Die Mütter der Nation

Zu Helene Langes Begründung einer »weiblichen Kultur«

"Im Schicksal der Frau steigert sich der Gegensatz zwischen Familieninteresse und Produktionsinteresse heute zur grellsten Dissonanz; ihr Leben wird der Schauplatz des schärfsten Zusammenstoßes zwischen diesen beiden Tendenzen unserer Kulturentwicklung, wird wirklich, zweier Zeiten Schlachtgebiet", (LANGE, 1914, 24).

I. Zweier Zeiten Schlachtgebiet

Als solch einen martialischen Kriegsschauplatz beschrieb HELENE LANGE den Konflikt der Frauen, Beruf und Familie in der industriellen Gesellschaft zu vereinbaren 1907 in ihrem Buch "Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen". Dieses Problem ist immer noch aktuell, obgleich wir es nicht mehr so formulieren.
Erleben wir diesen Konflikt heute nicht mehr so dramatisch? Wir thematisieren noch immer die Doppelbelastung der Frauen und sehen dies als zentrales Problem von Gesellschaftskritik. Denn in besonderer Weise sind Frauen den Konsequenzen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ausgesetzt. Den Folgen der Trennung in die öffentliche und intime Sphäre, der Trennung in Erwerbssphäre und Familie.
Psychisch muß die Verbindung sich überschneidender und einander ausschließender Anforderungen geleistet werden.
Die bürgerliche Formbestimmung des Patriarchalen liegt in dieser Trennung, die doppelte Auswirkung auf die Frauen hat: Soziale Interaktionsformen wurden durch die Trennung der Sphären zu natürlichen Eigenschaften mystifiziert. Die Reproduktionsarbeit der Frau, die aus der gesellschaftlich-öffentlichen Sphäre auf die intime, die der Familie, verwiesen wurde, gilt nicht als gesellschaftliche Arbeit.
Damit war der historische Ausschluß der Frauen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verbunden und damit auch die Verweigerung der Bürgerinnenrechte, die sie seit der Französischen Revolution als Naturrecht forderten.
Erst zur Wahl der Nationalversammlung 1919 wurden den Frauen die Menschenrechte zuerkannt.
Aber schon 1907, in der Zeit, in der HELENE LANGE diese Sätze schrieb, war die proletarische Frau längst in den Produktionsprozeß eingegliedert. Doch die Menschenrechte - Recht auf Bildung, Versammlungsfreiheit, Stimmrecht z. B. - wurden ihnen deshalb nicht zuerkannt. Diese galt es noch zu erkämpfen. Die Frauenbewegung, die sozialdemokratische wie die bürgerliche, kämpfte um die Anerkennung der Frauen als Bürgerinnen.

II. Unterschiedliche Strategien in der deutschen Frauenbewegung

Es gab verschiedene Strategien auch innerhalb der bürgerlichen' Frauenbewegung, die sich auf die Konsequenzen der bürgerlich-patriarchalen Trennung der Sphären für die Frauen bezogen. HELENE LANGEs Strategie zielte auf den Bereich einer "weiblichen Kultur", die die männlich strukturierte Gesellschaft ergänzen sollte. Das Harmoniemodell eines lebendigen, organischen Kreislaufs stand hinter ihrer Vorstellung einer organischen Arbeitsteilung der Geschlechter. Die mechanische und hierarchische Arbeitsteilung dagegen habe zu zwei abgekoppelten Systemen der Werterzeugung geführt - Familie und gesellschaftliche Produktion -, welche im schärfsten Widerspruch zueinander standen anstatt füreinander fruchtbar zu werden.
Damit aber ging HELENE LANGE von einer Trennung der Sphären aus, denn der Gegensatz zwischen zwei Systemen oder zwei Kulturen ist der aufgenommene Ausdruck der verselbständigten strukturellen Trennung von gesellschaftlicher Öffentlichkeit und Intimsphäre. Aber auch von gesamtgesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktion und privat-intimer Sozialisation. Diese Verselbständigungen hoffte sie durch die Natur der Frau organisch zu verbinden.
Feministinnen wie HEDWIG DOHM und ROSA MAYREDER bekämpften die Ausgrenzung der Frauen aus dem gesellschaftlichen Raum anders. Sie wehrten sich gegen die Reduktion auf weibliche Natur: sie begriffen sie als Mystifikation der gesellschaftlichen Ausgrenzung. HELENE STÖCKER verstand Weiblichkeit als zweite Natur. Aus der historischen Ausgrenzung und Unterdrückung der Frauen resultierten nach ihrer Meinung das verfeinerte Gemütsleben und die größere Liebesfähigkeit der Frauen. Ihre Radikalität lag darin, den gesellschaftlich beschränkten weiblichen Lebenszusammenhang nicht zum Ort der Emanzipation zu machen. Sie begriff ihn als die ausgegrenzte Dimension der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Diese Ausgrenzung bedeutete für sie die Verarmung der Öffentlichkeit. Einzutreten in die bürgerliche Öffentlichkeit hieß für sie, diese solange ausgegrenzten Qualitäten in der bürgerlichen Öffentlichkeit aufzuheben. In diesem Sinne formulierte die österreichische Feministin ROSA MAYREDER weibliche Emanzipation als aktive Veränderung gesellschaftlich patriarchaler Strukturen.

"Und das ist der Wille und das Ziel der progressiven Bewegung unter den Frauen: das Weib von dieser zweiten Stelle zu erheben, um es als gleichberechtigtes Wesen an die Seite des Mannes zu setzen. Was aber kann der letzte und tiefste Sinn dieser Bestrebung sein? Ihre Gegner haben sie immer dahin mißverstanden, als wollte sie aus dem Weib einen Mann machen. Und in der Tat würde, falls die Frauenbewegung nicht von einer wesentlichen Änderung der bestehenden Ordnung begleitet wäre, diese Gefahr in mancher Hinsicht drohen; zum Mindesten aber müßte sich das weibliche Geschlecht in die Lebensformen und Anforderungen pressen lassen, die vom Manne für den Mann geschaffen wurden. Deshalb ist die Änderung der bestehenden Ordnung im Sinne des weiblichen Lebens eine unerläßliche Voraussetzung der Frauenbewegung" (MAYREDER: Zur Kritik der Weiblichkeit, 1981, 9).

HELENE LANGE war Sprecherin der "gemäßigten" Mehrheitsfraktion in der deutschen Frauenbewegung. Sie ging nicht von einer solchen Änderung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung aus, wie es die radikalen Feministinnen mit ihrer Forderung nach Gleichberechtigung taten. Die Menschenrechte für Frauen zu erkämpfen, hieß für die Radikalen das "männliche Jammertal" zu verändern. Für HELENE LANGE hingegen hieß Gleichberechtigung die Form der Gleichschaltung mit dem Mann. Die Gleichschaltung der Psyche und des Körpers der Frau mit der Maschine. Deshalb interpretierte sie Gleichberechtigung neu, und zwar als Gleichwertigkeit des Weiblichen und des Männlichen. Gleichwertig statt gleichberechtigt - das sollte der Frau wieder einen würdigen Platz an der Seite des Mannes schaffen. Der Aufbau einer weiblichen Kultur schien die Frauen nicht in die "Lebensformen und Anforderungen", die vom Mann geschaffen waren, "zu pressen", sondern hieß kultureller Fortschritt. Im Programm des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins von 1905 ist es festgehalten:

"Die Frauenbewegung geht in der Begründung ihrer Forderungen von der Tatsache der durchgängigen körperlichen und seelischen Verschiedenheit der Geschlechter aus. Sie folgert aus dieser Tatsache, daß nur in dem gleichwertigen Zusammenwirken von Mann und Frau alle Möglichkeiten kulturellen Fortschritts verwirklicht werden können" (LANGE 1980, Anhang).

ROSA MAYREDER kritisiert dieses Programm.
Sie drückte ihre Verwunderung über dieses Verbleiben in der traditionellen Konstruktion von Weiblichkeit aus:

"In den letzten Jahren ist eine bemerkenswerte Erscheinung in der Frauenbewegung hervorgetreten: Sie hat die Auffassung, daß Mann und Weib von Natur aus wesensverschieden sind, also eben die Auffassung, die sie ursprünglich bekämpfte, weil daraus ihre stärkste Gegnerschaft entsprang, angenommen und ihren leitenden Grundsätzen zugesellt.

Während ihre Argumentik sich ursprünglich gegen jene wandte, die wegen der natürlichen Ungleichheit von Mann und Weib die Forderung nach gleicher Rechtsstellung und gleichen Bildungsmöglichkeiten ablehnten, benützte sie nun die Doktrin der Ungleichheit... um die Herabdrückung des Weibes auf das psychische Niveau des Mannes zu bekämpfen... Die Hypertrophierung des männlichen Intellekts auf Kosten einer harmonischen Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit, die Disharmonie, das Mißverhältnis zwischen dem elementaren Triebleben und dem intellektuellen - wird immer stärker als übelster Mangel an der männlichen Psyche und der männlichen Kultur empfunden. Der psychische Vorzug, den man ja von altersher dem Weibe einzuräumen geneigt war, gewinnt im selben Maß an Wert, als die Verkümmerung des Empfindungslebens beim Manne sich bemerkbar macht" (MAYREDER).

Wie kam es nun zu dieser kritischen Beschreibung ROSA MAYREDERS? Gab es wirklich eine Veränderung der Emanzipationsinhalte der bürgerlichen Frauenbewegung? Einige Aspekte des Gesellschaftsverständnisses HELENE LANGES, heute noch wichtige Repräsentantin der historischen Frauenbewegung, möchte ich hier hermeneutisch und gesellschaftstheoretisch reflektieren. Ich möchte ihre Besorgnis vor den Tendenzen einer Gesellschafts- und Kulturentwicklung nachzeichnen, die sie zu einer Neu-Formulierung von Emanzipation führte.
In der Organisation des Bundes Deutscher Freuenvereine (BDF), die "Führerinnen"-Positionen vorsah, nahm HELENE LANGE eine solche Stelle ein. Sie fühlte sich berufen, Frauen die Aufgabe zu stellen, die Familie - als letzte Bastion - zu retten und ihrem Kulturauftrag angemessen, individuelle Freiheit und Autonomie zu schützen.
Sie sah die bürgerliche Intimsphäre bereits 1907 durch eine Massenkonsumgesellschaft bedroht. Die technische Entwicklung schien nicht nur die möglichen Potenzen der Entfaltung des Individuums zu vernichten, sondern sogar sein Ich zu zerstören. Implizit hatte sich HELENE LANGE auf MAX WEBERs Prognose des Fachmenschen ohne Geist und des Genußmenschen ohne Herz bezogen.
Welche gesellschaftlichen Erfahrungen und welche Kategorienbildungen, die Realität zu erfassen, hinter der verzweifelt anmutenden Formulierung HELENE LANGES: das Leben der Frau wird zweier Zeiten Schlachtgebiet standen, will ich thematisieren. Ihre Erfahrung der Zerrissenheit, ihre Reflexion objektiver Risse und ihre Sehnsucht nach Versöhnung, Ganzheit und Harmonie der Gegensätze, werde ich in den Kontext der historischen gesellschaftlichen Entwicklung stellen. Denn verweist nicht ihre Ausdrucksform auf eine neue, schwer zu bewältigende gesellschaftliche Erfahrung, auf eine historische Umbruchssituation, in der Frauen Geschichte erlitten und gleichzeitig machten?

III. Die 'energetische Revolution' - Kultur - Natur

Die rapide Entwicklung Deutschlands von einem vorwiegenden Agrarland zur Industrienation ist eine historische Umbruchsituation und wurde als solche erfahren.
Ich fasse hier einige Merkmale des industriellen Vergesellschaftungsprozesses zusammen, in dem sich in dieser Zeit die Transformation der formellen zur reellen Subsumtion des Arbeitsprozesses unter den Verwertungsprozeß vollzog. Das strukturierte die "Lebenswelt" der Bevölkerung entscheidend. In der formellen Subsumtion war der alte handwerkliche oder manufakturielle Arbeitsprozeß bestehen geblieben, in der reellen Subsumtion veränderte sich der Arbeitsprozeß entscheidend. Die Kapitalkonzentration hatte 1904 schon zu den ersten Trustbildungen geführt. Neue Technologien wurden durch die Anwendung der Elektrizität ermöglicht. Die Bedingung war geschaffen, Arbeitskräfte in Großbetrieben zu konzentrieren. Konkrete Arbeitsformen, die das Handwerk noch hatte, oder die Möglichkeit, den Produktionsprozeß noch zu durchschauen, wurden verunmöglicht durch die Zentralisierung und Konzentration. Der Arbeitsprozeß teilte und spezialisierte sich, es war der Beginn der Taylorisierung.
Diese Industrialisierung mit einhergehender Rationalisierung hatte ihr markantestes Beispiel in der Entwicklung der AEG, die sich als Vorreiter der Industriekultur begriff. In dieser Zeitspanne des industriellen Aufschwungs, seit der Reichsgründung, war die Allgemeine-Electrizitäts-Gesellschaft wie kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland groß geworden. Es gehörte auf dem Gebiet der Elektro-Industrie zu den führenden Monopolverbänden der Weltwirtschaft.

"Die elektrotechnischen Errungenschaften brachten Umwälzungen auf sozialem und wirtschaftlichen Gebiet in einem Ausmaß mit sich, wie vordem die Einführung des mechanischen Webstuhls am Ende des 18. Jahrhunderts und die Anwendung der Dampfkraft seit Beginn des 19. Jahrhunderts" (vgl. ROGGE, in: Buddensieg 1978, 91 f.).

Diese energetische Revolution wurde zum Banner der neuen Kultur, die die technisierte Wirklichkeit poetisierte (vgl. Futuristen).
Sie versprach die Schranken der Tradition radikal niederzureißen, und euphorisch nahm HEDWIG DOHM diese Möglichkeit auf

"Vorwärts! Ins Weite, Freie, Endlose! Grenzpfähle stürzen, die für Ewigkeiten errichtet schienen. Nicht umsonst steuern die Luftschiffe durch den Äther, durchsausen die Automobile die Welt" (vgl. DOHM 1909, 849).

Sie sah hierin die Möglichkeit für den Aufbruch der Frauen aus der Enge der traditionellen Lebensformen, aus dumpfer enger Begrenzung sozialer, ökonomischer, rechtlicher Einschränkung.
Aber auch Ängste und Ambivalenzen werden zu dieser Zeit schon deutlich. Die Bewegungsfreiheit durch die technische Entwicklung erschloß zwar neue Räume und stürzte die Grenzpfähle, aber ins Unbegrenzbare? Es wurde die Frage gestellt, wer oder was diese Triebkraft sein könne.

"Wir leben in einer Zeit rapider Entwicklung der sozialen Zustände. Nichts erscheint mehr fest und dauernd, die Ergebnisse des nächsten Tages stürzen die des vorhergehenden um. Auf allen Gebieten des sozialen Lebens ist ein Drängen und Treiben, ein ungestümer Fortschritt, ein Durchbrechen der alten Schranken und Lebensformen zu erkennen. Unbestimmte Ziele regen den Fortschritt an, verdoppeln das Streben. Eine quälende Unsicherheit hat sich unserer Zeit bemächtigt... abgestorbene Zustände werden rücksichtslos beseitigt, und berechtigte Selbstsucht überwindet Hindernis über Hindernis" (vgl. DAHMS 1895).

Zusammen mit dem Optimismus, sich bewegen zu können, sich vorwärts bewegen zu können, stellte sich die Frage nach dem Wohin. Fortschritt ins Unbekannte, Endlose, ins Chaos? Was erwartete einen? "Bewegen wir uns oder werden wir bewegt? (LANGE 1920) Freiheit oder Notwendigkeit?
Gegen das Chaos von sich auflösenden Traditionen gab es den Versuch einer "räumlichen Neuorganisation und einer Neuorganisation alles Sichtbaren" durch die AEG.
Der ästhetische Weltbürger WALTER RATHENAU hatte den "leidenschaftlichen Glauben, daß sich der inerten, chaotischen Masse alles Wirtschaftlichen Form und Geist geben ließe" (BUDDENSIEG et al 1978, 5). Es war dies ein Versuch, die "Verbindung künstlerischer Arbeit mit der industriellen Massenproduktion und der massenhaften Verbreitung ihrer bildenden und bildnerischen Produkte herzustellen, um die gesamtgesellschaftliche Sachlage zugunsten der Kultur zu ändern" (vgl. BUDDENSIEG). Gerade der großen Industrie traute man diese Kraft zu', eine neue Kultur zu schaffen, als Industriekultur.
Dahinter lag der "sozial-pädagogische Impetus, den verheerenden Folgen der Industrialisierung in den fundamentalen Bereichen der menschlichen Arbeit und deren Produkten, menschlichen Wohnens und menschlicher Beziehungen" eine kulturelle Formung entgegenzusetzen (vgl. BUDDENSIEG et al 1978).
Diese neue realistische Sachlichkeit wurde als kulturelle Formung bereitwillig angenommen. Sie repräsentierte sich im Lichtpalast und im Dasein der Glühstrumpfarbeiterin. Der monotonen, öden Fabrikarbeit stand die strahlende, glitzernde Großstadt gegenüber.
Doch die Selbstdarstellung der Industrie erfolgte noch nach einem alten gesellschaftlichen Muster, sich in Allegorien auf mythische Versatzstücke zu beziehen. Technischen Vorgängen sollte innerhalb wirtschaftlicher Nutzung allegorisch größere Symbolkraft gegeben werden. Denn nur zweckbewußtes Handeln, Technik nur als zweckmäßige Herstellung von Sachgütern für den menschlichen Bedarf, verfehlte das Bedürfnis, das gewonnene moderne Lebensgefühl als den Höhepunkt der Geschichte zu dokumentieren. Es bedurfte noch dieses Übergangs der Mythologisierung der Industrie, ehe ab 1907 die Industrieprodukte rein nach der neuen Sachlichkeit gestaltet wurden.

Zwei Allegorien von Werbeplakaten möchte ich hier als Beispiel herausstellen.

Frauen in der Geschichte IV
Die "Göttin des Lichts" galt seit 1894 auf Plakaten und Prospekten als Allegorie für den elektrischen Strom, für die energetische Revolution' schlechthin. Diese "Göttin des Lichts" sitzt mit "wallendem Haar, nur bis zur Hüfte bekleidet, seitlich auf einem Flügelrad, berührt mit dem rechten Fuß die aus Wolken auftauchende, von Blitzen umzuckte Weltkugel, reckt mit der rechten Hand eine strahlende Glühbirne in den Nachthimmel, an dem Sterne und eine dünne Mondsichel im Vergleich zur Lampe nur dürftig glimmen" (vgl. BUDDENSIEG, a.a.O.).
Hier verweisen Technik und Industrie auf ihre Triebkräfte. In dieser Göttin des Lichts sind die Merkmale der Liebesgöttinen — Aphrodite, Venus - aufgenommen als Metaphern der (zweiten) neuen Natur, die mächtiger ist als die alte äußere und innere Natur. Die Glühlampe erhellt die Nacht, sie kann die Nacht zum Tage machen, sie kann die Sonne ersetzen. Die erotische Triebkraft wird zur energetischen Triebkraft allegorisiert.
Andererseits drängt sich die Assoziation des Delacroixschen Symbols der Freiheit auf, seines Gemäldes "Die Freiheit führt das Volk an" (1820). Die Trikolore aber ist nun durch die Glühbirne ersetzt. Hier verspricht die Elektrizität die Einlösung des Versprechens der Französischen Revolution. Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit - nun hängen alle vom Stromnetz ab.
Ein anderes Bild der Industriemythologisierung ist die Darstellung eines weiblichen Dyna.mo. Diese Figur schmückte die Festschrift der Berliner Tochtergesellschaft der A.EG von 1897, um damit ihre Resultate in der Technik herauszustellen.
Der Dynamo ist ein weiblicher Körper, um dessen Blöße Drähte gewikkelt sind. Die Brüste sind frei und in ihrer Mitte verkreuzen sich die Drahtwicklungen. In der Kreuzstellung der Energiefäden unterhalb ihrer Brust liegt eine symbolische Bedeutung, die auf den Mythos des Androgynen verweist. Damit wird die Assoziation auf die Utopie der Versöhnung der Geschlechter gelenkt. Es geht in diesem Mythos um die Versöhnung zwischen männlichem und weiblichem Prinzip in der Natur des Menschen, "auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit", (SCHLEGEL 1799) "Mann und Weib und Weib und Mann, reichen an die Gottheit an" (SCHIKANEDER, Zauberflöte 1791).
Aber der Dynamo, die weibliche Inkarnation des elektrischen Stroms, suggeriert eine Natur, die aus sich heraus neu Männliches und Weibliches setzt. Die einzige Verbindung des Männlichen und Weiblichen ist die Elektrizität, ein Draht. Der Dynamo ist der Postillon d'amour, er ist aber ein abstrakter Mittler. Es bedarf gekreuzter Wicklungen, damit ein Dynamo Strom produzieren kann. Wieder sollte ein Mythos durch die Technik Wirklichkeit werden!
Das Bild ist eine als Tryptichon gestaltete Einheit. Formal haben die drei Figuren gleich große Bildantelle, sie sind gleichwertig und ihnen ist die gleiche Bedeutung zugewiesen. Der weibliche Körper des Dynamos steht zentral, er ruht auf seinen Polen, dem Plus- und dem Minus-Pol. Die angehobenen Arme verkreuzen die drei Wicklungen dergestalt, daß der dem positiven Pol zugehörige, auf der Seite des Mannes liegende Wicklungsteil mit der Frau und ihrer Welt verbunden ist, der auf der Seite der Frau befindliche, zum negativen Pol gehörende Wicklungsteil mit dem Mann und seiner Welt verbunden ist. Der Chlasmus wird zur Andeutung des Androgynen benutzt, aber er zeigt nur die Harmonie sich bedingender Pole, die können nur in Harmonie sein, nur deshalb einen geschlossenen Kreis bilden, weil sie gegensätzlich sind. Gleiche Pole könnten keinen Kreislauf bilden. So will der Dynamo technisch das Androgyne verwirklichen. Er verspricht die konfliktfreie Vereinigung konfliktreicher Strukturen. In dem Bild ist auch der Kreislauf von Produktion und Konsumtion schon angedeutet. Der Mann schwingt mit seiner rechten Hand den Hammer, mit der linken hält er den Draht, der zum Dynamo führt. Die Frau, auf der linken Seite, hält die Glühbirne. Diese im Bild Mann und Frau zugeschriebenen Täti2keiten, wie die unterschiedlichen Hintergrundgestaltungen dieses Plakates - rauchende Fabrik.schlote auf der Seite des Mannes, Hausdächer und Kirchtürme auf der Seite der Frau - weisen auf die erhoffte neue gleichwertige, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung hin: In den Dynamo wird die mechanische Arbeit des Mannes gegeben. Der Dynamo transformiert seine mechanische Arbeit zur Elektrizität. Die Elektrizität ist nicht sichtbar; die Frau erst konkretisiert sie zur sinnlichen Wahrnehmung - in der Glühbirne. Verkörpert so der Mann die Industrie, verkörpert die Frau den Ort - Wohnen, Kultur.
Diese Trennung von Arbeit und Wohnen wurde erst wieder durch den elektrischen Strom ermöglicht. Die Dampfmaschine ist stationär gebunden und bindet dadurch auch den Arbeiter. Elektrizität aber im Dynamo repräsentiert die jederzeitige Verfügbarkeit an jedem Ort. Die Arbeit war übertragbar geworden und vom greifbaren Geschehen ins Abstrakte gerückt. Elektrizität ist Arbeit in reinster Form. Sie ist vom Körper abgelöst und als Energiequelle für mannigfaltige Tätigkeit benutzbar. Sie ermöglichte und setzte eine Trennung der Geschlechter in ihren verschiedenen Tätigkeitsfeldern, die aber gleichwertig sind. Der Dynamo versinnbildlicht die neue Naturkraft, eine Kultur, die Mann und Frau in der Form des industriösen Fleißes miteinander verbindet. In den entblößten und tätigen Körpern wird das deutlich. Sie gehören nicht sich, sondern der Arbeit. Sie haben keinen direkten Kontakt zueinander, keine Affekte, keine Erotik. Diese nackten Körper zeigen eine entfremdete' Sexualität. Eine von Affekten und Emotionen bestimmte innere Natur, Eros, ist durch eine andere Natur ersetzt. Eine von Affekten und Emotionen und Spuren der Lebensgeschichte des Produzenten gerein-igte, ein vom Individuellen gereinigtes Leben'. Elektrizität wurde die vis vitales.
Im folgenden werde ich untersuchen, inwieweit HELENE LANGE diesen Fortschritts-Mythos verarbeitete und aufnahm. Daran knüpft sich dann die Frage an, ob sie eine erneute Polarisierung von Geschlechtscharakteren durch die Technik ermöglicht sah.
Sie charakterisierte den industriellen Vergesellschaftungsprozeß unter dem Aspekt der "Zerbröckelung der Familienwirtschaft". Damit war für sie die "Frauenfrage" entstanden. Sie setzte den Industrie-Mythologisierungen einen anderen Mythos von Natur entgegen, den der Urzeugung. Der zweiten Natur die erste Natur - Urgestein - Mütterlichkeit. Um das Dasein wieder fruchtbar' zu machen, mußte die mechanische, künstliche Natur ihren Naturgrund wieder im Urgestein - Mütterlichkeit - finden. Erst dieser entgegengesetzte Pol konnte die Sehnsucht nach Harmonie in einer in sich zerrissenen Gesellschaft erfüllen.
Wie sehr die energetische Revolution - am sichtbarsten durch die AEG dargestellt - ihre Wahrnehmungsweise bestimmte, wird an diesem Zitat HELENE LANGEs deutlich:

"Das Leben des Kulturmenschen ist im wesentlichen in zwei Kreise zusammengefaßt; einen kleineren: die Familie, und einen größeren: die Gesellschaft. Unser Leben, alles, was wir denken und arbeiten, und wiederum, was wir an Kulturgütern empfangen und in uns aufnehmen, vollzieht sich zum Teil in dem engen Kreis der Familie, zum Teil in dem weiteren der sozialen Gemeinschaft. Es ist nun eine der wesentlichsten Eigenschaften unserer gesamten Kulturentwicklung, daß der kleinere Kreis der Familie an Bedeutung verloren hat gegenüber dem weiteren der sozialen Gemeinschaft, die als industrielle Unternehmung, als Gemeinde, Staat, freiwilliger Verband, der Familie eine Funktion nach der andren entzieht. Man könnte, um sich diese Vorgänge zu verdeutlichen, die Familienwirtschaften sich als eine Reihe von kleinen Inseln denken, von denen das Meer ein Stück nach dem anderen abspült, um von diesem abgespülten Erdreich ein neues Land zu bilden, nämlich die Welt des sozialen Lebens, der weiteren sozialen Beziehungen. Das Abbröckeln begann in der Tätigkeitssphäre des Mannes. Es war zunächst sein Leben, das mehr und mehr hinausverlagert wurde auf dieses Neuland. Dann aber ergriff dieser Vorgang auch den Lebenskreis der Frau, nur daß er hier Halt machen mußte bei einem Stück Natur, das wie Urgestein, wie ein unzerstörbarer Kern dieser Insel übrig bleiben muß: das ist die Mutterschaft" (LANGE 1980, 20).

HELENE LANGE wählte diese Naturparallele für den historischen Veränderungsprozeß der Familie. Die familienwirtschaftliche Produktion wurde in die Industrie verlagert. Damit wird der historische Prozeß der Transformation der vorindustriellen Familie als Produktionsgemeinschaft zur bürgerlichen Kernfamilie eingeleitet.
Interessant sind die sozialen Wahrnehmungsformen dieses Prozesses. Das gewählte Bild deutet auf eine gesellschaftliche Bewegung als natürliche Bewegung. Eine Kulturentwicklung wird bei HELENE LANGE als Naturverlauf versinnbildlicht. Zwei Symbole erscheinen mir auffällig Erde und Wasser. Es sind zwei archaische Symbole. Erde, Land - sich nicht selbst bewegend und Meer, Strom - Bewegung und Bewegungskraft. Naturgrund gegen Naturkraft. Die Naturkraft des Wassers kann Land wegspülen, ihre Bewegungskraft kann den Ort verändern. Aber der Passivität des Naturgrunds, der Ortsveränderung bis zur Ortslosigkeit ist die Schranke durch das Urgestein gesetzt.
Das Bild H. LANGEs zeigt die Dynamik einer Bewegung, die Urgestein zwar freilegen kann, aber es auch stehenlassen muß.
Steht diese Naturanalogie für eine bedrohliche zweite Natur, in der Menschen sich machtlos einer Bewegungskraft ausgesetzt fühlen? Das Leben des Mannes war veränderbar, das Leben der Frau aber, gestützt auf Urgestein, wäre nicht veränderbar?
Mutterschaft, wie Urgestein, hat die Konnotation des Ewigen und damit einen Zeitaspekt: den der Zeitlosigkeit und den der Zeitenlosigkeit. Die Mutterschaft wäre also ein qua ewiger Natur gesicherter Ort gegen verschiedene gesellschaftliche Zeiten - auch die industrielle durch die Maschinerie beschleunigte Zeit.
Aber das gewählte Bild HELENE LANGEs bedeutet auch, daß erst das "technische Jahrhundert" durch seine energetische Revolution die Natur der Frau in ihrer ganzen Bedeutung freilegt.
Dann wäre in der Allegorie des weiblichen Dynamos die Natur der Frau - das Urgestein - freigelegt als unzerstörbares ewiges Fundament der Kultur. Sie wäre der Gegenpol zum Manne, der mechanische Tätigkeit verrichtet.
Liegt eine Matriachatsvorstellung dahinter? Mutter Erde? Demeter, die Ernährerin der Menschen, die beglückende Mutter der Welt?
Oder eine andere Zeitvorstellung: zyklische Zeit gegen abstrakt lineare Zeit?
Aber gehe ich dem allegorischen Bild des Urgesteins weiter nach, um seine Bedeutung als Naturkonstante aufzuschlüsseln.

"Ganz langsam hat dieser Vorgang des Hinüberfließens der Lebensfunktionen aus dem engen in den größeren Kreis weiter gewirkt, bis dann plötzlich mit dem technischen Jahrhundert die Bedeutung dieses weiteren Kreises mit rasender Schnelligkeit wuchs und das Leben stromweise aus den kleinen Lebensgemeinschaften in die eine große hineingesogen wurde" (LANGE 1980, 22).
"Die Krisis kam zum Ausbruch, weil mit der rapiden Entfaltung der Großindustrie ein Bedürfnis nach weiblichen Kräften in der volkswirtschaftlichen Güterproduktion entstand. Die Großindustrie brauchte zu ihrer Entfaltung die Frauenkraft. Wie der Magnetberg das Eisen der Schiffe, so zog sie fühllos und unaufhaltsam an sich heran, was an freier, oder sagen wir besser wehrloser Arbeitskraft da war, wenn auch die Familie dabei auseinanderbrach" (LANGE 1980, 23).

HELENE LANGEs Bild verdeutlicht sich. Aus der Bewegungskraft des Wassers wurde der reißende Strom, der nun auch die Frauen ergriff. Der Strom riß "eine wehrlose und willenlose Beute mit sich". Es ist ein tragisches Bild, ein plastisch ausgemalter Schrecken. Sie meint, die "ersten Generationen der modernen Fabrikarbeiterinnen" seien "die belastetsten Geschöpfe gewesen, die die Kulturgeschichte gekannt hat".

"Und wenn hier die Frauenkraft von der Großindustrie vielfach wie von einem unüberwindlichen Sieger als willenlose, ja widerstrebende Beute mitgerissen, vor sich hergestoßen wird, um fern der häuslichen Heimstätte an irgend einem vakanten Posten der volkswirtschaftlichen Produktion eingestellt zu werden..." (LANGE 1980,23).

So war es das Schicksal dieser Frauen, die sich nicht auf ihr Urgestein bezogen oder nicht beziehen konnten, Objekte der Ausbeutung zu werden. Als freie - wehr- und willenlose Arbeitskraft, "heimatlos", war die proletarische Frau "zur Entwurzelung ihres Innenlebens, zur inneren Verödung - fast einer Degeneration gleichkommend" getrieben. Die mißbrauchte Frauenkraft war "schmerzliche Wahrheit" geworden (LANGE 1980, 107).
Für HELENE LANGE, Sprecherin des gemäßigten Flügels der deutschen Frauenbewegung, hatte sich das "Dogma der Menschenrechte", das Recht auf Arbeit, in erschreckender Verwirklichung gezeigt. Das Versprechen der Aufklärung, wonach sich die bürgerliche Gesellschaft durch selbstbestimmte Individualitäten konstituierte, hatte sich bei wachsender Usurpation der gesellschaftlichen Arbeit durch das Kapital als trügerischer Schein erwiesen.

"Die naturrechtliche Idee als Mensch anerkannt zu werden, war nur Emanzipation als Mensch, nur Recht auf männliche Berufsleistungen - das alles hat der Frau nicht helfen können" (LANGE 1980),

denn

"die Fabrikarbeiterin, der niemand dieses Recht auf Arbeit bestritt, und die gerade durch den uneingeschränkten Besitz dieses Rechts in die schlimmste Sklaverei geriet, die alles eher war, als die zu voller, freier und eigenartiger Leistungsfähigkeit entwickelte weibliche Persönlichkeit, in dieser Frau macht die Doktrin der Menschenrechte, machte das nur emanzipatorische Programm bankrott" (LANGE 1980, 46).

Frauen in der Geschichte IV 

HELENE LANGE stand das Schicksal der Fabrikarbeiterin vor Augen als sie den unzerstörbaren Kern der Mutterschaft postulierte. Sie bezog sich auf die Natur der Frau, die erst durch die energetische Revolution des technischen Jahrhunderts wieder freigelegt wurde. Nur in der Natur der Frau, nicht in ihren bürgerlichen Rechten, konnte die Schranke gegen ihre volkswirtschaftliche Verwertung liegen. Nur durch sie konnte eine Barriere gegen die drohende Zerstörung der Kultur errichtet werden.

IV. Sozialdemokratie - Kritik - Frauen

HELENE LANGE kritisierte an den radikalen Feministinnen und an den Sozialdemokratinnen, daß sie trotz des industriellen Produktionsprozesses den Anspruch auf Gleichberechtigung vertraten. Sie kritisierte aber vor allem die Sozialdemokratie und die sozialdemokratische Frauenbewegung, die die Emanzipation der Frauen vor allem auf ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß bezogen. Diese Teilnahme und Mitgestaltung am gesellschaftlichen Prozeß, im Postulat der Gleichberechtigung, begriff HELENE LANGE als frühbürgerliche, naturrechtliche Forderung. Den gesellschaftlichen Verhältnissen würden diese Forderungen aber nicht entsprechen. Die naturrechtliche Forderung hatte nach ihrer Meinung nur noch die unmittelbare, gleiche, mechanische Arbeit in der volkswirtschaftlichen Gütererzeugung zur Folge. Gegen diese Form der Arbeit sprach sich auch ROSA MAYREDER aus, ohne die naturrechtlichen Forderungen nach Menschenrechten aufzugeben. Aber auch sie sah diesen Prozeß der Zivilisation in ähnlicher Weise.

"Wozu das Eindringen der Frauen in Berufe, in denen schon der Mann mit seiner widerstandsfähigeren Natur zur seelenlosen Maschine mechanisiert wird?" (MAYREDER, 184).

Dagegen schien HELENE LANGE gerade das Festhalten am aufklärerischen Idealismus der Grund zu sein, aus dem die proletarische Frauenfrage entstanden war, und in der "alle unheilvollen Wirkungen der Frauenarbeit auf das Lohnniveau der männlichen Arbeiter, auf die Familie, auf die Gesundheit der Frau selbst, auf ihre Mutterschaft beschlossen" lagen (LANGE 1980, 14).
Für sie schien die immer stärkere Einbeziehung der Frauen in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß die natürlichen, wesensmäßigen Unterschiede der Geschlechter, ihre Polarisierung, zu nivellieren. Sie schienen sich aufzulösen in die Gleichheit von Arbeitskräften für den Produktionsprozeß, der ihr vom Mann und für den Mann geschaffen zu sein schien.

"Der mächtige Organismus der modernen Güterproduktion, des Güteraustauschs, des Verkehrswesens, kurz unsres ganzen volkswirtschaftlichen Lebens hat sich im wesentlichen ohne Frauenkraft entwickelt und ausgestaltet, hat sich in seinen Formen gefestigt, in der Abhängigkeit all seiner Zweige untereinander verankert, ehe die Frau anfing, eine irgendwie ins Gewicht fallende Rolle als volkswirtschaftliche Arbeitskraft zu spielen. Und nun zeigt sich diese ganze Welt der gesellschaftlichen Produktion mit der schauerlichen Unpersönlichkeit ihres Mechanismus, der den Einzelnen rücksichtslos zu einer Triebkraft in dem großen Räderwerk macht - nun zeigt sich dieser Organismus zu wenig elastisch, um die Frauenkraft als Frauenkraft sich einverleiben zu können. Wie eine Maschine nach dem Maß von so und so viel Pferdekraft konstruiert ist, so ist diese ganze vielgestaltige Maschine konstruiert nach dem Grundmaß der Manneskraft, die ganz zur Verfügung gestellt werden kann, an die von andrer Seite her keine oder doch nur geringe Ansprüche erhoben werden. Man kann in diesem ungeheuer verzweigten Getriebe kein Rad brauchen, das nur den halbn Tag laufen will, keinen Treibriemen von weniger ausdauernder Beschaffenheit. Man kann die Frau nur nach den Maßen der Manneskraft beschäftigen oder gar nicht" (LANGE 1980, 26).

Frauen in der Geschichte IV
Der geschichtliche Ausschluß der Frauen aus der Öffentlichkeit und aus der Produktion hatte diese geprägt, sie hatte als Subjekt an deren Entwicklung keinen Anteil. Ihre Distanz zum Produktionsprozeß schien ihrer Natur geschuldet zu sein. Hatten sie in den Jahren der bürgerlichdemokratischen Revolution 1948/49 einem "Reich der Freiheit" Bürgerinnen werben wollen, hatten sich die Frauen unter dem Motto: "Menschen werden wollen die Frauen und teilnehmen am Kranz der Arbeit und des Siegers" zusammengeschlossen, so war es nun, um die Jahrhundertwende zu spät (OTTO-PETERS 1890, 9). Der Produktionsprozeß hatte sich gegen die Frauen entwickelt und zeigte sich nun in der "schauerlichen Unpersönlichkeit" seines Mechanismusses. Jetzt konnten und wollten sie nicht bruchlos in dieses System der arbeitsteiligen Funktionsformen eingefügt werden. Denn jetzt konnte die Frau nur zum besonderen Objekt der Ausbeutung werden, und dazu noch erleiden, psychisch unter einander ausschließenden Anforderungen zu stehen. Arbeit hieß nur noch die Gleichheit von Arbeitskräften im Produktionsprozeß. Hieß ihre Gleichschaltung, hieß ihre besonderen Fähigkeiten zu negieren.
Denn:

"Die Einstellung des Mechanismus unsrer großen Wirtschaftskreise auf die Leistungen des Mannes hat noch ein andre Seite. Man verlangt nämlich von der Frau nicht nur dem Kraftmaß nach männliche Leistungen, sondern man kennt auch für die Qualität, für die Art der Leistungen keinen eignen Maßstab ... es wird die Unvereinbarkeit der frauenhaft mütterlichen Aufgaben mit den im Beruf an die Frau herantretenden um so größer, je ferner dieses Berufsgebiet der Welt ihrer natürlichen Interessen, ihres weiblichen Empfindens liegt" (LANGE 1980, 27).
Die "Verkleinerung des Lebenskreises der Frau" in der Familie, dieser "Raub an einem notwendigen Lebensinhalt" konnte positiv nur gewendet werden in der Vergesellschaftung des alten Aufgabenbereichs, der "Muttersorge im öffentlichen Leben".

 
Sie hatte in "der Anpassung des Frauenlebens an die neue Produktionsweise" die aktuellen und schwerwiegendsten Probleme gesehen, vor denen die Frauenemanzipationsbewegung um 1900 stand. Damit wurde die Auseinandersetzung mit den Sozialdemokratinnen wichtig.
Lily Braun und ihrem geistigen Vater August Bebel warf sie vor, die materialistische Geschichtsauffassung "zu kurzsichtig auf die Frauen anzuwenden und in der Frauenbewegung lediglich den Schatten des Kapitalismus", nur ein wirtschaftlich begründetes Phänomen zu erblicken.
Sie kritisierte an August Bebels Buch "Die Frau und der Sozialismus" eine Sichtweise, die Frauenfrage zu reduzieren auf die "Folge des Mißverhältnisses zwischen der modernen Produktionsweise und der bestehenden Eigentumsordnung". Sie stimmte ihm zu, daß die Rechtsform der Ehe die Frauen einschränke und ihr "unter den modernen Produktionsverhältnissen keine volle Verwertung ihrer Kraft und keine volle Befriedigung ihrer Glücksbedürfnisse" gestatte. Aber gegen die Gleichberechtigung, gegen die Teilnahme am gesellschaftlichen Produktionsprozeß ging es ihr um eine Arbeit für Frauen, die ihr die größtmögliche Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihres "Lebens" gewährte und "die zugleich die Aufgabe erfüllt, von der Frauenkraft den weitgehendsten, zweckmäßigsten, wertvollsten Gebrauch für die Zwecke der Allgemeinheit zu machen." (LANGE 1980, 30).
An diesem Punkt wird ihre Differenz zur Sozialdemokratie eindeutig: ihr ging es um die unbehinderte psychische Entwicklung der weiblichen Persönlichkeit, um nicht entfremdete Arbeit für die Frauen, die sie sich nur noch in einem eigenen Wertsystem der Frauen vorstellen konnte und nicht durch Gleichberechtigung.

"Versucht nun aber die Frau, aus der bisher durch die Ehe ihr angewiesenen Wirkungssphäre herauszutreten und produktive Arbeit zu tun, d. h. sich unmittelbar an der volkswirtschaftlichen, der erwerbsmäßigen Gütererzeugung zu beteiligen, wie es die Proletarierin muß, so gerät sie innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus dem Regen in die Traufe" (LANGE 1980, 14). (Hervorhebung von mir. BB)

Und diese Differenz ihrer Position zu der der Sozialdemokratinnen lag ferner in ihrer Fragestellung, welche gesellschaftliche Arbeit, welche ,produktive' Arbeit den spezifischen ,weiblichen Leistungen' entsprechen könne. Sie erkannte damit ein Problem, das von den Sozialdemokratinnen als "Nebenwiderspruch" der wichtigeren Frage - der Überwindung des Kapitalismus - untergeordnet wurde. Hier setzte HELENE LANGEs entscheidende Kritik an:

... "Die Aufgabe der Anpassung des Frauenlebens an die neuen Produktionsweisen selbst (kann) selbst mit der Beseitigung des Privateigentums nicht restlos gelöst werden, im Gegenteil, das eigentliche Problem (bleibt) auch dann noch bestehen" (LANGE 1980, 15).

In der Überwindung des Kapitalismus und der Entstehung eines solchen Sozialismus, wie die Sozialdemokratinnen es sehen wollten, lag für sie nicht die Lösung der entscheidenden Frage, wie Beruf und Familie so zu vereinbaren seien, daß Frauen-Psychen nicht mehr das Schlachtgebiet zweier Zeiten wären. Mit Recht kritisiert sie die- verkürzte Kapitalismuskritik:

"In der Auffassung der Frauenfrage als einer Erscheinung des Kapitalismus liegt nun eine gewisse Einseitigkeit, die darin besteht, daß man nicht die technische Entwicklung an sich" die unendlich vielfältige Arbeitsteilung, als die Grundfrage der Frauenfrage ansieht, sondern den Kapitalismus, das heißt, die Eigentumsordnung, die geldwirtschaftliche Seite der modernen wirtschaftlichen Seite der modernen wirtschaftlichen Entwicklung, und daß man folglich meint, durch Änderungen der Eigentumsverhältnisse das Problem beseitigen zu können" (LANGE 1980, 15).

Damit hatte sie einen kritischen Punkt der Sozialdemokratie getroffen. Er liegt im Stellenwert der Produktionsform innerhalb des traditionellen Marxismus. Um die Produktionsform ging es den Frauen. Die Sozialdemokratie identifizierte die Produktivkräfte mit der industriellen Produktionsform. Danach blieb die Form der Produktivkräfte selbst unproblematisch, sie wurden nur im Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen begriffen, weil diese sie an ihrer Entfaltung hinderten. Die Sozialdemokratie befaßte sich dagegen mit der Kritik an der Distributionsweise, der Form der Eigentumsverhältnisse. Damit verstanden sie den Übergang zum Sozialismus nur im Sinne der Transformation der Distributionsweise und nicht als Transformation der Produktionsform selbst.
Markt und Privateigentum abzuschaffen, um den Kapitalismus in den Sozialismus zu überführen, würde nicht die Produktionsform ändern. Der traditionelle Marxismus begreift eben die industrielle Produktionsweise als an sich unabhängig vom "Kapitalismus" (vgl. BRICK/POSTONE, Frankfurt 1982).
Der orthodoxe Marxismus kennt keine Kritik an den Arbeitsformen. Wieso sollte das rote Fließband zum Beispiel persönlichkeitsausdrückende Arbeit erlauben, die psychisches Wachsen und Entfaltung sozialer Fähigkeiten garantiert? HELENE LANGE kritisierte sehr früh - schon um die Jahrhundertwende - den Fortschrittsglauben der Sozialdemokratie. Sie begriff die industrielle Produktionsweise als Ausbreitung mechanischer Stumpfsinnigkeit, als psychische Verelendung. Was hatten die traditionellen Marxisten als Ziel gesetzt? Lediglich diesen Fortschritt: den der Entfaltung der Produktivkräfte im industriellen Arbeitsprozeß. Sie wollten nur die materielle Verelendung aufheben. Das proletarische Elend war so groß, daß für die traditionellen Marxisten das Ziel in der Anhebung des Lebensstandards lag. Diese verkürzte sozialdemokratische Kritik am Kapitalismus führte HELENE LANGE zu der Schlußfolgerung:

"Halten wir es fest: das eigentlich konstitutive Element der Frauenfrage ist der Kapitalismus nicht. Das ist vielmehr die technische Entwicklung an sich..." (LANGE 1980, 27).

Diesen alleinigen Fortschritt durch die Technik aber kritisierten auch die Radikalen.

"Wer aber das Wesen der Zivilisation als ein im Grunde lebensfeindliches durchschaut hat, wird in dem reißenden Fluß technischer Neuerungen, der nur das Mißverhältnis von Kultur und Zivilisation vergrößert, keineswegs einen Fortschritt, oder doch keinen Fortschritt nach aufwärts, erblicken" (MAYREDER 1981, 185).

Hatte die Sozialdemokratie den industriellen Arbeitsprozeß aus ihrer Kapitalismuskritik herausgelassen, so hatte ihn HELENE LANGE isoliert. Sie sah ihn nur als technische Entwicklung. Die Sozialdemokratie hatte die kapitalbestimmte Zeitökonomie als Vergesellschaftungsprinzip, die MAX WEBER als Rationalisierung begriffen hatte, außer acht gelassen. HELENE LANGE begriff die kapitalbestimmte Zeitökonomie als unaufhaltsame, unveränderbare "seelenlose Gewalt der technischen Entwicklung", vor der die Frau - Hüterin der Kultur gerettet werden muß. Die Fabrikarbeiterin, die "dem Volksganzen alle Werte ihrer Mutterschaft entzog, um sie der Industrie zum Opfer zu bringen, war nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ungeeignet für die Mutterschaft" geworden (LANGE 1980, 26).
Wir sind heute hellhörig, wenn Frauen ihre Mutterschaft dem Volksganzen zum Opfer bringen sollen, wir fragen, ob denn "Mutterschaft" überhaupt irgend wem zum Opfer gebracht werden soll.
Trotzdem bleibt ihre Beobachtung gültig und ist noch aktuell:

"... ein Mädchen, das 10 Jahre seines Lebens, und zwar gerade die besten Jugendjahre hindurch täglich zehn Stunden ... Glühstrümpfe verpackt, wird in dieser Zeit und durch diese Vergangenheit in keiner Weise geeignet, ja häufig genug geradezu innerlich unfähig für die Aufgaben der Mutterschaft" (LANGE 1980, 26).

Das Allgemeinwohl, das Volksganze, staatliche Bevölkerungspolitik, wurde auch durch diesen Mißbrauch der Frauenkraft geschädigt. Das betonte HELENE LANGE immer wieder.

Auch ROSA MAYREDER sah dieses Problem so, wie HELENE LANGE es beschrieben hatte. "Die unsinnige Überschätzung der technischen Errungenschaften verblendet... den Bankrott der Innerlichkeit."

Der wird nur durch materielle Vorzüge verborgen. Das waren schon die Einwände der Frauenbewegung in ihren ersten Phasen gewesen. Laut wurde die Befürchtung, daß "durch die Wandlung der sozialen Stellung die alte Kulturmissioii der Frauen zerstört wird, auch sie ihrer natürlichen Bestimmung als flort der Familie entfremdet, auch sie der ästhetischkontemplativen Muße beraubt, die zu den Grundbedingungen einer edlen, vertieften Lebensgestaltulig gehört" (MAYREDER 1981, 179f.).

Hinzu kamen nun für ROSA MAYREDER. die erschwerten Bedingungen für die Kinderaufzucht durch eine hochgesteigerte Zivilisation.

"Das Kind wird... am stärksten durch ein künstlich gewordenes Leben geschädigt. Und mit dem Kind die Frau, der die Natur die ganze Schwere der generativen Aufgabe auferlegt hat."

Für sie träfe aber dieses Problem auch den Mann,

"denn in der maßlos entfesselten Konkurrenz der Leistungsfähigkeit müßte auch sein natürliches Leben scheitern - gibt es doch Stimmen genug, die den produktiven Mann vor der Ehe als Hemmschuh warnen. Denn die Zivilisation, die keine Beziehung zu den Gattungspflichten als Maß kennt, reißt ihn schließlich von den Wurzeln los, an denen seine Menschlichkeit hängt" (MAYREDER 1981, 183).

Sie kritisierte die Folgen des Fortschrittsenthusiasmus, der nur die Errungenschaften der Technik. und die Entfaltung der Produktivkräfte sah.

"So hoch die Herrschaft über die Natur gestiegen ist, so tief ist die Herrschaft des Einzelnen über sein eigenes Leben gesunken. In der abendländischen Zivilisation ist der Mensch wohl der Herr der Natur, aber nicht der Herr des Lebens: er lebt nicht nicht, er wird gelebt" (MAYREDER 1981, 178).

Trotz dieser Gemeinsamkeiten in der Kulturkritik zwischen den Radikalen und den Gemäßigten in der Frauenbewegung waren die Folgerungen unterschiedlich.
HELENE LANGE bezog sich nur auf die Mutterschaft, die der Verwertung und dem Mißbrauch der Frauen eine Schranke setzen sollte. Sie formulierte die Emanzipation für Frauen aus dieser Natur heraus neu. ,Neuformulierung' von weiblicher Emanzipation sollte die gesellschaftliche Anerkennung der Frau heißen. Weibliche Natur birgt ihrer Ansicht nach ein Beharrungsvermögen in sich, das Männern nicht zugeschrieben werden kann. Denn durch die Mütterlichkeit, durch die Sorge um den Nachwuchs, ihrer ganz anderen aufgabenorientierten Produktionsform, sei es Frauen möglich, eine kulturelle Mütterlichkeit auszubilden. HELENE LANGE zählte auch die Herausbildung weiblicher Berufe zur kulturellen Mütterlichkeit. Durch weibliche Berufe wollte sie den Frauen den "Sog in den Mahlstrom des Getriebes" ersparen, in den die Männer gerieten. In kultureller, geistiger' Mütterlichkeit müßten die Frauen in ihrem Kampf um Emanzipation "den geistigen Spielraum ihrer Zeit ausmessen" und hätten dann ihre "Innerlichkeit mit allen Mitteln moderner Kulturverfeinerung gebildet" und könnten somit ihren Platz in einer neuen geschlechtsspezifischen, "organischen" Arbeitsteilung einnehmen.
Stand HELENE LANGE nicht das Bild des geschlossenen Stromkreises der Elektrizität vor Augen, der zwei Pole braucht, um Leistung zu bringen?
Scharf polemisch, trotz der gleichen Zivilisationskritik, wendet sich ROSA MAYREDER gegen HELENE LANGEs Position:

"Eine Arbeitsteilung der Geschlechter in der Weise, daß das männliche die Zivillsationsarbeit und das weibliche die Kulturaufgaben übernähme, wie sie vielen vorschwebt, ist in Wirklichkeit undurchführbar. Sie wäre auch nicht einmal wünschenswert. Denn welche Gestalt mußte ein Leben besitzen, in dem nur die Frauen harmonische und ästhetische Erscheinungen, die Männer aber mechanisierte Barbaren wären?" (MAYREDER 1981, 185).

Die radikale Feministin ROSA MAYREDER ging von der Emanzipationsnotwendigkeit beider Geschlechter aus. Deshalb zitierte sie einen Mann, DARWIN, aus seiner Autobiographie:

"Daß ich den Geschmack und das Verständnis für Dinge (Poesie) verloren habe, ist eine Einbuße an Glück und kann möglicherweise dem Intellekt schädlich sein, sehr wahrscheinlich aber der moralischen Seite unseres Wesens, sofern unser Geffihlsleben geschwächt und abgestumpft wird ... Mein Geist scheint eine Art Maschine geworden zu sein, um aus großen Tatsachensammlungen allgemeine Gesetze zu destillieren" (MAYREDER 1981, 182f.).

Auch die Radikalen hatten den gesellschaftlichen Schutz der Mütter gefordert. Auch sie gingen von der Kulturleistung der Frau aus. Sie sahen aber die Natur der Frau als historische Größe. Emanzipation bedeutete ihnen die Emanzipation der Gesellschaft zur Humanität, die Emanzipation der Beziehungsformen zwischen den Geschlechtern.
HELENE LANGE ging es um das eher erreichbare Ziel, den notwendigen Schutz der Frau, um Gegengewicht und Gegenpol zur männlichen Zivilisationsleistung zu sein.
Noch einmal konfrontiere ich ROSA MAYREDERs ähnliche Zivilisationskritik in ihrer anderen Schlußfolgerung mit HELENE LANGEs Position.
"Soll das Mißverhältnis zwischen Kultur und Zivilisation, das aus dem Übergewicht technischer Lebensvervollkommnung hervorgeh.t, nicht das Ende der Kultur, sondern eine Phase ihrer Entwicklung sein, so kann das gestörte Gleichgewicht nur wiederhergestellt werden, wenn den zurückgedrängten seelischen Mächten der menschlichen Natur Raum gewährt wird, sich die äußeren Hiffsmittel dienstbar zumachen" (MAYREDER 1981, 183).

V. Vom Mythos von der guten alten Zeit

Ein Exkurs auf vorindustrielle Zeit- und Arbeitsstrukturen soll das Dilemma verstehbarer machen, in dem die Frauen waren, die sich zunächst mit dem Recht auf Arbeit größere Handlungsräume erobern wollten. Sie mußten nun erleiden, daß dieser erkämpfte gesellschaftliche Raum durch die industrielle Zeltökonomie strukturiert war. Erfahren wurde nun eine Welt "der gesellschaftlichen Produktion mit der schauerlichen Unpersönlichkeit ihres Mechanismus, der den Einzelnen rücksichtslos zu einer Triebkraft in dem großen Räderwerk" machte (LANGE 1980, 26).
Die aus den Bindungen und Bornierungen der Tradition entlassenen Menschen' mußten lernen, Lebenszeit nur noch als wertproduktive Arbeitszeit zu verausgaben.
Die Geschichte der erbitterten Gegenwehr gegen diese Art der industriellen Zeitstrukturierung hat E. P. THOMPSON als Geschichte der "Erfahrungen von unten" aufgenommen. Den kritischen Übergang Englands von einer vorwiegend landwirtschaftlichen Ökonomie zur industriellen Nation zeigte er (auch) in der Gegenwehr der Bevölkerung, in den Aufständen der Maschinenstürmer, die gegen die Maschinen'zeit, die zur Zerstörung ihrer Lebensweise beitrug, kämpften.
In dem Artikel "Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus" stellte er die Veränderungen der Produktionsweisen als Zeit-Erfahrung dar. Er begann mit der Vorstellung einer Zeitmessung, die mit vertrauten Vorgängen des Arbeitszyklus oder der Hausarbeit in Beziehung steht. Er zeigt, wie die Tageszeit und der tägliche Zeitablauf die Reihenfolge der Aufgaben und ihre Beziehung zueinander bestimmen. Die tätigkeitsorientierte Zeitdefinition strukturierte die Erfahrungen des ganzen Lebens. Er argumentiert, daß in Kleinbauern- und Fischergemeinschaften ohne eine differenzierte Markt- und Verwaltungsstruktur die Gleichgültigkeit gegenüber der Uhrzeit nur möglich war, weil die täglichen Aufgaben - Fischfang, Landwirtschaft - sich wie von selbst

"durch die Logik des Notwendigen dem Blick des Kleinbauern oder Fischers enthüllen. Die verschiedenen Zeitmaße hängen stark von unterschiedlichen Arbeitssituationen und deren Bezug auf die Naturgewalten ab" (THOMPSON 1980, 34f.).

Unsere Tendenz zur Romantisierung von "natürlicher" und "zyklischer" Zeit und "natürlichem Rhythmus" entgeht es zu oft, daß sich diese Menschen ganz dem Zwang der Natur unterwerfen müssen. Und doch ist die aufgabenbezogene Zeit für Menschen verständlicher als die Arbeit nach der Uhr. Es ist leichter, Arbeiten zu verrichten, deren Notwendigkeiten man unmittelbar wahrnimmt und einsieht. E. P. THOMPSON betont einen Punkt, der mir für die weitere Argumentation Frauenarbeit in der Umbruchphase zum Industriezeitalter - wichtig erscheint:

"In Gesellschaften mit aufgabenbezogener Zeitorientierung scheint die Trennung zwischen Arbeit und Leben am wenigsten ausgeprägt zu sein. Interpersonelle Kontakte und Arbeit vermischen sich - der Arbeitstag verlängert oder verkürzt sich, je nach der zu bewältigenden Aufgabe - und es gibt kaum das Gefühl des Konflikts zwischen Arbeit und Zeit verbringen" (THOMPSON).

Wenn Menschen ihren Arbeitsrhythmus selbst bestimmen können, schaffen sie sich einen Wechsel von höchster Arbeitsintensität und Müßiggang. Diesen Rhythmus aber können sich nur noch wenige leisten. Man braucht ihn aber, urn der Kasernierung durch Zeit zu entgehen. Denn ist sie nicht gleichzeitig eine Kasernierung der Gefühlswelt, die Produktivität einschränkt?
Der Rhythmus, der keine Vielfalt von Tätigkeiten erlaubt, führt durch Spezialisierung zur Eindimensionalität der Wahrnehmungen. Der gesamte Komplex von Lebensorganisation wird unter das Diktat der Zweckrationalität gestellt. Der Rhythmus der Maschine als Vergegenständlichung kapitalistischer Zeitökonomie bestimmt den Rhythmus ihres lebendigen Anhängsels': den Rhythmus des Menschen. Wem fällt da nicht auch CHARLY CHAPLINs Parodie der modernen Zeit ein, worin er zur Arbeitsmaschine wird, die nicht mehr aus der Routine des Akkord,systems herausfinden kann und selbst Frauen nur noch als Teil des Fließbands wahrnimmt.
HELENE LANGE sah in der "familienwirtschaftlichen Werterzeugung" die wahrhaft "aufgabenbestimmte Zeitorientierung". Die Tätigkeiten im Haushalt, vor allem die mütterlichen Aufgaben, waren mit der Zeitstruktur der industriellen Produktionsform nicht vergleichbar und nicht vereinbar (vgl. heutige industriesoziologische Untersuchungen: KRAMER/ECKART/BECKER-SCHMIDT).
Weibliche Emanzipation sollte die aufgabenorientierte Zeit, nach HELENE LANGEs Zielvorstellung, in weiblichen Berufen zur Regel machen. Weibliche Kultur wäre dann ermöglicht, wenn durch soziale Reformen eine "Vereinigung von Beruf und Mutterschaft" realisierbar wäre, die eine aufgabenorientierte Zeit zum Maß der Tätigkeiten machte.

Die öffentliche Mission der Frau wäre "individuelle Erziehung, individuelle Armenpflege, Heimatkunst, individualisierende Handhabung der industriellen Gesetzgebung"... "Man braucht nur an die öffentliche Sanitäts- und Wohnungspflege, an die öffentliche Säuglingsfürsorge, das Erziehungswesen, die Armenpflege zu denken. Das alles sind selbst im konservativsten Sinne des Wortes Frauenangelegenheiten. Und das wird im Wesen nicht anders, daß die Technik, die äußeren Formen und Mittel, mit denen alle diese Bedürfnisse befriedigt werden, sich verändert. Im Gegenteil: gerade und weil in dieser Umwandlung der Formen die Gefahr der Lebensentfremdung, der Entseelung liegt, darf diese Gefahr nicht dadurch vermehrt werden, daß man aus all diesen Frauenangelegenheiten Männerangelegenheiten macht" (LANGE 1980).

In der Vergesellschaftung des natürlichen Wirkungskreises der Frau bestimmte die bürgerliche Frauenbewegung um HELENE LANGE ihren neuen sozialen Ort in einer entfremdeten Gesellschaft. Und sie glaubte dadurch die Geschlechtsantagonismen aufzuheben, indem "in gemeinsamer Befriedigung gemeinsamer materieller und geistiger Bedürfnisse das Besondere, Individuelle, Persönliche wieder zur Geltung kommt" (LANGE 1980).
Damit betonte diese Mehrheitsfraktion, daß sie prinzipiell nicht in Konkurrenz mit Männern wäre, sondern nur um die Eigengesetzlichkeiten zweier Zeitstrukturen ringe. Die Eigengesetzlichkeit ihrer Zeitstruktur sollte anerkannt werden, bis durch die Ausweitung ihres Wirkungskreises, ihrer Erziehungsarbeit der andere, der männliche Bereich, die Zivilisation, der Kultur wieder nähergebracht wäre.
Die Hoffnung war, daß durch die technische Entwicklung "die hauswirtschaftliche Arbeitsleistung der Frau in ihrer ganzen Bedeutung erkennbar geworden war" und "unentbehrlich" wurde (LANGE 1980, 116). Ihre Forderungen richteten sich daher an den Staat und seine sozialen Institutionen, die sollten einerseits

"der Frau die Ausrüstung für ein befriedigendes Dasein auf dem Arbeitsmarkt gewähren, andererseits, ohne ihre Berufsfreiheit einzuengen, ihre Mutterschaft soweit schützen, als sie selbst bei der heutigen Lage des Arbeitskampfes dazu nicht imstande ist" (LANGE 1980, 117).

VI. Die heilige Familie

Die Geschichte, die HELENE LANGE als weibliche Geschichte konstruierte, verfolgt den Anspruch eines eigenständigen Wertsystems.
Sie übernahm Überlegungen, die GEORG SIMMEL in seiner Lebensphilosophie, insbesondere der "Philosophie des Geldes" entwickelt hatte, und die ich an der Konzeption zweier Kulturen in ihrem ganzen späteren Dilemma deutlich machen will.
HELENE LANGE beschrieb die Kulturgeschichte, wie es aus den aufgenommenen Zitaten ersichtlich ist, als zwei Lebenskreise, als zwei Strukturen. Diese ergaben sich aus der Natur der Geschlechter. Sie dividierten sich im Lauf der Geschichte auseinander, sie wurden zur familienwirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Werterzeugung. Aber die beiden Lebenskreise waren nicht immer gegeneinander gerichtet, und mußten nicht zum Schlachtgebiet von zwei Zeiten in der Psyche der Frau werden. Sie waren einmal füreinander fruchtbar gewesen und sollten es auch wieder werden können. Denn die größere soziale Gemeinschaft, die der Mann errichtete, übernahm viele häusliche Aufgaben der Frau. Die Verlagerung vieler Arbeiten nach außen leitete den Prozeß ihrer Individualisierung ein. Es war die Befreiung von solange notwendigen, unumgänglichen Aufgaben, die "zur Freiheit über sich selbst" führte. Die Frau mußte nun nicht mehr nur "Arbeitskraft sein", nicht mehr "nur Rad in einem Triebwerk, von dem nichts anderes erwartet wird als die Funktion eines solchen". Diese Formulierung hatte sie schon einmal gewählt - für die Beschreibung der Frauen, die im industriellen Arbeitsprozeß stehen.
Hatte es in der Geschichte die Phase gegeben, in der der Mensch sein Überleben den elementaren Naturgewalten abringen mußte, so wiederholte sich diese Phase im Schicksal der proletarischen Frau, die sich nun wiederum aus Überlebensgründen einer zweiten, gesellschaftlichen Natur unterwerfen mußte. Damit wird erste und zweite Natur zur identischen Leidenserfahrung. Aber auf der anderen Seite wurde die Frau in der Geschichte durch die Verlagerung häuslicher Produktion ins Handwerk, später in Manufaktur und Industrie entlastet. Sie "wurde erlöst, gewissermaßen ihr selbst geschenkt, aus gebundener in freie Kraft gewandelt". Sie hatte nun Zeit für ihren Zugang zur Kultur, die "sich außerhalb der Familie als Kunst, Gewerbe, Wissenschaft, Gemeinde und Staatsleben aufbaute". Sie konnte eine kulturelle Aufgabe übernehmen, sie konnte zur Vermittlerin beider Kreise werden. Das gewordene Individuum - Frau - "... tritt unter die Herrschaft seiner eigenen Entscheidung. Und je mehr die Macht seines eigenen Willens und der Spielraum seiner eigenen Neigungen wächst, um so mehr wird diese Freiheit ihm bewußt, um so mehr wird sie ihm Bedürfnis und Anspruch. Ein Anspruch, der sich auf den Rest der unerläßlichen, allgemeinen Verpflichtungen insofern erstreckt, als der Mensch sie zwar nach wie vor erfüllen will, aber nicht mehr willenlos und ungefragt, sondern indem er ihre Notwendigkeit innerlich selbsttätig bejaht und sich aus eigener Einsicht in die Lebensgesetze des Ganzen beugt."
Die Familie hatte sich nach HELENE LANGE von der Produktionsgemeinschaft zur Konsumtionsgemeinschaft gewandelt. Allerdings verstand sie unter Konsum, geistigen Konsum, d. h. die Aneignung und Vermittlung der Kulturgüter. Die Frau konnte nun zur Verfeinerung und Erhöhung (und) zur persönlichen Kultur' jedes ihrer Mitglieder beitragen. Diese Sozialisationsleistung, diese Aufgabe, für die moralische Erziehung der Familienmitglieder zuständig zu sein, sah sie als Rolle der Frau schon "im Leben der Germanen".
Aber das Mittelalter wäre die "beste Zeit, die die Frauen gehabt haben". Es war die Zeit, "die ihnen ihre natürliche Rolle im Kulturleben am leichtesten machte. Und zwar deshalb, weil Wissenschaft, Kunst und Religion noch nicht in dem Maße für den Laien unübersehbar geworden waren wie heute. Alle diese Schöpfungen waren noch wie kleine Bäume, deren Früchte niedrig hingen und ohne Leitern von den Vorübergehenden gepflückt werden konnten" (LANGE, a. a. 0., 34).
"Die Frauen konnten, mindestens in den höchsten Ständen von der Notwendigkeit harter Arbeit befreit, in sich selbst und ihrer Umgebung Bedürfnisse pflegen, die dem harten Leben des Mannes gegenüber auf etwas Reineres, Höheres, auf eine Sphäre feineren Genießens, edleren Selbstgefühls gerichtet waren" (LANGE, 34).
Sie verklärte das Mittelalter ganz in romantischer Tradition, weil das Mittelalter ein geschlossenes Weltbild hatte.
"Für das Lebensgefühl des mittelalterlichen Menschen gab es die Trennung von Persönlichkeit und Gesellschaft noch nicht". Es gab noch keine Loslösung des Einzelnen von den Institutionen. "Der mittelalterliche Mensch fühlte sich eins mit den Institutionen, die als Kirche, Gemeinde, Staat sein Leben ordneten" (LANGE 1980, 38).
Im Gegensatz zur geschichtsphilosophischen Ursprungskonstruktion der Identität von Individuum und gesellschaftlich Allgemeinem, die etwa HEGEL in der frühantiken Polis lokalisierte, verlegte HELENE LANGE diese ursprüngliche Harmonie von Individuum und Gesellschaft ins Mittelalter.
Denn für die Frauen lag die besondere Bedeutung des Mittelalters darin, daß sie ihrem weiblichen Kulturauftrag Raum schaffen konnten. "Kleriker und Weiber waren die Hüter des geistigen Lebens" (LANGE 1980, 38 f.).
Seit dem Mittelalter sah HELENE LANGE einen zunehmenden Differenzierungsprozeß, eine immer verzweigtere Arbeitsteilung auf allen Gebieten. Diesen Prozeß der Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften und Künste konnten die Frauen nicht mitvollziehen. Sie waren als Hausfrauen und Mütter an ihre Aufgaben gebunden.

"Die Welt der produktiven geistigen Arbeit" (LANGE, a. a. 0., 34) war nun nur den "Fachmenschen4 offen, die ihr "ganzes Leben den Erfordernissen des Berufs widmen können41 (LANGE, a. a. 0., 34). "Persönliche und sachliche Kultur rücken immer weiter auseinander14 (LANGE, a. a. 0., 34).

Das waren seit der Renaissance die "Jahrhunderte ihres chronischen Bildungshungers", in den "Mauern eines geistigen Gefängnisses", die doppelt qualvoll waren wegen "des einmal geweckten Glücks, eines geistigen, innerlichen Seins". HELENE LANGE folgte in ihrer Geschichtskonstruktion GEORG SIMMELs Analyse von zwei Kulturen, der objektiven und der subjektiven. Die objektive Kultur war die aktiv gestaltete, die subjektive - die rezeptiv aneignende. Beide sollten seinem Anspruch und seiner Hoffnung nach eine Einheit bilden, um der Vervollkommnung der Individuen willen.

"Man kann Kultur als die Vervollkommnung von Individuen ansehen, die vermöge des in der geschichtlichen Gattungsarbeit objektivierten Geistes gewonnen wird. Dadurch, daß die Einheit und Ganzheit des subjektiven Wesens sich durch die Aneignung jener objektiven Werte vollendet: der Sitte und der Erkenntnis, der Kunst und der Religion, der sozialen Gestaltungen und der Ausdrucksformen des Inneren - erscheint es als kultiviert. So ist Kultur eine einzigartige Synthese des subjektiven und des objektiven Geistes, deren letzter Sinn freilich nur in der Vervollkommnung der Individuen liegen kann" (SIMMEL, a. a. 0., 254).

Die Tatsache aber war die, die HELENE LANGE so beschrieb.

"So steht jetzt die geistige Kultur vor ihr wie ein Tempel mit verschlossenen Pforten, hinter denen sie Gatten und Söhne verschwinden sieht und aus dem sie aus ihm zurückkehren als andere Menschen, mit anderen Interessen, anderen Wertideen, einem aus anderen Quellen genährten Innenleben, als sie selbst es besitzt. Ihre Rolle als Vermittlerin persönlicher Kultur wird schwerer, denn der Weg zur sachlichen Kultur ist weiter. Es wird eine schwierige Frage, was sich aus diesem ungeheuren, immer vermehrten, anschwellenden Reich der Geisteswelt für die Befriedigung, den Aufbau der Persönlichkeit nutzbar machen läßt" (LANGE 1980, 34).

GEORG SIMMEL analysierte die gesellschaftliche Entwicklung in ihrer allgemeinen Tendenz, "den Aktions- und Wertakzent der Kultur vom Menschen weg auf die Vervollkommnung und selbstgenügsame Entwicklung des Ob ektiven zu rücken". Er sah die Gefahr, daß sich die objektive Kultur zur Kultur überhaupt verselbständigte, wodurch die subjektive Kultur zur irrelevanten Privatangelegenheit erklärt wurde. Denn die

"Versachlichung unserer Kultur steht nun in engster Wechselwirkung mit ihrem anderen hervorstechendsten Zuge: mit ihrer Spezialisierung. Ilätte in unserer Kultur nicht das Sachelement eine so entscheidende Prärogative vor dem Personalelement, so wäre die moderne Arbeitsteilung gar nicht durchzuführen, und umgekehrt, bestände diese Arbeitsteilung nicht, so könnte es nicht zu jenem objektivischen Charakter unserer Kulturinhalte kommen" (SIMMEL 1911, 259)

Aber G. SIMMEL ging im Sinne einer Ergänzungstheorie von der Wesensverschiedenheit der Geschlechter aus. Durch die historische Distanz der Frau zur objektiven Kultur und zum Produktionsprozeß schien sie Züge festgehalten zu haben, "in denen der noch nicht ganz vergesellschaftete Mensch überlebt" (vgl. ADORNO 1977, 81). G. SIMMEL sah ihre Arbeit, ihre Tätigkeit als Hausfrau immer noch mannigfaltiger und weniger spezialistisch festgelegt an, als irgend einen männlichen Beruf. Seine Annahme und Hoffnung lag in der Natur der Frau, "die sich nicht wie die männliche von ihrem Gefühlsund Gemütszentrum sondern" ließe. Dadurch könnte die Frau eine

"Leistung erbringen, die eine entseelte Spezialistik mit einer vollen, beseelt persönlichen Existenz verträglich macht" (SIMMEL 1911, 259).

G. SIMMEL sprach der kulturellen Formung des Weiblichen eine eigene Gesetzlichkeit zu. Die subjektive Kultur als weibliche Kultur begriff er als ein eigenständiges Wertsystem.
Für HELENE LANGE versprach er Bündnispartner zu sein bei den "sozial Gesonnenen", die die Bedeutung der Kultur noch immer daran knüpften, "wie viele Menschen an ihr teilhaben, wieviel Ausbildung und Glück, wieviel Schönheit und Sittlichkeit das im Individuum realisierte Leben aus ihr zieht" (SIMMEL 1911, 255).
Weibliche Kultur war das Zusammenspiel subjektiver Kultur mit der Natur der Frau. Die konservative Kulturkritik der Jahrhundertwende machte die weibliche Natur zum "urweltlich gedachten Kontrast" des Mannes (vgl. BOVENSCHEN 1979, 31 f.).
Aber bezog sich nicht HELENE LANGE mit ihrem Bild des Urgesteins gerade darauf.
Wenn die energetische Revolution erst wieder diese Natur der Frau freigelegt hatte, hatte sie auch die Bedingungen geschaffen, den Frauen den Raum und die Zeit zu geben, sich wieder zur Vermittlerin der Kulturen machen zu können. Denn gerade durch die technische Entwicklung schien HELENE LANGE die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer neuen Arbeitsteilung der Geschlechter gegeben.
In dem gedeuteten Bild des weiblichen Dynamo lag dieses Versprechen der Industrie. Weibliche Emanzipation im Sinne HELENE LANGEs könnte durch die Technik möglich sein. Durch den weiblichen Kultureinfluß könnte die Natur wieder zur "einzigartigen Synthese des subjektiven und objektiven Geistes" werden.
Die Frauenbewegung um HELENE LANGE hatte einen großen gesellschaftlichen Auftrag übernommen:

"Die Kulturinhalte, die Erkenntnisse der Wissenschaft, die Leistungen der Technik, die Schöpfungen der Kunst müssen der Entwicklung der Individuen dienstbar gemacht werden, denn ihr Wert beruht schließlich in nichts anderem als in dem persönlichen Leben, das sie schaffen und mitteilen" (LANGE, 48).

MAX WEBER hatte den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, der zur Entstehung der Moderne geführt hatte, auf den Begriff der Rationalisierung gebracht.

"Rationalisierung ist seiner Meinung nach ein hoch ambivalenter Prozeß: Als Herstellung von Berechenbarkeit, Effizienz und formell-prozedueller Richtigkeit - ermöglicht sie zwar eine erfolgreiche Beherrschung der äußeren Natur, ~lls Durchsetzung der Herrschaft der Zweckrationalität geht sie jedoch zugleich illit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Freiheits- und Sinnverlust einher, der den irreversiblen Preis der Moderne für WEBER darstellt" (BENHABIB 1982, 127).

GEORG SIMMEL folgte dieses Analyse und faßte sie im Begriff der objektiven Kultur zusammen. Die Ansprüche auf die Autonomie des Individuums hob er aber in der subjektiven Kultur auf, die er zwar unter der Dominanz der objektiven Kultur sah. So mußte es der "Widerstand des Subjekts werden, nicht in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden" (SIMMEL 1957, 227). Denn die übermächtig gewordene Gesellschaft, die zu einem unabhängigen Organismus im Laufe der Ausdifferenzierung eines langen Kulturprozesses angewachsen war, bestand aus menschlicher Praxis, die sich nur von ihrem ihrem Grund abgelöst hatte.

"Sie hatte deshalb die Eigendynamik einer selbstläufigen Maschinerie erlangt, der sich das unmittelbare Leben zwangsläufig unterwerfen muß." Aber träte der "gemeinsame organische Grund dieser zerrissenen aufgespaltenen Verhältnisse zutage, könnten die erstarrten Formen wieder lebendig werden" (SIMMEL 1954, 227).

Mit dem Bezug auf die Tiefe des Lebens sollte es möglich werden, die entfremdeten rationalisierten Formen des gesellschaftlichen Lebens zu überwinden.
In der Mütterlichkeit konnte diese Substanz liegen.
Das ist die lebensphilosophische Kritik an Entfremdung und Verdinglichung. Das Programm der Lebenswelt der Frau war gegen die Rationalisierung gerichtet.
Langsam kann sich der Bogen schließen. HELENE LANGEs Forderung erscheint unter diesen Annahmen verständlich und plausibel:
Die Frau

"ist heute die, die den letzten, den nach unserer Überzeugung unveräußerlichen Kern der Institution der Familie gegen die seelenlosen Gewalten der technischen Entwicklung mit Leib und Leben zu schützen hat" (LANGE, 24).

ROSA MAYREDERs lebensphilosophische Kritik an Entfremdung und Verdinglichung, trieb nicht zu diesen Schlußfolgerungen einer so großen gesellschaftlichen Aufgabe der Frauen.
Sie hatte die Frage gestellt, wie ein Leben wäre, "in dem nur die Frauen harmonische Erscheinungen..., die Männer aber mechanisierte Barbaren wären".
Ihr ging es um die menschliche Beherrschung der technischen, zivilisatorischen Errungenschaften, um sie für eine neue menschlichere Gestaltung der Welt anzuwenden.
HELENE LANGEs immens große Aufgabenstellung an die Frauen, schweißte sie zwar in den organischen Volkskörper, der dann z. B. im ersten Weltkrieg verteidigt werden mußte.
Denn

"Wie der Mann als Staatsangehöriger für Erhaltung, Förderung und Verteidigung seines Landes eintreten muß, so hat die Frau als Staatsangehörige für Behagen, Ordnung und Ausschmückung im Staate Sorge zu tragen" (LANGE 1980, 143).
"Eine Arbeitsteilung, die nicht die Sphären gegeneinander abgrenzt, sondern innerhalb der gleichen Sphäre, des gleichen Spielraums sich aus der Verschiedenheit des Wesens organisch entfaltet. Und diese Arbeitsteilung muß die der Zukunft sein" (LANGE 1980, 143).

Für HELENE LANGE hatte sich zwar einmal historisch "das Verlangen der Frauen nach weiterem Spielraum für ihre Persönlichkeitsentfaltung mit ... dem stärksten Pathos der Zeit der Theorie von den unveräußerlichen Naturrechten" verknüpft. Die "naturrechtlichen Gesellschaftstheorien hatten den Besitz der Menschenrechte als Inbegriff der menschlichen Würde hingestellt. Aus diesem "sittlichen Motiv" heraus hatten die Frauen es verlangt.
Die Frauen, die in der Französischen Revolution der Erklärung der Menschenrechte, "ihre Declaration des droits de la femme" an die Seite stellten, die amerikanischen Frauen, die 1848 in ihrer Declaration of sentiments die Verfassungsurkunde der amerikanischen Republik kritisierten.
Frauen in der Geschichte IV
Diese naturrechtlichen Forderungen erschienen aber HELENE LANGE nun um 1900 als charakteristischer Ausdruck eines "voraussetzungslosen Idealismus, der ohne Rücksicht auf geschichtlich gewordene und geschichtlich zu begreifende Verhältnisse seine absoluten Forderungen aufstellte" (LANGE 1980, 43).
Zwar hatte diese "alte" Emanzipationsbewegung in Deutschland in der "demokratischen Bewegung von 1848 politische Kraft entfaltet", aber die "Reaktion hatte sie hinweggefegt und die politische Unmündigkeit" der Frauen besiegelt.

Deshalb mußte die Frauenbewegung die "theoretisch vorweggenommenen Endziele zunächst im Stich lassen, um die Aufgaben zu ergreifen, die ihr von anderswoher, aus der Wirklichkeit und dem Leben selbst aufgedrängt wurden" (LANGE 1980,138).

Auch hatte sich die "von der Revolution geschaffene Theorie" in Deutschland anders ausgeprägt als in Frankreich und den Vereinigten Staaten. Denn in Deutschland traf sie "mit einer dem Allgemeinen, dem Politischen ganz abgewandten, ganz in das persönliche Leben vertieften Geistesrichtung zusammen".

"Die junge Romantik verkündete eine Frauenemanzipation die aus den Quellen inneren Lebens schöpfte ... sie predigte die Emanzipation des weiblichen Herzens und des weiblichen Verstandes" (LANGE 1980, 43).

Die Aufklärung und die aufklärerische Vernunft hatten ihrer Meinung nach das "tiefe Kulturbedürfnis der Frauen veräußerlicht". "Diese nüchterne, helle und kühle Verstandesbildung, die so viel mehr auf die äußere Beherrschung der Welt, als in die Tiefe persönlichen Lebens gerichtet war", erschien ihr als "künstliches Pfropfreis auf einem Organismus", der seine "Kraft dem Wachstum der einzelnen Seele schenkte". Künstlich und mechanisch erschien ihr auch die naturrechtliche Staatsauffassung.

"Die Auffassung von dem Staat als einer Gemeinschaft gleicher Individuen, deren rechtliches Verhältnis zueinander aus der allgemeinen menschlichen Natur mit Hilfe der Vernunft abgeleitet werden kann" (LANGE 1980, 139).

Durch die Vergesellschaftung, die sich "über alle Seiten des geistigen und sozialen Lebens verbreitet (hat) ist aus dem Handeln von Mensch zu Mensch ein Handeln von vielen für viele" geworden.

"An die Stelle der vollen persönlichen Verantwortung des Einzelnen für sich und einige wenige andere tritt die gemeinsame Verantwortung vieler für viele" (LANGE 1980, 141).

Die neue Vergesellschaftungsqualität interpretierte HELENE LANGE als organischen Zusammenhang aller mit allen. Die bürgerliche Gesellschaft wurde zum Volkskörper - die Idee des Staatsvertrages durch die organische Staatsauffassung der Romantik (FICHTE, SCHELLING) ersetzt. Denn der Staat zeigte sich nicht als freie Verbindung ganz gleicher Größen, sondern als "organisches Gebilde" mit einer vielseitigen Arbeitsteilung, "dessen Glieder vielfach ineinandergreifen, in Abhängigkeitsverhältnisse untereinander treten, die alle Freiheit dem Ganzen gegenüber illusorisch macht."
Neu - Formulierung von weiblicher Emanzipation macht es möglich, "die Frau nicht mehr vor allem nur als Individuum zu sehen, sondern als Organ in diesem Volksganzen" zu respektieren.
Denn in diesem romantischen Staatsgedanken lag ein versöhnendes Bild - das eines Baums. Würden Teile von ihm verletzt, würde das Ganze verletzt werden. Im Gegensatz dazu stand das Bild eines "Sandhaufens, wo es jedem Teil gleichgültig sein kann, daß der andere abgetrennt, zertreten, verstreuet werde" (vgl. BAXA 1923, 17).
So begründete HELENE LANGE gegenüber der Emanzipation durch Menschenrechte diese neuen Emanzipationsinhalte, die sich für sie "aus dem Wesen der modernen Vergesellschaftung der Kultur und des ganzen Lebens" notwendig ergaben.
ULRIKE PROKOP sprach in ihrem Aufsatz: "Die Sehnsucht nach Volkseinheit - Zum Konservatismus der bürgerlichen Frauenbewegung vor 1933" ihr Verwundern über diese Frauen, wie HELENE LANGE, aus, die sich in ihrem liberalen Selbstverständnis weitgehend dem konservativen Traditionalismus angenähert hatten, obgleich sie davon unabhängig liberale Reformvorschläge zum Eherecht, zur Berufssituation der Frauen und zur Ausbildung machten. Dieser Brtich ließe sich dadurch erklären, daß sie von zwei Kulturen ausgingen und die sub ektive Kultur, die der Frau auf Natur basierten. Damit aber versuchte HELENE LANGE alle politischen Gebilde organisch zu umfassen. Das Allgemeininteresse wurde zum Volkswohl, die Nation zum Vaterland. In ihrer Gegenüberstellung von Natur -Vernunft, organisch — mechanisch, lag eine Wende, die für eine emanzipatorische Bewegung fatal ist. Sie hat eine vorindustrielle Zeitorientierung als "natürlich" hyposta~siert. Gerade deshalb konnten ihre Emanzipationsvorstellungen nicht jenseits des Kapitalismus liegen, sondern davor. Um Entfremdung nicht ausgeliefert zu werden, um nicht entfremdete Arbeit leisten zu müssen, schuf HELENE LANGE den Mythos der organischen Arbeitsteilung im organischen Staat.
Diese Richtung der Frauenbewegung, für die sie Sprecherin war, konnte von den Nationalsozialisten(Innen) leicht integriert werden. Denn ihre Kritik am Bestehenden war auch eine vom Standpunkt der Natur.

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