Die bürgerliche Frau - eine unmögliche Konstruktion

Das Geschlecht - eine historische Kategorie?
Gedanken zu einem aus der neueren Geschichtswissenschaft verdrängten Begriff

1. Drei geschichts- und wissenschaftstheoretische Prämissen: Ideologiekritik, Feminismus, Materialismus

Der in der anglo-amerikanischen sozialwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Forschung inzwischen eingebürgerte Begriff Geschlecht/geschlechtsspezifisch (sex, sexual) findet nur sehr zögernd in der vergleichbaren deutschsprachigen Forschung Aufnahme. [1] Obgleich die Frauenforschung, insbesondere auch die Frauengeschichtsforschung schon seit mehreren Jahren diesen Begriff in den Mittelpunkt ihres eigenen Selbstverständnisses und ihres Forschungsinteresses gerückt hat, wird von seiten auch progressiver Historiker hierzulande bezweifelt, ob denn dem Geschlecht in sozialgeschichtlicher Sicht eine besondere Bedeutung zukommt. [2] Es gäbe, so heißt es, für das Erschließen und das Verstehen der Geschichte wichtigere Kategorien als die des Geschlechts. Die Geschlechtszugehörigkeit sei schließlich doch eine im wesentlichen unveränderbare Naturtatsache. Nicht das Geschlecht, sondern die soziale Lage, die Klassenzugehörigkeit sei für die Ausdrucks- und Lebensformen und für die Handlungsmöglichkeiten von Gruppen und Individuen entscheidend. Diese sozialgeschichtliche Tatsache gelte auch für die Frauen, die sich in erster Linie durch ihre soziale, von ihrem Geschlecht weitgehend unabhängige, Lage definieren lassen. [3]
Diese Einschätzung des Geschlechts als einer Kategorie von hoher naturhafter bzw. anthropologischer Konstanz und somit von geringer historischer Bedeutung und Veränderungsfähigkeit, die in einer Konkurrenzsituation mit den Kategorien Schicht/Klasse/soziale Lage gestellt wird, ist in der wissenschaftlichen Diskussion um die Anerkennung der Frauengeschichtsforschung in der Bundesrepublik von erheblichem Belang. Gewisse Selbstverständlichkeiten, daß etwa das Geschlechtsmerkmal "weiblich" keine absolut unveränderliche, anthropologische Konstante darstellt, rufen zwar keinen ernsthaften Widerspruch in Historikerkreisen hervor. Kein Historiker von Rang wird sich heute zu einer Ontologisierung oder gar zu einer Biologisierung der Frau offen bekennen. Dennoch wirken feministische Versuche, die Geschlechtsspezifik unserer Kultur, unserer Normen und Denksysteme und unserer Arbeits- und Herrschaftsformen zu ihrem zentralen Thema zu erheben, provozierend. Feministische Ansätze werden von der herrschenden, männlich dominierten Fachwissenschaft vorschnell als "schlimmster anti-aufklärerischer Sexismus" zurückgewiesen. So liegt der Verdacht nahe, daß die versteckten Formen der Biologisierung und der Ontologisierung des weiblichen Geschlechts immer noch unsere Forschungspraxis beherrschen.
In der gegenwärtigen Diskussionslage zur Frauengeschichte und Geschichtswissenschaft gewinnt unter diesem Gesichtspunkt unsere Frage nach der historischen Relevanz der weiblichen Geschlechtsspezifik, insbesondere aber auch nach den spezifischen Ursachen der Verdrängung der Frauen aus der neuzeitlichen Geschichtsbetrachtung und nach den Möglichkeiten der sozialgeschichtlichen Erschließung der Frauengeschichte der Neuzeit jenseits der ideologischen Verengungen des herrschenden patriarchalischen Denkens eine grundsätzliche Bedeutung sowohl für die theoretische Fundierung der Frauengeschichtsforschung als auch für die diskursive Offenheit der beide Geschlechter umfassenden sozialgeschichtlichen Forschung.
Die Anerkennung des Geschlechts als einer zentralen historisch-sozialen Kategorie bedeutet nicht nur eine Erweiterung unseres historischen Horizonts, sondern auch eine Infragestellung der Parameter gegenwärtiger fachwissenschaftlicher Forschung. Frauengeschichtsforschung führt somit immer auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit und gegebenenfalls zu einer Korrektur der herrschenden Bemühungen um die Konstituierung der Sozialgeschichte als einer alle Determinanten der gesellschaftlichen Veränderung einschließenden Gesellschaftsgeschichte.
Mit diesen Überlegungen zum Stellenwert des Geschlechts als einer historisch-sozialen und historisch-kritischen Kategorie sind auch erste theoretische Rahmenbedingungen für die Frauengeschichtsforschung angesprochen. Demnach kann erst eine wissenschaftliche, d. h. vor allem eine in ihren wissenschafts- und geschichtstheoretischen Elementen konsistente und auf ihre ideologischen Prämissen überprüfbare Fassung des Begriffs Geschlecht/geschlechtsspezifisch der Frauengeschichtsforschung zu ihrer Anerkennung als eines autonomen Forschungsgebiets verhelfen. Weiterhin wird es erst auf dieser Grundlage möglich, die notwendige Zuordnung der Frauengeschichtsforschung zur allgemeinen Forschung innerhalb der Geschichtswissenschaft zu leisten. Um diesen Anspruch einzulösen, greifen wir auf Ansätze innerhalb der Frauengeschichtsforschung zurück, die inzwischen hinsichtlich ihres Verständnisses des Forschungsgegenstandes und ihrer theoretischen Prämissen weitgehend kongruent sind. [4] Denn in der Frauengeschichtsforschung herrscht zunächst darüber Übereinstimmung, daß das Geschlecht, hier das weibliche Geschlecht in seiner historisch entstandenen und historisch begründbaren Verschiedenheit vom männlichen Geschlecht, den zentralen Forschungsgegenstand darstellt. Frauen bilden demnach eine spezifische, durch ihr Geschlecht bestimmbare, historische und soziale Gruppe, die in ihrer Spezifik und ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung zu erforschen sind. Darüber hinaus wird auch die Forderung nach der Autonomie der Frauengeschichtsforschung erhoben. Gemeint ist hiermit der Anspruch von Historikerinnen, in kritischer Auseinandersetzung mit den von einer patriarchalischen Kultur und Wissenschaftstradition geprägten Methoden, Prämissen und Begriffen zu forschen. Es gilt, nicht notwendigerweise mit neuen, allerdings mit kritisch reflektierten Methoden und theoretischen Prämissen, Frauengeschichtsforschung zu betreiben. Auch dieser Beitrag versteht sich als ein Versuch in dieser Richtung.
Die anspruchsvolle Aufgabe der Bestimmung des Geschlechts als einer historisch-sozialen Kategorie von universalgeschichtlicher Relevanz, die in patriarchalische Denkmodelle nicht aufgeht, die sogar gegenüber patriarchalischen Strukturen ein kritisches Potential enthält, wird hier allerdings nur mittelbar in Angriff genommen. Von vornherein begrenzen wir die universalgeschichtliche Definitionsaufgabe auf den engeren Rahmen der neuzeitlichen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und auf die Frage nach den spezifischen Ausprägungen der Geschlechtsspezifik innerhalb dieser Gesellschaftsformation. Damit wird der weitreichende Anspruch der Bestimmung des Geschlechts als einer universalhistorischen Kategorie im Kontext einer patriarchalisch beherrschten, feministisch und materialistisch interpretierten Gesellschaftsgeschichte scheinbar eingeschränkt. Denn es wird nicht in erster Linie nach dem Stellenwert des Geschlechts, hier des weiblichen Geschlechts, innerhalb einer über zweitausendjährigen Geschichte des Patriarchats gefragt, sondern nach unterschiedlichen Ausprägungen des Frauenlebens, der Frauenarbeit und des Geschlechtscharakters weiblich sowohl in ihrer geschlechtsspezifischen als auch in ihrer gesamtgesellschaftlicheri Bedeutung innerhalb der patriarchalischen Strukturen der bürgerlich.kapitalistischen Gesellschaft und der ihr entsprechenden Familienform. [5]
Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet die heutige Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit zwischen den Geschlechtern, die Ausformung des spezifischen Frauenlebens im Rahmen der spätbürgerlichen und spätkapitalistischen Gesellschaft und der ihr normativ und systemimmanent zugewiesenen familialen Struktur. Aus dieser Gegenwartsperspektive heraus liegt der Einschränkung unserer Fragestellung auf die neuere Geschichte nicht nur die pragmatische Einsicht zugrunde, daß zur Zeit eine empirisch gehaltvolle, universalhistorische Fundierung der Kategorie weiblich noch nicht leistbar ist. Vielmehr wird hier angenommen, daß unbeschadet der universalhistorischen Dimension der Begriffe: geschlechtsspezifisch, weiblich/männlich, patriarchalisch/matriarchalisch, unter den Prämissen einer materialistischen Geschichtssicht eine Differenzierung der Betrachtung des Geschlechts nach Gesellschaftsformationen unerläßlich ist.
Gehen wir von einer materialistischen und feministischen Sicht der Frauengeschichtsforschung aus, so versteht sich unser Versuch zur Bestimmung des Geschlechts als einer historischen Kategorie in seiner Beschränkung auf die neuzeitliche Geschichte als konsequente Einschränkung. Allerdings bleibt der Anspruch nach einer in ihren wissenschaftstheoretischen und geschichtstheoretischen Elementen konsistenten und auf ihre ideologischen Prämissen überprüfbaren Fassung des Begriffs Geschlecht/geschlechtsspezifisch aufrechterhalten. Diese Forderung setzt allerdings zunächst bei einer ideologiekritischen Sicht unserer gegenwärtigen Gesellschaft in ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsteiligkeit und der ideologischen Verschleierung dieser Arbeitsteiligkeit an. Somit lautet unsere zentrale Forschungsfrage: Warum konnte, warum mußte die Frau als historisches Subjekt aus der neuzeitlichen Geschichte verdrängt und durch die Ideologie des Geschlechtscharakters ersetzt werden? Ist eine Aufhebung dieser Ideologie des weiblichen Geschlechtscharakters, die in den spätkapitalistischen, hochindustrialisierten Gesellschaften heute ari Plausibilität verliert, durch das Bewußtsein einer veränderbaren Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit zwischen den Geschlechtern lin häuslichen und außerhäuslichen Bereich denkbar? Was leistet die Frauengeschichtsforschung im Hinblick auf eine Verflüssigung unserer Vorurteile im Bereich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung?
Diese Fragestellungen gehen von der Annahme aus, daß die gegenwärtig herrschende Ideologie der Geschlechterstereotypen sowohl als ein Produkt als auch als ein konstitutives Element unserer neuzeitlichen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft anzusehen ist. Demnach bestimmt eine von der Geschlechtertypisierung schon vorgeprägte Sichtweise unsere gewohnten und von der Wissenschaft unterstützten Vorstellungen von bürgerlicher Gesellschaft und Familie und von deren Funktionieren und deren Sinnhaftigkeit. Wir nehmen somit an, daß unsere gewohnte Sichtweise den Blick auf die historische Dimension des Frauenlebens und auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Frauenarbeit verstellt. Das erst in der Neuzeit entstandene Geschlechterstereotyp "Weiblich" verhindert hiernach die realgeschichtliche Rekonstruktion der Frauengeschichte der Neuzeit: Unser Erinnerungsvermögen als Chance zur Konstitution eines kollektiven Frauengedächtnisses wird, so unsere Prämisse, durch die Geschlechterstereotypisierung immer noch blockiert.
Diese ideologiekritische Annahme bestimmt sowohl die Einschränkung unserer Fragestellung auf die Frauengeschichte der Neuzeit als auch das methodische Vorgehen. Denn es wird notwendig, diese Prämisse historisch zu überprüfen. Ist es richtig, von einer spezifisch neuzeitlichen Ausprägung des Geschlechtsmerkmals weiblich zu sprechen, eine Ausprägung, die erst unter den Bedingungen der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist und die erst in diesem Kontext ihre ideologische Funktion und Kraft erhält?
Hiermit sind die wichtigsten geschichts-, wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Prämissen dieser Überlegungen zum Verblendungszusammenhang, in dem der Geschlechterstereotyp weiblich steht, kurz angedeutet. Für unser weiteres Vorgehen heißt dies:

  • Erstens: Es wird angenommen, daß die Ideologie der Geschlechtscharaktere sich in ihrer gesellschaftlichen Stabilisierungskraft in den letzten zweihundert Jahren in einem solchen Maße bewährt hat, daß es großer Anstrengungen von seiten einer feministischen Ideologiekritik bedarf, um diesen Schein zu durchbrechen. Allerdings deutet heute vieles auf eine gegenwärtige Krise der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit und somit auch auf eine Krise der herkömmlichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung hin. [6] In diesem gesamtgesellschaftlichen Kontext einer notwendigen gesellschaftlichen Veränderung in der Gegenwart stehen unsere Überlegungen zum weiblichen Geschlecht als einer historisch veränderbaren Kategorie.
  • Zweitens: Die Betrachtungsweise ist von einem feministischen Erkenntnisinteresse bestimmt. Feministisch heißt hier, aus einem parteilichen Erkenntnisinteresse für die Frauen, ihre Geschichte und historische Zukunft heraus unterdrückte, humane, für unsere Gesellschaft unverzichtbare Momente der Frauengeschichte nachzuspüren.
  • Drittens: Diese Ausführungen verstehen sich als gesellschaftskritisch und materialistisch. D. h. es gilt in Kategorien zu denken, die sich kritisch den patriarchalischen Strukturen unserer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gegenüber verhalten und somit auf nachpatriarchalische Möglichkeiten unserer Gesellschaft orientiert sind. Materialistisch heißt hier, von den grundlegenden Produktionsbedingungen einer Gesellschaftsformation bei der Bestimmung der weiblichen Geschlechtsspezifik auszugehen

Auf diesem Hintergrund gewinnt eine historisch fundierte Kritik an der Ideologie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung an realem gesellschaftlichen Gehalt und an praktischer Bedeutung sowohl für die Veränderung unserer Einstellung zur Frauenarbeit als auch zur gesamtgesellschaftlichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Daher gilt es, auf der Basis einer historischen Rekonstruktion der neuzeitlichen, geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ihrer ideologischen Verarbeitungsformen Dimensionen der Frauengeschichte in ihrem realgeschichtlichen und in ihrem emanzipatorischen Gehalt sichtbar zu machen.

1.2. Die Theorie der dualen Ökonomie - ein Ansatz zur Erfassung des Geschlechts als einer historisch-sozialen Kategorie der neuzeitlichen Geschichte

Soll eine Erklärung für das lautlose Funktionieren der weiblichen Geschlechterstereotypen in der Frauen- und der allgemeinen Geschichte der letzten Jahrhunderte wie auch im gegenwärtigen Stadium des Industriekapitalismus gesucht werden, so ist es naheliegend, nach den historischen Ursprüngen der heute noch vorherrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Geschlechtertypisierung wie auch des ihnen zugrunde liegenden, gesellschaftlichen Bezugssystems zu fragen.
Aus der Sicht der gegenwärtigen Frauengeschichtsforschung mag dieser Ansatz zunächst überraschen. Denn kaum ein Bereich in der neueren Frauengeschichtsforschung ist so eindringlich erforscht worden, wie das Phänomen der "Erfindung" des weiblichen Geschlechtscharakters. [7] Der neuzeitliche Prozeß der Idealisierung, der Ästhetisierung und der Mythisierung "der Frau", der mit dem gleichzeitigen Vorgang ihrer Verdrängung aus der "eigentlichen" Geschichte, ihrer Funktionalisierung nach den Anforderungen des kapitalistischen Marktes und des modernen Militär- und Machtstaates an den Produktionsund Reproduktionsleistungen der Frauen und ihrer weitgehenden Vernichtung als historisches Subjekt einherging und - geht, ist seit mehreren Jahren das bevorzugte Thema der Frauen(geschichts)forschung. [8]
Trotz des relativ großen Forschungsinteresses an der neuzeitlichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ihrer Ideologisierung herrschen dennoch in der Frage nach den Entstehungsbedingungen sowohl der neuzeitlichen Frauenfrage als auch der weiblichen Geschlechtsstereotypen und des ihnen zugrunde liegenden Bezugssystems vielfältige Unklarheiten. Allzuoft wird von einer zeitlichen Gleichsetzung von Industrialisierung und der Entstehung der neuzeitlichen Frauenfrage und der Ideologie der Geschlechtscharaktere ausgegangen. Damit bleiben aber die tiefer liegenden Wurzeln der neuzeitlichen Frauengeschichte verdeckt, die in dem über mehrere Jahrhunderte andauernden Prozeß der Ablösung von feudalen Abhängigkeitsverhältnissen und des Vordringens sowohl der kapitalistischen Wirtschaft als auch der neuzeitlichen frauenzentrierten Haushalts- und Familienstruktur liegen und die erst allmählich zur Durchsetzung des Industriekapitalismus und der neuzeitlichen Familie als gesellschaftliche Norm in Deutschland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts führen. Denn wir haben es seit der frühen Neuzeit mit einem fast dreihundert Jahre dauernden Prozeß zu tun, in dem sich Frauen nicht nur den neuen Systemzwängen anpaßten, sondern sich auch gegen die Zumutungen der neuen Marktökonomie und ihrem Pendant in der neuen Form der frauenzentrierten Familienökonomie wehrten.
In der verengten Perspektive einer eingleisigen Entwicklung zur Industriegesellschaft wird diese Problematik der frauenzentrierten Familienökonomie als Bestandteil der neuen, dualen, durch häusliche und außerhäusliche Arbeit strukturierten Ökonomie der neuzeitlichen Gesellschaft weitgehend ausgeblendet. [9] Auch gelangen frauengeschichtliche Forschungsansätze, die sich allzu stark an die Fortschrittsprämissen der Modernisierungstheorie binden, zu einer irreführenden positiven Bilanz hinsichtlich der Emanzipationsmöglichkeiten der Frauen im Rahmen der neuzeitlichen industriellen Entwicklung. [10] Entgegen diesen Richtungen in der Frauengeschichtsforschting, die die Besserung der Frauensituation im Kontext der Industrialisierung betonen, steht hier die These von der strukturellen sozioökonomischen Ungleichheit der Frauen in der neuzeitlichen Gesellschaft und von einer Verschärfung dieser strukturellen Ungleichheit im Verlaufe der weiteren kapitalistisch-industriellen Entwicklung im Mittelpunkt unserer Betrachtungen. [11] Dabei wird in der labilen und krisenhaften Stellung der Familienökonomie innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft die eigentliche Wurzel der neuzeitlichen Frauenfrage gesehen. [12]
Diese These führt uns zurück zu einer näheren Betrachtung der Haushaltsformen im Kontext der dualen Ökonomie der neuzeitlichen Gesellschaft. [13] Den Ausgangspunkt von Frauengeschichtsforschung bildet in dieser Sicht die Frauenarbeit in der neuzeitlichen Familienökonomie bzw. in der neuzeitlichen Gesellschaft. Dabei ist mit der Entwicklung der dualen Ökonomie der Neuzeit der Prozeß der Abspaltung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf zwei Ökonomiebereiche gemeint, der mit einer Neuverteilung der Arbeitszuweisungen und -zumutungen zwischen den Geschlechtern einherging. Dieser Prozeß begann in Europa etwa im 16. Jahrhundert mit der langsamen Auflösung feudaler Herrschaftsstrukturen, mit der allmählichen Ausbreitung des kapitalistischen Marktes und mit der Entstehung des neuzeitlichen Staates, eine Entwicklung, die sich u. a. durch Bevölkerungsbewegungen und -wachstum, durch Heiratserleichterungen und durch die Begründung neuer Formen des Haushaltes und des familiaren Zusammenschlusses auszeichnete. Im Zentrum dieser sozioökonomischen Umbruchsbewegung stand die Möglichkeit der Freisetzung der Menschen, zunächst, wie es schien, die Freisetzung aller Menschen, Frauen sowohl als Männer.
Insgesamt organisierte sich in diesem Umwandlungsprozeß die Gesellschaft neu. Komplementär zu den kapitalistischen Marktbedürfnissen entstanden neue Ausprägungen einer frauenzentrierten Familienwirtschaft. Die Lebens- und Arbeitsformen der Frauen unterschieden sich in den neu entstehenden Haushaltsformen erheblich voneinander, je nachdem ob wir es mit einem bäuerlichen Haushalt, dem nicht Land besitzenden Haushalt der auf dem Land lebenden Gewerbetreibenden oder mit einem städtischen Haushalt mit seiner noch starken Eigenwirtschaft zu tun haben. [14] Dennoch zeichnen sich all diese Haushaltstypen durch neue weibliche Lebens-, Arbeits- und Verhaltensweisen aus, die allen Frauen in gleichem Maße zueigen wurden. Im Mittelpunkt aller Haushalte stand die extensive, nur von Frauen verrichtete Arbeit. Das gesteigerte Interesse der kapitalistischen Ökonomie und des Staates an der Frauenarbeit, vor allem an ihren unentgeltlichen Reproduktionsleistungen in der Familie, bestimmte in einer der feudalen Agrargesellschaft noch unbekannten Weise das Leben der Frauen. Denn jetzt bemaß sich der Wert der Frauenarbeit für alle Frauen neu,die Frauenarbeit gewann erst in dem Spannungsverhältnis von Familienökonomie und Marktökonomie ihre zweifache und stets ambivalente Bedeutung einmal als mehrwertschaffende Arbeit für die frühkapitalistische Akkumulation, zum anderen als Überlebensarbeit für die Familie. Diese Arbeit bleibt in ihrem Wert ambivalent, denn an welchem Maßstab ist sie zu messen: am Marktwert oder am Überlebenswert? In den Quellen heißt es: alles, was die Frau in der Familienökonomie erspart, ist "reiner Gewinnst". [14] Was ist aber dieser "Gewinnst" wert? Über den "Gewinnst" konnten die Frauen in der Regel nicht frei entscheiden und verfügen. Vielmehr wurde die Abhängigkeit der Familienökonomie von den Wechselfällen und den von den Frauen nicht durchschaubaren Mechanismen des Marktes zu dem entscheidenden Faktor im Leben der Frauen. An diesem Phänomen der frühen Neuzeit hat sich, denken wir nur an die Lage der Frauen in der Weltwirtschaftskrise, in der Kriegs-und Nachkriegszeit und in den gegenwärtigen Wirtschaftskrisen bis heute wenig geändert.
In diesem Sinne konstituierte sich die neuzeitliche Frauengeschichte erst im Rahmen der dualen Ökonomie. Dieses duale, ökonomische Spannungsfeld bestimmte die weiblichen Lebens, Arbeits- und Verhaltensweisen. Dieser die Frauen benachteiligende Handlungsrahmen war schließlich auch für die Unfähigkeit von Frauen verantwortlich, ihre strukturelle Ungleichheit in der neuzeitlichen Gesellschaft aufzuheben. Gehen wir beispielsweise dem Verhalten von Frauen irn ländlichen Gewerbe einerseits, im städtischen Haushalt des 17. und frühen 18. Jahrhunderts andererseits nach, so deuten sich hier zwar zwei sehr unterschiedliche weibliche Lebensformen aus. Diese Unterschiedlichkeit ist aus dem unterschiedlichen Bezug der Frauenarbeit zum Markt und zum Haushalt begreifbar. Denn wir können auf der einen Seite im 17. und frühen 18. Jahrhundert Non einer Unterschiedlichkeit der von Frauen geprägten "plebejischen Öffentlichkeit" (E. P. THOMPSON) [16] einerseits und von einer von Frauen gestalteten weiblichen Kulturwelt, die sich allein auf das Haus bezieht, sprechen. Denn wir haben es mit unterschiedlichen weiblichen Äußerungsformen, seien es die oft gewalttätigen, öffentlichen sozialen Protestformen von Frauen von den Regeln der moral economy, seien es die neuen Strategien der weiblichen Verweigerungen im familialen Bereich, zu tun. [17] In diesen unterschiedlichen Reaktionsweisen, die sich zwischen Widerstand und Anpassung bewegen, spiegelt sich die sich langsam durchsetzende Klassenteilung der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft. Auf der anderen Seite sind beide weiblichen Reaktionsweisen auf den gemeinsamen Nenner der dualen Ökonomie zurückführbar. Es entsteht ein für alle Frauen gemeinsamer weiblicher Lebenszusammenhang, der von dem grundlegenden Konflikt zwischen Familienökonomie und Marktökonomie geprägt ist.
Entscheidend für die Durchsetzung bzw. für die Verhinderung neuer Frauenrollen ist somit die Frage nicht nur nach dem Zugang der Frauen zum außerhäuslichen Produktionsbereich, sondern auch nach dem Grad ihrer Betroffenheit von dem Konflikt zwischen den Anforderungen beider ökonomischer Systeme; d. h. wir müssen näher nach der konkreten Beschaffenheit der Arbeitsteilung zwischen den beiden Geschlechtern in bezug auf die Markt- und Familienökonomie und nach dem offenen oder verdeckten Marktbezug der weiblichen Tätigkeiten fragen. Halten wir noch einmal das Grundsätzliche dieses sozio-ökonomischen Vorgangs zur Entstehung der neuzeitlichen Gesellschaft fest: Während theoretisch die Arbeitskraft "Mensch" entsprechend den neuen Herausforderungen der Zeit und den besonderen Anforderungen des Marktes "freigesetzt" wird, galt dieser Vorgang nicht gleichermaßen für Frauen und Männer. An dieser "Freisetzung" nahmen die Frauen nur in einem sehr bedingten Maße teil. Ihre "Freisetzung" für den Markt und für die Gestaltung der neu entstehenden politischen Öffentlichkeit lag nur in einem sehr begrenzten Sinne in ihrem Interesse. Sie stand vorwiegend im Interesse des Mannes, des neuzeitlichen Staates und des Kapitals.
Dieser Vorgang der nur sehr partiellen Freisetzung der Frauen läßt sich an dem Lebenslauf von Frauen in sehr unterschiedlichen sozialen Lagen überprüfen. Besonders auffällig ist der rigide Ausschluß von Frauen aus den zünftigen Gewerben im 16. und 17. Jahrhundert und die strenge Kontrolle der Frauenarbeit, damit Frauen nicht unbemerkt für den Markt produzieren. Besondere Aufmerksamkeit hat bisher in der Forschung der fast gegenteilige Vorgang gefunden, nämlich die Arbeit und das Verhalten der Frauen im ländlichen Gewerbe in der Protoindustrialisierung. [18] In diesem ländlichen zunftfreien Gewerbe haben vor allem die Frauen gewinnbringend für den Markt produziert, während die Männer vielfach die reproduktiven Frauentätigkeiten übernahmen. Es ließen sich aber noch weitere Beispiele sowohl für die allgemeinen "Entgrenzungen" [19] der Frauentätigkeiten in der Umbruchsgesellschaft seit dem 16. Jahrhundert und für die damit verbundenen neuen weiblichen Verhaltensweisen als auch für die neuen Formen der Eingrenzungen der Frauen anführen. Zu denken ist u. a. an das Verhalten der Vangantenfrauen und Prostituierten, der Bettlerinnen, die sich dem staatlichen Zugriff widersetzten, der deklassierten Frauen, die von der Obrigkeit aufgegriffen und in Armen- und Arbeitshäusern zur nützlichen Arbeit gezwungen wurden. [20] Auch die massenhafte Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert ist in diesem Kontext zu sehen. Frauen waren anders als Männer von der neuen "Freisetzung" betroffen, ihre Ausgrenzung aus der neuen Öffentlichkeit war systemnotwendig, damit sie in doppelter Hinsicht, als Hausfrauen und als disponible, außerhäusliche Arbeitskräfte der neuen Gesellschaft zur Verfügung standen.
Die historischen Beispiele für diese zweifache Betroffenheit der Frauen ließen sich vertiefen. Allerdings kann schon nach diesen Andeutungen die grundlegende strukturelle Veränderung der Frauenarbeit und des Frauenlebens, die zu einer strukturellen sozialen Ungleichheit der Frauen in der Neuzeit führte, festgehalten werden.
Dieses Phänomen der partiellen weiblichen Freisetzung und ihrer erneuten Eingrenzung ist nur auf dem Hintergrund der Herausbildung der dualen Ökonomie einer frauenzentrierten Familienökonomie und einer marktbezogenen Ökonomie kapitalistischer Provenienz begreifbar. Beide Systeme funktionieren in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander, allerdings gestalten sich diese Abhängigkeiten je nach der Entwicklung des Marktes und der Struktur der Famillenökonomie und der außerhäuslichen Frauenarbeit in sehr unterschiedlichen Weisen.
Für unsere Frage nach der Erschließung des weiblichen Geschlechts als einer historischen Kategorie und der kritischen Auflösung des weiblichen Geschlechterstereotyps lassen sich aus dieser strukturellen gesellschaftlichen Veränderung der weiblichen Arbeit weitere Folgerungen für die frauengeschichtliche Forschung ziehen.

  1. Die Schlüsselrolle der Familienökonomie und die Spezifik der weiblichen Lebens- und Arbeitsweisen.
    Die Theorie der dualen Ökonomie verweist uns zunächst auf die Schlüsselrolle der frauenzentrierten Familienökonomie und auf die Spezifik der weiblichen Lebens- und Arbeitsweisen in der Neuzeit. Erst im Kontext der dualen Ökonomie bildet die unentlohnte Frauenarbeit die unverzichtbare Voraussetzung für die Durchsetzung und die Erhaltung kapitalistischer Produktionsweisen und -verhältnisse in der Neuzeit. Im Unterschied zu den Grundannahmen der klassischen politischen Ökonomie gewinnt die in dieser Perspektive im Hause verrichtete Frauenarbeit, die von den täglichen Reproduktionsleistungen, der Sexualität, des Gebärens und der Kinderversorgung bis hin zu den vielfältigen durch den Markt vermittelten Heimarbeiten reicht, die Qualität einer gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die ein spezifisch weibliches Ökonomiesystem entstehen läßt. 
  2. Die Entstehung einer neuen Frauenrolle und die Ausprägung einer neuen Ideologie der Weiblichkeit. Für die Entstehung neuer Frauenrollen und einer neuen Ideologie der Weiblichkeit ist entscheidend, daß dieses primär von der Frauenarbeit geprägte Ökonomiesystem der Familienwirtschaft nicht einfach in. das vom Markt bestimmte Bezugssystem aufgeht. Frauenarbeit fügt sich nicht bruchlos in die neue kapitalistische Ordnung ein; sie läßt sich nicht hinreichend durch die Grundkategorien der kapitalistischen Waren- und Geldwirtschaft, den Warenpreis, Lohn, Kapital, Profit, den ökonomischen Begriffen Zeit usw. definieren, obgleich sie von diesen Kategorien mitbestimmt wird. Sie stellt zwar kein autonomes weibliches Ökonomiesystem dar; sie nimmt aber den Charakter eines eigenen weiblichen Lebenszusammenhangs an. Somit ist es berechtigt, von der Entstehung einer neuen Frauenrolle zu sprechen, die im weiteren Verlauf einer immer stärkeren Ideologisierung ausgesetzt ist.
  3. Die Ausprägung zweier Wertsysteme von unterschiedlicher normativer Kraft. In der Sicht der dualen Ökonomie haben wir es nicht nur mit einer neuen Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Geschlechterrollen zu tun, sondern auch mit der Ausprägung zweier Wertsysteme von unterschiedlicher normativer Kraft. Die Arbeitsleistungen der Frauen lassen sich nicht nach dem normativen Maßstab des marktbestimmten, produktorientierten Handelns bewerten. Sie richten sich in ihrem normativen Gehalt auch nicht nach einem von der Ökonomie des Marktes völlig abgehobenen, normativen Bereich, der sich nur mit idealistischen Kategorien wie Mitmenschlichkeit, Selbstlosigkeit, Hingabefähigkeit usw. fassen läßt. Das Wertsystem des weiblichen Handelns läßt sich auch nicht in das männlich erdachte Polaritätsschema: emotional versus rational, passiv versus aktiv, schwach versus stark usw. pressen. Die in der Familienökonomie wurzelnde normative Basis des weiblichen Handelns widersetzt sich dieser männlich erdachten, dualistischen Spaltung des menschlichen Handelns und Leidens. Damit wird ein neues Interpretationsproblem für die Beurteilung des weiblichen Handelns jenseits der dualistischen, präformierten Begrifflichkeit aufgeworfen. Auch ein weiteres Interpretationsproblem wird hiermit für die Frauengeschichte aufgeworfen. Weibliches Handeln läßt sich im Kontext der Theorie der dualen Ökonomie nicht einfach als "rückständig", weil angeblich an eine ältere Produktionsweise gebunden, noch als "progressiv" qualifizieren. Auch die Frage nach der "Überlegenheit" weiblichen Handelns gegenüber männlicher Praxis gewinnt im Zusammenhang mit der dualen Ökonomiestruktur unserer Gesellschaft eine neue Qualität. Denn gerade diese "Überlegenheit" weiblicher Arbeit ist der Widersprüchlichkeit dieser gesellschaftlichen Totalität ausgesetzt. So erweist sich etwa weibliches Handeln nach dem Maßstab der Überlebensfähigkeit und der Humanität der Gesellschaft als "überlegen"; nach dem Maßstab kapitalistischer Wertschöpfung aber als "unterlegen". Das Beispiel der von Frauen geleisteten Überlebensarbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist für diese Widersprüchlichkeit des Wertmaßstabes sprechend: Die käuflichen Waren in den Schaufenstern nach der Währungsreform, nicht die psychische und physische Wiederaufbauarbeit von Frauen werden in der Nachkriegsgeschichte zum Maß, um die "eigentliche" gesellschaftliche Arbeit zu bewerten. Damit führt uns die Frage nach der unterschiedlichen Bewertung von Arbeit und der ambivalenten Einschätzung von Frauenarbeit im Kontext der dualen Ökonomie zu einem grundlegenden Widerspruch unserer kapitalistischen Gesellschaft. 
  4. Der grundlegende Widerspruch in der gesellschaftlichen Arbeit von Frauen.
    Mit diesem Ansatz der geschlechtsspezifischen Teilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit im Kontext der dualen Ökonomie unserer Gesellschaft nähern wir uns dem historischen Phänomen der materiellen und der normativen Spaltung der weiblichen Handlungsebenen. In diesem Sinne war schon von weiblichen Handlungsnormen die Rede, die sich nicht durch die Polarität zur männlichen Tätigkeit hinreichend definieren lassen. An den Frauenarbeiten wird vielmehr ein grundlegender gesellschaftlicher Widerspruch sichtbar, der sich prägend sowohl auf den realen weiblichen Lebenszusammenhang als auf den diesen Lebenszusammenhang verdeckende, idealisierende und legitimierende Ideologie des weiblichen Geschlechtscharakters auswirkt. Die Familienökonomie bleibt den Bedingungen des Marktes unterworfen, welche die Frauen in ihrer doppelten Eigenschaft als flexible außerhäusliche Arbeitskraft und als häusliche Arbeiterin (Ehefrau, Mutter, Konsumentin usw.) braucht. Aus dieser Widersprüchlichkeit entsteht die Besonderheit der neuzeitlichen Frauengeschichte, die eine eigene Ausprägung von weiblicher Selbständigkeit und weiblicher Abhängigkeit aufweist.

1.3. Kritische Anmerkungen zur "Erfindung" des weiblichen Geschlechtscharakters im späten 18. Jahrhundert

Der Rückgriff auf die zweifache, in ihrer wertschaffenden Qualität so sehr unterschiedliche ökonomische Basis der europäischen Gesellschaft in der Übergangsphase zum Industriekapitalismus bildet den Ausgangspunkt für unsere kritischen Anmerkungen zur These von der "Erfindung" des weiblichen Geschlechtscharakters im späten 18. Jahrhundert. Denn von einem sozioökonomischen Ansatz aus ist zu bezweifeln, ob wir es mit der nach 1770 begriffsgeschichtlich feststellbaren Geschlechterstereotypisierung mit einer neuen Qualität der weiblichen Rollenzuweisung gegenüber den geschlechtsspezifischen Zuschreibungen in der älteren Literatur, insbesondere in der Hausvater- und Predigtliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts zu tun haben. Vor allem stellt sich die Frage, ob es sich in den Jahrzehnten um 1800 um die "Erfindung" eines neuen Orientierungs- und Bezugssystems handelt, das für beide, Frauen und Männer, Geschlechtscharaktere von gleicher Qualität konstruiert. Hat denn die Frau nach dieser Stereotypisierung tatsächlich einen eigenen Anteil an der Neubestimmung der Person, die in aufk-lärerischer Absicht frei von allen ständisch-feudalen Bindungen als selbständiges Wesen "entworfen" wird? Oder sind diese Geschlechterstereotypen des späten 18. Jahrhunderts nur eine letzte Ausformulierung der schon vorgeprägten Rollenzuweisungen für die Frau, die seit dem Vordringen des Kapitalismus und des neuzeitlichen Staates das Frauenleben prägten?
Die Freisetzung der Frauen im Interesse des Marktes war schon seit dem 16. Jahrhundert nur unter bestimmten, vom Hausvater, dem Ehemann oder dem an seine Stelle tretenden Staat vorgegebenen Bedingungen möglich. JOAN KELLY-GABOL hat zu Recht festgestellt, daß Frauen an der Renaissance keinen Anteil hatten. Hier liegt ein weiterer Hinweis für die Richtigkeit unserer Annahme, daß dem Ausschluß der Frauen von dem theoretisch formulierten Emanzipationsanspruch des späten 18. Jahrhunderts ihr faktischer sozioökonomischer Ausschluß aus der neuzeitlichen politökonomisch sich definierenden Gesellschaft vorangegangen ist.
Seit dem späten 18. Jahrhundert hat die Geschlechterbestimmung zweifellos durch die Aufklärungsphilosophie eine neue, die christliche Wertbestimmung verdrängende ideologische Fundierung erhalten. Zu Recht ist inzwischen in ideengeschichtlicher Perspektive dargestellt worden, wie sich mit Hilfe der philosophischen Konstrukte der Aufklärung auf der einen Seite das in seiner Abstraktheit geschlechtsindifferente, in seiner historisch-sozialen Konkretion jedoch exklusiv männliche, bürgerliche Individuum als das allein autonome, mit sich selbst identische Wesen konstituiert hat, während sich auf der anderen Seite der Entwurf der zur Hingabe und Selbstaufgabe fähigen, in widersprüchlicher Weise mal starken, mal schwachen Frau als weibliches Stereotyp ideologisch durchgesetzt hat. Ideengeschichtliche Untersuchungen zur Frauenideologie der Aufklärung und der Romantik haben die Herausbildung dieses widersprüchlichen Frauenbildes aufzeigen können, das sich trotz seiner Politarität zum Bild des Mannes durch seine scheinbare Konsistenz und Universalität auszeichnet. Nur die Frau verkörpere das "Sein" sei zur Güte, Liebe und Selbstverleugnung fähig; ihr allein kämen metaphysische Qualitäten zu, nur sie sei zur Religiosität geschaffen, usw. und so fort.
Aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte ist es notwendig, dieser besonderen Ausprägung der Geschlechterideologie noch näher nachzugehen. Uns stellt sich aber die Frage nach den tieferen sozio-ökonomischen Wurzeln dieser absurden Ideologie des weiblichen Geschlechts, die ihrer Wirkungsgeschichte zum trotz in einem so hohen Maße im Widerspruch zu den Vernunftprämissen der Neuzeit steht.
Trotz der offensichtlichen Banalität und Absurdität der weiblichen Geschlechterstereotypisierung erfreute sich diese philosophisch und populärwissenschaftlich untermauerte Ideologie der Weiblichkeit des späten 18. Jahrhunderts großer Zustimmung. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde sie ebenso von konservativen als auch von radikalen Frauen und Männern mit geradezu heilsgeschichtlicher Pathetik und blindem Fanatismus (man denke nur an die Rolle dieser weiblichen Ideologie in den beiden Weltkriegen und im Faschismus) verkündet. Liegen aber nicht auch die Wurzeln dieser Ideologie tiefer als eine Textanalyse der Geschlechterphilosophien des späten 18. Jahrhunderts zunächst vermuten läßt?
Begriffsgeschichtlich ist die Entstehung der uns heute vertrauten weiblichen Geschlechterstereotypen genau zu erfassen. [21] Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts setzte sich in Deutschland der Begriff des weiblichen Geschlechtscharakters durch. Unter Geschlechtscharakter ist hier eine allgemeine, d. h. universal gültige Bestimmung des Geschlechts aufgrund von naturgegebenen Eigenschaften zu verstehen. Mit der Geschlechterideologie des späten 18. Jahrhunderts war somit vom theoretischen Ansatz her eine Befreiung aller Menschen, d. h. auch eine Befreiung der Frauen, von historisch gewachsenen Abhängigkeiten denkbar, es sei denn allein die Frau werde als von Natur aus als abhängig, ohne Vernunft konstituiert.
Das Auftreten des weiblichen Geschlechtscharakters in der "kritischen Zeit" zwischen 1780 und 1810 wird in einem Zusammenhang gebraucht mit dem offensichtlichen gesellschaftlichen Zusammenbruch der deutschen Staaten um 1790, der Kapitulation vor dem Anspruch der französischen Revolution und dem akuten Orientierungsbedürfnis der Zeit. Ein "Wechsel des Bezugssystems", so etwa die These von KARIN HAUSEN, war unausweichlich. "Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert treten an die Stelle der Standesdefinitionen Charakterdefinitionen. Damit aber wird ein partikulares durch ein universales Zuordnungsprinzip ersetzt: statt des Hausvaters und der Hausmutter wird jetzt das gesamte männliche und weibliche Geschlecht und statt der aus dem Hausstand abgeleiteten Pflichten werden jetzt allgemeine Eigenschaften der Personen angesprochen. [22]
Nach unseren bisherigen Überlegungen liegt in dieser Interpretation eine Verkürzung, indem der begriffsgeschichtlich erfaßbare Vorgang der veröffentlichten Diskussion um die Geschlechtertypisierung nach 1770 mit dem längerfristigen sozialgeschichtlichen Prozeß der geschlechtsspezifischen Aufteilung der Arbeit und ihrer Ideologisierung verwechselt wird.
Gehen wir von einem sozialgeschichtlichen Interpretationsansatz aus, so bleibt auch in den neuen Formulierungen der Geschlechtscharaktere nach 1770 die Frau "ständisch" und sozial gebunden. Ihr Stand wird nicht durch ihre eigene Person, sondern durch ihre Familie bzw. durch ihren Ehemann bestimmt. Ihre sozialen Funktionen sind ebenfalls gesellschaftlich vorgeprägt, denn die Frau auch im Sinne der Geschlechtscharakterbestimmung des späten 18. Jahrhunderts ist nicht primär durch abstrakte individuelle weibliche Eigenschaften, sondern vor allem durch ihre sozialen Funktionen der Ehefrau, der Hausfrau und Mutter festgelegt.
Wichtiger noch für eine Interpretation der Geschlechterstereotypen des späten 18. Jahrhunderts ist die Beachtung der dualen Ökonomiebasis der neuzeitlichen Gesellschaft. Wird von einer "Erfindung" der Geschlechterstereotypisierung im späten 18. Jahrhundert gesprochen, so bleibt in der Regel die zweifache ökonomische Basis der Frauentätigkeiten ausgeblendet. Die verengte These von einem Übergang vom "ganzen Haus" zur "bürgerlichen Gesellschaft" wird mit dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß der Herausbildung der den Produktions- und Reproduktionsbereich umfassenden neuzeitlichen Gesellschaft gleichgesetzt. Es wird übersehen, daß das "ganze Haus" ebensowenig wie der außerhäusliche Produktionssektor eine autonome Größe, sondern vielmehr schon im 16. und 17. Jahrhundert eine marktabhängige Haushaltsform darstellt, die aber keineswegs als die einzige Haushalts- und Lebensform der Frauen dieser Zeit anzusehen ist.
Überprüfen wir zunächst nur auf der begriffsgeschichtlichen Ebene die weibliche Geschlechterstereotypisierung in der Predigt- und Hausvaterliteratur mit den weiblichen Geschlechtscharakteren seit dem späten 18. Jahrhundert, so fallen nicht die Unterschiede, sondern vielmehr die Ähnlichkeiten ins Auge. Nach den moraltheologischen Schriften und der Agrarökonomie des 16./17. und frühen 18. Jahrhunderts zeichnete sich die Rolle der Frau auch schon durch Schwäche, Ergebung, Hingabe, Bescheidenheit aus. Die Frau ist abhängig, betriebsam, emsig, bewahrend, empfangend; ihre Tugenden sind Schamhaftigkeit, Keuschheit, Schicklichkeit, Liebenswürdigkeit, Taktgefühl usw. [23] Nach der Geschlechterstereotypisierung des späten 18. Jahrhunderts ist die Frau ebenso wie in den vorangegangenen Jahrhunderten allein auf die traditionellen sozialen Rollen als Ehefrau, Mutter und Hausfrau verwiesen. Die ideologische Verklärung der Hausfrau bei dem österreichischen Landwirt WOLF HELMHARD VON HOBERG im 17. Jahrhundert: ("ein Haushalt ohne Weib ist wie ein Tag ohne Sonnenschein, wie ein Garten ohne Blumen...") spiegelt die gleiche soziale weibliche Rollenzuweisungen wie die "aufgeklärte" Geschlechterphilosophie seit dem späten 18. Jahrhundert wider.
Wichtiger als die begriffsgeschichtlich erfaßbare Übereinstimmung von weiblichen Arbeitsund Rollenzuschreibungen seit dem 17. Jahrhundert ist die Berücksichtigung des sozioökonomischen Hintergrunds bei der neuzeitlichen Bestimmung des weiblichen Geschlechts. Überprüfen wir die nach 1780 propagierten weiblichen Charaktermerkmale und das sie bestimmende sozio-ökonomische Umfeld, so läßt sich diese scharfe Zäsur von 1770 nicht halten. Die Philosophie der Geschlechtscharaktere des späten 18. Jahrhunderts entspricht in dieser Sicht einem schon weit fortgeschrittenen Stadium in der "Dissoziation von Erwerbsund Familienleben" (KARIN HAUSEN) und in der Durchsetzung der bürgerlichen Familienform als der einzigen öffentlich akzeptierten Lebensnorm für alle Frauen. Diesen Jahrzehnten um 1770 ist ein über mehrere Jahrhunderte sich vollziehender Kampf von Frauen um ihre Selbstbehauptung in der neuen Gesellschaft vorangegangen, eine geschlechtsspezifische Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Neuzeit, die bisher der Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft weitgehend entgangen ist. Einen Höhepunkt und zugleich eine entscheidende Niederlage in diesem geschlechtsspezifischen Ringen der Frauen um ihre soziale Anerkennung bilden die Jahre der französischen Revolution von 1789 bis 1793, als die Frauen um die öffentliche Durchsetzung der Normen der Familienökonomie kämpften. [24]
Mit diesem knappen Rückblick stoßen wir nicht nur auf die ideologische Kontinuität der Geschlechterrollenstereotypisierung seit der frühen Neuzeit, sondern geraten wieder auf die in der dualen Ökonomie faßbare sozio-ökonomische Basis der neuzeitlichen weiblichen Geschlechterideologie, die auch ihrerseits eine Kontinuität bis in unsere Gegenwart hinein aufweist. Die Dissoziation von Haus und kapitalistischer Produktion liegt weiter zurück als etwa 1770. Schon OTTO BRUNNER hat in seiner Interpretation der Agrarökonomie des 17. Jahrhunderts auf ein "Nebeneinander von Ökonomik (d.h. hier noch der Lehre von der Familienwirtschaft) und der "Kommerzienwissenschaft", die sich mit dem Handel und dem kapitalistischen Markt befaßt, hingewiesen, ein Nebeneinander, das den Zeitgenossen zwar erfahrbar, nicht aber durchschaubar gewesen ist. [25] HOBERG wußte beispielsweise, wie BRUNNER hervorhebt "aus eigener, wie es scheint nicht immer erfreulicher Erfahrung, was Marktabhängigkeit, Preis, Löhne, Kapital auch in der Landwirtschaft bedeuten, aber den inneren Zusammenhang, der die Einsicht in den wirtschaftlichen Kreislauf voraussetzte, konnte er, wie seine Zeit, noch nicht sehen." [26]
Diese gleiche Stellung zwischen Markt und Haus gilt auch für die Frauenarbeit. Nur der Wert ihrer Arbeit für den Markt war in einem noch viel höheren Maße für sie undurchschaubar. Die sogenannte Erfindung der Geschlechtercharaktere trug erheblich zu dieser Unsichtbarmachung der Frauenarbeit bei. Hierin liegt seine Bedeutung innerhalb einer längeren Tradition der Zudeckung der weiblichen Tätigkeiten. [27]

Ergebnisse und offene Forschungsfragen

Mit diesen Überlegungen zur dualen Ökonomie und zur weiblichen Geschlechterideologie lassen sich einige grundsätzliche Aussagen machen. Denn erst die Theorie der dualen Ökonomiebasis der neuzeitlichen Gesellschaft gibt das gesamtgesellschaftliche Bezugssystem ab, in dem sowohl die spezifischen Ausprägungen der strukturellen Ungleichheit der Frauen als auch die weiblichen Bestimmungsmöglichkeiten vom weiblichen und von menschlicher Emanzipation jenseits von Fortschrittsideologie der patriarchalischen Industriegesellschaft erfaßbar werden. Damit sprengt dieser Ansatz das im bürgerlichen Denken fragwürdig gewordene, patriarchalisch und politik-ökonomisch verengte Begriffssystem und ermöglicht die Erschließung des weiblichen Geschlechts als einer historisch-sozialen und historischkritischen Kategorie der neuzeitlichen Geschichte.
Wir gelangen somit zu eindeutigen, allerdings noch sehr allgemeinen Ergebnissen:

  1. Das neuzeitliche Patriarchat ist in dieser Sicht strukturell und ideologisch von dem Patriarchalismus agrarfeudaler Gesellschaften unterschieden. Auch der gesellschaftliche Wert von Frauenleben und Frauenarbeit bemißt sich hiernach in der Neuzeit nach neuen, der feudalen Gesellschaft unbekannten Maßstäben, ohne sich jedoch dem Wertmaßstab der kapitalistischen Gesellschaft zu fügen. 
  2. Mit der Neuzeit setzt sich aus dieser Sicht der Frauengeschichte eine duale Ökonomie durch. Dieser Begriff der dualen Ökonomie, der in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion für unterschiedliche Forschungsbereiche in sehr kontroverser Weise verwandt wird, ist bewußt gewählt worden, da er die zwei Zentren der sowohl subsistenzwirtschaftlichen als auch der warenproduzierenden Produktionsweise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften deutlich macht. Erst in dieser Sichtweise wird gewährleistet, daß die Frauen als Produzentinnen und als eigene Subjekte der neuzeitlichen Geschichte nicht aus der ökonomischen Betrachtungsweise der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Die Forschungskontroversen, die sich aus dieser Perspektive ergeben, müssen erst noch in der (Frauen-)Geschichtswissenschaft Eingang finden. 
  3. Eine entscheidende Grundlage für die Bestimmung des weiblichen Geschlechts in der Neuzeit ist in der Sicht der dualen Ökonomie die Erfassung der frauenzentrierten Famillenökonomie, die sich nach anderen Gesetzen und nach anderen Normen als die der kapitalistischen Marktwirtschaft orientiert und die allen Verschleierungen zum Trotz kontinuierlich bis heute als unverzichtbares Moment unserer Gesellschaft fortbesteht.

Erst von dieser Annahme einer dem Kapitalismus immanent notwendigen, durch eine Ideologie einer naturgegebenen geschlechtspeziflschen Arbeitsteilung allerdings verdeckten, dualen Ökonomie der neuzeitlichen Gesellschaft aus läßt sich die Ausgrenzung des weiblichen Geschlechts als historisch-soziale Kategorie in der neuzeitlichen Geschichte begreifen und zugleich eine theoretische Diskussion um die neuzeitliche Frauengeschichte ohne ideologische Verengung führen. Für die gegenwärtige Kontroverse um das Verhältnis Marxismus-Feminismus und um die historische Einschätzung der Hausarbeit erweist sich dieser Rückgriff auf die duale Ökonomie der neuzeitlichen Gesellschaft als ein fruchtbarer Ansatz. Er muß aber von empirischer Forschungsarbeit begleitet werden. Sonst bleibt die Frau weiterhin in der neuzeitlichen Geschichte ein überhistorisches Geschlechtswesen, das sich mit dem traditionellen Werkzeug des Historikers nicht erfassen läßt.

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