Über den Einfluß bürgerlicher Vorstellungen von Beruf, Ehe und Familie auf die sozialistische Frauenbewegung

Im Mittelpunkt des Kampfes der sozialistischen Frauenbewegung des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts steht die Forderung nach der Emanzipation der Frau. Im Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung sieht jedoch die proletarische Frauenbewegung ihren Hauptfeind nicht im Patriarchat, sondern, bedingt durch ihre enge organisatorische Anbindung an die SPD, im Kapitalismus. Offiziell ist die sozialistische Frauenbewegung bis 1908 zwar eine parteiunabhängige Organisation, da bis zu diesem Zeitpunkt, aufgrund der preußischen Vereinsgesetzgebung, Frauen nicht Mitglied einer politischen Partei werden können. Inoffiziell ist die Frauenbewegung jedoch aufs engste mit der SPD verbunden. Die Kollaboration der sozialistischen Frauenbewegung mit dem „Geschlechtsfeind" gegen den „Klassenfeind" hat für die Emanzipation der Proletarierin schwerwiegende Folgen. Sie führt zu einer fast vollständigen Ausblendung des geschlechtlichen Unterdrückungszusammenhanges, zu einer fast vollständigen Außerachtlassung des besonderen Unterdrückungsschicksals der Proletarierin als Klassen- und als Geschlechtswesen.
Resultat dieses ungleichen Bündnisses der Frauenbewegung mit der Arbeiterbewegung ist eine einseitig auf die Berufsarbeit ausgerichtete Frauenemanzipationstheorie und -Strategie, die die Unterdrückung der Frau im sogenannten privaten Bereich, in Ehe und Familie, als nicht existent einstuft. Die fehlende Analyse der Unterdrückung der Proletarierin in Ehe und Familie führt sowohl in der SPD als auch in der Frauenbewegung zu einer vollständigen Übernahme der herrschenden bürgerlichen Familienideologie. Die Entwicklung radikaler Alternativen zum bürgerlichen Ehe- und Familienverhältnis ist aufgrund der unterbliebenen Analyse nicht möglich. In einigen sozialdemokratischen Schriften wird zwar in Anlehnung an FRIEDRICH ENGELS in idealistischer Verklärung eine, auf höher entwickelter Kulturstufe stehende, Form der Familie im Proletariat beschworen, in der die Unterdrückung der Frau bereits der Vergangenheit angehört (vgl. z. B. FERCH 1913).
Vergleicht man diese romantisch verklärten Schilderungen jedoch mit der realen Lebenssituation von Proletarierinnen, so erweisen sie sich lediglich als Ausdruck reinen Wunschdenkens.
Ich untersuche im  folgenden  die  Vorstellungen der sozialistischen Frauenbewegung im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den drei Bereichen Beruf, Ehe und Familie. Dabei gehe ich von der These aus, daß die Vorstellungen der sozialistischen Frauenbewegung als auch der SPD deutlich den Einfluß bürgerlicher Weiblichkeitsideologie tragen. Heftige Angriffe von Seiten bürgerlicher Politiker und vor allem der beiden großen Kirchen erwecken zwar den Anschein, als beabsichtige die Sozialdemokratie die Zerstörung des bürgerlichen Ehe- und Familienverhältnisses, erweisen sich jedoch bei genauer Analyse als bloße Scheingefechte. Sozialdemokratische Vorstellungen über die Stellung der Frau in Beruf, Ehe und Familie verlassen in den seltensten Fällen den vorgegebenen bürgerlichen Rahmen. Die Berufung auf die sozialistische Frauenemanzipationstheorie sowie das unbewußte Verhaftetbleiben in der bürgerlichen Weiblichkeitsideologie stellt die proletarische Frauenbewegung vor das unlösbare Problem, auf der einen Seite den emanzipa-torischen Wert der Berufsarbeit betonen zu müssen und die verstärkte Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozeß zu fordern, auf der anderen Seite jedoch die „wahre" Bestimmung der Frau gerade nicht in der Berufsarbeit, sondern in der Hausarbeit und Kindererziehung zu sehen. Dieses Dilemma zeigt sich durchgängig in fast allen offiziellen Schriften und Verlautbarungen der Frauenbewegung. In der sozialistischen Frauenbewegung und in der SPD sind die Standpunkte zur Erwerbstätigkeit von Frauen, vor allem der verheirateten Frauen und Mütter, keineswegs einheitlich. Bereits in den Anfängen der Arbeiterbewegung ist die Haltung der Arbeiterschaft zur Emanzipation der Frau und deren wichtigstem Emanziapationsfaktor, der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit, ausgesprochen ambivalent. Was HEINZ NIGGEMANN für die Radikalismus-Revisionismus-Debatte in der SPD feststellt, daß diese Klassifizierung in bezug auf die Frauenfrage ohne große Bedeutung bleibt (NIGGEMANN 1981a, 290), läßt sich auch auf die Frühphase der organisierten Arbeiterschaft übertragen. M. E. läßt sich die These WERNER THÖNNESSENs, daß die Lassalleaner der, außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Frauen ablehnend gegenüber iFj      gestanden haben, die Marxisten hingegen als Befürworter und Förderer aufgetreten sind, nicht aufrechterhalten (THÖNNESSEN 1969, 13 ff.). Sowohl in dem von LASALLE gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein als auch in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei um AUGUST BEBEL und WILHELM LIEBKNECHT finden sich sowohl
Gegner als auch Befürworter der Frauenemanzipation und somit auch der außerhäuslichen Erwerbsarbeit von Frauen. Die Polarisierung, Lassalleaner gleich Gegner, Marxisten gleich Befürworter der Frauenemanzipation erweist sich m. E. als grobe Vereinfachung. In der Frage der Frauenemanzipation sind die in der Politik sonst üblichen Raster wie „rechts" und „links", „fortschrittlich" und „rückschrittlich" nicht ohne weiteres übertragbar (vgl. dazu: NIGGEMANN 1981a, 38 ff.). Die Position der Ablehnung der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Frauen wird in den Anfängen der Arbeiterbewegung begründet mit dem Elend der doppelt ausgebeuteten Arbeiterinnen, der Vernachlässigung und Verwahrlosung von Kindern, sowie dem Lohndruck, den die weibliche Konkurrenz ausübt. Vom Verbot der außerhäuslichen Frauenarbeit erhofft man(n) sich eine vermehrte Beschäftigung männlicher Arbeitskräfte, d. h. die Rückkehr zum Familienlohn. GISELA LOSSEFF-TILLMANNS und SABINE RICHEBÄCHER weisen jedoch, unabhängig voneinander, nach, daß eine Verdrängung der Männer aus dem Produktionsprozeß durch Frauen in kaum nennenswertem Umfang stattgefunden hat. In den meisten Fällen sind die von Frauen besetzten Arbeitsplätze sowohl von der Bezahlung, als auch von der Art der Tätigkeit her, für Männer unattraktiv (RICHEBÄCHER 1982, 26). LOSSEFF-TILLMANNS kennzeichnet denn auch die Forderung nach dem Verbot der außerhäuslichen Erwerbsarbeit von Frauen als

... Ausdruck einer nicht an der Realität orientierten frauenberufsfeindlichen ideologischen Haltung" (LOSSEFF-TILLMANNS 1975, 134).

Auf dem Vereinigungsparteitag des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands im Jahr 1875 wird von Gegnern der Frauenemanzipation ein generelles Verbot der Frauenerwerbstätigkeit gefordert, dem sich die Mehrheit unter Führung von BEBEL und LIEBKNECHT jedoch erfolgreich widersetzen kann. Mehrheitlich wird jedoch die Forderung nach einem Verbot aller gesundheits- und sittlichkeitsgefährdenden Frauenarbeit beschlossen. 1877 wird dieser Antrag dann von der SPD in den Reichstag eingebracht. In Kenntnis der Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen ist die Forderung nach dem Verbot gesundheitsschädigender Frauenberufsarbeit zunächst erstmal positiv zu werten. Es zeichnet sich jedoch bereits ab, daß diese spezielle Schutzgesetzgebung für Frauen dazu benutzt wird, Frauen, unter dem Deckmantel der Gesundheitsgefährdung, den Zugang zu qualifizierten Berufen zu verweigern. Da von diesen Auswirkungen in erster Linie bürgerliche Frauen betroffen sind, ist, bedingt durch die unterschiedliche Interessenlage, kein gemeinsames Vorgehen der proletarischen mit der bürgerlichen Frauenbewegung möglich gewesen.
Die Forderung nach dem Verbot sittlichkeitsgefährdender Frauenarbeit erscheint äußerst problematisch, vergegenwärtigt man sich, was von führenden Sozialdemokraten unter sittlichkeitsgefährdend verstanden wird. So begründet z. B. AUGUST BEBEL seine Forderung nach dem Verbot der Frauenarbeit im Bereich des Eisenbahn- und des Hausbaus nicht etwa mit dem Argument der Gesundheitsgefährdung, sondern folgendermaßen:

„Dabei wird der Frau alles weibliche abgestreift und ihre Weiblichkeit mit Füßen getreten..."
(BEBEL 1913, 171).

An dieser Stelle wird recht deutlich, wie stark selbst BEBEL, der doch in bezug auf die Frauenfrage als einer der engagiertesten und fortschrittlichsten Sozialdemokraten gilt, der bürgerlichen Weiblichkeitsideologie verhaftet bleibt.
Ab 1878 erfolgt die Entwicklung der sozialistischen Frauenemanzipationstheorie durch FRIEDRICH ENGELS, AUGUST BEBEL und CLARA ZETKIN. Die Theorie zeigt den Zusammenhang zwischen Arbeiter- und Frauenemanzipation auf, indem sie die Bedeutung der Entstehung des Privateigentums für die Versklavung beider in der Vergangenheit und der Gegenwart aufdeckt. Die Verwirklichung der Frauenemanzipation erscheint nur möglich in einer sozialistischen Gesellschaft, eine Befreiung nur der Frauen wird ausdrücklich verneint. Als ein wichtiger Schritt zur Emanzipation der Frau wird die Einbeziehung in den Bereich der gesellschaftlichen Produktion genannt. Bekämpft werden sollen weiterhin die Auswüchse der Frauenerwerbstätigkeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, darüber hinaus wird der Frauenarbeit aber noch ein emanzipatorisches Element zugebilligt (vgl. in diesem Zusammenhang die Politik der Sozialdemokratie zur Arbeiterinnenschutzgesetzgebung).
Auf dem Pariser Kongreß der II. Internationale von 1889 hält CLARA ZETKIN ihre erste große Rede über außerhäusliche Erwerbsarbeit von Frauen und kennzeichnet diese als wichtige Vorbedingung für die Verwirklichung der Frauenemanzipation. Die Sozialisten müßten eigentlich wissen, führt sie aus,

„... daß es nicht die Frauenarbeit an sich ist, welche durch Konkurrenz mit den männlichen Arbeitskräften die Löhne herabdrückt, sondern die Ausbeutung der Frauenarbeit durch den Kapitalisten, der sich dieselbe aneignet. Die Sozialisten müßten vor allem wissen, daß auf der ökonomischen Abhängigkeit oder Unabhängigkeit die soziale Sklaverei oder Freiheit beruht. . . wie die Arbeiter vom Kapitalisten unterjocht werden, so die Frau vom Manne, und sie wird unterjocht bleiben, so lange sie nicht wirtschaftlich unabhängig ist" (Protokoll d. Intern. Arbeiterkongresses 1890, zit. nach THÖNNESSEN 1969, 41).

CLARA ZETKIN legt in ihrer Argumentation das Hauptgewicht auf die Schaffung der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau vom Mann, übersieht dabei aber nicht, daß mit der Aufhebung der ökonomischen Abhängigkeit keinesfalls die soziale Abhängigkeit aufgehoben ist. Selbst im Falle ökonomischer Unabhängigkeit hält die Familienform der bürgerlichen Kleinfamilie die Frau weiterhin in Abhängigkeit, bürdet sie ihr doch die Doppelrolle der Haus- und Berufsfrau auf. In ihrer Rede erkennt CLARA ZETKIN demnach, welchen Anteil die bürgerliche Kleinfamilie an der Aufrechterhaltung der Unterdrückung der Frau hat und fordert folgerichtig die Vergesellschaftung von Hausarbeit und Kindererziehung. Diese Forderung wird jedoch nicht von der gesamten proletarischen Frauenbewegung getragen. In späteren Schriften rückt CLARA ZETKIN von dieser Forderung wieder ab und propagiert statt dessen die heile bürgerliche Familienwelt. In ihrer Rede zum 1. Mai 1904 beschwört sie die Stunde des Zusammenbruchs der kapitalistischen Ordnung als Zeitpunkt, da

„... die Frau sich als Vollmensch entwickele und betätige, in einem innerlich gefestigten Heim, in dessen Frieden die Persönlichkeit und ihre heilige Dreiheit -Mann, Frau und Kind - ihr kleines eigenstes Reich baut;..." (ZETKIN 1904a, 277).

Die ursprünglich aus der bürgerlichen Frauenbewegung stammende Sozialdemokratin HENRIETTE FÜRTH zeichnet ein ähnlich heiles Bild vom bürgerlichen Ehe- und Familienleben. Sie vertritt die Auffassung, die Ehe sei

„... die größte und heiligste Einrichtung, die letzte Erfüllung und Erholung des Menschendaseins..." (FÜRTH 1903, 31).

Von der Zerstörung des bürgerlichen Ehe- und Familienverhältnisses durch die Sozialdemokratie kann also keine Rede sein. Auch wenn von der Frauenbewegung und der SPD der Begriff der „freien Liebe" verwendet wird, so versteht doch die Mehrzahl der Parteimitglieder diesen Begriff keineswegs im Sinne der Abschaffung der Ehe, wie er ursprünglich von den Saint-Simonisten und CHARLES FOURIER und seiner Schule verstanden worden ist. So versteht z. B. ADELHEID POPP, und m. W. ist ihre Auffassung repräsentativ für die SPD als auch für die SPÖ, unter „freier Liebe",

„... daß jeder Mann und jedes Mädchen" seinen Ehepartner „frei wählen kann, ohne auf materielle Verhältnisse oder Standesrücksichten sehen zu müssen" (POPP 1911, 269).

ADELHEID POPPs Auffassung von der „freien Liebe" steht gänzlich in der Tradition der bürgerlichen Liebesheirat, die der Abgrenzung des Bürgertums vom feudalistischen Adel zugrunde liegt. Selbst prominente Sozialdemokratinnen wie CLARA ZETKIN, HENRIETTE FÜRTH und ADELHEID POPP erweisen sich somit als anfällig für die bürgerliche Familienideologie. Wen wundert es da noch, daß sich bei der Mehrheit der Arbeiterinnen der Wunsch nach Aufgabe der Berufstätigkeit und nach Rückzug ins bürgerliche Familienleben findet (vgl. Mein Arbeitstag - mein Wochenende, 1930). Die Ambivalenz der Frauen gegenüber der Berufstätigkeit wird von Gegnern der Frauenerwerbstätigkeit immer wieder zur Bekräftigung ihrer frauenfeindlichen Argumentation herangezogen. So spottet z. B. EDMUND FISCHER darüber, daß

„...auch Sozialisten und emanzipierte' Sozialistinnen..." dem Wunsch nach dem trauten Heim anhängen und nimmt diesen Tatbestand als Beleg, daß es sich bei diesem Wunsch um einen „. . . natürlichen, menschlichen Drange und Bedürfnis ..." handelt (FISCHER 1919, 29).

Diese Favorisierung des bürgerlichen Familienideals durch Arbeiterinnen läßt sich m. E. durch die Lebens- und Arbeitssituation dieser Frauen erklären.
Ganz so einfach wie HEINRICH BOLLINGER möchte ich es mir bei meinem Erklärungsversuch allerdings nicht machen. BOLLINGER zufolge läßt sich der Einfluß bürgerlicher Familienideologie auf Arbeiterfamilien folgendermaßen erklären:

„Ein direkter Transmissionsmechanismus bürgerlicher Familienverhältnisse in den proletarischen Haushalt scheint in der Dienstbotenschaft der Frauen zu bestehen. Mittels des Dienstbotenstatus kommen relevante Teile der weiblichen Unterschicht in direkten Kontakt mit dem bürgerlichen Lebensmilieu. ... Es ist sehr wahrscheinlich, daß auf diese Weise für das Bürgertum relevante Normen und Werte in die Unterschicht transferiert werden" (BOLLINGER, 1980, 31).

Bei diesen „relevanten Teilen der Unterschicht", die mit dem bürgerlichen Milieu in Verbindung stehen, handelt es sich, BOLLINGERs eigenen Angaben zufolge, lediglich um 10% der Gesamtbevölkerung, davon stellen Frauen 85% dar.
Die These BOLLINGERS ist damit von äußerst beschränktem Aussagewert. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier ein Sündenbock gesucht werden soll für das ach so rückständige bürgerliche Bewußtsein in der Arbeiterschaft. Und wo könnte der besser zu finden sein als bei den Frauen!
Im Gegensatz zu vielen bürgerlichen Frauen erübrigt sich für die meisten Proletarierinnen die Frage nach der Vereinbarkeit von Ehe, Mutterschaft und Berufstätigkeit. Bei verheirateten Frauen besteht, vor allem wenn sie Kinder haben, vielfach die ökonomische Notwendigkeit, erwerbstätig zu sein, da der Lohn des Mannes in den meisten Fällen nicht ausreicht, um eine mehrköpfige Familie zu ernähren. Angesichts der niedrigen Frauenlöhne in der Industrie, den unzureichenden Arbeitsschutzbestimmungen, sowie den langen Arbeitszeiten mag den Frauen der Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Emanzipation nicht ohne weiteres einleuchten. Selbst führende Sozialdemokratinnen wie CLARA ZETKIN hegen manchmal Zweifel am emanzipatori-schen Wert der Berufsarbeit. So schätzt CLARA ZETKIN in vielen Fällen die „Berufssklaverei" als „nicht minder öde" ein als das „Nichtsais -Hausfrauentum" (Gleichheit v. 4. 1. 1899, zit. nach NIGGEMANN 1981 b, 16). An anderer Stelle preist sie die

„. . . verhältnismäßig glücklichere Arbeiterfrau, welche durch das Gespenst des Hungers noch nicht vom häuslichen Herd gescheucht wurde" (ZETKIN 1904 a, 275).

Für die Frauen kommt als erschwerendes Moment hinzu, daß ihre Entscheidung zwischen Berufs- und Hausarbeit in den seltensten Fällen den Charakter einer Entscheidung zwischen zwei möglichen Alternativen hat. Berufstätigkeit geht keineswegs einher mit einer Freistellung oder auch nur einer Reduzierung von häuslichen Pflichten. In den meisten Fällen bleibt die Frau allein verantwortlich für die Führung des Haushalts sowie die Erziehung der Kinder. Klagen von erwerbstätigen Proletarierinnen, daß ihre Männer jede Hilfe im Haushalt als Entwürdigung und Zumutung ablehnen, sind keine Seltenheit (Mein Arbeitstag.. . 1930). In den Familien, in denen sich die Männer an der Hausarbeit beteiligen, handelt es sich zumeist um relativ klar abgegrenzte Tätigkeiten wie Wasserholen, Holzhacken usw., SABINE RICHEBÄ-CHER berichtet, sie habe keinen einzigen Hinweis dafür gefunden,

„.. . daß diese partielle Entlastung irgendwo zu einer gleichmäßigen Verteilung der Hausarbeit auf beide Eheleute geführt hätte" (RICHEBÄCHER 1982, 77).

Aus der Sichtweise einer dogmatischen Marxinterpretation heraus ist der Wunsch vieler Frauen nach Aufgabe der Berufstätigkeit und nach Rückzug ins Familienleben bisher als Ausdruck rückständigen Bewußtseins gewertet worden (vgl. HOLZINGER 1974). Diese diskriminierende Einschätzung der Bewußtseinslage der Frauen ignoriert m. E., daß die einseitig auf die Berufsarbeit ausgerichtete Emanzipationsstrategie der SPD und der sozialistischen Frauenbewegung der Lebenssituation der meisten Frauen in keiner Weise gerecht wird. Auf dem Hintergrund der schlechten, wenig qualifizierten Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen, sowie der Doppelbelastung durch Berufs- und Hausarbeit bietet die Berufsarbeit den wenigsten Frauen eine echte Alternative zur Hausarbeit. Der Vorzug einer relativen ökonomischen Unabhängigkeit wird von den Frauen erkauft mit dem doppelten Maß an Arbeit, sowie der ständigen Angst, den gestellten Anforderungen in Beruf und Familie nicht gewachsen zu sein. Die angebliche Wahlfreiheit der Frau stellt sich in der Realität lediglich als ein Abwägen zwischen zwei verschiedenen Übeln dar.
Auch die Lebenssituation sozaldemokratischer Frauen bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. KÄTE DUNCKER schildert das Verhalten ihrer Parteigenossen im sogenannten privaten Bereich mit harten Worten:

„Gar mancher Genosse, der in Partei und Gewerkschaft ganz tüchtig seinen Mann stellt, läßt vor der Tür seiner Wohnung den Sozialdemokraten draußen. Innerhalb seiner vier Wände, da ist sein Denken und Handeln noch absolut kleinbürgerlich, patriarchalisch. . . . Die Frau ist dazu da, ihm das Leben möglichst angenehm zu machen und sich sonst um nichts zu kümmern, die Kinder haben zu parieren - das ist sein Familienideal" (DUNCKER 1908, 114).

KÄTE DUNCKER weiß, wovon sie redet. Auch in ihrer Ehe hat sie hart für die Durchsetzung ihrer Interessen zu kämpfen. HERMANN DUNCKER ist aktiver Sozialdemokrat und als solcher billigt und unterstützt er die Arbeit seiner Frau in der Partei. In seiner Funktion als Ehemann stellt er jedoch Anforderungen an KÄTE, die mit ihrer Parteiarbeit nicht zu vereinbaren sind. In einem Brief an ihren Mann, datiert vom 10. 9. 1916, vermittelt KÄTE DUNCKER ein Bild dieser an sie gestellten Anforderungen:

„Bitte nimm für den nächsten Urlaub . . . erst den 30. Juli in Aussicht. Am 23. ist ebenfalls wieder Generalversammlung, wir haben nichts davon, ich bin kaputt schon vorher. Ich muß auch erst mal eine Woche völlig in Ruhe und ohne Störung meine aufgehäuften Sachen abarbeiten. Du möchtest immer als Besuch behandelt werden, für den man absolut frei ist und dem man alle Unannehmlichkeiten aus dem Weg räumt. Bei der Überbelastung, unter der ich augenblicklich leide und bei der Disharmonie im Haus ist das ein Ding absoluter Unmöglichkeit. Ich bin völlig am Rande meiner Leistungsfähigkeit, natürlich gereizt und verbittert, und es braucht nur eine Kleinigkeit, um das Faß zum Überlaufen zu bringen. Du hast viel zu wenig die Möglichkeit, Dich in meine Lage zu versetzen" (FÖRSTER 1965, zit. nach: RICHEBÄCHER 1982, 96).

In krassem Gegensatz zu den Aussagen von Arbeiterinnen über ihre Lebenssituation steht die Behauptung EDMUND FISCHERs, die Schlagwörter von der,„Tyrannisierung der Frauen' durch die Männer. . . der ,Knechtschaft des Hauses', der ,Brutalität des Mannes' usw." seien „dem Sprachschatz der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen entnommen ..." (FISCHER 1919, 25) und träfen daher auf proletarische Familienverhältnisse nicht zu. Glaubt man FISCHERs Ausführungen, so ist das Ehe- und Familienleben in der Arbeiterschaft geradezu vorbildlich.

„Im Proletariat wird fast durchweg aus Neigung geheiratet. Gemeinsam nimmt das Paar den Kampf mit dem Leben auf. Irgendein Abhängigkeitsgefühl ist bei keinem Teile vorhanden. Daß der Mann in die Fabrik geht, das Geld verdient, die Frau die Hausarbeit besorgt, wird als eine gleichwertige Arbeitsteilung angesehen" (FISCHER 1919, 26).

Diese von FISCHER geschilderte Form der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern trifft allerdings nur auf wenige Proletarierfamilien zu. In der Regel sind Mann und Frau berufstätig, wobei der Frau zusätzlich noch die Verantwortung für den Haushalt obliegt. Da dieser Sachverhalt FISCHER nur unter völliger Mißachtung der Realität verborgen geblieben sein kann, was wenig wahrscheinlich ist, liegt m. E. diesem Kon-strukt von der gleichwertigen Arbeitsteilung im Proletariat FISCHERS männliche Interessiertheit an der Aufrechterhaltung dieses ungleichen Zustandes zugrunde.
FISCHER gehört zwar zum stark bekämpften revisionistischen Flügel in der SPD, seine idealistische Einschätzung der Geschlechterbeziehungen im Proletariat ist jedoch durchaus nicht untypisch für die gesamte Sozialdemokratie (vgl. z. B. KAUTSKY 1892). Diese Verherrlichung und Verklärung des proletarischen Ehe- und Familienlebens steht ganz in der Tradition FRIEDRICH ENGELS, der die Beseitigung der Unterdrückung der Frau im Proletariat bereits verwirklicht sah (ENGELS 1977, 82).
Leider wird diese fast idyllisch anmutende Schilderung FISCHERS des Familienlebens in der Arbeiterschaft von den meisten Arbeiterinnen nicht bestätigt. So berichtet z. B. OTTILIE BAADER in ihren Lebenserinnerungen:

„In welchem Abhängigkeitsverhältnis die Frauen, auch die arbeitenden Frauen, damals noch zu ihren männlichen Familienangehörigen standen, habe ich am eigenen Leibe erfahren. Trotzdem ich nun schon lange die alleinige Erhalterin unseres kleinen Haushaltes war, blieb ich für meinen Vater die Tochter, die keine eigene Meinung zu haben brauchte, die sich in allem unbedingt nach ihm zu richten hatte" (BAADER 1921, zit. nach: KLUCSARITS/KÜRBISCH o. J. 142).

Die Kindheitserinnerung einer anderen Arbeiterin widerlegt die Behauptung FISCHERs, daß die Brutalität der Männer ein ausschließlich bürgerliches Familienphänomen ist. Die Glasschleiferin AURELIA ROTH schildert ihren Vater als einen jähzornigen Alkoholiker, der in betrunkenem Zustand Frau und Kinder schlägt. Eine schwere Erkrankung des Vaters, die ihn ans Bett fesselt, wird für AURELIA zur schönsten Zeit ihrer Kindheit. Mutter und Kinder müssen in dieser Zeit zwar hart arbeiten, um das Überleben der Familie sicherzustellen, „... aber es ging leichter, weil Frieden im Hause war" (Gedenkbuch 1912, zit. nach: KLUCSARITS/KÜRBISCH o. J., 76).
Auch die Lebensbeschreibung der österreichischen Sozialdemokratin ADELHEID POPP vermittelt keineswegs den Eindruck eines harmonischen Familienlebens:

„Ich erinnere mich an kein zärtliches Wort, an keine Liebkosung, sondern nur an die Angst, die ich in einer Ecke oder unter dem Bett verkrochen, ausstand, wenn es eine häusliche Szene gab, wenn mein Vater zu wenig Geld nach Hause brachte und die Mutter ihm Vorwürfe machte. Mein Vater war jähzornig, er schlug dann die Mutter, die oft nur halb angekleidet fliehen mußte, um sich bei den Nachbarn zu verbergen ... Solche Szenen kehrten fast jeden Monat und auch früher wieder. Mein ganzes Herz hing an der Mutter; vor dem Vater hatte ich eine unbezwingliche Scheu und ich erinnere mich nicht, ihn je angeredet zu haben, oder von ihm angesprochen worden zu sein" (POPP 1909, 1 f.).

Diesen  und  anderen  autobiographischen  Quellen  zufolge  scheinen Schläge zum Familienalltag  vieler  Proletarierfrauen und  -mädchen gehört zu haben. Daß Männer Gewalt gegen Frauen und Kinder ausüben, ist somit keineswegs eine ausschließlich im Bürgertum anzutrefffende Erscheinung. Die Auffassung von der Überwindung der vater-§|       rechtlichen Familie im Proletariat gehört damit endlich in den Bereich der Mythen und Legenden verbannt! (Vgl. Das Kapital und die Frauenemanzipation 1890.)
In ihren persönlichen Lebenszusammenhängen erkennen Sozialistinnen sehr wohl, daß nicht allein die Klassenzugehörigkeit, sondern vor allem die Geschlechtszugehörigkeit ausschlaggebend ist für die Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie erkennen, und stehen damit im Widerspruch zur offiziellen Parteidoktrin, daß proletarische Männer und Frauen nicht dem gleichen Unterdrückungsschicksal unterworfen sind. Frauen unterliegen neben ihrer Ausbeutung als Lohnarbeiterinnen noch einer weiteren Form der Unterdrückung, der als Geschlechtswesen. Und von dieser Form der Unterdrückung profitiert nicht nur der Kapitalismus, sondern auch Väter, Söhne und Ehemänner der Frauen. Diese Erkenntnis erweckt bei vielen Sozialistinnen berechtigte Zweifel an der offiziellen Parteitheorie, die besagt, daß die Stunde der Frauenbefreiung mit der allgemeinen proletarischen Emanzipation zusammenfällt. Der Kampf männlicher Parteimitglieder gegen angebliche Sonderrechte und Sonderorganisationen der Frauen weckt bei den Sozialdemokratinnen die Befürchtung, daß die Partei die besondere Unterdrük-kungssituation der Frauen nicht zur Kenntnis nimmt. Trotz dieser Zweifel und Befürchtungen findet jedoch der geschlechtliche  Unterdrückungszusammenhang  keine  Berücksichtigung  in  den Schlußfolgerungen für die konkrete Organisationsarbeit der proletarischen Frauenbewegung, die CLARA ZETKIN in Anschluß an ihre Schrift „Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart" zieht (ZETKIN 1889). Die Befreiungskonzeption der sozialistischen Frauenbewegung bleibt einseitig bezogen auf den Produktionsbereich, der Bereich der individuellen Reproduktion, als angeblicher Ort der Privatheit, bleibt weiterhin ausgeklammert. Der vorrangigen Aufgabe einer Frauenemanzipationstheorie, die meiner Ansicht nach in der Erstellung einer systematischen Analyse liegt, die die Bedeutung der verschiedenen Lebensbereiche von Frauen für ihre Befreiung abklärt, wird die sozialistische Frauenemanzipationstheorie damit nicht gerecht. M. E. ist die Ausklammerung einer Analyse des sogenannten privaten Bereichs „Ehe und Familie" für die Emanzipation der Frau der Preis, den die sozialistische Frauenbewegung für ihre organisatorische Anbindung an die SPD bezahlen mußte. Als Nutznießer der Ausbeutung von Frauen im häuslichen Bereich konnte den Genossen an einer Änderung ihrer häuslichen Vormachtstellung nicht gelegen sein. Es bleibt dabei die Frage offen, ob den proletarischen Frauen die Durchsetzung ihrer Interessen in einem anderen Organisationszusammenhang, z. B. in der Verbindung mit der bürgerlichen Frauenbewegung, besser gelungen wäre. M. E. wird in vielen Publikationen der „neuen" Frauenbewegung die von CLARA ZETKIN   forcierte   organisatorische  Anbindung  der   sozialistischen Frauenbewegung an die SPD allzuschnell als Verrat an der gemeinsamen Frauensache abgetan. Es gibt eine Reihe von Belegen dafür, daß in der, von der bürgerlichen Frauenbewegung propagierten, Interessenidentität aller Frauen nicht unbedingt auch die Arbeiterinnen einbezogen waren. Am deutlichsten läßt sich dieser Sachverhalt an der Frage des Frauenstimmrechts und an der gewerkschaftlichen Organisierung der Dienstboten aufzeigen. So strebte z. B. der konservative Teil der bürgerlichen Frauenbewegung keineswegs das Wahlrecht für alle Frauen an, sondern lediglich das Wahlrecht für Frauen im Sinne des Drei-Klassen-Wahlrechts (AUGSPURG/HEYMANN 1972, 97 ff., 108). Das unterschiedliche Klasseninteresse bürgerlicher und proletarischer Frauen zeigt sich ebenso deutlich in der Frage der Dienstbotengewerkschaft. In ihrer Funktion als Arbeitgeberinnen bekämpfen die bürgerlichen Frauen aufs schärfste die Versuche ihres Hauspersonals durch eine
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gewerkschaftliche Organisierung eine Verbesserung ihrer ökonomisch und sozial abhängigen Situation zu erreichen (vgl. BRAUN 1911, 305 ff.).
Mit der Außerachtlassung des Bereichs „Ehe und Familie" bleibt eine Analyse über die Ursachen der Frauenunterdrückung notwendigerweise unvollständig. Die sozialistische Frauenemanzipationstheorie sieht denn auch die Wurzeln der Frauenunterdrückung in der Entstehung des Privateigentums und nicht in der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die dieser zeitlich vorausgeht. Die Forderung nach Aufhebung der geschlechtlichen Arbeitsteilung ist somit auch kein zentraler Punkt im Emanzipationskonzept der proletarischen Frauenbewegung. Die Forderung nach Vergesellschaftung von Hausarbeit und Kindererziehung wird zwar vielfach dahingehend interpretiert, als ob mit ihr die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern intendiert ist. Diese Auffassung ist jedoch m. E. nicht haltbar. Selbst in theoretischen Abhandlungen über Möglichkeiten der Vergesellschaftung von Hausarbeit und Kindererziehung (BRAUN 1901) bleiben diese beiden Bereiche nach wie vor Frauensache. Der Begriff der Vergesellschaftung wird dabei in verschiedenen Abhandlungen in unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Teilweise wird er gebraucht im Sinne von Verstaatlichung, was das gebrochene Verhältnis der Sozialdemokratie zum Marxismus dokumentiert. ODA OHLBERG dagegen versteht Vergesellschaftung eher im Sinne des Selbsthilfeprinzips von Interessengruppen (vgl. OHLBERG 1919, 38). Die alleinige Zuständigkeit der Frauen für Haushalt und Kindererziehung zeigt sich auch in konkreten praktischen Versuchen, die in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in größerem Ausmaß von der SPÖ in Wien praktiziert wurden. Da die Erziehung der Kinder den Sozialdemokratinnen als Frauensache gilt, liegt es nahe, daß die Beschäftigung mit pädagogischen Fragestellungen in der sozialistischen Frauenbewegung großen Raum einnimmt. Hinzu kommt, daß ein großer Teil der führenden Mitglieder der Frauenbewegung in pädagogischen Berufen ausgebildet ist. CLARA ZETKIN/ KÄTE DUNCKER/IDA ALTMANN/ANNA BLOS/TONI JENSEN/ MARIE KUNERT/ANTONIE PFÜLF/ADELE REICHE/ANNA SIEMSEN und HILDEGARD WEGSCHEIDER sind ausgebildete Lehrerinnen. LUISE ZIETZ ist von Beruf Kindergärtnerin (vgl. NIG-GEMANN 1981b, 29).
In der Frage der Kindererziehung erkennen die Frauen sehr wohl die Bedeutung der Erziehung für die Festschreibung oder aber die Überwindung geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen. Die österreichische Sozialdemokratin   THERESE   SCHLESINGER   wendet   sich   z.B. energisch gegen die Bevorrechtung der Jungen in der häuslichen Erziehung. Sie schildert die alltägliche Benachteiligung der Mädchen in Arbeiterfamilien mit folgenden Worten:

„Kommt der Knabe aus der Schule heim, so betrachtet er es als selbstverständliches Recht, seine freie Zeit nach Gutdünken zu verwenden. Das Mädchen hingegen muß der Mutter bei den Hausarbeiten helfen, die kleinen Geschwister beaufsichtigen, und oft auch noch ganz überflüssige Handarbeiten machen, statt gleich ihrem Bruder sich im Freien zu tummeln oder ein gutes Buch zu lesen" (SCHLESINGER 1921, 215).

THERESE SCHLESINGER spricht sich dafür aus, auch die Jungen verstärkt zur Hausarbeit heranzuziehen. Ihnen kann es nur nützen, erklärt sie, „. . . wenn sie der Mutter kleine Einkäufe besorgen, ihr in der Küche behilflich sind und sich gewöhnen, mit den kleinen Geschwistern fürsorglich umzugehen" (SCHLESINGER 1921, 216). Sie begründet ihren Vorschlag damit, daß die frühe Gewöhnung der Jungen an die Hausarbeit später einmal  die  Zusammenarbeit von Männern und Frauen in der Arbeiterbewegung erleichtern werde. Wenn es zum Nutzen der Partei ist, dürfen Männer auch schon mal Hausarbeit machen! Auf gleicher Ebene liegt die Forderung HULDA MAURENBRECHERs nach Entlastung der Frau von Hausarbeit und Kindererziehung durch die Mithilfe des Mannes. Die Aufhebung der eindeutig zu Lasten der Frauen gehenden ungleichen Arbeitsverteilung wird nicht etwa als ein selbstverständliches Recht der Frauen eingefordert, sondern erscheint nur dann ausreichend legitimiert, wenn die Frauen durch die zeitweise Entlastung Zeit gewinnen für die politische Betätigung in der Arbeiterbewegung (MAURENBRECHER 1904, 291). Das einfache, schlichte Bedürfnis der überarbeiteten und überlasteten Frauen nach etwas Freizeit, Ruhe und Erholung erscheint den Sozialdemokratinnen allein nicht ausreichend, um die Mithilfe des Mannes im Haushalt einzufordern. Im Gegensatz zum Mann, der mit dem Recht des Stärkeren sein Anrecht auf Freizeit durchsetzt, gibt es für die Frau kein Recht auf arbeitsfreie Zeit. Erst ihre Arbeit im häuslichen Bereich schafft ja die Voraussetzung dafür, daß der Mann die Zeit im Haus als arbeitsfrei, als Freizeit erleben kann.
Selbst mit dieser Minimalforderung nach zeitweiliger Entlastung von Hausarbeit zugunsten der politischen Betätigung stoßen die Sozialdemokratinnen in der eigenen Partei auf wenig Entgegenkommen. Wie SABINE RICHEBÄCHER in der Rekonstruktion eines exemplarischen Arbeiterinnenlebenslaufs verdeutlicht, findet die politische Betätigung von Frauen

„... nicht in einer von Erwerbsarbeit und anderen Verpflichtungen .freien' Zeit statt, da sie darüber gar nicht verfügen. Politische Arbeit von Frauen entzieht. Mann und Kindern einen bestimmten Teil der Versorgungsleistungen und Zuwendung der Gattin und Mutter oder erzeugt zumindest die Angst vor einem solchen Entzug. Sie stellt an die übrigen Familienmitglieder Anforderungen in bezug auf Flexibilität und die Bereitschaft, ,bewährte' geschlechtsspezifische Verhaltensmuster aufzubrechen" (RICHEBÄCHER 1982, 93 f.).

Diese Bereitschaft scheint in der Arbeiterschaft nicht besonders stark ausgeprägt gewesen zu sein. Niggemann zufolge ist auch in sozialdemokratischen Familien erheblicher Widerstand von Eltern bzw. Ehemännern gegen die politische Betätigung ihrer Töchter bzw. Ehefrauen nachweisbar.

„Noch in der Weimarer Republik machten organisierte Arbeiter ihren Frauen die politische Arbeit unmöglich oder untersagten ihren Töchtern die Mitgliedschaft in der Sozialistischen Arbeiterjugend ..." (NIGGEMANN 1981b, 36).

In der Frage der innerfamilialen Gleichberechtigung hofft die proletarische Frauenbewegung auf eine langfristige Überwindung patriarchalischer Verhaltensmuster durch eine gleichberechtigte Erziehung von Jungen und Mädchen. THERESE SCHLESINGER zufolge klaffen bei diesem Ansinnen allerdings oft Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Sie weist daraufhin, daß Mütter in der Erziehung ihrer Söhne bei diesen oft die Entwicklung von Verhaltensweisen fördern, die sie bei ihren Männern aufs schärfste ablehnen. So beklagen sich häufig Frauen über die mangelnde Hilfe des Mannes im Haushalt, helfen jedoch dieses Verhalten ständig zu reproduzieren, indem sie ihre Söhne von klein auf an daran gewöhnen, sich von Mutter oder Schwester bedienen zu lassen und ihnen dies als ein ihnen zustehendes Recht anerkennen (SCHLESINGER 1921, 216).
CLARA ZETKIN betrachtet es als vorrangige Pflicht sozialdemokratischer Eltern, ihre Kinder „... nicht in den Vorurteilen aufzuziehen, daß es Arbeiten gibt, die des Mannes unwürdig sind, die aber dem Weibe geziemen" (ZETKIN 1906, 309). Ihre wie auch THERESE SCHLESINGERS Ausführungen sind m. E. keinesfalls als Aufruf zu einer bewußt geschlechtsunspezifischen Erziehung zu verstehen, mit der letztlich die Aufhebung der geschlechtlichen Arbeitsteilung intendiert ist. CLARA ZETKIN betont ausdrücklich, daß ihre in die Pflichtnahme der Eltern in keiner Weise so verstanden werden darf.

„Ich will dadurch keineswegs die Teilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern beseitigt wissen, soweit dieselbe sozial notwendig ist, und im Hinblick auf das Ergebnis der Arbeit durch vererbte Disposition und Geschicklichkeit geboten erscheint, mag auch an dem vererbten das unter sozialen Einflüssen geschichtlich Gewordene ein gut Teil haben. Ich will nur dem alten Vorurteil von höherer
Männerarbeit und minderwertiger Frauenarbeit entgegen zu wirken suchen" (ZETKIN 1906, 309).

Auch Aussagen von ihr über die Besonderheit des weiblichen Geschlechtscharakters lassen die Aufrechterhaltung der geschlechtlichen Arbeitsteilung wahrscheinlich erscheinen. So fordert CLARA ZETKIN zwar die gemeinsame Erziehung und den gemeinsamen Unterricht von Mädchen und Jungen, jedoch auf dem Hintergrund der immer stärkeren psychischen Auseinanderentwicklung der Geschlechter. Sie führt dazu aus:

„Je mehr die Frau als gleichberechtigt hinaus ins Leben tritt und Gelegenheit hat, ihre Persönlichkeit zu entfalten, um so mehr wird sich ihre weibliche Eigenart entwickeln. Die Emanzipation der Frau führt nicht zu dem Resultat, das schreckhafte Philister vorausgesagt haben: zum Verwischen des psychischen weiblichen Wesens. Nicht zu einer grotesken Kopie, nicht zu einem Affen des Mannes wird sich die von sozialen Schranken befreite Frau entwickeln, sondern gerade ihre weibliche Eigenart wird frei erblühen. Je weiter aber die Entwicklungslinien der Geschlechter auseinanderlaufen, um so wichtiger wird der gemeinsame Unterricht für das Verständnis, daß harmonische Zusammenwirken der Geschlechter" (ZETKIN 1904 b, 228).

Was CLARA ZETKIN unter spezifischer weiblicher Eigenart versteht, hängt aufs engste zusammen mit der gesellschaftlichen Funktion der Frau als Hausfrau und Mutter. So hält sie z. B. die Einrichtung von Kindergärten für

„... ein hervorragendes Gebiet der Betätigung bisher mißbrauchter oder gar zur Untätigkeit verurteilter weiblicher Arbeitskraft . .., ein Gebiet, das sich eng an den häuslichen, mütterlichen Pflichtkreis der Frau anschließt, eine Erweiterung und Vertiefung bedeutet. Alle die vielen Frauen, denen Ehe oder Kindersegen versagt ist, alle, die Begabung und Neigung auf mütterliches Walten verweist, können sich hier zum Nutzen der Allgemeinheit, zur eigenen Befriedigung betätigen. Alle ihre mütterliche Liebe, Wärme, Einsicht, könnten sie da an den Kindern anderer ausleben." CLARA ZETKIN schließt mit dem Appell: „Es ist eine sittliche Pflicht der Gesellschaft, für die Betätigung aller im Weibe ruhenden Kräfte Raum zu schaffen" (ZETKIN 1904 b, 231).

Die besondere Eigenart des weiblichen Geschlechtscharakters ist demnach gekennzeichnet durch das Phänomen der biologischen und sozialen Mutterschaft. CLARA ZETKIN, die sich ansonsten aufs schärfste von der bürgerlichen Frauenbewegung und deren Gedankengut distanziert, greift hier zurück auf das, von der Fröbel-Schülerin HENRIETTE SCHRADER-BREYMANN geprägte Prinzip der „geistigen Mütterlichkeit" (SCHRADER-BREYMANN 1962). HENRIETTE SCHRADER-BREYMANN, die zum äußerst rechten, konservativen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung gehört, propagiert, daß jedes Mädchen, inin Vorbereitung auf ihren „natürlichen" Beruf als Hausfrau, einen spezifisch weiblichen Beruf erlernen soll. Als spezifisch weiblich gelten ihr Berufe im sozialen Bereich. Diese Ausbildung soll es dann der unverheiratet bleibenden Frau ermöglichen, ihrer Bestimmung als Frau auf dem Weg der „geistigen Mütterlichkeit" nachzukommen. Dieses Prinzip der „geistigen Mütterlichkeit" findet sich nicht nur bei CLARA ZET-KIN wieder (vgl. FÜRTH 1903, 10; FERCH 1913, 84). Was in diesem Zusammenhang auffällt, ist, daß CLARA ZETKIN sich mit ihren Äußerungen über den weiblichen Geschlechtscharakter eindeutig absetzt von früher getroffenen Aussagen. Im Jahr 1889 hat sie noch heftig gegen den Mythos von der Frau als der geborenen Erzieherin Stellung bezogen. Damals erklärte sie:

„So wenig, wie z. B. alle Männer mit den Keimen der Befähigung, Schuhmacher, Soldat oder Maler zu sein, geboren werden, so wenig sich bei ihnen allen diese vielleicht vorhandenen Keime entwickeln können, ebenso wenig bringt jede Frau die Begabung für den pädagogischen Beruf mit auf die Welt. . . . Die Begabung für den erzieherischen Beruf ist wie jedes andere Talent nach Individuen und nicht nach Geschlechtern verteilt .. ." (ZETKIN 1889, 30 f.).

Dieser Sinneswandel CLARA ZETKINs ist meiner Meinung nach als Teil eines allgemeinen Verbürgerlichungsprozesses des SPD nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes anzusehen. Unter dem Deckmantel radikaler Phraseologie entwickelt sich die SPD immer stärker zu einer bürgerlichen Reformpartei. Diese These von der Verbürgerlichung der deutschen Sozialdemokratie ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund der politischen Situation im deutschen Kaiserreich. Ursprünglich ist die Forderung nach „Freiheit" und „Gleichheit" aller Menschen eine genuin bürgerliche Forderung, die im Kampf des Bürgertums gegen den feudalistischen Adel zum politischen Programm erhoben wird. Mit der endgültigen Etablierung des Bürgertums als herrschender Klasse entfernen sich die bürgerlichen Parteien im Kaiserreich immer mehr von ihren ursprünglich vertretenen Freiheits- und Gleichheitspostulaten. Da die bürgerlichen Parteien nicht konsequent für die Einlösung dieser beiden Prinzipien ungeachtet der Klassen- und der Geschlechtszugehörigkeit eintreten, übernimmt die SPD das Erbe dieser Parteien, indem sie sich deren Forderungen zu eigen macht. Die Kennzeichnung der offiziellen Parteilinie der SPD nach dem Erfurter Parteitag von 1891 durch SABINE RICHEBÄCHER bestätigt diese Annahme. Die wesentlichen Merkmale dieser politischen Richtung sind demnach:

„. .. eine evolutionistisch umgedeutete Marxismusrezeption, die Einsetzung der parlamentarischen Taktik als einzig handlungsrelevanter Organisationsanleitung und eine damit verbundene Beschränkung auf legalistische Kampfführung" (RICHEBÄCHER 1982, 103).

Der sozialdemokratischen Parteitheorie liegt damit ein Konglomerat von marxistischen und darwinistischen Gedankenelementen zugrunde, aus dem ein evolutionistisches Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse resultiert.
Das in der offiziellen Parteilinie beobachtbare Phänomen der 
Uminterpretation gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen in Naturprozesse" (RICHEBACHER 1982, 103) zeigt sich m. E. auch in der  veränderten Auffassung CLARA ZETKINs vom Wesen der Frau. Die gesellschaftlich bedingte Ausformung des weiblichen Geschlechtscharakters gerät bei ihr zur Natur der Frau.
Auch in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Thesen EDMUND FISCHERS zur Frauenemanzipation fällt CLARA ZETKIN hinter ihre früher bezogene Position zurück. Sie wendet sich zwar energisch gegen seinen Versuch, die Frauen zurück an den häuslichen Herd zu verbannen, aus ihrem Rückzug auf Begrifflichkeiten wie „die heiligen Verpflichtungen der Mutterschaft" und den „verschüttet wertvollen, unersetzlichen Quellen des Lebens" (zit. nach: RICHEBACHER 1982, 153) läßt sich jedoch meiner Meinung nach ableiten, daß ihre Auffassung von der Natur der Frau der FISCHERschen sehr nahekommt. FISCHER stellt sich keineswegs als offener Gegner der politisch-rechtlichen Emanzipation der Frau dar. Er erklärt sogar ausdrücklich:

„Selbstverständlich muß die Frau politisch und rechtlich dem Manne gleichgestellt und ihr die Entmcklungsmöglichkeit auf allen Gebieten gegeben werden" (FISCHER 1919, 30).

Dieser politisch-rechtliche Gleichstellungsakt der Frau mit dem Mann ändert jedoch seiner Meinung nach nichts an der Tatsache,

„... daß das erste und höchste, tief in der Natur des Weibes begründete Lebensziel der Frauen ist: Mutter zu sein und der Pflege und Erziehung der Kinder zu leben, ..." (FISCHER 1919, 30).

Aus den Äußerungen CLARA ZETKINs und anderer sozialdemokrati
scher Frauen läßt sich entnehmen, daß gerade in der Diskussion um
j    Mutterschaft und Mutterliebe die Grenzen zwischen Aussagen der
Frauenbewegung und der ihrer Gegner fließend sind. ODA OHLBERG erklärt sogar ausdrücklich ihre Übereinstimmung mit FISCHER in dieser Frage.

„Eine schlimmere Verkürzung und Verstümmelung des Weibes, als die Entzie
hung der Kinder, gibt es wohl kaum; darin bin ich und ist wohl jede Mutter mit
FISCHER einverstanden. Das Hegen und Pflegen der Kinder ist nicht nur eine
,    objektive Notwendigkeit, es ist auch ein Lebensbedürfnis der Mutter; wohl jede Frau sieht nur mit stillem Herzeleid die Kinder ihrer Pflege entwachsen und
%    findet es schade, daß die Kleinen so schnell groß werden" (OHLBERG 1919, 37).

Ihrer Parteigenossin HOPE BRIDGES ADAMS-LEHMANN zufolge ist eine Diskussion über Mutterschaft und Mutterliebe gänzlich überflüssig. Sie ist lediglich Ausdruck der, ihrer Ansicht nach, grundlosen Ängste der Männer vor der Frauenbewegung.

„Wie kann man diskutieren über Liebe und Mutterschaft? Über Details, über Einrichtung, über Organisationen diskutiert man, aber nicht über die großen, ehernen, ewigen Gesetze unseres Daseins. Einfach ist die Liebe von Mann und Frau, einfach ist die Liebe der Mutter zum Kind, selbstverständlich ist das Verlangen der Mutter, ihre Kinder zu erziehen. Fürchtet man, daß diese Grundlagen des tierischen Lebens durch irgendeine Theorie oder irgendeinen Entwicklungsgang in Gefahr geraten könnten? Warum weist ihr uns immer auf die Natur und habt doch selber so wenig Vertrauen zu ihr? Ihr dürft außer Sorge sein. Wir werden nicht aufhören, Kinder zu gebären, Kinder zu säugen, Kinder zu erziehen. Wir werden auch nicht aufhören, mit Mann und Kind ein Heim zu begehren, das traut und still durch die Liebe gepflegt ist" (ADAMS-LEHMANN 1919, 47).

HOPE BRIDGES ADAMS-LEHMANN bekennt sich zwar zur ökonomischen, politischen und rechtlichen Emanzipation der Frau, doch diese soll, wie sie versichert, keinerlei Auswirkungen auf das Familienleben haben. Daher erübrigt sich ihrer Meinung nach auch jeglicher Widerstand der Männer gegenüber der Frauenbewegung. Der Einfluß bürgerlicher Weiblichkeitsideologie auf die sozialistische Frauenbewegung läßt sich sowohl bei den Revisionistinnen als auch bei den zur radikalen Fraktion gehörenden Frauen nachweisen. Gerade an der Frage der ,wahren' Bestimmung der Frau wird deutlich, daß die Zuordnung der Sozialdemokratinnen zu einem dieser beiden Flügel in der Partei noch nichts aussagt über die Radikalität ihrer Vorstellungen in bezug auf die Frauenfrage. ODA OHLBERG und HOPE BRIDGES ADAMS-LEHMANN gehören beide zum revisionistischen Flügel der Partei, ihre Position zu Frauenemanzipation und Mutterschaft ist jedoch unter den Revisionistinnen keineswegs unumstritten. WALLY ZEPLER z. B. hält die Behauptung ODA OHLBERGs

„. .. das Hegen und Pflegen der kleinen Kinder sei ein unbedingtes .Lebensbedürfnis' jedes Weibes ... für außerordentlich anfechtbar" (ZEPLER 1919, 78).

In ihrer Analyse der ideologischen Verkleisterung von Mutterschaft und Mutterliebe erkennt sie zwar nicht den noch relativ jungen Charakter des bürgerlichen Mütterideals, ansonsten ist die Analyse jedoch ein Dokument bemerkenswerter Klarheit und Stringenz in der Gedankenführung. Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die Frage der Vergesellschaftung von Kindererziehung. In dieser Frage erklärt sie,

„... stehen wir so sehr unter dem Druck des Jahrhunderte lang genährten Gewohnheitsgefühls, sobald an den uralten Fetischismus von Mutterliebe und Mutterkraft auch nur gerührt wird, daß selbst dem objektivsten Beobachter in diesem Punkte meist ein verschwommener Gefühlsnebel die Klarheit des Blickes trübt. Und die durch diesen rosenroten Nebel hindurch die wahren Linien des Bildes nüchterner zu sehen glauben, trifft dann allzu leicht der Vorwurf, unnatürlich oder degeneriert zu empfinden. Genauer betrachtet, gibt es indessen für uns Kulturmenschen ... gar kein natürliches oder unnatürliches, sondern nur ein historisch gewordenes Empfinden" (ZEPLER 1919, 78).

Auch die zum revisionistischen Flügel in der SPD gehörende EMMA IHRER setzt sich eindeutig von den Positionen ODA OHLBERGs und HOPE BRIDGES ADAMS-LEHMANNs ab. Ihr bleibt auch die Ähnlichkeit zwischen der Position ODA OHLBERGs und der EDMUND FISCHERs nicht verborgen. Der Behauptung ODA OHLBERGs, die Entziehung der Kinder sei eine Verstümmelung des Weibes, die Pflege und Erziehung der Kinder ein unabdingbares Lebensbedürfnis der Frau, setzt sie entgegen:

„... nicht jeder Frau! Mutter Sein hat keineswegs zur Voraussetzung, daß eine Mutter unter allen Umständen besonderes Verständnis für die Kinderseele habe oder natürliche Talente, das nötige Wissen und Können, das zur Kinderpflege und -erziehung doch in weit höherem Maße vorhanden sein muß, als für irgend einen anderen Beruf. Ich möchte direkt sagen: die meisten Mütter haben weder das eine, noch das andere. Sie finden sich allmählich in diese Art der Pflichterfüllung hinein, wie in eine andere Aufgabe der Hausfrau, die sie als solche zu erfüllen haben, ohne im geringsten vorbereitet zu sein. Und nicht jede Mutter sieht mit Herzeleid die Kinder ihrer Pflege entwachsen. Der beschäftigten Proletarierin ist es eine Lasterleichterung,..." (IHRER 1905, 302). „Mutter Sein ist so wenig ein Lebensziel wie Vater Sein", erklärt sie bestimmt (IHRER 1905, 302).

EMMA IHRER gehört, zusammen mit WALLY ZEPLER, zu den radikalsten, fast feministisch denkenden Vertreterinnen der sozialistischen Frauenbewegung. Meines Wissens nach ist EMMA IHRER eine der wenigen Sozialdemokratinnen, die auch den Kampf um die innerfa-miliale Emanzipation der Frau als Aufgabengebiet der Frauenbewegung thematisiert. Ihre Aufforderung, daß die Proletarierin

„... nicht nur ihre Befreiung aus dem Joch des Kapitalismus" erstreben, sondern gleichzeitig „... für eine Befreiung von den Familienfesseln .. ." (IHRER 1905, 304) kämpfen muß, hat in der sozialistischen Frauenbewegung Seltenheitswert.

Gegenüber den Positionen der beiden Revisionistinnen EMMA IHRER und WALLY ZEPLER ist die CLARA ZETKINs, der Exponentin des radikalen linken Flügels in der proletarischen Frauenbewegung, fast in der Nähe OHLBERGs und ADAMS-LEHMANNs anzusiedeln. Die Rede CLARA ZETKINs zum 1. Maifeiertag im Jahr 1904 macht deutlich, wie sehr sie dem traditionellen bürgerlichen Familienideal und der überkommenen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verhaftet bleibt. Zum Stichwort „Ausbeutung der Frau im Kapitalismus" führt CLARA ZETKIN aus:

„Das ausbeutende Kapital kennt keine Rücksicht auf ihr Geschlecht und die vielerlei daraus erwachsenden Aufgaben. Es rechnet . . . nicht mit seinem schonungsbedürftigen Organismus, der das künftige Geschlecht austrägt, gebiert und nährt, nicht mit den verantwortungsvollen Pflichten der Gattin und Mutter, in treuem Walten ein Heim aufzubauen, welches dem Manne Ruhe, Anregung und Kraft gibt, den Kindern eine liebebehütete Schutzstätte ist, in welcher ihre Jugend gesund und fröhlich gedeiht. . . . Müde, abgehetzt kehrt die berufstätige Proletarierin aus Fabrik und Laden oder vom Felde zurück: der Arbeitstag der Heimarbeiterin aber hat in dem zur Arbeitsstatt, zur Ausbeutungshöhle entweihten Hause kaum eine Grenze. Und doch heißt es für die eine und die andere zur Erwerbsarbeit, den großen Pflichtkreis der häuslichen Verrichtungen zu fügen, und die Stimme des Blutes, die Stimme der Liebe gebeut, auch hier die ganze Kraft einzusetzen" (ZETKIN 1904 a, 274 f.).

Die Funktionalität der von Frauen unbezahlt geleisteten Hausarbeit für den Kapitalismus wird von CLARA ZETKIN anscheinend nicht erkannt. Hausarbeit erscheint ihr demnach als Arbeit aus Liebe! Die logische Konsequenz dieser Auffassung schlägt sich in der Zielbestimmung sozialdemokratischer Frauenagitation nieder.

„Es darf unmöglich die Aufgabe der sozialistischen Frauenagitation sein, die proletarische Frau ihren Pflichten als Mutter und Gattin zu entfremden" (zit. nach GEIGER/WEIGEL 1981, 81).

Seit der Jahrhundertwende wird in der SPD und der sozialistischen Frauenbewegung die Besonderheit des weiblichen Geschlechtscharakters ausdrücklich betont. Mit erschreckender Deutlichkeit zeigt sich dabei, daß selbst die Frauen dem Glauben von den „natürlichen" Unterschieden zwischen Mann und Frau aufsitzen. Ausgehend von diesem Gedankengut ist es bis zur Propagierung der besonderen Eignung von Frauen für soziale Berufe, aufgrund ihrer „natürlichen" weiblichen Fähigkeiten des Hütens, Bewahrens, Pflegens und Versorgens, nur noch ein gradueller Schritt, den CLARA ZETKIN bereits 1904 in ihrer Abhandlung über die Schulfrage vollzogen hat.
Wenn auch die offizielle Erschließung der Sozialarbeit als spezifisches weibliches Tätigkeitsgebiet, und als deren Folge die politische Beschränkung der Frauen auf diesen Bereich, erst in der Weimarer Republik erfolgt, so weisen die praktischen Anfänge sozialdemokratischer Sozialarbeit doch bereits zurück in das Jahr 1904. Die ersten Wohlfahrtsorganisationen der Sozialdemokratie sind die Kinderschutzkommissionen, die nach dem Erlaß des Kinderarbeitsschutzgesetzes gegründet werden.
FRITZMICHAEL ROEHL zufolge sind ausschließlich weibliche Parteimitglieder in diesen Kommissionen vertreten (ROEHL 1961, 50). Auf der 6. sozialdemokratischen Frauenkonferenz in Jena werden dann im Jahr 1911 endgültig die Weichen gestellt für die Festlegung der politischen Aufgaben der Frauenbewegung auf den Bereich der Sozialarbeit. KLARA WEYL führt in ihrem Referat über Kommunalpolitik als wichtigste Aufgaben der Frauenbewegung an:

„Krankenfürsorge, insbesondere für Gebärende; Heimstättenbehandlung für Genesende und die Einrichtung einer Hauspflege; Waisenfürsorge und die Armenverwaltung. ... Wohnungsinspektion und alle Aufgaben, die im Umkreis der Kinder- und Schulpflege .. . (liegen, E. K.): nämlich die Einrichtung und Betreuung von Kinderhorten, Berufsberatung, Waldschulen für schwächliche Kinder, Schulspeisungen und -bäder, Volksküchen usw." (Protokoll des SPD-Parteitages, 1911, zit. nach: RICHEBÄCHER 1982, 273).

Die Vorschläge KLARA WEYLs sind SABINE RICHEBÄCHER zufolge richtungsweisend für die weitere Entwicklung der proletarischen Frauenbewegung (RICHEBÄCHER 1982, 273). Die Erschließung der Sozialarbeit als spezifisch weibliches Tätigkeitsfeld in den zwanziger Jahren stellt somit keinen Bruch im sozialdemokratischen Gedankengut dar (THÖNNESSEN 1969), vielmehr ist sie latent immer vorhanden gewesen. Die Gründung der Arbeiterwohlfahrt in der Weimarer Republik wird selbst von MARIE JUCHACZ, der Begründerin dieser Organisation als Schlußstein einer langen Entwicklung verstanden (DERTINGER 1980, 136). Als wichtige Stationen auf diesem Weg kennzeichnet MARIE JUCHACZ die Arbeit der sozialdemokratischen Frauen in den Kinderschut2kommissionen sowie im „Nationalen Frauendienst" während des Ersten Weltkriegs!
In den zwanziger Jahren gewinnt die Arbeiterwohlfahrt im Zuge der zunehmenden Arbeitslosigkeit rasch an Bedeutung. Ihre Leistungen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zuschreibung und die Festlegung der Frauen auf die Sozialarbeit eine Fortsetzung der Frauendiskriminierung nur mit anderen Mitteln darstellt. In den zwanziger Jahren scheinen jedoch die meisten Frauen in der Beschränkung auf den Bereich der Sozialarbeit keinen Akt von Diskriminierung zu sehen, sondern vielmehr eine Konzentration auf Bereiche, in denen sich die Frauen für besser qualifiziert halten als die Männer. Auch in der Überrepräsentation der Frauen unter den ehrenamtlichen, unbezahlten Helfern in der Sozialarbeit und ihrer Unterrepräsentation in den kommunalen Behörden, in denen die Entscheidungen über Reformen in der Wohlfahrtspflege fallen, erkennen die Frauen in der SPD nicht den Diskriminierungstatbestand. MARIE JUCHACZ sieht in der ehrenamtlichen Arbeit von Frauen im sozialen Bereich lediglich ein hervorragendes Mittel zur Förderung staatsbürgerlichen Bewußtseins. Daraus wird deutlich, daß die endgültige Wandlung der SPD zu einer staatstragenden Partei auch die Frauenbewegung ergriffen hat. Für die politische Perspektive der Frauenbewegung hat sich die Beschränkung der politischen Arbeit auf den Bereich der Sozialarbeit als äußerst nachteilig erwiesen. ANNA SIEMSEN schreibt dazu rückblik-kend im Jahr 1930:

„Wir haben versucht, die Frauen speziell auf das Gebiet der Wohlfahrtspflege zu führen und die Arbeiterwohlfahrt hat zweifellos sehr Gutes geleistet,. . . Aber sie geriet dabei doch manchmal in bedenkliche Nähe der kirchlichen Wohlfahrtspflege, die in Deutschland sehr stark ist. Vor allem aber erzog sie wohl gute Funktionärinnen für soziale Arbeit, aber keine Frauen, welche die politische Lage genügend überschauten . .." (SIEMSEN 1930, zit. nach: GEIGER/WEIGEL 1981, 186).

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