichen
Genossen, aber bot keine Chance, eine Autonomie in ihren Theorien über die Befreiung der Frau zu entwickeln, die sich in einer entsprechenden Praxis hätte niederschlagen können. Die Frauen wurden nicht nur mit dem Antifeminismus von außen konfrontiert, die Behinderung war immanent in ihrer eigenen Art und Weise zu Handeln verhaftet.
Die Gegensätze zwischen den Geschlechtern konnten nicht offen aufbrechen, da sie von den Frauen immer wieder durch Klassensolidarität gekittet wurden.
Die proletarische Frauenbewegung hat es versäumt, zusätzliche Kategorien für ihre Befreiung zu entwickeln, die auch das Ziel des Sozialismus beinhalteten, aber einen anderen Weg notwendig gemacht hätten, auf dem Männer und Frauen ein Stück Wegs gemeinsam hätten gehen können, denn um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Entfremdung aus der Welt zu schaffen, stellt sich eine kapitalistische Gesellschaftsordnung in jedem Fall als gemeinsamer Gegner der betroffenen Männer und Frauen.
Daß die Klassensolidarität in erster Linie von den Frauen geübt wurde, zeigte sich nach 1908, als die Sozialdemokratie daranging, die proletarische Frauenbewegung noch mehr zu vereinnahmen und auf die Parteilinie einzuschwören, als diese es schon von sich aus tat. Mit dem Fall der Vereinsgesetze war es formal nicht mehr notwendig, den alten Organisationsstatus der getrennten Frauenorganisation beizubehalten. Die Frauen hatten die Möglichkeit, sich unmittelbar in der Sozialdemokratie zu organisieren und als ordentliche Parteimitglieder registrieren zu lassen. Gegen den Protest vor allem von Berliner Genossinnen kam es zu einer Auflösung der Bildungsvereine der proletarischen Frauenbewegung, das Netz der weiblichen Vertrauenspersonen wurde aufgelöst, und auch besondere Frauenversammlungen zur Wahl von Delegierten zum Parteitag konnten nicht mehr weiter stattfinden.[41] Die Versuche zur Zentralisierung und die verstärkte Kontrolle der Parteiführung über die proletarische Frauenbewegung hatte nicht zuletzt den Grund, daß die Mehrheit der Partei sich inzwischen offen zu revisionistischen Positionen bekannte, von der Klassenkampftheorie als Strategie zur Überwindung des Kapitalismus Abstand nahm und den radikalen Standpunkt einer Clara Zetkin, der in dem Schulungsprogramm der Bildungsvereine zum Ausdruck kam, als politische Gefahr betrachtete.
In der Frauenbewegung selbst hatte sich ebenfalls eine andere Auffassung über die Aufgaben der Frauenbildungsvereine Gehör verschafft, die diese auf ein eher unpolitisches Niveau herabzuziehen suchte und keinesfalls der Parteidisziplin bedurft hätte. In der „Gleichheit" findet diese Haltung 1908 im Rahmen der Diskussion über die Abschaffung der Schulungszirkel ihren Niederschlag. Die Autorin, namentlich nicht genannt, beklagt, daß die Bildungsvereine früher von einzelnen Persönlichkeiten als Zentren theoretischer und praktischer Quertreibereien mißbraucht worden sind und hofft, daß durch den Eingriff der Partei jetzt eine Besserung eintritt. Sie plädiert dafür, daß die Frauenbildungsvereine ihre ganze Kraft zwei sehr wichtigen Tätigkeitsgebieten zuwenden sollen: „Das erste ist die Erziehung der Hausmütter, das andere die Fürsorge für Kinder."[42] Dies begründet die Autorin so:
- »... mit dem kulturellen Aufstieg des Proletariats wachsen gleichzeitig die Anforderungen, welche an die Wirtschaftsführung der Hausfrauen gestellt werden. Der Klassenkampf hebt und verfeinert die Persönlichkeit des Arbeiters und macht ihn dadurch begehrlicher'. Der klassenbewußte Proletarier weiß für sich und die Seinen eine gute und gesunde Ernährung zu würdigen, wie auch die vielseitigen Vorteile einer geordneten sauberen Häuslichkeit, auf der trotz aller Dürftigkeit ein Schimmer von Behaglichkeit und Schönheit ruht. Er schätzt vor allem im Hinblick auf das Befreiungsringen seiner Klasse, daß unter einsichtsvoller mütterlicher Pflege und Erziehung die Kinder gesund an Leib und Geist heranwachsen, von früher Jugend an mit dem Geist des Sozialismus erfüllt, ein Geschlecht starker, zukunftsfroher Kämpfer. Die Armeleutschule tut so gut wie nichts, um die jungen Proletarierinnen für ihre späteren Pflichten als Hausmütter, als Kinderpflegerinnen und Erzieherinnen auszurüsten.«[43]
Dies also ist die Aufgabe der Frauen im Klassenkampf: sich als Mütter, Hausfrauen und Gattinen zu perfektionieren, noch besser die Frustration des Mannes aufzufangen, sich noch intensiver in seine Bedürfnisse einzufühlen. Das gibt Kraft, das hilft ihm, seinen verantwortungsvollen Kampf weiterzukämpfen, ist es doch sehr angenehm, wenn der Klassenkämpfer nach heißen Debatten und geschlagener Schlacht in den ersten Reihen zu Hause die treusorgende Mutter und Hausfrau vorfindet, die ihm jeden Wunsch von den Augen abliest. Der Beziehungsanteil der Hausarbeit der Frau wird hier richtig beschrieben. Er wird auch in seinem Stellenwert für die erkannt, die im öffentlichen Leben, ,draußen' stehen, doch beziehen die Frauen fatalerweise über diese wichtige Funktion nicht mehr Selbstbewußtsein, weil diese Arbeit gar nicht als die Arbeit erscheint und auch gesellschaftlich keine Anerkennung findet. Daß die Frauen diese und ähnliche ,mütterliche' Aufgaben erfüllten, in der Partei wie in der Familie, ist nicht so der Gegenstand, der Bedenken hervorruft, als vielmehr die Tatsache, daß ihre Arbeit trotzdem keine angemessene parteiinterne Aufwertung erfuhr. Oder müssen wir sagen: Gerade weil die Genossinnen diesen Aufgaben nachkamen, war eine andere Bewertung ihrer Arbeit nicht möglich?
Die proletarische Frauenbewegung agitierte konsequent in den späteren Jahren durch ihre spezifische politische Tätigkeit in erster Linie Hausfrauen, deren Männer in der Partei arbeiteten. Richard J. Evans kommt anhand von Statistiken über weibliche SPD-Mitglieder in verschiedenen Reichstagswahlkreisen im Jahre 1904 und 1909 zu dem Ergebnis, daß sich die weiblichen Parteimitglieder vorwiegend aus nicht gewerkschaftlich organisierten Hausfrauen rekrutierten, die wahrscheinlich die Frauen männlicher Parteigenossen waren.44 Dieser Umstand deckt sich mit der Erscheinung, daß die Männer nach 1898 größeren Wert darauf legten, ihre Frauen und Töchter der Sozialdemokratie zuzuführen, damit diese sie nicht in ihrer eigenen Arbeit behinderten. Die Frauen und Töchter dankten dies mit weitgehendem Wohlverhalten, indem sie die Gleichberechtigung der Geschlechter, die die Partei nach außen propagierte, nach innen in den sozialen Parteistrukturen nicht allzu heftig verfochten, sich den Tätigkeitsbereichen widmeten, denen die Männer kaum Interesse entgegenbrachten, und damit einem überlieferten Rollenverständnis Genüge taten.