Idealisierung und Domestikation:

Das bürgerliche Frauenbild in der frühviktorianischen Publizistik

In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts setzte in der englischen Presse eine lebhafte Diskussion um die Frauenfrage ein, deren Intensität beispiellos war in der mehr als hundertjährigen Geschichte dieses Mediums. Die Diskussion kann als Indikator dafür gelten, daß das jahrhundertelang gültige, die Frau über ihre Standeszugehörigkeit definierende Bild zunehmend an Gültigkeit verlor und weiten Teilen der viktorianischen Öffentlichkeit problematisch erschien. Verursacht worden war der Validitätsverlust des traditionellen Frauenbildes durch den im Zuge der Industriellen Revolution entstandenen Wandel in der Struktur und Funktion der Familie sowie durch einschneidende Veränderungen in der sozioökonomischen Stellung der Frau. Ebenfalls zur Problematisierung traditioneller Rollenkonzepte trugen  neben sozialistischen Ideen  vor allem feministische Denkströmungen bei.[1] Auf diese Verunsicherung reagierte die frühviktorianische Öffentlichkeit mit dem Entwurf eines neuen Frauenbildes, das eine Systematisierung spezifisch bürgerlicher Vorstellungen über Frauen darstellte und dessen Kern die Charakterdefinition bildete. Bei diesem Begriff vom „female sexual character" handelt es sich um ein logisch durchstrukturiertes kulturelles Deutungsmuster über Frauen, das nicht nur wesentlich zur Konsolidierung der patriarchalischen Familienstruktur im 19. Jahrhundert beitrug und wichtige Konsequenzen für den Aufbau und die Strategie der englischen Frauenbewegung hatte, sondern das bis heute die Vorstellungen über das Wesen und die Rolle der Frau maßgeblich beeinflußt. Obwohl bestimmte Aspekte des viktorianischen Frauendeutungsmusters auch in Haushalts, Familien und Frauenjournalen ihre Ausprägung fanden, waren es die großen viktorianischen Zeitschriften, die den Hauptbeitrag zur systematischen Verknüpfung jahrhundertealter bürgerlicher Vorstellungen über Frauen [2] zur Theorie vom „female sexual character" leisteten. Unabhängig von ihrem politischen Standort beschäftigten sich alle führenden frühviktorianischen Zeitschriften [3] seit Beginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts mit der Frauenfrage.[4]
In mehr oder weniger ausführlichen Artikeln wurden aktuelle Frauenprobleme wie die Lage der Gouvernanten oder die rechtliche Stellung der Frau behandelt, und man setzte sich sehr häufig direkt  qua Buchbesprechung  mit feministischen Veröffentlichungen auseinander bzw. nahm sie zum Anlaß, sich zum Thema Frau zu äußern. Letzteres geschah meistens in der Form eines „reviewlike essay", bei dem eine Liste der jeweiligen feministischen Schriften dem Artikel vorangestellt und zum Ausgangspunkt für eigene Beobachtungen des Rezensenten genommen wurde.[5]
Man schrieb allgemein in dem Bewußtsein eines zunehmenden Interesses in der Öffentlichkeit an der Frauenfrage und mit der Absicht, der fast ausnahmslos bürgerlichen Leserschaft ein verbindliches Deutungsmuster über die Rolle der Frau an die Hand zu geben.[6] Die Anzahl der Artikel über Frauen, die im Zeitraum zwischen 1832 und 1855 erschienen, differierte je nach Zeitschrift und schwankte von nur 3 Artikeln bis zu 15 Beiträgen. Angesichts der Tatsache, daß die Feministinnen im frühviktorianischen England keine organisierte Gruppe, sondern nur Einzelpersonen waren, erscheint das Ausmaß der Diskussion durchaus beachtlich, obwohl es nicht mit den Themen von tagespolitischem Interesse, wie z.B. die Reform Bill, konkurrieren konnte.[7] Daß das Thema Frauenemanzipation dennoch in der Presse Beachtung fand, ist primär auf folgende Faktoren zurückzuführen: Erstens sensibilisierte der sozialreformerische Zeitgeist viele Viktorianer auch für bestimmte Frauenprobleme, zweitens fühlte man sich offenbar angehalten, auf feministische Denkmodelle über Frauen zu reagieren, und drittens war man bestrebt, das im Zuge des wachsenden bürgerlichen Selbstbewußtseins in Frage gestellte aristokratische Frauenideal der „leisured lady" durch ein bürgerliches zu ersetzen. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, anhand einer Analyse der zentralen Elemente des bürgerlichen Frauenideals zu zeigen, daß es sich dabei nicht lediglich um eine lockere, unsystematische Verknüpfung verschiedener Denkschemata zu partikularen Frauenproblemen handelt, sondern um ein homogenes Deutungsmuster, dessen einzelne Aspekte logisch aufeinander bezogen werden können.

I. Zur Struktur des dominanten bürgerlichen Frauenideals

Zum generativen Kern des Viktorianischen Frauendeutungsmusters gehören vor allem die Vorstellungen über das Wesen der Frau. Die Aussagen über den „female sexual character" erweisen sich als eine Kombination traditioneller und progressiver Ideen über die psychischen und sozialen Wesensattribute der Frau. Dabei wird die grundlegende Tendenz deutlich, den weiblichen Geschlechtscharakter als Kontrast zum männlichen zu konzipieren, wobei der Frau Emotionalität und dem Mann Rationalität zugeordnet werden.[8] Obwohl diese Festschreibung von extrem konträren Geschlechtscharakteren gelegentlich  im Sinne einer Herrschaftsideologie  zur Legitimation der Unterwerfung der minderwertigen Frau unter den Mann dienen konnte,[9] beinhaltete das Konzept von der Andersartigkeit der Geschlechter jedoch meistens die Vorstellung, der „female sexual character" sei eine harmonische Ergänzung zum Wesen des Mannes.[10] Im Zuge dieser Ergänzungsidee galten dabei als typisch weibliche Eigenschaften die emotionalen Qualitäten Milde, Güte, Sensibilität, Sanftheit und Zärtlichkeit. Zu den zentralen Merkmalen der weiblichen Natur wurden weiterhin Bescheidenheit, Zurückhaltung, Selbstlosigkeit, Reinheit sowie vor allem „delicacy" gerechnet.[11]
Neben der Glorifizierung idealer weiblicher Gefühlsqualitäten und Tugenden schloß das viktorianische Frauendeutungsmuster auch betont negative Vorstellungen über den weiblichen Charakter ein. Dieser Dualismus des „female sexual character" kommt darin zum Vorschein, daß Lasterhaftigkeit, Verderbtheit, Frivolität und Vergnügungssucht ebenso zu typisch weiblichen Eigenschaften erklärt wurden wie Tugendhaftigkeit und Reinheit.[12] Man löste diese dem „female sexual character" inhärente Polarität dadurch, indem man eine schichtenspezifische Zuordnung weiblicher Wesensmerkmale vornahm. Demnach galt die bürgerliche Frau als Personifizierung moralischer Tugenden, während die Frauen aus den unteren Schichten sowie viele Aristokratinnen zur Kategorie der gefährlichen, das Laster verkörpernden Weiblichkeit gerechnet wurden.[13]
Ein weiteres Indiz für die ambivalente Haltung der Viktorianer gegenüber dem weiblichen Geschlechtscharakter ist die Tatsache, daß bestimmte Weiblichkeitskategorien sowohl eine positive als auch eine negative Interpretation erfahren konnten. Unversehens gerieten dann weibliche Empfindsamkeit, Emotionalität und Sanftheit zu „studied preposterous delicacy", „hollow sentiment" und „painful childish weakness".[14] Grundsätzlich galten weibliche Schwächen jedoch als korrigierbar, da sie nach Ansicht der meisten Viktorianer auf nachteilige Umweltbedingungen zurückzuführen waren, zu denen harte Arbeit, Armut, eine falsche Erziehung oder zu viel Müßiggang rechneten. Insgesamt nahm die Erörterung und Idealisierung der weiblichen Natur einen breiten Raum ein in den frühviktorianischen Zeitschriften, dem Begriff der Weiblichkeit wurde  anders als bei den Feministinnen  große Aufmerksamkeit geschenkt. Man hielt unverrückbar am Konzept der Femininität fest, allenfalls bei der Frage, ob Weiblichkeit sozialisations oder naturbedingt sei, war man unterschiedlicher Auffassung, wobei die fortschrittlich gesonnenen Kräfte jedoch eine winzige Minderheit blieben.[15] Überwiegend war man der Meinung, daß die Frau ein biologisch bestimmtes Wesen sei und daß eine Gleichheit oder auch nur Assimilation der Geschlechtscharaktere weder möglich noch wünschenswert wäre.
Innerhalb des viktorianischen Frauendeutungsmusters fungierte das Konzept von der Femininität als Bezugssystem für die Formulierung weiblicher Rollenstereotype. Die Zuordnung weiblicher Tätigkeitsbereiche wurde abhängig gemacht von ihrer Vereinbarkeit mit den angeblich biologisch bestimmten, natur und gottgewollten Wesensmerkmalen und Fähigkeiten der Frau. Letztere prädestinierten die Frau nach Ansicht der meisten Viktorianer eindeutig für den häuslichen, familialen Wirkungskreis. Die Domestikation der Frau, die eines der wesentlichen Charakteristika des viktorianischen Frauendeutungsmusters darstellte, umschrieb die weiblichen Funktionen innerhalb der Familie mit folgenden Rollenstereotypen: die treusorgende Gattin, die sich aufopfernde Mutter und die tüchtige Hausfrau.
Das viktorianische Frauendeutungsmuster glorifizierte das Heim primär als einen Ort des Friedens, des Glücks und der Stabilität, eine Art Tempel, in dem die Frau als „angel in the house" und „helpmate of man", geschützt vor dem zerstörerischen Einfluß der feindlichen Außenwelt, ihre weiblichen Tugenden frei entfalten und die dem Manne abhandengekommene Menschlichkeit wiederherstellen konnte.16 Der Kontrast zwischen männlicher Außenwelt und weiblicher Heimsphäre wurde gemeinhin als ein Gegensatz zwischen Zerstörung. Entfremdung und Anonymität einerseits, bzw. Regeneration, Humanität und Intimität andererseits beschrieben.[17] Hinsichtlich der Stellung der Frau implizierte der viktorianische Kult der Häuslichkeit zweierlei: Zum einen erfuhr ihre familiale Position eine bedeutende Aufwertung, zum anderen erwies sich die viktorianische Heimideologie als äußerst restriktiv und emanzipationsfeindlich, indem sie die Ehe zum alleinigen Daseinszweck einer jeden Frau deklarierte und gleichzeitig die verheiratete Frau explizit vom öffentlichen Bereich ausschloß.
Zur Aufwertung der häuslichen Funktion der Frau trug vor allem der Mutterkult bei, der das zentrale Element in der Ideologie von der weiblichen Domestikation bildete. Alleinverantwortlich für die Erziehung der Kinder, leisteten die Frauen einen bedeutenden und sozial anerkannten Beitrag zum Wohle der Gesellschaft und der Nation.[18] Als unabdingbar für die Erfüllung mütterlicher Pflichten galten die der weiblichen Natur innewohnenden Wesensmerkmale Selbstlosigkeit, Zärtlichkeit und Geduld. Mutterinstinkte allein erschienen jedoch keine ausreichende Garantie für die angemessene Ausübung weiblicher Sozialisationsfunktionen. Um die moralische Erziehung der Kinder zu wertvollen, aufrichtigen Menschen und guten Staatsbürgern leisten zu können, mußten zunächst die Mütter eine bessere Bildung erhalten, die über die gängige Vermittlung von „accomplishments" wie Singen, Klavierspielen und Sticken hinausging. Eine reformierte Frauenbildung, die die Frauen zu intelligenten und verantwortungsvollen Menschen erzog, galt demnach als Grundvoraussetzung für die Erfüllung der Mutterrolle.
Neben dem Mutterkult gehörte die Rolle der Frau als Gattin zum Kern des Viktorianischen Frauendeutungsmusters. Terminologisch schlug sich die Definition der Ehefrauenrolle in dem der Bibel entlehnten Begriff von der „helpmate of man" nieder, der als Gegensatz zu solchen Bezeichnungen wie „slave", „toy", „doli" oder „object of man's lust" konzipiert wurde. Als „helpmate of man" fiel der Frau die Aufgabe zu, dem Ehemann ein Heim zu schaffen, das ihm Zuflucht vor den Ungewißheiten und Gefahren des außerhäuslichen Lebens gewährte,[19] welches als Synonym für Zerstörung, Entfremdung und Anonymität verstanden wurde.[20]
Das Frauendeutungsmuster begriff die Ehefrau zugleich als emotionalen Gegenpol zur Rationalität des Mannes und als seine intellektuelle Gefährtin.[21] Von einer gleichberechtigten Partnerschaft innerhalb der Ehe kann allerdings nicht die Rede sein. Trotz des Kultes der Häuslichkeit und der damit korrelierenden Glorifizierung der Ehefrauen und Mutterrolle ging die Domestikation der Frau einher mit ihrer Subordination unter den Ehemann. Zwar ließ sich in der liberalen Presse eine zunehmende Tendenz zur Reformorientiertheit feststellen, was die rechtliche Stellung der Frau in der Ehe anbetraf  gefordert wurden u.a. der rechtliche Schutz des Einkommens bzw. des Eigentums der Frau und eine Neuregelung des Scheidungsrechts sowie des Sorgerechts der Frau für ihre Kinder ;[22] insgesamt wurde den verheirateten Frauen jedoch keine Unabhängigkeit und Gleichberechtigung zugestanden. So wurde ihnen das Wahlrecht mit der Begründung vorenthalten, daß eine derartige Maßnahme die Harmonie des Familienlebens empfindlich stören würde und im übrigen unvereinbar sei mit der weiblichen Natur und der häuslichen Rolle der Frau. Ebenso war es einer „anständigen" Ehefrau untersagt, an politischen Bewegungen aktiv teilzunehmen und in der Öffentlichkeit aufzutreten.[23] Der Kult der Weiblichkeit und die Glorifizierung der weiblichen Domestikation bewirkten nicht nur die völlige Isolation der verheirateten Frau vom öffentlichen und politischen Leben  ausgenommen waren lediglich wohltätige Zwecke, soweit diese privatem Engagement entsprangen und nicht auf breiter Ebene organisiert waren , sie dienten darüber hinaus auch als Argument für die restriktive Konzeption von Berufsrollen für unverheiratete Frauen.
Ebenso wie die Feministinnen konstatierte man auch in der bürgerlichen Presse ein Anwachsen der Zahl lediger Frauen, die darauf angewiesen waren, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.[24] Das Problem der alleinstehenden Frau, der „redundant woman", erforderte eine Erweiterung des viktorianischen Frauendeutungsmusters über die Rolle der Gattin, Hausfrau und Mutter hinaus, sollte sein universeller Gültigkeitsanspruch beibehalten werden. Zwar bildete die Vorstellung von der Ehe und Mutterschaft als „wahre" Daseinserfüllung im Leben einer Frau auch weiterhin den Kern des viktorianischen Frauenideals, aber man erkannte spätestens seit Beginn der 40er Jahre, daß die soziale Realität abwich von den dominanten Rollenkonzepten, die die Frau  ausschließlich  als  häusliches   Wesen  definierten.   Unter  dem Druck sozialer Wirklichkeit sah man sich veranlaßt, das Frauendeutungsmuster um die Komponente der ledigen, berufstätigen Frau zu erweitern. Dabei galt der Status der unverheirateten Frau allerdings in erste Linie als unerfreulicher, auf soziale Anomalien wie Emigration und Heiratsunwilligkeit der Männer zurückzuführender Ausnahmezustand und nicht etwa als eine gleichwertige, der freien Entscheidung der Frau entsprungene Alternative zum Eheleben. Außerdem erwiesen sich die Vorstellungen über neu zu erschließende  Berufsfelder für Frauen als sehr limitiert, was durch ihre Rückbindung an die das viktorianische  Frauenideal bestimmende  Weiblichkeitsstereotype bedingt war. Gehobene, prestigereiche Positionen wie die eines Richters, Professors, Politikers oder Arztes erschienen demnach als zu anspruchsvoll für Frauen, erforderten sie doch besondere intellektuelle Fähigkeiten sowie Unabhängigkeit, Entschlußkraft und Durchsetzungsvermögen,  Eigenschaften  also,  die  dem  weiblichen  Charakter  angeblich widersprachen.[25]
Dagegen galten erzieherische Berufe als besonders gut vereinbar mit der weiblichen Natur. Die Tätigkeiten als Gouvernante oder Lehrerin nahmen einen bevorzugten Platz innerhalb des dominanten Konzepts weiblicher Berufstätigkeit ein, ließen sie sich doch unmittelbar aus dem
Mutterkult begründen.[26] Parallel zur häuslichen Kindererziehung durch die Mutter konstituierte sich das Bild von der berufsmäßigen Erzieherin, die fremde Kinder betreute. Beide Tätigkeiten verlangten so spezifisch weibliche Qualitäten wie Milde und Geduld und wurden besonders unter dem Aspekt der Vorbereitung auf die spätere Mutterrolle empfohlen.
Neben den der Weiblichkeit angeblich ideal entsprechenden erzieherischen Berufen erschienen auch die Schriftstellerei akzeptabel für Frauen sowie die Betätigung in Handel und Gewerbe, als Verkäuferin oder Kassiererin in Modewaren oder Wäschegeschäften.[27] Konnte man sich die Ausdehnung weiblicher Berufstätigkeit zwar nur in bestimmten Grenzen denken, so erhielt sie innerhalb dieser Grenzen jedoch durchweg einen positiven Wert. In Ablehnung des aristokratischen Frauenideals der „idle lady" etablierte das Bürgertum ein neues Ideal von der tüchtigen, nützlichen Frau, die mit ihrer Arbeit einen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl leistete:[28] die Frau als „useful member of society". In diesem Zusammenhang befürwortete man eine verbesserte Frauenbildung und war Experimenten auf diesem Gebiet durchweg wohlgesonnen.[29]
Obwohl die Stereotype von dem „useful member of society" eine Aufwertung des sozialen Status der unverheirateten Frauen beabsichtigte, galt die weibliche Berufstätigkeit im Vergleich zur Ehe als minderwertig. Zudem blieb auch die unverheiratete Frau weiter unter der Vormundschaft des Mannes, sei es des Vaters oder des Bruders, und als Staatsbürgerin wurde sie ebensowenig definiert wie die verheiratete Frau. Lediglich in den radikalliberalen Zeitschriften finden sich vereinzelt Stimmen, die das Frauenwahlrecht befürworteten.[30] Wie ich zu zeigen versucht habe, handelte es sich bei dem die viktorianische Gesellschaft dominierenden, bürgerlichen Frauenideal um ein kohärentes kulturelles Deutungsmuster, dessen Kern die Weiblichkeitsstereotype, die Heimideologie, der Mutterkult sowie die „angel in the house"Metapher bildeten. Von diesem offiziellen Orientierungsmuster abweichende Vorstellungen sind in der frühviktorianischen Zeitschriftenpresse kaum zu finden. Vereinzelte Beispiele, wie sie in der radikalliberalen Publizistik gelegentlich vorkamen, blieben wegen ihrer zahlenmäßigen Schwäche ohne Bedeutung für das dominante Frauenideal.[31] Während seiner Konstitutionsphase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr das viktorianische Frauendeutungsmuster noch keine ausführliche Legitimation durch wissenschaftliche Disziplinen, wie dies in der hoch und spätviktorianischen Zeit geschah, als sich Anthropologie, Biologie und Medizin zu Legitimationsinstanzen der Theorie vom „female sexual character" erklärten.[32] Bis in die 60er Jahre hinein argumentierte man vorwiegend „systemimmanent", d.h. die verschiedenen Konzepte für Frauenrollen wurden legitimiert mit dem Hinweis auf die Weiblichkeitsstereotype, die wiederum als gottund naturgegeben galt. Illustriert wurde die Gültigkeit der These von der weiblichen Unterordnung allenfalls noch anhand historischer Beispiele.
Die Unbekümmertheit, mit der das viktorianische Frauendeutungsmuster formuliert wurde, ist ein Indiz dafür, daß sich zu Beginn der viktorianischen Epoche noch keine einheitliche Bewegung formiert hatte, die das dominante Frauenideal grundsätzlich in Frage stellte. Zwar forderten die Feministinnen eine umfassende Explikation der Theorie vom weiblichen Geschlechtscharakter heraus, auf deren Inhalt hatten sie jedoch keinen Einfluß. Weder sozialistischfeministische noch bürgerlichfeministische Denkmodelle über Frauen waren in der frühviktorianischen Gesellschaft stark genug, um das offizielle Frauendeutungsmuster zu einer ausführlichen Legitimation oder gar zur Adaption feministischer Vorstellungen veranlassen zu können. Die direkte Reaktion in der bürgerlichen Presse auf feministische Doktrinen war  von wenigen Ausnahmen abgesehen  negativ. Entweder wurden feministische Ideen bagatellisiert und als Verirrung des weiblichen Geistes abqualifiziert,[33] oder aber man erkannte in ihnen ein gefährliches revolutionäres Potential, welches die Machtposition der Männer bedrohte.[34]
Die Struktur des viktorianischen Frauenideals und die Herkunft der meisten seiner Elemente lassen sich aus einer bis in das 17. Jahrhundert zurückgehenden ideengeschichtlichen Tradition ableiten, innerhalb derer besonders der Puritanismus und der Evangelikaiismus einen prägenden Einfluß hatten.[35] Ein Element jedoch, nämlich das der außerhäuslich berufstätigen Frau, läßt sich m. E. nicht aus einem ideengeschichtlichen Entstehungszusammenhang erklären, sondern ist vielmehr aus sozioökonomischen Bedingungen zu rekonstruieren. An diesem Punkt stellt sich generell die Frage nach der Gültigkeit einer rein geistesgeschichtlichen Interpretation des viktorianischen Frauenideals. Das Manko einer derartigen Vorgehensweise liegt darin, daß es ihr nicht gelingt, die gesellschaftliche Bedeutung ideologischer Phänomene, d.h. den Realitätsgehalt sowie die Realitätsrelevanz des Deutungsmusters zu erklären. Beides soll anschließend wenigstens ansatzweise anhand der Analyse sozioökonomischer Verhältnisse und Familienstrukturen im frühviktorianischen England versucht werden.

II. Realitätsgehalt und Realitätsrelevanz des dominanten bürgerlichen Frauenideals

Da ein kulturelles Deutungsmuster kein Abbild sozialer Realität ist, sondern eine Interpretation, ist zu untersuchen, inwieweit die zentralen Elemente des Frauendeutungsmusters  Weiblichkeitsstereotype, Heimideologie, Mutterkult und das Konzept weiblicher Berufstätigkeit eine reale Entsprechung im Leben der bäuerlichen, arbeitenden, bürgerlichen und aristokratischen Frauen fanden, bzw. inwiefern sie deren Lebenssituation beeinflußten.
Den geringsten Realitätsgehalt und auch die geringste Realitätsrelevanz dürfte das dominante viktorianische Frauenideal in der ländlichbäuerlichen Bevölkerung, dem Großbürgertum und der Aristokratie gehabt haben. Für die Oberschicht behielt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das aristokratische Frauenideal von der „leisured lady" seine Gültigkeit und konnte vom bürgerlichen Frauendeutungsmuster nicht verdrängt werden.[36] Ebenso irrelevant war das dominante bürgerliche Frauenideal für die durch harte körperliche Arbeit, Armut, unzureichende Wohnbedingungen sowie das Fehlen einer „ordentlichen" Haushaltsführung gekennzeichnete Lebenssituation der weiblichen Landbevölkerung.[37]
Von größerer Bedeutung war das viktorianische Frauendeutungsmuster aller Wahrscheinlichkeit nach für die Situation der Arbeiterin. Obwohl die historische Familienforschung auf dem Gebiet der Familienstrukturen in der Arbeiterschaft noch in den Anfängen steckt, versuchen die Studien ANDERSONS über Lancashire und ARMSTRONGS über York nachzuweisen, daß die gängige These von der Zerstörung der Arbeiterfamilie durch die Industrielle Revolution keine universelle Gültigkeit besitzt.[38] Hinsichtlich der Bedeutung des viktorianischen Frauendeutungsmusters für die familiale und berufliche Situation der Arbeiterin scheint es daher angebracht, auf allgemeine Aussagen zu verzichten und stärker zwischen Heimarbeitern, ungelernten Fabrikarbeitern und Facharbeitern zu differenzieren.
Von geringstem Realitätsgehalt war das viktorianische Frauenideal wohl für die Lebensverhältnisse von Heimarbeitern, die in einigen Berufszweigen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein einen beachtlichen Prozentsatz der Arbeiterschaft ausmachten, u. a. in der Hut und Schuhmacherei sowie der Textilherstellung.[39] Diese Form der hausindustriellen Produktion, in der die gesamte Familie zusammenarbeitete und in der Wohn und Arbeitsstätte zusammenfielen, stand eindeutig sowohl im Gegensatz zu der im viktorianischen Frauendeutungsmuster vorausgesetzten Trennung von privater Familiensphäre und öffentlichem Erwerbsleben, als auch zu der Vorstellung, die Frau sei allein für die Reproduktion zuständig. Darüber hinaus dürfte für die durch die Teilnahme beider Ehepartner am Produktionsprozeß gekennzeichnete Situation der Heimarbeiter die Ausprägung der Idee von einer spezifisch weiblichen bzw. männlichen Wesensbestimmung, die sich aus dem Kontrast zwischen weiblicher Emotionalität und männlicher Rationalität ableitete, unerheblich gewesen sein. Zwar kann man davon ausgehen, daß in der hausindustriellen Produktion eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung praktiziert wurde, die jedoch kaum der Legitimierung über das Bezugssystem eines „female sexual character" benötigt haben dürfte.
Von größerer Relevanz waren die Vorstellungen des viktorianischen Frauenideals für die Situation von Lohnarbeitern. Die durch die Fabrikarbeit bedingte Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte, von Produktions und Reproduktionssphäre hatte für die Familienverhältnisse und die Stellung der Arbeiterfrau zweierlei Konsequenzen: Zum einen bewirkte sie das Ende der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit der Ehepartner, und zum anderen führte sie in vielen Fällen dazu, daß die verheirateten Frauen  wenn irgend möglich  gänzlich von der Teilnahme am Produktionsprozeß ausgeschlossen und auf den reproduktiven, familialen Bereich verwiesen wurden.
Da die Statistiken für das frühe 19. Jahrhundert lückenhaft und unzuverlässig sind, lassen sich eindeutige Aussagen über den Umfang und die Art der Lohnarbeit verheirateter Arbeiterfrauen nicht machen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher im wesentlichen auf die Erwerbstätigkeit von verheirateten Frauen in den Textilindustriegebieten Lancashires und Yorkshires sowie auf die weibliche Erwerbstätigkeit in London. Damit sind zwei Gebiete mit sehr unterschiedlicher Arbeitsmarktstruktur gewählt worden, die im Falle Lancashires und Yorkshires den prozentual höchsten Anteil weiblicher Fabrikarbeit in ganz England begünstigte [40] und im Falle von London dazu führte, daß die meisten verheirateten Frauen Beschäftigung als Näherin, Wäscherin, Putzfrau oder Heimarbeiterin fanden.[41] Zu untersuchen ist, welche Auswirkungen diese Haupttypen der Erwerbstätigkeit der Ehefrau nämlich Fabrikarbeit, Heimarbeit und Gelegenheitsarbeit  auf die Familienverhältnisse in der Arbeiterschicht hatten und inwieweit diese die Rezeption des viktorianischen Frauendeutungsmusters ermöglichten oder nicht. Zunächst   muß   festgehalten   werden,   daß   die   Arbeit  verheirateter
Frauen in den Fabriken der Baumwollindustriegebiete Lancashires und Yorkshires entgegen dem von zeitgenössischen Kommentatoren vermittelten Eindruck keinesweg universell gewesen ist und von solchen Faktoren wie Einkünfte des Ehemanns, Alter oder Anzahl der Kinder abhängig war. Für Preston liegen Untersuchungen vor, wonach um die Jahrhundertmitte lediglich 26% aller verheirateten Frauen berufstätig waren und nur 15% der Mütter einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgingen.[42] Rund 1/4 aller Kinder unter 10 Jahren hatten berufstätige Mütter, von denen die Hälfte in Fabriken arbeitete und demzufolge den ganzen Tag über von zu Hause abwesend war.[43] Den größten Anteil an Fabrikarbeiterinnen machten die ledigen und jungverheirateten, kinderlosen Frauen aus.[44] Diese  zugegebenermaßen unvollständigen und durch weitere Forschung erst noch zu komplettierenden Ergebnisse  scheinen darauf hinzuweisen, daß zeitgenössische Klagen über die durch weibliche Fabrikarbeit verursachte Desintegration der Arbeiterfamilie nicht unbedingt der sozialen Realität entsprachen. Da die verheiratete Arbeiterfrau mit ihrer Erwerbstätigkeit einen ökonomisch notwendigen Beitrag zur Existenzsicherung der Familie leistete, ließ sich eine Beschränkung ihrer Zuständigkeit auf familiale, reproduktive Funktionen in weiten Kreisen der Arbeiterschaft nicht durchführen, allerdings machte sich ein Trend bemerkbar, die Arbeit verheirateter Frauen auf Tätigkeiten zu beschränken, die zu Hause ausgeführt werden konnten, wie z.B. Nähen, Plätten, Waschen etc. oder auch Stroh flechten und Knöpfe herstellen.[45]
Wo der Lohn des Mannes allein zur Ernährung der Familie ausreichte, wie im Falle gutbezahlter Facharbeiter, ging die Ehefrau keiner Berufstätigkeit nach, sondern widmete sich ausschließlich ihren Haushaltsund Mutterpflichten. Ein Rückgang der Erwerbstätigkeit von Ehefrauen trat auch dann ein, sobald ältere Kinder mit ihrem Lohn das Familienbudget ausglichen.[46]
In jedem Fall wurde in den Arbeiterhaushalten die Hausarbeit geschlechtsexklusiv, d. h. von der Frau geleistet, ungeachtet der Tatsache, ob diese berufstätig war oder nicht. Ging die Frau einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nach, so wurden zwar gelegentlich die Kinder oder eine bezahlte weibliche Kraft zur Erledigung der Hausarbeit herangezogen, häufiger war jedoch die Doppelbelastung der Ehefrau, die sich nach Feierabend und an den freien Tagen um den Haushalt kümmerte.[47] Daß unter derartigen Umständen der Standard der Haushaltsführung nicht besonders hoch gewesen sein dürfte, scheint naheliegend. Auch den im Hause erwerbstätigen Ehefrauen blieb aller Wahrscheinlichkeit nach wenig Zeit und Energie, sich um die Hausarbeit zu kümmern. Allerdings ist es interessant festzustellen, daß trotz widriger Lebensumstände versucht wurde, ein gewisses Maß an häuslicher Ordnung aufrechtzuerhalten. Dabei dürften in vielen Fällen die Vorstellungen des viktorianischen Frauendeutungsmusters als Leitlinie gegolten haben, vor allem in den Arbeiterfamilien, in denen die Ehefrau vor ihrer Heirat als Dienstbotin in bürgerlichen Haushalten gearbeitet hatte und dadurch in Berührung gekommen war mit dem bürgerlichen Ideal der Häuslichkeit.
Die Voraussetzungen zur Rezeption des bürgerlichen Kindheitsmusters hingegen scheinen bei den Lohnarbeitern nicht gegeben gewesen zu sein. Entscheidend für die Qualität der Mutter-Kind-Beziehung in der Arbeiterfamilie waren die durch ökonomische Notwendigkeit bedingte Erwerbstätigkeit der Mutter einerseits sowie die Kinderarbeit andererseits. Die Arbeiterfamilie stellte kein Modell einer kinderzentrierten familialen Gemeinschaft dar, in der der Kindheit ein Sonderstatus zukam. Es ist jedoch unzulässig, daraus auf eine allgemeine Vernachlässigung der Arbeiterkinder zu schließen. Zwar gibt es Beispiele dafür, daß arbeitende Mütter der Säuglingspflege wenig Aufmerksamkeit widmeten und  soweit sie außerhäuslich erwerbstätig waren  ihre Kleinkinder der Obhut einer „Kinderfrau" überließen, die meist mehrere Säuglinge  gleichzeitig betreute  und  aus  arbeits  wie  zeitökonomischen Gründen die ihr anvertrauten Kinder unzureichend oder falsch ernährte, sie mit opiumhaltigen Medizinen betäubte und ihnen wenig emotionale Zuwendung entgegenbrachte.[48] Allerdings ist fraglich, inwieweit derartige Praktiken universell waren. ANDERSON hat für die Arbeiterfamilien in Preston nachgewiesen, daß die meisten Kleinkinder  außerhäuslich  erwerbstätiger   Mütter von   Familienangehörigen oder gelegentlich von im Hause lebenden Untermietern durchaus liebevoll versorgt wurden.[49]
Viele ältere Arbeiterkinder waren gezwungen, zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen und dürften durch ihre Erwerbstätigkeit schon sehr früh zur Selbständigkeit erzogen worden sein. Trotzdem gibt es zahlreiche Indizien dafür, daß die Kinder nicht allein als „Mitverdiener" betrachtet wurden, sondern daß viele Eltern ihnen eine emotionale Haltung entgegenbrachten, darauf achteten, ob sie nicht zu schwere Arbeit leisten mußten oder etwa vom Arbeitgeber mißhandelt wurden, und versuchten, wenn irgend möglich, sie wenigstens eine Zeitlang zur Schule zu schicken.
Eine starke emotionale Bindung dürfte besonders zwischen Müttern und ihren Kindern bestanden haben, die sich zum Teil als eine Abwehrreaktion auf die in der Arbeiterschaft weit verbreitete, durch Alkoholismus verstärkte Brutalität der Männer gegenüber ihren Frauen und Kindern erklären läßt. Die Mutter übernahm in diesem Fall eine Schutzfunktion und spielte generell durch ihre häufigere Anwesenheit im Hause sowie durch ihre Selbstaufopferung eine große Rolle im Leben der Kinder.[50] Insofern scheint der Mutterkult durchaus eine gewisse Entsprechung in der Familiensituation der Arbeiterschaft gefunden zu haben.
Zuletzt sei noch kurz auf die Wohnverhältnisse und Familienformen der arbeitenden Schichten eingegangen. ANDERSONS Studie über Preston zeigt, daß das dominante Modell in der Arbeiterschaft die Kernfamilie gewesen ist und lediglich 23% der Haushalte über die Mitglieder der Kleinfamilie hinaus auch Verwandte zweiten Grades umfaßten.[51] Ein weiteres Charakteristikum der Arbeiterhaushalte war die Koresidenz von nicht zur Familie gehörenden Personen, meist Untermieter.[52] Da es sich bei den Untermietern vorwiegend um unverheiratete oder verwitwete Personen handelte, deren durchschnittliche Zahl bei 2 Kopf pro Haushalt lag, gelang es meist, sie in das Familienleben der Arbeiter zu integrieren.[53] Große Mietshäuser, die von dem auf Intimität der häuslichen Sphäre bedachten Bürgertum mit außerordentlichem Mißtrauen betrachtet und als Brutstätten des Lasters sowie als Bedrohung der Integrität der Familie angesehen wurden, waren in der Arbeiterschaft wohl die Ausnahme. Die meisten verheirateten Paare standen ihrem eigenen Haushalt vor, und lediglich Jungverheiratete, kinderlose Ehepaare lebten während der ersten Jahre ihrer Ehe im Haushalt von Verwandten oder zur Untermiete.[54] Die beschriebenen Wohnverhältnisse von Arbeiterfamilien in den Textilindustriegebieten deuten darauf hin, daß zumindest dort die Grundvoraussetzungen für die Rezeption der viktorianischen Heimidologie vorhanden waren, nämlich der eigene Haushalt und in vielen Fällen die alleinige Bewohnung eines ganzen Hauses. Allerdings gibt eine quantitative Analyse noch keinen Aufschluß über die Qualität der Wohnsituation in der Arbeiterschaft. Diese blieb in der Mehrzahl der Fälle weit hinter den Vorstellungen des Bürgertums über Privatheit und Komfort zurück.[55]
Insgesamt läßt sich nur eine bedingte Gültigkeit des viktorianischen Frauendeutungsmusters für die arbeitenden Schichten feststellen. Einzelne Elemente scheinen zwar auf die Situation von Lohnarbeiterinnen anwendbar und nahmen mit dem steigenden Einkommen der Arbeiterfamilie an Realitätsgehalt und relevanz zu, in seiner Gesamtheit kann das viktorianische Frauendeutungsmuster jedoch nicht auf die Arbeiterfamilie und die Stellung der Arbeiterfrau bezogen werden, obwohl es im 19. Jahrhundert nicht an Versuchen gefehlt hat  vornehmlich von Seiten der Evangelicals , das bürgerliche Frauenideal auch bei den unteren Schichten zu verbreiten. Daß derartige Popularisierungsversuche mitunter recht erfolgreich waren, beweist die Geschichte der Chartistenbewegung.[56]
Am ehesten stimmte das viktorianische Frauendeutungsmuster mit der gesellschaftlichen Realität im Bürgertum überein, speziell im Bildungsbürgertum.
Obwohl bislang keine ernstzunehmenden Versuche, eine Sozialgeschichte des viktorianischen Bürgertums zu schreiben, vorliegen, sollen im folgenden wenigstens ansatzweise die sozialen Verhältnisse im Bürgertum skizziert werden unter dem Aspekt ihrer Vereinbarkeit mit den Vorstellungen des Frauendeutungsmusters. Zugrunde gelegt wird dabei die grobe Einteilung des Bürgertums in die Kategorien Klein, Bildungs und industrielles Großbürgertum, wobei der Schwerpunkt der Analyse auf dem Bildungsbürgertum liegt.
Entgegen der Lebens und Arbeitsverhältnisse im gewerblichen und kaufmännischen Kleinbürgertum, wo noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in verschiedenen Berufszweigen die Produktion im Haus auf Familienbasis stattfand  etwa bei den Bäckern, Fleischern oder Schreinern  und wo die Trennung von Wohn und Arbeitsstätte keineswegs durchgängig war,[57] scheinen im Bildungsbürgertum die beiden Grundannahmen, nämlich die Trennung von Erwerbs und Familienleben sowie die Beschränkung der Ehefrau auf reproduktive und konsumtive Funktionen ebenso verwirklicht gewesen zu sein wie die Weiblichkeitsstereotype, der Mutterkult und das Bild von der Frau als „useful member of society".
Zunächst kann man davon ausgehen, daß die in der Theorie vom „female sexual character" enthaltenen Aussagen über Weiblichkeit, die die Frau in erster Linie als ein Gefühlswesen definierten und sie in Kontrast zum Vernunftwesen Mann setzten, durchaus als Widerspiegelung real vorhandener, anerzogener Wesensunterschiede zwischen bürgerlichen Frauen und Männern gelten können. Emotionalität als spezifisch weibliches bzw. Rationalität als spezifisch männliches Verhalten dürften als Ergebnis der vorwiegend häuslichen Sozialisation der Mädchen einerseits und der den Jungen in „public schools" und auf Universitäten vermittelten formalen Bildung andererseits gewertet werden. Der Unterricht in Privatschulen, dessen Schwerpunkte die Mathematik und klassische Philologie bildeten, war darauf ausgerichtet, die rationale  Denk und Argumentationsfähigkeit der Söhne wohlhabender Bürger zu schulen. Eine derartige „liberal education" bildete die Grundvoraussetzung für eine Karriere als Arzt, Rechtsanwalt, Geistlicher oder Staatsbeamter.[58] Gleichzeitig war es das erklärte Bildungsziel der „public schools", zur Charakterformung der englischen Bürgerund Aristokratensöhne beizutragen und  mittels sportlicher Betätigung  Qualitäten wie Durchsetzungsvermögen, Härte, Disziplin und Selbstbewußtsein zu fördern.[59]
Demgegenüber erhielten die meisten Mädchen aus dem Bürgertum keine formale Bildung, sondern wurden zu Hause von der Mutter erzogen. Ihre „Bildung" beschränkte sich vorwiegend auf die Übernahme häuslicher Pflichten, wie z. B. die Betreuung jüngerer Geschwister. Da die durchschnittlichen Kosten für eine Internatserziehung um 130 £ jährlich betrugen und der Lohn für eine Gouvernante zwischen 15-100£,[60] konnten lediglich wohlhabende Familien es sich leisten, ihren Töchtern eine formale Bildung zuteil werden zu lassen.[61] Gemeinsam war allen drei Formen der Mädchenerziehung, daß sie die Entwicklung intellektueller, rationaler Fähigkeiten vernachlässigten: In Internaten wurden hauptsächlich „accomplishments" und damenhaftes Benehmen vermittelt, bei den Gouvernanten handelte es sich häufig um unqualifizierte Kräfte, die oft nur zur konstanten Überwachung der Kinder angestellt wurden, und die häusliche Erziehung durch die Mutter beschränkte sich auf die Vermittlung praktischer hauswirtschaftlicher Fähigkeiten.[62] Daß derartige Sozialisationsbedingungen bei den Mädchen eher die Ausprägung von emotionalen, undisziplinierten Verhaltensweisen förderten als die Entwicklung von sachlichem Urteilsvermögen, logischabstrakter Denkfähigkeit und beherrschtem Verhalten, ist offensichtlich.[63] Der  aus  den  unterschiedlichen  Sozialisationsbedingungen  resultierende Kontrast zwischen männlichen und weiblichen Wesensmerkmalen wurde wahrscheinlich noch verstärkt durch die im Bildungsbürgertum weitgehend vollzogene Trennung von privater Heimsphäre und öffentlichem Erwerbsleben, die mit einer Einteilung in geschlechtspezifische Tätigkeitsbereiche korrelierte: Der Mann war generell der Alleinverdiener und ging seiner Berufstätigkeit außer Hause nach, während die Frau im Hause konsumtive und reproduktive Funktionen übernahm. Verglichen mit der häuslichen Rolle der Ehefrau erforderte und bedingte die berufliche Situation des Mannes zweifellos ein höheres Maß an Rationalität, Disziplin und Durchsetzungsvermögen,[64] zumal das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um gesellschaftliche Anerkennung kämpfende Bildungsbürgertum erste Versuche zur berufsständischen Organisation unternahm, die den Zugang zu gebildeten Berufen durch strenge Prüfungsvorschriften reglementierte.[65] Lediglich im Staatsdienst dominierte noch bis in die 50er Jahre hinein das Patronagesystem, das offiziell erst 1870 durch die Einführung von Zulassungsprüfungen ersetzt wurde.[66]
Angesichts der Verschärfung des Leistungs und Wettbewerbprinzips im Berufsleben des Bildungsbürgers sowie des strikten Respektabilitätskodex, dessen Einhaltung als unabdingbare Voraussetzung für eine berufliche Karriere galt, erscheint die Konzipierung einer Häuslichkeitsideologie, die das Heim als Zufluchtsort vor dem am Konkurrenzkampf orientierten Erwerbsleben verstand und in ihm einen Hort der Menschlichkeit sowie einen Garant moralischer Integrität sah, verständlich. Allerdings deuten zahlreiche Faktoren darauf hin, daß das mit dem Heimkult entworfene, idyllische Bild vom bürgerlichen Familienleben keineswegs unverfälscht die soziale Realität wiedergab, sondern eine vorwiegend von Männern konzipierte, sentimentale Idealvorstellung war, die real vorhandene Spannungen in der viktorianischen Familie ignorierte.
Eine der Hauptschwierigkeiten, mit denen sich viele bürgerliche Ehefrauen konfrontiert sahen, war das Dienstbotenproblem. Obwohl nicht alle bürgerlichen Haushalte im 19. Jahrhundert Dienstboten beschäftigten, stellten letztere ein wichtiges Element des mittelständischen Lebensstils dar und gehörten zu den Statussymbolen des nach Respektabilität und „gentility" strebenden Bürgertums.
Anders als in der Großbourgeoisie und der Aristokratie, wo eine beträchtliche Anzahl spezialisierter Bediensteter angestellt war  vor allem auf den Landsitzen , bestand das Dienstpersonal in den städtischen Haushalten des Bildungsbürgertums allenfalls aus zwei Angestellten, wovon eine meist eine „maidofallwork", also eine ungelernte Arbeitskraft war.[67] Dies bedeutete für die bürgerliche Ehefrau, deren   Hauptzuständigkeitsbereich   die   Haushaltsführung   darstellte, zweierlei: Zum einen war sie gezwungen, einen großen Teil der Hausarbeit selbst zu verrichten, was aufgrund der mangelnden Technisierung und Modernisierung des frühviktorianischen Haushalts hohe Anforderungen an die körperliche und nervliche Belastbarkeit der Frau stellte und ein streßfreies, gemütliches und ruhiges Leben oder eine ausschließliche Konzentration auf Mutterpflichten unmöglich machte. Zum anderen konnte das enge Zusammenleben und die tägliche Zusammenarbeit von Ehefrau und Dienstbotin zu erheblichen Reibereien führen, die die Aufrechterhaltung der häuslichen Ruhe erschwerten.[68] Repressionen von Seiten der Ehefrau sowie Unbotmäßigkeit auf der Seite der Dienstboten bildeten ein Konfliktpotential, das jederzeit die Idylle des „heiligen Tempels" stören konnte.
Das Konzept vom Heim als einem Hort der Tugend scheint ebenfalls in vielen Fällen nicht auf den bürgerlichen Haushalt zugetroffen zu haben, angesichts der Tatsache, daß sich das weibliche Dienstpersonal häufig der sexuellen Ausbeutung durch den Arbeitgeber bzw. dessen Söhne ausgesetzt sah. Der verhältnismäßig hohe Anteil ehemaliger Dienstbotinnen unter den viktorianischen Prostituierten kann auf dieses sexuelle Ausbeutungsverhältnis zurückgeführt werden, das, sobald es in einer Schwangerschaft resultierte, die sofortige Entlassung der Dienstbotin zur Folge hatte, der als „gefallenes Mädchen" oft kein anderer Erwerbszweig offenstand als die Prostitution.[69] Läßt sich eine gewisse Diskrepanz zwischen viktorianischer Heimideologie und den Verhältnissen in bürgerlichen Haushalten feststellen, so scheinen die beiden folgenden Aspekte des viktorianischen Frauendeutungsmusters, nämlich der Mutterkult und die „useful member of society"-Stereotype weitgehend mit Phänomenen der sozialen Realität im Bildungsbürgertum korrespondiert zu haben.
Der viktorianische Mutterkult resultierte aus dem in den bürgerlichen Schichten zunehmenden Interesse an der Kindheit, die man als eine entscheidende Entwicklungsphase im menschlichen Leben betrachtete und der man demzufolge einen Sonderstatus einräumte. Da Kinder als etwas Einzigartiges und Wertvolles galten, versuchte man einerseits, die im frühen 19. Jahrhundert sehr hohe Kindersterblichkeit durch verbesserte Hygiene und Säuglingspflege zu senken.   Andererseits schenkte man im Bildungsbürgertum der Kindererziehung erhöhte Aufmerksamkeit, vor allem der Erziehung der Söhne, die zum sozialen Aufstieg der Familie beitragen bzw. ihn fortführen sollten.[70] Die Schlüsselrolle bei der Sozialisation kam dabei der Mutter zu, die als Hauptbezugsperson für die physischen und emotionalen Bedürfnisse der Kinder galt. Ih einer Zeit, in der Geburtenkontrolle weitgehend unbekannt war oder zumindest im Bürgertum nicht praktiziert wurde,[71] gebar die bürgerliche Frau im Durchschnitt 35 Kinder und verbrachte rund V, ihres Lebens mit Schwangerschaften und Säuglingspflege.[72] Teils aus finanziellen, teils aus ideologischen Gründen wurde im Bildungsbürgertum weitgehend darauf verzichtet, die Kleinkinder einer Amme oder einem Kindermädchen zu überlassen, was zu einer ausschließlichen Zuständigkeit der Mutter für die frühkindliche Sozialisation führte und eine enge emotionale MutterKindBeziehung förderte.[73] Ebenso wie für das physische und emotionale Wohlergehen der Kinder wurde die Frau auch für deren moralische und intellektuelle Entwicklung verantwortlich gemacht. Dies sicherte vielen bürgerlichen Müttern einen dominanten Einfluß im Leben ihrer Kinder, der teilweise bis ins Erwachsenenalter unvermindert anhielt.[74] Insofern scheint der viktorianische Mutterkult im Bildungsbürgertum von beträchtlichem Realitätsgehalt gewesen zu sein.
Auch die „useful member of society"-Stereotype des viktorianischen Frauendeutungsmusters nahm Bezug auf die soziale Realität im Bürgertum. Der Kult der Respektabilität und das Streben nach „gentility" veranlaßte zahlreiche bürgerliche Männer im 19. Jahrhundert, erst verhältnismäßig spät eine eigene Familie zu gründen, da sie sich den finanziellen  Anforderungen einer Ehe nicht gewachsen  sahen.   Im Durchschnitt betrug das Heiratsalter für Männer aus dem Industrie, Handels und Bildungsbürgertum 2930 Jahre, ein Phänomen, das zusammen mit der Emigration vieler unverheirateter Männer sowie einem generellen Frauenüberschuß im frühviktorianischen England [75] zu einem sozialen Problem führte, welches Zeitgenossen mit dem Begriff von den „redundant women" beschrieben. Gemeint war die zunehmende Zahl junger, lediger Frauen im heiratsfähigen Alter, die für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen mußten. Die Erweiterung des Berufsfeldes für diese unverheirateten bürgerlichen Frauen, wie sie vom Frauendeutungsmuster konzipiert wurde, stellte einen der Lösungsvorschläge zu diesem Problem dar.[76]
Abgesehen von der Landbevölkerung sowie der großbürgerlichen und aristokratischen Elite scheint das viktorianische Frauendeutungsmuster in weiten Kreisen des Mittelstandes und in Teilen der Arbeiterschaft von einem gewissen Realitätsgehalt und von beachtlicher Realitätsrelevanz gewesen zu sein.[77]  In seiner Gesamtheit ließ sich das Deutungsmuster zwar nicht auf die sozialen Verhältnisse der oben genannten Bevölkerungsschichten übertragen  auch nicht auf die Situation des Bildungsbürgertums, dessen Lebensumstände und Familienstrukturen den Vorstellungen des dominanten, bürgerlichen Frauenideals am nächsten kamen, zumindest einzelne Elemente korrespondierten jedoch mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in breiteren Bevölkerungsschichten, wobei allerdings zu bezweifeln ist, daß es sich dabei um die Mehrheit der Bevölkerung gehandelt hat. Tatsache ist jedoch, daß das Frauendeutungsmuster als normatives Handlungs und Orientierungschema eine beachtliche Realitätsrelevanz in der viktorianischen Gesellschaft hatte, die in der zweiten Jahrhunderthälfte mit der „wissenschaftlichen" Legitimierung der Theorie vom „female sexual character" noch zugenommen haben dürfte und die u.a. entscheidend die Artikulationsmöglichkeiten und Aktivitäten des organisierten Feminismus beeinflußte. Obwohl die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen bestimmte Elemente des viktorianischen Frauendeutungsmusters kritisierten, so z.B. die Doktrin von der weiblichen Subordination, die Beschränktheit der Berufskonzepte für ledige Frauen oder die These von der intellektuellen Inferiorität der Frau, stellten sie wichtige Grundannahmen des dominanten Frauenmusters, nämlich die Vorstellung von der familialen „Bestimmung" der Frau sowie die Theorie vom „female sexual character" in ihrer Gesamtheit nicht in Frage, sei es aus taktischen Erwägungen oder weil sie von der Richtigkeit dieser Vorstellungen überzeugt waren. Die feministischen Forderungen nach mehr Gleichberechtigung für die Frau in Ehe, Beruf und Gesellschaft [78] leiteten sich m. E. nicht aus einem alternativen feministischen Frauendeutungsmuster ab, sondern aus einer Erweiterung des dominanten bürgerlichen Frauenmusters. Langfristig führte der Verzicht auf die Konzipierung eines alternativen feministischen Frauendeutungsmusters dazu, daß sich zwar eine formale Gleichberechtigung der Frau durchsetzte, die jedoch nicht von einer Bewußtseinsänderung in der Öffentlichkeit, was die Rolle der Frau anbelangte, begleitet wurde. Dies resultierte letztendlich darin, daß die Kernelemente des viktorianischen Frauenideals bis ins 20. Jahrhundert hinein kaum etwas von ihrer Realitätsrelevanz einbüßten, trotz verminderten Realitätsgehalts.

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