Das Engagement für die eigenen Interessen als Frau im Prozeß des Kampfes um Emanzipation beinhaltet auch die Suche nach einer neuen Identität als Frau in unserer Gesellschaft. Dabei drängen sich gesellschaftliche Leitbilder auf, die Ausdruck der widersprüchlichen Anforderungen an Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft sind. Die vorherrschenden Konzepte lassen sich auf zwei Grundmuster zurückführen.
Selbstbewußtsein, Intelligenz, Ehrgeiz, zielorientierte Aktivität, Rationalität und Durchsetzungsvermögen sind zentrale Charakteristika des Leitbilds der emanzipierten Frau, die sich auf ihren beruflichen Erfolg und ihre Karriere konzentriert. Diesem steht unvermittelt das Leitbild des emotionalen, passiven, anpassungsfähigen und fürsorglichen weiblichen Wesens gegenüber, dessen zentraler Aufgabenbereich durch Mann und Kinder abgesteckt ist.
Beide Grundmuster sind in gewissem Maße variabel; so ist z.B. mit dem Leitbild des „Weibchens" eine zeitweise Berufstätigkeit vereinbar, solange diese prinzipielle Definitionen des Leitbilds nicht in Frage stellt.
Die Kritik am Leitbild der passiven, emotionalen Frau aus der Perspektive der Frauenbewegung ist nicht neu, neu ist hingegen die Kritik am Leitbild der emanzipierten Frau. So wertet z. B. Jean Baker Miller (1979) genau solche Eigenschaften, die traditionell als Ausdruck weiblichen Unvermögens und Inferiorität galten, als positiven Ausdruck weiblichen Andersseins und als besonderes Widerstandspotential gegenüber einer durch männlich-rationales Unterdrückungs- und Herrschaftsstreben gekennzeichneten Gesellschaft.
Die massive Verbreitung solcher Positionen innerhalb der Frauenbewegung in den letzten Jahren liegt nicht zuletzt darin begründet, daß das Konzept der „emanzipierten" Frau bei der Frage nach seinem Gehalt für reale Befreiungsmöglichkeiten Defizite und Restriktionen aufweist. Einerseits impliziert es Restriktionen, die sich in der Konfrontation dieses Leitbilds mit der Situation der Mehrheit der berufstätigen Frauen in unserer Gesellschaft erweisen, die nur in seltenen Fällen in die Situation kommen, Karriere zu machen und an ihrem Arbeitsplatz Fähigkeiten wie Intelligenz, Selbständigkeit etc. unter Beweis zu stellen. Andererseits klammert es ganze Bereiche der Frau-, des Menschseins aus. Die weibliche Sexualität beispielsweise, emotionale Fähigkeiten werden allenfalls in ihrer Reduktion auf Attraktivität für Männer einbezogen, Kinder sind in diesem Leitbild nicht vorgesehen. Zu dieser reduzierten Perspektive weiblicher Emanzipation gesellt sich die Erfahrung, daß je nach Konjunkturzyklus entweder das Leitbild der emanzipierten Frau (Aufschwung) oder das des „Weibchens" (Krise) in den Vordergrund tritt.
Einen Anstoß, auch diese Konzepte perspektivisch als historisch gewordenen aufzuarbeiten, will dieser Aufsatz geben, indem er im Zusammenhang der Genese der bürgerlichen Gesellschaft untersucht, wie und unter welchen Voraussetzungen sich ein bestimmtes Konzept von Frau herausbildet und gesellschaftlich wirksam wird. Wir beschränken uns hierbei auf eine exemplarische Konfrontation des auf die rationalistische Anthropologie zurückgehenden egalitären Frauenkonzepts mit dem auf der spätaufklärerischen Anthropologie basierenden restriktiven Frauenkonzepte in Frankreich.
Es gibt verschiedene Perspektiven, unter denen eine Geschichte der Frau - in diesem Zusammenhang als Geschichte von Weiblichkeitskonzepten - geschrieben werden kann.
Die Existenz einer profeministischen Position wie der des Frühaufklärers Francois Poullain de la Barre, der ausgehend vom Prinzip der völligen Gleichheit der Geschlechter gleiche Rechte und Bildung für die Frauen forderte, erscheint zunächst im Spätfeudalismus als historischer Anachronismus. Sie widerspricht der weitverbreiteten Position, die von einem zwar langsamen, jedoch stetigen Fortschritt der Frauenemanzipation ausgeht. Würde diese Konzeption zutreffen, so dürfte es Poullain nicht geben. Seine Existenz fordert eine historische Erklärung, nämlich die Rekonstruktion der Bedingungsfaktoren (ideologische, historische, politische), die eine solche Position ermöglichen. Für eine solche Rekonstruktion erweist sich auch das Konzept einer Geschichte der Frau als »Gegengeschichte« zur »offiziellen« männlichen Geschichtsschreibung als problematisch. Sie verweist zwar auf die Notwendigkeit der Hinterfragung und Kritik am (auch impliziten) geschlechtsspezifischen Blickwinkel auf die Geschichte, dieses Problem ist jedoch nicht durch eine Perspektive der Frau aufzuheben. Vielmehr ist auf eine kritische Sichtung vorhandener geschichtstheoretischer Analysen und Deutungsmuster, auf die Frage nach den sozialen Zusammenhängen, in denen eine unterschiedliche Körperlichkeit funktioniert und funktionalisiert wird, nicht zu verzichten. Die restriktive Variante des bürgerlichen Frauenbilds bezieht ihre zentralen Elemente aus der geschlechtsspezifischen Anthropologie Jean-Jacques Rousseaus. Die verbreitete Einordnung des Rousseauschen Frauenkonzepts als Ansatzpunkt für eine »Dekadenzgeschichte« der Frauenemanzipation interpretiert Rousseau als ein Beispiel für eine immer wieder erfolgte Zurücknahme einmal erreichter »fortschrittlicher« Positionen. Im Gegensatz dazu soll hier versucht werden, das Frauenkonzept Rousseaus vor dem Hintergrund der Entwicklung der aufklärerischen Anthropologie in einer neuen Phase der bürgerlichen Emanzipation zu situieren, die durchaus bestimmte Grenzen des egalitären Frauenkonzepts aufdeckte.
Die Französische Revolution markiert einen Einschnitt auch für die Geschichte der Frau. Einerseits ist die Tatsache, daß hier der Frau bestimmte formale Rechte zugestanden werden, für Legitimatoren des Status quo der Ansatzpunkt, um eine formale Fortschrittsgeschichte zu schreiben und damit für die Verdrängungsmöglichkeiten, die mit der Verwechslung von (an der Situation des bürgerlichen Mannes orientierten) Gleichberechtigung mit Emanzipation gegeben sind. Andererseits erweist sich an der Französischen Revolution und dem damit eingeleiteten Prozeß des Aufbaus der bürgerlichen Gesellschaft die gesellschaftliche Relevanz aufklärerischer Konzepte. Nunmehr werden die in der aufklärerischen Theorie implizierten „Angebote" direkt für gesellschaftliche Interessen in Anspruch genommen. Am Beispiel der „Chants patriotiques" (Patriotische Gesänge), die auf den während der Französischen Revolution organisierten Nationalfesten gesungen wurden, soll daher die Frage gestellt werden, welche Elemente der aufklärerischen Theorie zum Thema „Frau" in die Bestimmung der Rolle der Citoyenne eingehen. Die in diesen - das Bewußtsein breiter gesellschaftlicher Gruppen prägenden - Gesängen implizierte Selektion aus dem aufklärerischen Theorieangebot läßt sich erst über eine Konfrontation mit der Praxis der Frauenbewegung während der Französischen Revolution selbst erschließen, in deren Kontext die „Chants patriotiques" interpretiert werden sollen. Indes haben meine Ausführungen zur ideologiegeschichtlichen Entwicklung während der Französischen Revolution nur fragmentarischen Charakter. Sie sollen lediglich die Richtung markieren, die sich für eine weitere Aufarbeitung der Geschichte der Frau als produktiv erweisen könnte.
I. Der frühaufklärerische »Feminismus«
1. »Der Verstand kennt kein Geschlecht«
Die cartesianische Philosophie und ihr Grundtheorem der Notwendigkeit des systematischen Zweifels an allen überlieferten gesellschaftlichen Praktiken und Wissensbeständen war in der Frühaufklärung das wichtigste Instrument zur Destruktion des feudalen Weltbildes. Poullain de la Barre begründet die Auswahl seines Themas »Über die Gleichheit der Geschlechter« mit der Möglichkeit, an diesem Beispiel die cartesianische Methode zu exemplifizieren, indem das Voruteil von der Minderwertigkeit der Frau einer rationalen Überprüfung unterzogen wird.
Damit ist die Voraussetzung geschaffen, das Problem weiblicher Unterdrückung neu zu stellen und als Teil derjenigen sozialen Praktiken zu bekämpfen, die der Überprüfung durch die Vernunft nicht standhalten. Die Unterdrückung der Frau wird damit als Thema in den Gesichtskreis der Aufklärung einbezogen.
Mit seiner Position der grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter begibt sich Poullain in die Auseinandersetzung mit dem verbreiteten Alltagswissen des „vulgaire" und insbesondere mit dem herrschenden Wissenschaftsverständnis. Dessen wesentlichste Argumente berufen sich auf die Autorität des akkumulierten Wissens und die Bibel, aus deren Interpretation Richtlinien für alltagspraktisches Handeln gezogen werden. Poullain erkennt in diesem Bereich seine Hauptgegner:
- „Die gewichtigsten Einwände, die man uns vorhalten könnte, werden aus der Autorität der großen Männer und der Heiligen Schrift gezogen. Was erstere betrifft, so glauben wir Genüge zu tun, indem wir sagen, daß wir hier keine andere Autorität anerkennen, als die Vernunft und den gesunden Menschenverstand (bon sens), was die Heilige Schrift anbetrifft, so steht sie keineswegs im Gegensatz zur Intention dieses Buches, wenn man beide richtig versteht." (POULLAIN 1673, Preface)
Die Kritik an den Grundmustern scholastischer Argumentation im Rahmen der ideologischen Auseinandersetzung der Frühaufklärung mit der scholastischen Doktrin findet daher nicht zuletzt im scholastischen Frauenbild - das die Unterdrückung der Frau in der sozialen Praxis der spätfeudalen Gesellschaft legitimierte - einen wichtigen Anwendungsbereich. In der innerhalb der feudalen Gesellschaft dominanten ideologischen Konzeption wurde die Frau während des gesamten Mittelalters entsprechend der aristotelischen Metaphysik, ausgehend von der Antinomie Mann/Frau, identisch gedacht mit aktiv/passiv bzw. Form/Materie, und entsprechend der aristotelischen Physiologie wurde die Frau als verhinderter Mann bzw. als Ergänzung des Mannes verstanden. Die Kritik an der Unterdrückung der Frau ist daher nicht zu trennen von der Kritik an den auf der Scholastik basierenden Sinnvorgaben und bietet sich insofern der cartesianischen Philosophie als Thema an. Die Auseinandersetzung der Aufklärung mit der feudalen Ideologie impliziert also zugleich die Revision des feudalen Frauenbildes im frühbürgerlichen Denken und begründet damit theoretisch die Möglichkeit einer positiven Veränderung der Situation der Frau in einer postfeudalen Gesellschaft.
Das Thema „Frau" ist Paradigma für die allen Voruteilen zugrunde liegende fehlende Unterscheidung zwischen Natur und Moral. Eine Unterscheidung von >fait< und >droit< ist jedoch Grundvoraussetzung dafür, auf Vorurteilen beruhende, nicht legitimierte soziale Praktiken zu entlarven und neue, auf der Vernunft basierende und damit fundierte Normen des gesellschaftlichen Handelns zu erhalten. Die Identifikation von Natur und Sitten/Gebräuchen ist zwar auch für die Alltagspraxis des >vulgaire< kennzeichnend, sie ist jedoch vor allem in der scholastischen Philosophie der >Ecole< theoretisch aufgehoben und hat - mit deren Autorität versehen - große Konsequenzen für die Situation der Frau.
Um die Unterscheidung zwischen Moral und Natur, zwischen historisch Gewordenem und der Natur Entsprechendem, treffen zu können, ist der Rekurs auf die Geschichte notwendig. Dies vor allem deshalb, weil das Argument der Anciennität und Tradition immer noch die wichtigste Legitimation für die Unterdrückung der Frau darstellt. Nach Poullain ist die Unterdrückung der Frau nicht für alle Gesellschaftsstufen nachweisbar. Es gab einen gesellschaftlichen Zustand, in dem die gesellschaftliche Arbeitsteilung noch nicht ausgebildet war und die Frauen, die dieselben gesellschaftlichen Arbeiten verrichteten wie die Männer, auch ebenso anerkannt waren wie diese:
- »Es gab noch keine Regierung, keine Wissenschaft und keine Ämter, keine Religion. Ich stelle mir vor, daß man damals lebte wie die Kinder . . . Männer und Frauen, die damals einfach und unschuldig waren, beschäftigten sich gleichermaßen mit dem Ackerbau und der Jagd, wie es heute noch die Wilden tun. Der Mann ging seines Wegs und die Frau den ihren, derjenige, der mehr herbeibrachte, wurde auch höher geachtet.« (POULLAIN 1673, 17)
In diesem glücklichen Naturzustand gab es keine Unterdrückung der Frau. Erst mit dem Gesellschaftszustand, der auf Rivalitäten und Übergriffe einzelner Unzufriedener folgte, auf Gewalt und Unterdrückung basierte und durch sie aufrecht erhalten wurde, wurden die Frauen ebenso wie die Schwächeren unterdrückt. Sie wurden aufgrund des Rechts des Stärkeren von den wichtigen gesellschaftlichen Funktionen ausgeschlossen. Dieser Ausschluß führte dazu, daß man in der Folgezeit die Funktion, auf die die Frau beschränkt worden war, als die die ihrer natürlichen Fähigkeit einzig angemessene ansah.
- ». . . Sie (die Frauen/d.V.) wurden nur unterworfen aufgrund des Rechts des Stärkeren, und es war keineswegs der Mangel an natürlichen Fähigkeiten, noch an Talenten, der sie kaum an dem teilhaben ließ, was unser Geschlecht über das ihre erhebt.«(POULLAIN 1673, 15)
Die historische Rekonstruktion des Naturzustands bei Poullain dient als Basis für die Entwicklung einer Anthropologie, deren Voraussetzung den wirklichen, >natürlichen< Menschen, unabhängig vom gesellschaftlichen Gefüge, behandelt. Im Prozeß der Freisetzung des bürgerlichen Individuums aus den Schranken der feudalen Gesellschaft wurde damit zunächst die Voraussetzung geschaffen, das Vakuum, das mit der Ablehnung des kirchlich-feudalen Menschenbildes entstanden war, mit einem neuen Menschenbild zu füllen, das mit den Erfahrungen des auf die eigenen Fähigkeiten zur rationalen Ausnutzung einmal erfaßter gesellschaftlicher Prozesse vertrauenden Menschen kompatibel war.
Grundannahme der frühaufklärerischen Anthropologie ist die natürliche Gleichheit der Menschen, die darauf beruht, daß alle Menschen von Natur aus über Vernunft verfügen und damit prinzipiell unendlich entwicklungs- und zu universeller Welterkenntnis fähig sind. Insofern geraten soziale und nicht mehr natürliche Faktoren für den Aufstieg oder den niedrigeren Rang in der gesellschaftlichen Hierarchie ins Blickfeld. Die konstatierbaren Unterschiede zwischen den Menschen sind folglich nicht das Werk der Natur, sondern Ergebnis unterschiedlicher sozialer Praxis und insbesonder unterschiedlicher sozialer Bildung.
- »Die Konstitution des Körper, vor allem jedoch die Erziehung, die Übung und die Eindrücke, die alles, was uns umgibt, bei uns hinterläßt, sind überall die natürlichen Ursachen für all die vielen Unterschiede, die man feststellt.« (POULLAIN 1673, 111)
Den Frauen ist ebenso wie den Männern von Natur aus der Verstand gegeben, sie sind daher einbezogen in das Postulat der menschlichen Perfektibilität, da biolgoische Unterschiede nicht auf den Bereich des Verstandes ausgedehnt sind. Dies wird auch durch Erkenntnisse aus dem Bereich der Anatomie erhärtet. Poullain wendet sich gegen die Konstruktion einer spezifisch weiblichen Natur, der stereotype negative Eigenschaften zugeordnet und als Legitimation für ihre untergeordnete soziale Stellung angeführt werden. Soweit überhaupt negative Eigenschaften der Frauen existieren, sind diese umgekehrt erst das Ergebnis ihrer sozialen Situation.
- »Man kann also feststellen, daß die Fehler der Frauen - ohnehin weniger beachtlich, als man gemeinhin annimmt - von der Erziehung herrühren und leicht korrigierbar sind. Wenn die Anciens die Dinge genau untersucht hätten, hätten sie darüber nicht derart lächerliche Absurditäten gesagt.« (POULLAIN 1674, 208)
Mit Hilfe der geschlechtsspezifischen Erziehung wird die Unterdrük-kung der Frau abgesichert. Es wird alles getan, um die Mädchen davon zu überzeugen,
- »daß dieser große Unterschied, den sie zwischen ihrem und unserem Geschlecht etabliert sehen, ein Werk der Vernunft oder gottgewollt sei. Die Kleidung, die Erziehung und Bildung könnten nicht unterschiedlicher sein. Ein Mädchen ist nur in Sicherheit unter den Fittichen ihrer Mutter oder unter den Augen einer Gouvernante, die sie kaum je verläßt, man ängstigt sie mit Geistern, die sich in allen Ecken des Hauses befänden, wo sie allein sein könnte ... All ihre Wissenschaft reduziert sich auf Handarbeiten. Der Spiegel ist ihr einziger Lehrer und das Orakel, das sie befragen .. .« (POULLAIN 1673, 209-211)
Die Frauen lassen sich insgesamt als Paradigma für die cartesianische Anthropologie anführen, denn sie sind Beispiel für alle Menschen, die aufgrund der ihnen vorenthaltenen Bildung voller Vorurteile sind. Die kritiklose Unterordnung der Frauen unter vorgegebene Autoritäten ist keine typisch weibliche Eigenschaft, sondern Ergebnis des Ausschlusses der Frauen von einer Bildung im Sinne der Aufklärung. Denn Frauen werden in einer Weise erzogen, die ihnen das Bewußtsein ihrer eigenen menschlichen Fähigkeiten vorenthält, insofern sind sie abhängiger von der Meinung anderer und orientieren sich eher an den in der Gesellschaft vorgefundenen Sitten und Gebräuchen. Eine kritiklose Unterordnung unter die Autorität widerspricht jedoch der menschlichen Natur, da die Vernunft den Menschen in die Lage versetzt, nicht nur vorhandenes Wissen zu überprüfen, sondern auch verändernd auf seine Umwelt einzuwirken.
2. Kritik an der Unterdrückung der Frau als Kritik an der Ständehierarchie
Die am Paradigma der Frau entwickelte Argumentation ist prinzipiell auf das Problem der Ständeunterschiede übertragbar. Bei Poullain bildet die Kritik an der Unterdrückung der Frau Teil einer sozialen Kritik, die die gesellschaftliche Hierarchie nicht als naturgegeben hinnimmt, sondern ihre Ursachen in nicht hinterfragten, überlieferten Traditionen sieht, die es den Frauen unmöglich machen, an der für die Entwicklung ihrer Fähigkeiten notwendigen Bildung teilzuhaben.
- »Wieviele Menschen gibt es im Staube, die sich hervorgetan hätten, wenn man sie ein wenig gefördert hätte. Und wieviele Bauern, die große Doktoren geworden wären, wenn man ihnen das Studium ermöglicht hätte? Man wäre auf dem Holzweg, wenn man meinen würde, daß die fähigsten Leute von heute auch diejenigen ihrer Zeit wären, die am besten geeignet sind für die Dinge, in denen sie sich hervortun; und daß unter einer so großen Zahl von Menschen, die in der Unwissenheit befangen sind, es nicht welche gäbe, die sich mit den gleichen Mitteln als fähiger erwiesen hätten.« (POULLAIN 1647, 33ff.)
Aus der rationalistischen Argumentation zur Egalite der Frau folgt logisch, daß sie - unter der Voraussetzung gleicher Bildungsmöglichkeiten - gleich den Männern alle gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen und alle Berufe ausüben kann. Poullain läßt auch in diesem Bereich prinzipiell keine Einschränkung gelten, die auf geschlechtsspezifischer Argumentation beruht. Kirchliche Ämter, politische Funktionen, sogar militärische Leitungsfunktionen sind nicht ausgeschlossen.
- »Und was mich betrifft, so wäre ich nicht erstaunter, eine Frau mit einem Militärhelm auf dem Kopf zu sehen, als mit einer Krone.« (POULLAIN 1673, 168/169)
Als >alltagspraktischer< Beweis der frühaufklärerischen, die Frauen einbeziehenden Anthropologie wird die Rolle angeführt, die sie in den Salons einnehmen. Im Rahmen der Salons beweisen die Frauen die Fähigkeiten, die sie zu Adressaten aufklärerischer Theorie machen. Die Salons sind damit als weitere Bedingung der Möglichkeit einer aufklärerischen profeministischen Position anzusehen. Die zentrale Rolle, die den Salons seit der Mitte des 17. Jahrhunderts für die sich entwik-kelnde Aufklärung zukommt, muß vor dem Hintergrund der spezifischen Situation gesehen werden, in der sich im Absolutismus die bürgerliche Öffentlichkeit konstituiert. Die mit dem Absolutismus verbundene Förderung des Bürgertums führte zu der widersprüchlichen Situation, daß dieses einerseits wichtige ökonomische Funktionen im Staate wahrnahm, es andererseits jedoch von jeder direkten politischen Machtausübung ausgeschlossen war. Die für das Bürgertum positiven Elemente des Absolutismus waren die mit dem Merkantilismus verbundene Förderung der Manufakturen und die Schaffung eines nationalen Marktes, die mit der Zentralisierung des Staatsapparates verbundene Förderung privater Financiers, die einen Teil der von ihnen eingetriebenen Steuern für sich behielten und Geld akkumulierten.
Ihre Grenzen fand die Förderung des Bürgertums dort, wo sie über die reine ökonomische Absicherung des Gesamtsystems des Feudalismus hätte hinausgehen können. So wurden die feudalen Privilegien weitgehend aufrechterhalten, ein großer Teil der hohen Steuern wurde unproduktiv für die Finanzierung des Luxusbedarfs von Adel und Hof und die dynastischen Kriege verausgabt (Autorenkollektiv: Französische Aufklärung, 1974). Der Ausschluß von der politischen Machtausübung traf nicht nur das Bürgertum, sondern auch in zunehmendem Maße Teile des Adels. Er war durch die Zentralisierung des Staatsapparates weitgehend politisch neutralisiert. Die mit dem dargestellten Prozeß verbundenen gesellschaftlichen Erfahrungen - soziale Mobilität und bewußtes Ausnutzen einmal erkannter ökonomischer Zusammenhänge, sowie die gezielte Anwendung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Manufaktur und Außenhandel beispielsweise - waren nicht mehr ohne weiteres mit den dominanten ideologischen Konzeptionen der feudalen Ständegesellschaft in Einklang zu bringen. So konnte das eng mit der Entwicklung der Naturwissenschaften zusammenhängende neue Weltbild des Rationalismus in den Kreisen, die nicht direkt zum Dritten Stand gehörten, auf eine positive Rezeptionsdisposition stoßen. Die für die Salons typische Kommunikationssituation, eine Praxis galanter Unterhaltung mit spielerischem Charakter, ließ auch eine Lok-kerung der standesmäßig-sozialen Voraussetzung für die Zulassung zu diesen Institutionen zu, so daß Kreise des Amtsadels und der Finan-ciers in die Salons einbezogen wurden. Die Kulturpolitik des Absolutismus führte zu einer Situation, in der zwar in der von Colbert gegründeten Akademie über neue wissenschaftliche Entdeckungen und Theorien diskutiert wurde, an den Universitäten jedoch, vor allem an der Sorbonne, die mittelalterlichen Strukturen in Form und Inhalt von Forschung und Lehre unangetastet blieben. So verbot ein königliches Edikt von 1671 allen Pariser Bildungseinrichtungen, den Cartesianis-mus zu lehren. Daher waren nicht die Universitäten der Ort wissenschaftlicher Praxis und der Entwicklung des neuen Weltbilds, sondern wissenschaftliche Zirkel, private Akademien von Adligen und hohem Bürgertum und zunehmend auch die Salons, die teilweise zu Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit wurden. Dies läßt sich als Bezugspunkt für die Konzeption Poullains angeben. Er nutzte mit seiner Verknüpfung von aufklärerischer Thematik und höflich-galanten Verkehrsformen in seinen >Entretiens de l'Education des Dames< diese Konstellation für die Ziele der Aufklärer konsequent. Die Einbeziehung der Situation der Frauen, die innerhalb der Kommunikationsinstitutionen, auf die die Aufklärer in dieser Phase der bürgerlichen Emanzipationsbewegung angewiesen waren, eine wichtige Rolle spielten, erscheint daher als folgerichtig, zumal die Salons auch durchaus über eine >feministische< Diskussionstradition verfügten. (Vgl. z.B. DE PURE 1658; hier äußern sich profeministische Forderungen in der Kritik an der rechtlosen Stellung der Frau in der Ehe.) Poullain stellt Forderungen zur Verbesserung der Situation der Frau auf, die auf eine Reform der Ehe und der Gesetzgebung hinauslaufen. Er kritisiert die Abhängigkeit der Frau vom Mann in der Ehe und die Praxis, Mädchen gegen ihren Willen ins Kloster zu geben. Dies sind Forderungen, die sich in der profeministischen Literatur der Zeit häufig finden.
3. Die Frau im Salon als Paradigma aufklärerischer Anthropologie
Ein weiterer Bezugspunkt Poullains ist der »Mouvement de vulgarisation scientifique«, d.h. der Prozeß der Rezeption und Verbreitung neuer wissenschaftlicher Kenntnisse. Die Diskussionen innerhalb der Salons und Zirkel, die ebenso die Naturwissenschaften wie die Philosophie umfaßten, wurden von den Frauen mitgetragen, deren Rolle durchaus nicht auf die eines Zuhörers beschränkt blieb.
- »Die Wissenschaften sind a la mode ... vor allem die Philosophie. Es ist folglich nicht verwunderlich, daß es unter den Frauen, die als gelehrt gelten, mehr wissenschaftlich als literarisch gebildete gibt.« (REYNIER 1933, 158)
Die Wissensvermittlung vollzog sich über das Mittel der Konversation. Für das neue Publikum entstand eine ganze Literatur der wissenschaftlichen Vulgarisierung, die die Rolle der Frau innerhalb dieser Bewegung durch die zum Teil explizite Ausrichtung auf ein weibliches Publikum würdigte. Poullain reflektiert dies im Rahmen seiner Konzeption einerseits als alltagspraktischen Beweis für die Richtigkeit seiner Anthropologie und zudem noch unter einem spezifischen Blickwinkel. Der Frau kommt innerhalb seiner Konzeption eine besondere, eigenständige Rolle für die Verbreitung der aufklärerischen Philosophie zu, für die sie über ihre Funktion als Maitresse eines Salons und durch spezifische Fähigkeiten wie ihre sprachliche Gewandtheit qualifiziert ist. Diese eigenständige Rolle der Frau läßt sich als eine Art Multiplikationsfaktor aufklärerischer Praxis in den Kreisen des Salonpublikums umschreiben. Ausgehend von der Erfahrung der Frau als Kulturträgerin innerhalb des Salons soll sie diese Stellung nutzen, um der aufklärerischen Philosophie bessere Verbreitungsmöglichkeiten zu sichern und die Salons zur Institution aufklärerischer Diskussion zu machen.
- »Auf Grund Ihres Beispiels können Sie im Herzen aller Männer einen edlen Eifer erwecken und die Furcht, daß die Frauen sie in einem Gebiet überflügeln, in dem sie die Eitelkeit besitzen, zu glauben, daß die Natur ihnen den Vorteil gegeben habe, kann sie dazu bewegen, sich mit größeren Eifer und mehr Uneigennützigkeit an die Vervollkommnung der Wissenschaft zu begeben, die sie bisher so vernachlässigen.« (POULLAIN 1674, 24)
Eine weitere damit zusammenhängende Funktion, die die Frauen erfüllen sollen, ist eine kulturvermittelnde Funktion gegenüber den cartesia-nischen Wissenschaftlern, denen die Frauen die für die Partizipation an den „conversation" notwendigen sprachlichen und gesellschaftlichen Verhaltensnormen vermitteln sollen. Die Beziehung zwischen Frauen und cartesianischer Philosophie wird als ein Verhältnis bestimmt, das auf gegenseitigem Vorteil beruht.
4. Forderungen zur Frauenbildung
Der Bildung kommt im Konzept Poullains ein zentraler Stellenwert für die Veränderung als negativ empfundener sozialer Verhältnisse zu, denn über die Veränderung des Denkens relevanter Teile der Gesellschaft sollen die Impulse für gesamtgesellschaftliche Veränderung ausgehen. Diese Elite antizipiert zugleich in ihrer Praxis erwünschte Veränderungen, solange die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Reform nicht gegeben sind. In diesem Zusammenhang hält Poullain die Bildung für Frauen für einen wichtigen Ansatzpunkt. In den „En-tretiens de l'Education des Dames" entwickelt er ein ganzes Bildungsprogramm für Frauen und schließt Überlegungen zur Institutionalisierung weiblicher Bildung an. Die Studieninhalte, die er für die Frauenbildung vorschlägt, sind weit gefächert. Sie umfassen u.a. Geometrie, Physik, Recht, Politik, Rhetorik und vor allem Philosophie, die als die Grundlage der gesamten Bildung angesehen wird. Die vorgeschlagene Literatur (u.a. der „Discours de la methode", die „Meditations", der „Traite des passions" von Descartes, „La Physique" von Ro-hault usw.) zeigt, daß für Poullain Frauenbildung durchaus wissenschaftliche Bildung ist. Es geht ihm jedoch - vor allem angesichts der eingeschränkten gesellschaftlichen Möglichkeiten - weniger um die Herausbildung von Wissenschaftlerinnen als vielmehr um die Verbesserung der Alltagspraxis, die er über die Beschäftigung mit der Wissenschaft erreichen will. Dabei soll eine Haltung entwickelt werden, die die durch die Lektüre gewonnenen Erkenntnisse beständig auf die Praxis rückbezieht und an den eigenen Erfahrungen überprüft. Er schlägt vor, Lehrerinnen auszubilden, die mit Unterstützung einiger angesehener Personen tätig werden könnten. Auf diese Weise wird einerseits die aufklärerische Theorie institutionell abgesichert, zudem hebt sich damit sein Konzept von galanter und folgenloser Stellungnahme für weibliche Bildung ab. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war das Thema „Frauen und Bildung" zu einer Kernfrage „feministischer" Diskussion geworden. Bei dieser Diskussion ging es jedoch weniger um die Inhalte dieser Bildung als um die Begründung ihrer Notwendigkeit und mögliche Auswirkungen. Nachdem Marie de Gournay schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts in ihrem Traite „L'Egalite des hommes et des femmes" (1622) die Rolle der Bildung gegen das Argument weiblicher Minderwertigkeit hervorgehoben hatte, wurde dieses Thema mit unterschiedlichen Positionen in allen literarischen Gattungen aufgegriffen (vgl. ASCOLI 1906, 52/53). Bei den meisten Frühaufklärern wird die Unterdrückung der Frau und ihr Ausschluß von jeglicher Bildung zwar als Vorurteil eingeschätzt, die Annahme einer völligen Ega-lite des weiblichen Verstandes bleibt jedoch Ausnahme, und selten enthielten die entwickelten Konzeptionen konkrete Realisierungsforderungen (vgl. FONTENELLES »Entretiens sur la pluralite des mondes« von 1687 oder den »Traite de L'Education des filles« von FENELON 1687).
5. Grenzen der frühaufklärerischen profeministischen Position
Das frühaufklärerische egalitäre Frauenkonzept impliziert eine Problematik, die für die gesamte frühaufklärerische Anthropologie charakteristisch ist, die jedoch erst im Nachhinein erkennbar wurde. Historisch zu situieren in einer Phase der Auseinandersetzung des Bürgertums mit dem Feudalsystem, in der es zunächst darum ging, den gesamten dritten Stand - unabhängig von seiner inneren Differenziertheit - auf den gemeinsamen Kampf gegen den (in dieser Phase) gemeinsamen Gegner zu orientieren, konnten die in dem abstrakten Egalite-Begriff implizierten sozialen Prämissen zunächst den „allgemeinen" Charakter des Konzepts nicht in Frage stellen. Die Auseinandersetzung mit Erscheinungen der feudalen Gesellschaft wird zwar im Namen einer allgemeinmenschlichen soziale Unterschiede ausklammernden Argumentation geführt, auf Grund der sozialen Distanz zum Volk und angesichts der relativen Stärke des Feudalsystems kommen in dieser Funktion jedoch nur diejenigen in Frage, deren Praxis als Antizipation ihrer möglichen künftigen Rolle als Träger gesellschaftlicher Veränderung gelten kann. Das Volk hat im Gegensatz zu den scholastischen Wissenschaftlern noch eher die Fähigkeit zur Lösung von seinen Vorurteilen, ist jedoch kein Adressat der Aufklärung:
- »Da das Volk seine angestammten Meinungen und Gebräuche derart vergöttert, ist es manchmal eine gesunde Politik, sie so zu belassen, wie sie sind. Denn Sie wissen ja, daß es sie hegt wie ein Erbteil oder einen Weinstock, der ihm von seinen Vorfahren überlassen wurde; daß es jederzeit bereit ist, sich zu erheben und zu den Waffen zu greifen, alles in Unordnung zu bringen und sich selbst zu zerstören, um sich seine Phantasmen zu erhalten.« (POULLAIN 1674, 94/95)
Diese explizite Absetzung vom „peuple"- dieser Begriff wird synonym mit „vulgaire" und „multitude" verwendet - bedeutet, daß auch die überwiegende Mehrheit der Frauen aus den frühaufklärerischen Emanzipationskonzept ausgeschlossen ist.
- »... es gibt wahrscheinlich keinen natürlicheren und sicheren Weg, die Mehrheit der Frauen aus dem Müßiggang zu erlösen, auf den sie beschränkt sind, als sie zum Studieren zu bringen, denn dies ist fast das einzige, womit sich die Damen heutzutage beschäftigen können ...« (POULLAIN 1673, Preface).
Diese Beschreibung trifft nur auf diejenigen Frauen zu, die nicht wie z.B. die Frauen aus der Klasse der Bauern im Rahmen der für das 17. Jahrhundert typischen Familienwirtschaft in den Arbeitsprozeß einbezogen waren. Während die Bildungskonzeption Poullains sich eher auf die Frauen höherer sozialer Schichten bezieht, betrifft seine Forderung nach Einschränkung der Rechte des Ehemanns durchaus weitere soziale Kreise. Hatten die Frauen der sozialen Oberschicht zwar auch nicht das Recht der freien Wahl des Ehemanns und innerhalb der Ehe eine rechtlose Stellung, so erlaubte ihnen jedoch ihre materielle Absicherung und die Herausbildung neuer Normen des gesellschaftlichen Verkehrs in diesen Kreisen ein Durchbrechen der traditionellen Frauenrolle. Jeder Partner führte sein eigenes >maison<, man lebte meist getrennt voneinander, Ehebruch galt nicht als Verbrechen, sondern vielmehr das Bestehen auf der Erfüllung der ehelichen Pflichten galt als mit den Prinzipien der Höflichkeit kaum vereinbar (ABEN-SOUR 1923, 73/74).
Daher betraf diese Forderung Poullains die Frauen der Unterschichten weit mehr, wo diese Auflockerung der Ehekonventionen nicht galt. Denn sie litten viel mehr unter der Situation, die dem Mann faktisch vollständige Verfügungsgewalt über Besitz und Körper der Frau gab. Ein weiteres Defizit des aufklärerischen profeministischen Frauenbildes besteht in der Reduktion des Menschen auf seine rationalen Fähigkeiten. Die >passions< (d. h. die sinnlichen Fähigkeiten, vor allem die Sexualität) werden als sich dem rein verstandesmäßigen Zugriff entziehender Bereich abgewertet und als Einschränkung der Autonomie des Individuums angesehen.
Die Bedingungen für die Realisierung des frühaufklärerischen Emanzipationskonzepts waren nur im geschützten Innenraum der Salons gegeben, nur hier konnten die Frauen wirklich >egale< sein. Unter den damaligen historischen Bedingungen war es nur als Elitekonzept denkbar, die Beschränkung auf eine kleine soziale Gruppe, die über die für die Verwirklichung der Emanzipation erforderlichen Voraussetzungen verfügte, war Existenzbedingung für den frühaufklärerischen >Feminismus<. Mit dem Aufzeigen der sozialen Begrenztheit der frühaufklärerischen profeministischen Position ist jedoch nicht intendiert, diese als sozialreaktionär zu verurteilen, denn ein solches Urteil wäre eine unzulässige Abstraktion von den historischen Bedinungen und würde zudem für das gesamte aufklärerische Denken zutreffen. Am Poullainschen Konzept wird deutlich, wie auf einer bestimmten Stufe des bürgerlichen Emanzipationsprozesses theoretisch die Möglichkeit einer proegalitären Argumentation auch in Bezug auf die Frau aufgehoben ist. Poullain ist somit nicht als ein Denker einzuschätzen, der die einzigartige Fähigkeit Jahrhunderte antizipierenden Denkens besaß, sondern als Teil einer Strömung, als derjenige, der die aufgrund der vorhandenen Bedingungen möglich gewordene profeministische Konzeption realisierte, d. h. in einer kohärenten Theorie synthetisierte. Die wiederholten Auflagen seiner Bücher (eine von »De la superiorite des hommes«, zwei von »De l'Education des Dames« und vier von »De l'Egalite des deux sexes« sowie eine Übersetzung dieses Buches ins Englische) ebenso wie die sich in zeitgenössischer Literatur zum Thema Frau häufig findenden Referenzen (so z.B. bei VERTRON 1698 oder auch bei SUCHON 1693) zeigen, daß er durchaus rezipiert wurde.
II. Jean-Jacques Rousseau und die Rücknahme des egalitären Frauenbildes
Jean-Jacques Rousseau läßt sich funktionsgeschichtlich einer neuen Phase der Aufklärung zuordnen. In den Diskurs der Spätaufklärung, wie er paradigmatisch bei Rousseau entwickelt ist, gehen bestimmte, in der neuen Phase der Entwicklung der bürgerlichen Emanzipation und ihrer Rezeption in der aufklärerischen Ideologie begründete Fragestellungen und Probleme ein. In der frühaufklärerischen Phase, als es vorwiegend um die Destruktion des feudalen Weltbildes ging, stellte sich zunächst die Frage nach den Bedingungen für eine Realisierung des aufklärerischen Ideals auch für breitere gesellschaftliche Schichten für die Aufklärer noch nicht.
In der Phase der bürgerlichen Emanzipation, der die Spätaufklärung zuzuordnen ist, ergeben sich aus der Entwicklung des Dritten Standes und seiner Differenzierung in unterschiedliche Interessengruppen neue Anforderungen an die aufklärerische Theorie. Die Frage nach der Umsetzung des allgemein-menschlichen Emanzipationsanspruches rückt stärker in den Vordergrund. Die Rousseausche Frauenkonzeption vor diesem Hintergrund zu verstehen, erfordert einerseits die Einbeziehung seiner Gesellschaftstheorie und der ihr impliziten Prämissen sowie die Frage nach der im naturrechtlichen Ausgangspunkt der Theorie angelegten (bei Rousseau nicht realisierten) Möglichkeit für eine andere Frauenkonzeption.
1. Die Prämissen des Rousseauschen Frauenbildes
Rousseau geht davon aus, daß nur über die Rekonstruktion des Menschen in seinem vorgesellschaftlichen Zustand gesicherte Aussagen darüber getroffen werden können, ob bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten natürlich bedingt und damit gerechtfertigt oder als aus dem Gesellschaftszustand hervorgehend veränderungsbedürftig sind. Wie bei Poullain liegt also der Ausgangspunkt im Naturrecht.
Rousseau bestimmt den Zugang zur Bildung als wesentlichen Faktor für die Etablierung gesellschaftlicher Ungleichheit. In seiner Gesellschaftstheorie war die Entwicklung der positiven Gesellschaft und des Staates Reaktion auf die aus der ungleichen Verteilung des Besitzes resultierenden Auseinandersetzungen, die mit Hilfe des Staates im Interesse der Besitzenden beigelegt wurden. Unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit, d.h. ungleicher Verteilung von Besitz und sozialem Rang, verwandeln sich alle menschlichen Fähigkeiten in Mittel zur Erlangung von Besitz und Ansehen. Daher ist Grundbedingung für die Realisierung einer sittlichen Gesellschaft - d.h. für die Möglichkeit einer sinnvollen Entfaltung aller menschlichen Fähigkeiten - ein Zustand, in dem es keine ungleiche Verteilung von Besitz mehr gibt, so daß niemand mehr so wenig besitzt, daß er ökonomisch abhängig ist, noch irgendjemand so viel besitzt, daß er andere von sich abhängig machen kann. Im Gegensatz zu den Aufklärern, die die Kombination der verschiedenen Privatinteressen mit dem gesellschaftlichen Interesse identisch setzen, geht Rousseau davon aus, daß nur in einer Gesellschaft, in der keine Klassenunterschiede mehr existieren, jeder Staatsbürger wirklich Teil des Souveräns und die Gesetze Ausdruck des allgemeinen Willens sind. Grundlage für sein Gesellschaftsmodell ist jedoch eine gesellschaftliche Entwicklungsstufe, auf der die Menschen dem Naturzustand noch relativ nah und die Klassengegensätze noch wenig ausgebildet sind. Als sozialer Träger dieses Staates kommen demnach die Bauern und Handwerker in Frage, deren Lebensbedingungen noch am ehesten den Rousseauschen Voraussetzungen entsprechen. Über einen Erziehungsprozeß soll das egoistische Individuum in einen am Allgemeinwohl interessierten „citoyen" verwandelt werden, soll die Einheit Mensch-Natur auf höherer Ebene als bewußter Prozeß wiederhergestellt werden.
Rousseaus Konzept stellt den Versuch der sozialen Fundierung der bisher formalen „Egalite" dar. Es reflektiert damit die Erfahrung der sozialen Differenzierung des Dritten Standes in unterschiedliche soziale Interessengruppen, die in der damaligen gesellschaftlichen Entwicklungsphase deutlich machte, daß mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung des Bürgertums nicht automatisch gesellschaftlicher Fortschritt und die Aufhebung sozialer Unterschiede verbunden war, sondern neue Ungleichheiten zwischen akkumuliertem Reichtum einerseits und wachsender Armut, Proletarisierung bisher selbständiger Schichten von Handwerkern und Bauern andererseits entstanden. Aus diesem spezifischen Charakter der Rousseauschen Gesellschaftstheorie resultieren für sein Frauenkonzept zentrale Prämissen. Diese sind einerseits das Festhalten am (wenn auch gleichmäßig verteilten) Eigentum und der patriarchalisch strukturierten Familie, die er als Grundmodell der Menschlichen Gesellschaft und als Modell des Staates ansieht.
Aus der bei Rousseau angelegten Kritik an der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und ihren Folgen für die menschliche Natur ließe sich zwar auch eine Kritik an der den Frauen normativ zugeordneten „weiblichen Natur" ableiten, indem aufgezeigt würde, welchen Anteil soziale Veränderungen an der Ausbildung dieser scheinbaren weiblichen Natur haben. Die Annahme einer „egalite" aller Menschen - als unabhängig von körperlichen oder sonstigen Unterschieden im Naturzustand existent - bedeutete dann auch, die Frau als gleichwertig zu akzeptieren, da erst mit der Entwicklung von Arbeitsteilung und Privateigentum natürliche Unterschiede unter den Menschen deren „inegalite" bewirken. Aus der Idealisierung und Stilisierung der kleinbürgerlich-patriarchalischen Familie (die real auf der Abhängigkeit von Frau und Kindern vom Mann - als alleinigem Besitzer und Verfüger über das Eigentum - und einer entsprechenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung innerhalb der Familie beruht) als überzeitliche erstrebenswerte Norm resultiert die spezifische Rollenzuweisung für die Frau im Konzept Rousseaus. Aus ihrer natürlichen Fähigkeit, Kinder zu gebären, leitet er ab, daß es ihre angestammte Aufgabe ist, deren Erziehung zu übernehmen. Damit kommt ihr eine für die Realisierung der sittlichen Gesellschaft wichtige Funktion zu. Innerhalb seiner Konzeption der idealen Gesellschaft hat sie die Aufgabe, über ihren Einfluß in der Familie das moralische Verhalten der Bürger („citoyens") zu vermitteln und zu sichern. Den Sitten, Gebräuchen und der öffentlichen Meinung wird der Rang von Gesetzen eingeräumt, sie bilden den eigentlichen Kern der Staatsverfassung, daher hat die Familie und hier besonders die Frau eine wichtige gesellschaftsstabilisierende Rolle. Auf Grundlage der theoretischen Aufhebung der Klassenwidersprüche über einen besitzegalitären Ansatz gelingt es Rousseau, ein klassenun-spezifisches Frauenbild zu schaffen, da keine spezifischen Voraussetzungen (wie z.B. materielle Unabhängigkeit, Bildung etc.) zu seiner Realisierung notwendig sind und es daher auf die Frauen aller Klassen und Schichten applizierbar ist. Dies war jedoch nur möglich unter der Bedingung der Aufgabe des egalitären Anspruchs. Die spezifische Dialektik der Rousseauschen Gesellschaftskritik, die Unmöglichkeit, bei der sozialen Fundierung der bisher nur formalen „egalite", ein egalitäres Frauenbild aufrechtzuerhalten, ist die Bedingung der Möglichkeit für die spätere Instrumentalisierung wesentlicher Elemente des rousseauschen Frauenbildes für die Absicherung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihrer Besitzverhältnisse.
2. Die geschlechtsspezifische Definition aufklärerischer Kategorien
Im Naturzustand nahm die Frau die ihr zugeordnete Funktion der Mutterschaft, die sich aus ihrer körperlichen Konstitution ableitet, wahr, ohne sich dessen bewußt zu werden. Im Gegensatz dazu impliziert der Gesellschaftszustand die Aufhebung einer rein biologischen Determination der Frau und ermöglicht ihr somit die Entwicklung eines Bewußtseins ihrer Eigenheit. Für den Mann bedeutet der Gesellschaftszustand eine totale Entfremdung von seiner Natur. Die Frau wird hingegen über ihren Körper an das ihrer Natur entsprechende Verhalten erinnert. Insofern ist für sie der Bruch zwischen Natur und Gesellschaft weniger total. Hierin liegt ein wesentliches Argument für die Rolle, die ihr für die Versittlichung der Gesellschaft zukommt (vgl. HOFFMANN, 1978, 379). Die Mutterschaft ist für die Frau zugleich „bonheur" und „devoir". „Bonheur" ist sie insofern, als die Übereinstimmung des Menschen mit seiner Natur die einzige Möglichkeit dauerhaften Glücks ist. Für die Frau ist der „bonheur" ihrer Kinder mit ihrem eigenen identisch. „Devoir" wird die Mutterschaft mit der sich entwickelnden Depravierung der Sitten durch Reichtum und Luxus. Die „vertu" der Frau besteht daher in der freiwilligen Übernahme der Rolle der Mutter und Ehefrau in der Familie und einer damit verbundenen ehelichen Treue. Die monogame Ehe wird als einzige der Natur entsprechende Form angesehen, da in ihr das der Natur des Menschen entsprechende Ziel der Vermehrung realisiert werden kann und sie zugleich für den Mann die besten Voraussetzungen schafft, seine bürgerlichen Pflichten optimal zu erfüllen. Die eheliche Treue wird zwar für beide Ehepartner gefordert, erhält jedoch für Mann und Frau eine unterschiedliche Bewertung. Eine untreue Ehefrau verstößt nicht nur gegen die Forderung ihrer eigenen Natur, sondern zugleich gegen ein Menschenrecht des Mannes: das Recht auf Vererbung des Eigentums. Die Depravation der menschlichen Gesellschaft, die die Ablehnung von Mutterschaft, Kindererziehung und die Beschränkung der Frau auf die Familie nach sich zieht, hat für die Frau besonders negative Folgen. Sie kann nicht wie der Mann den Verlust ihrer natürlichen Eigenschaften durch eine kreative Intelligenz ausgleichen. Ihr fehlt das dem Mann eigene »Genie«, d. h. jegliche schöpferische Fähigkeit (vgl. ROUSSEAU, Emile, 488). Die intellektuelle Minderwertigkeit der Frau entspricht jedoch der zwischen ihr und dem Mann von Natur angelegten Arbeitsteilung.
Über die Unterscheidung von »esprit« und »genie« wird der in der Frühaufklärung bei Poullain für Mann und Frau identisch gesetzte Verstand »raison« geschlechtsspezifisch unterteilt. »Egalite« für die Frau zu fordern, verstößt folglich gegen die Gesetze der Natur, da in der weiblichen Natur ihr Zustand der Abhängigkeit vom Mann angelegt ist. Aus der weiblichen Natur und der ihr entsprechenden Funktion im Rahmen der Familie leitet sich der Grundsatz ab, daß die Erziehung der Frau komplementär zu der des Mannes erfolgen soll. Die Inhalte, die durch diese Erziehung vermittelt werden sollen, sind in ihrer Ausrichtung auf diese Praxis begrenzt (Rousseau, Emile, 457/458). Die Vorbereitung auf die freiwillige Übernahme einer ihrer Funktion entsprechenden Lebensweise ist das Hauptziel der Erziehung (vgl. ROUSSEAU, Emile, 452/453).
Für die Erziehung des - männlichen - >citoyen< kommt der Frau eine zentrale Bedeutung zu.
Die Familie als der Rückzugsort vor der Öffentlichkeit und der Ort der Praxis der einfachen häuslichen Sitten - „moeurs domestiques" sind Werte, die als Gegenstück zu den depravierten Sitten erhalten werden sollen. Adressat der Veränderungsstrategie ist hier im Gegensatz zu Poullain und anderen Aufklärern nicht die Elite des Salon-Publikums, sondern das Volk. Nur von der Realisierung - im Sinne der Wiedererlangung - der Sitten des Volkes kann eine Erneuerung der Gesellschaft im Sinne der Wiederherstellung einer der Natur des Menschen entsprechenden sozialen Praxis ausgehen (vgl. ROUSSEAU, Emile, 519). Wurde im rationalistischen Diskurs Poullains die Praxis der Frauen in den Salons als Nachweis für die der weiblichen Natur inhärenten Fähigkeiten angesehen, so deutet Rousseau diese Praxis als Ausdruck der Denaturierung der Frau in der Gesellschaft. Die Kritik an der Praxis dieser Frauen ist konstitutiver Bestandteil seiner vom kleinbürgerlichen Standpunkt aus formulierten Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, deren grundlegende Entwicklungslinien seiner Zeit schon antizipierbar waren. Die Antinomie »depraviertes Stadt- versus der Natur entsprechendes Landleben« findet nach Rousseau ihren sinnfälligsten Ausdruck in der Lebensweise der Frauen der Pariser Gesellschaft. Das Interesse der depravierten Frau der Pariser Gesellschaft an Bildung und Wissen impliziert die Ablehnung ihrer Mutterrolle und widerspricht damit ihrer natürlichen Disposition (vgl. ROUSSEAU, Emile, 492/493). Der Bereich der Öffentlichkeit ist dem Mann vorbehalten. Das Leben der Frauen der höheren Sozialschichten in den Großstädten wird als auf Vorurteilen beruhende Verkehrung der natürlichen Ordnung angesehen, die durch eine falsche Erziehung der Frau gefestigt wird. Rousseaus Kritik an den Frauen der Salons zeigt jedoch implizit einen Kernpunkt der Schwäche dieser profeministischen Praxis auf: die enge soziale Basis und die unter den konkret-historischen Bedingungen der damaligen Gesellschaft fehlenden Voraussetzungen für eine reale Alternative auch für die Frauen der unteren sozialen Klassen.
III. Das Bild der Citoyenne in den Chants Patriotiques
Die Französische Revolution markiert den Beginn einer neuen Phase des bürgerlichen Emanzipationsprozesses. Die Umsetzung aufklärerischer Theorie in gesellschaftliche Praxis im Prozeß des Aufbaus der bürgerlichen Gesellschaft erforderte nunmehr die Überführung der Theorie in gesellschaftspolitische Konzepte mit expliziten Handlungsorientierungen für die Bürger. Dies implizierte für die aufklärerische Theorie spezifische Modifikationen bzw. Ergänzungen, um die gesellschaftliche Realität erklärbar zu machen und ihre weitere Entwicklung zu strukturieren. In dieser neuen Phase des Emanzipationskampfes fällt der gemeinsame Gegner, der zuvor als „Klammer" zwischen den divergierenden Interessen der sozialen Klassen, die den Dritten Stand bildeten, fort. Während für das Industrie-, Finanz-und Handelsbürgertum mit der Realisierung der juristischen Egalite das von ihnen verfolgte Ziel ungehinderter wirtschaftlicher Entfaltung erfüllt war, erfuhren die Sansculotten, daß mit dieser Egalite ein Prozeß der Konzentration des Reichtums auf der einen Seite und der zunehmenden Proletarisierung ehemals selbständiger Schichten auf der anderen Seite einherging. Die juristische Egalite war für diese sozialen Klassen folglich nicht ausreichend, und ihre Unzufriedenheit artikulierte sich in Forderungen nach sozialer Gleichheit („egalite de jouis-sance").
Dieser ideologische Entwicklungsprozeß verlief dabei keinesfalls einheitlich, sondern wurde gleichermaßen durch die theoretischen Defizite der aufklärerischen Philosophie wie durch die Erfordernisse der aktuellen politischen und sozialen Auseinandersetzungen determiniert. Mit der Ausweitung der bürgerlichen Öffentlichkeit vom sozial eng begrenzten Rahmen der Salons auf die Gesamtgesellschaft stellten sich auch neue Anforderungen für die Bestimmung der Frauenrolle in der bürgerlichen Gesellschaft. Während das frühaufklärerische „egalite"-Konzept für die Frau die Lebensbedingungen einer Elite von Frauen als allgemeine gesetzt hatte, erwuchs nun die Aufgabe, ein Rollenkonzept für die Frauen der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln, das die Lebensbedingungen der Frauen der sozialniedrigen Schichten, d. h. der Masse der Frauen, einbezog.
Die frühaufklärerische Philosophie beinhaltete ein Angebot, in das gegen das feudale Welt- und Menschenbild gerichtete Postulat einer allgemein-menschlichen „egalite" auch die Frauen einzubeziehen. Rous-seaus Versuch der Einlösung (d.h. der sozialen Fundierung) des allgemein-menschlich-emanzipatorischen Anspruchs der Aufklärung implizierte dessen Aufgabe für die Frau. Andererseits bleibt festzuhalten, daß Rousseaus Gesellschaftstheorie im Kontext ihrer Kritik an der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine - bei Rousseau jedoch nicht realisierte - Möglichkeit enthält, auch durchaus als Kritik an der mit eben dieser gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Entwicklung von Privateigentum verbundenen Ungleichheit und Unterdrückung der Frau rezipiert zu werden.
In der Auseinandersetzung mit den ideologischen Vorgaben der feudalen Ideologie hatte die aufklärerische Philosophie folglich Konzepte für die Bestimmung eines Frauenbildes und einer daraus abgeleiteten Rollenzuweisung für die Frau in einer postfeudalen Gesellschaft entwickelt.
Paradigmatisch für das Spannungsverhältnis von aufklärerischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis im Kontext der revolutionären Entwicklung standen die „chants patriotiques", die während der Jakobiner-Herrschaft auf den vom Staat organisierten Revolutionsfesten gesungen wurden. Die „chants patriotiques" sind Ausdruck der Überführung aufklärerischer Theorie in „direkte" politische Wirksamkeit, da die Teilnehmer der Nationalfeste, die zugleich ihre Akteure waren, die Pariser Bevölkerung unter Einschluß der unteren sozialen Klassen darstellte. Die Nationalfeste als Teil der staatsbürgerlichen Erziehung sollten den Bürgern das Bewußtsein ihrer Einheit als Nation und ein Verhalten vermitteln, das die Orientierung am Allgemeinwohl an die Stelle der Orientierung am egoistischen Eigeninteresse des „bourgeois" setzte. In Form von Liedern, Chören, Prozessionen und allegorischen Szenen erfolgte die Einübung der Festteilnehmer in ihre Rolle als ci-toyens. Die Klitterung vorhandener Widersprüche zwischen den sozialen Klassen, die die Festteilnehmer stellten, über das Gemeinschaftserlebnis dieser Feste, basierte auf der Vorstellung, daß mit der Französischen Revolution der von der Aufklärungsphilosophie postulierte „Etat de bonheur" als realisiert betrachtet wurde (vgl. GUMBRECHT 1900, 28 ff.). Die Funktion der politischen Konsensbildung implizierte eine einheitliche Rollenzuweisung für die Frau innerhalb dieser „idealen Gesellschaft".
Die „chants patriotiques" sollen daher im folgenden daraufhin befragt werden, ob und wie sich in ihnen Rezeptions- und Umsetzungsversuche dieser Konzepte finden lassen.
Im „Chant du depart" von Marie Joseph Chenier verweist schon die Auswahl der Konfiguration des in Form eines Oratoriums aufgebauten Gesangs auf die der Frau zugeordnete Aufgabe. Im Abschiedsgesang werden symbolisch die Soldaten verabschiedet, die zur Verteidigung der Revolution gegen die äußere Bedrohung durch die feudalen Staaten ziehen. Eine Mutter, eine Ehefrau und ein junges Mädchen bestärken zusammen mit einem Abgeordneten, zwei Greisen und einem Kind die Soldaten in ihrer Kampfmoral. Dabei besteht die Rolle der Frauen darin, den Mann zur Erfüllung seiner vaterländischen Pflichten zu motivieren . ..
- „Wir haben Euch das Leben gegeben, Soldaten, es gehört Euch nicht mehr; Eure Tage gehören dem Vaterland; Noch vor uns ist es Eure Mutter." (Recueil de chants philosophiques, civiques et moraux, Paris 1796, 36)
Der Beitrag der Ehefrau als citoyenne für die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution ist neben der Funktion der Motivation des Mannes die des Gebarens neuer citoyens, die das Erbe ihrer Väter weiterführen.
- „Zieht fort, Ihr wachsamen Ehemänner;
die Kämpfe sind Eure Feste ...
Unsre Stimmen werden Euren Ruhm besingen
und unsere Lenden tragen Eure Rächer." (ebenda)
Die Schwester des Soldaten wird ausschließlich unter dem Aspekt ihrer zukünftigen Rolle als Ehefrau gesehen.
- „. . . Wenn, um sich eines Tages mit unserem Schicksal zu vereinen,
die Bürger einen Eid ableisten,
so sollen sie in unsere Mauern zurückkehren,
schön von Ruhm und Freiheit,
und daß ihr Blut in Schlachten
für die Gleichheit geflossen sei."
Gleich den Alten und den Kindern ist die staatsbürgerliche Aufgabe der Frau auf den Innenraum („in unsere Mauern") beschränkt und auf die Motivierung des männlichen citoyen als Aktanten ausgerichtet. Die Rolle der citoyenne ist komplementär auf den männlichen citoyen zugeordnet und wird durch dessen Aufgabe erst definiert. Sie bestärkt den citoyen im Kampf für eine „egalite", die nicht identisch mit ihrer eigenen ist. Die Möglichkeit einer >egalite< für die Frau wird nicht thematisiert. Mit der Idealisierung der Rolle der Frau als Mutter und Gattin korrespondiert ihre völlige Abwesenheit aus der Mehrzahl der „chants patriotiques", die als Staatsbürger nur Männer kennen. Die Aufgabe der Erziehung des männlichen citoyens wird als Pflicht gegenüber dem Vaterland angesehen, eine andere Praxis wird explizit abgewiesen. So z. B. im Lied »Über die Kindheit«:
- „. .. Erlaube nicht, daß eine Fremde Deinem Sohn ihre Milch und ihre Pflege zuteil werden läßt." (ebenda, 16)
In der Erziehung des citoyen findet die Frau ihr Glück, das mit dem des Kindes identisch ist.
- »Aber für sein Glück, für das Deine,
soll Dich jeder Moment daran erinnern,
daß Du aus ihm einen citoyen machen sollst.«
Als Gegenleistung für ein solches, der Natur entsprechendes Rollenverhalten, wird der Frau eine glückliche Ehe versprochen. Die in den >chants patriotiques< zum Ausdruck kommende citoyenne-Konzeption ist vor allem unter dem Aspekt interessant, welche mögliche Rolle für die Frau als citoyenne mit der vorgegebenen implizit abgewiesen wird. Während der Französischen Revolution hatten die Frauen durchaus auch eine Rolle praktiziert, die auf ein eigenständiges aktives Eingreifen in die gesellschaftliche Entwicklung hinauslief und sich nicht auf den ihnen in den „chants" zugewiesenen Bereich beschränkte (vgl. DUHET 1977 sowie CERATI 1966). Die Frauen hatten in der Französischen Revolution Aktionen für die Partizipation der Frauen an den von der Revolution propagierten Menschenrechten entwickelt, so z.B. Olympe de Gouges, die eine Menschenrechtserklärung für die Frau verfaßte. Ein anderer Teil der Frauenbewegung, die den Frauenclubs zugehörigen Frauen wie Pauline Leon, und vor allem die Frauen des „Club des Citoyennes Republicainnes Revolutionäres", deren Vorsitzende Ciaire Lacombe war, entwickelten Aktionen sowohl für ökonomische, soziale und politische als auch im engeren Sinne frauenspezifische Forderungen. Diese Frauen vertraten weitgehend die Forderungen der Sansculotten. Im Kampf gegen die „accapareurs", die die Gesetze des Kapitalismus und der freien Konkurrenz ausnutzend Lebensmittel horteten und damit das Volk von Paris dem Hunger aussetzten, spielten die Frauen eine bedeutende Rolle. Sie forderten einen Eingriff in die Freiheit des Marktes durch Preisstop zugunsten einer ökonomischen „egalite" für das Volk. Die Konterrevolution sollte durch die Bewaffnung von Männern und Frauen konsequenter bekämpft werden.
Der qualitative Schritt von einem elitären, weitestgehend theoretischen Feminismus zu - wenn auch von unterschiedlichem Bewußtsein der spezifischen Unterdrückung der Frau geprägten - Aktionen der Frauen des Volkes war mit der Infragestellung des großbürgerlichen Revolutionsinteresses verbunden. Dem formalen „egalite"-Begriff des Besitzbürgertums wurde ein sozial begründeter „egalite"-Begriff gegenübergestellt. Die gesamte Frauenbewegung forderte eine Reform des Eherechts, das der Frau eine gleichberechtigte Stellung in der Ehe gewähren sollte, das Recht auf Scheidung sowie Bildungsmöglichkeiten für Frauen. Die Frauenbewegung stellte somit eine gesellschaftliche Erfahrung auch der Teilnehmer an den Nationalfesten dar. Die „chants patriotiques" lassen sich daher als Versuch der Verdrängung des aus der Aufklärungsphilosophie ableitbaren Emanzipationsanspruchs für die Frau interpretieren. Um die Einheit der citoyens und die gemeinsame Sinnbildung nicht zu gefährden, werden nur die „Alternativen" thematisiert, die der Aristokratie zugeordnet und entsprechend eindeutig negativ besetzt werden können, so z.B. die Absetzung von der Praxis der Kinderaufzucht durch Ammen (vgl. Lied „Über die Kindheit", s.o.).
Der für den Funktionszusammenhang der „chants patriotiques" konstitutive Konflikt zwischen aufklärerischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis, d.h. hier zwischen aufklärerischem Emanzipationsanspruch und der Notwendigkeit der Festlegung einer einheitlichen Rolle der Frau innerhalb des als realisiert gedachten harmonischen Gesellschaftsideals, wird „gelöst", indem diejenigen Elemente der gesellschaftlichen Praxis, die diesen Widerspruch zum Ausdruck bringen, verdrängt werden. Dies geschieht über eine spezifische Rezeption Rousseauscher Theorien. Sie ist charakterisiert durch die Nichtwahr-nehmung von im „Discours sur l'inegalite" angelegten Möglichkeiten einer egalitären Position in bezug auf die Frau und andererseits durch die Ablösung des Rousseauschen Frauenkonzepts von dem ihm zugrundeliegenden Gesellschaftskonzept, das über einen besitzegalitären Ansatz eine substantielle Egalität zu fundieren versuchte und damit theoretisch die sozialen Gegensätze aufhob. Das derart aus seinem diskursiven Kontext abgelöste Frauenbild Rousseaus erfüllt in wesentlichen Bereichen die Anforderungen, die sich aus der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft an eine hierin funktionale Frauenrolle ergeben. Während im Feudalsystem keine Trennung zwischen den Bereichen von Produktion und Reproduktion existierte, da die feudale Produktionsweise auf Familienwirtschaft beruhte und demzufolge die Arbeit der Frau auch als gesellschaftliche Arbeit verausgabt wurde, implizierte die für die bürgerliche Produktionsweise konstitutive Arbeitsteilung die Trennung dieser Bereiche (vgl. dazu BOCK/DUDEN 1977,125/126).
Da in der bürgerlichen Gesellschaft das Sozialverhalten nicht mehr durch den Stand und direkte soziale Kontrolle festgelegt war, erwächst der bürgerlichen Familie und damit der Frau eine spezifische Funktion für die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft. Die Internalisie-rung systemkonformen Verhaltens beim bürgerlichen Individuum mußte erst im Erziehungsprozeß geleistet werden. Mit der Applikation bestimmter Rousseauscher Theorieelemente auf eine gesellschaftliche Situation, die den Prämissen dieser Theorie nicht entspricht, werden damit diese Elemente - langfristig - funktionalisier-bar für die Absicherung bürgerlicher Besitzverhältnisse.
Zusammenfassend kann man feststellen, daß auf einer bestimmten Stufe des bürgerlichen Emanzipationsprozesses im Zusammenhang mit der Entwicklung der aufklärerischen Anthropologie eine egalitäre Frauenkonzeption theoretisch aufgehoben ist, deren implizite Restriktionen deutlich werden, wenn man sie historisiert. Poullain formuliert, ausgehend von der rationalistischen Philosophie und der Rezeption des Naturrechts, eine Art Menschenrechtserklärung für die Frau und ordnet sie jenem antifeudalen Diskurs zu. In diesem Diskurs sind notwendigerweise implizite soziale Vororientierungen enthalten, die diese »Menschenrechte« materiell auf eine bestimmte soziale Gruppe von Frauen einschränken.
Aus der Einordnung des Rousseauschen Frauenkonzepts in den Kontext seiner Gesellschaftstheorie wird deutlich, wie auf einer späteren
Stufe des bürgerlichen Emanzipationsprozesses der Versuch einer sozialen Fundierung der bisher nur formalen „egalite" (die nun für alle sozialen Schichten gelten soll) nunmehr zu einem einheitlichen, klassenmäßig nicht mehr begrenzten Frauenbild führt. Indem Rousseau, ausgehend von einem kleinbürgerlich-besitzegalitären Ansatz, die bisher nur formale Gleichheitskonzeption sozial zu füllen versucht, geht er einerseits in seinem Gesellschaftsentwurf weit über Poullain hinaus. Dies ist jedoch andererseits nur möglich, indem die „egalite" der Frau zurückgenommen wird.
Dies geschieht über eine geschlechtsspezifische Definition aufklärerischer Kategorien. Die Frau wird auf eine Rolle und die dieser entsprechenden, zur „Natur" stilisierten Eigenschaften reduziert. Waren die Angebote der aufklärerischen Philosophie bis zur Französischen Revolution zwar für die bürgerliche Bewußtseinsbildung - und damit indirekt für die Abschaffung der Feudalordnung wichtige - theoretische Konzepte, erhalten sie mit der Französischen Revolution einen neuen Stellenwert, indem sie ihre Relevanz für die Strukturierung der Praxis der bürgerlichen Gesellschaft erweisen müssen. Wie aus der in den „chants patriotiques" enthaltenen spezifischen Rousseau-Rezeption ersichtlich, werden bestimmte Elemente Rousseauscher Theorie aus ihrem diskursiven Kontext abgelöst. Damit wird das Rousseausche Frauenkonzept prinzipiell instrumentalisierbar für eine mit der Abweisung egalitärer Forderungen der Frauen verbundene Absicherung der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in der bürgerlichen Gesellschaft.
Beide aufklärerischen Konzepte konnten die Frauen nur teilweise erfassen. Wird sie von der auf den Rationalismus zurückgehenden Strömung nur als vernunftbegabtes Wesen erfaßt, so wird sie bei Rousseau letztendlich auf eine aus ihrer spezifischen körperlichen Konstitution abgeleitete soziale Rolle reduziert.
Obwohl der komplexe Zusammenhang zwischen der Entwicklung theoretischer Konzepte zum Thema Frau und den Bedingungen für ihr jeweiliges gesellschaftliches Wirksamwerden hier nur kurz angedeutet werden konnte, so scheint doch ein Versuch der Historisierung solcher Konzepte sinnvoll. Eine Aufarbeitung der Geschichte der Weiblichkeitsbilder im Rahmen einer Geschichte der Frau müßte insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen der Entwicklung ideologischer Konzepte und dem „realhistorischen" Prozeß an konkreten Punkten faßbar machen, um über die reine Plakation theoretischer Postulate hinaus Erklärungsansätze zu liefern, die - im weiteren Sinne - für die aktuellen Auseinandersetzungen nutzbar gemacht werden können. Im Prozeß der Überwindung der in beiden Varianten des bürgerlichen Frauenbildes und auf sie zurückgehender Leitbilder enthaltenen Reduktionen geht es jedoch nicht einfach darum, nun ein neues, besseres Leitbild festzulegen, das die Frau in der Gesamtheit ihrer rationalen, körperlichen und emotionalen Fähigkeiten erfaßt. Sinnvoller wäre es, aus der Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen, innerhalb deren sich ein bestimmtes Konzept von Frau als funktional erweist, Strategien abzuleiten, die uns wirklicher Emanzipation näher bringen und aus deren Zusammenhang sich ein neues, für diese Kämpfe um Emanzipation geeignetes Frauenbild entwickeln könnte. Der vorliegende Aufsatz sollte in dieser Richtung ein Diskussionsbeitrag sein.