Sophie oder die heimliche Macht der Frauen

Zur Konzeption des Weiblichen bei Jean-Jaques Rousseau

I.

ROUSSEAU lesen - aber wie? Einige Einwände gegen die 'feministische Repressionshypothese'
Aus feministischer Sicht steht das Urteil über JEAN-JACQUES ROUSSEAU weitgehend fest: Er gilt als einer der ersten Vertreter der "Polarisierung der Geschlechtscharaktere" (KARIN HAUSEN 1976), wenn nicht gar als der Erfinder des Ergänzungstheorems, demzufolge eine "harmonische Ergänzung" der Geschlechter nur denkbar ist, wenn man von Natur aus unterschiedliche Geschlechtseigenschaften bei Mann und Frau annimmt. Derlei schönklingende Ergänzungskonstruktionen sind durch die kritische Arbeit von Frauen mittlerweile längst entlarvt, als (neues) ideologisches Gewand für die Fortsetzung der (alten) Frauenunterdrückung. In Wirklichkeit, so wird gesagt, funktioniert die Ergänzung' von Mann und Frau ausschließlich zum Vorteil des Mannes: die Frau hat sich ihm unterzuordnen, sie bleibt eigentums- und rechtlos, ihre Arbeit wird als "Liebesdienst" deklariert und weiterhin kostenlos ausgebeutet und so fort.
Wer mit solch ideologiekritisch geschärftem Blick an ROUSSEAU herangeht, wird keine Mühe haben, bei ihm fündig zu werden; besonders ergiebig ist das 5. Buch aus seinem Erziehungsroman "Emile oder Ober die Erziehung", das unter dem Titel "Sophie oder Die Frau" seine Gedanken über das schöne Geschlecht, in komprimierter Form enthält. Dort stößt man auf Formulierungen wie diese:

"So muß sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und achten lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, als Männer für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten: das sind die Pflichten der Frau zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muß" (ROUSSEAU 1978, 733)[1].

SILVIA BOVENSCHEN, die in ihren exemplarischen Untersuchungen der "imaginierten Weiblichkeit" auch ROUSSEAU ein Kapitel gewidmet hat, kommentiert dieses Zitat wie folgt:

"Deutlicher und unverhüllter sind die supplementären Bestimmungen des Weiblichen und die Appendixfunktion der Frauen wohl niemals formuliert worden" (BOVENSCHEN 1979, 165).

Wenn ich mich einem solchermaßen klassifizierten (oder auch: stigmatisierten) Text erneut zuwende, um eine andere Lesart vorzuschlagen, so nicht mit der Absicht, einen (längst verstorbenen) ROUSSEAU gegen feministische Anfeindungen in Schutz zu nehmen oder einen mißverstandenen ROUSSEAU zu rehabilitieren, sondern weil ich meine, daß die bislang praktizierte, ideologiekritisch orientierte Lektüre zu unserem Nachteil seinem Text nicht gerecht wird, insofern das, was von ihm als spezifische Funktionsweise des Weiblichen entworfen wird, gar nicht erst in den Blick kommt. Ich möchte das am Beispiel der ROUSSEAU-Interpretation von S. BOVENSCHEN verdeutlichen.
Unter der Überschrift "Sophie oder die Erziehung zur Ungleichheit" weist sie nach, daß ROUSSEAUs Behauptung einer harmonischen Ergänzung der Geschlechter allein den Mann Emile - privilegiere: dieser soll qua Erziehung zum freien und autarken Individuum herangebildet, zur Entwicklung und Vervollkommnung all seiner Fähigkeiten angeleitet werden; Sophie dagegen erscheint überhaupt erst auf der Bildfläche, als Emile eine "geschlechtliche Ergänzung" (BOVENSCHEN 1979, 173) sucht, zudem ist ihre gesamte Erziehung inhaltlich an der Komplettierung des Mannes orientiert (s. das o. a. Zitat). Die Frau erfüllt also nur eine abhängige Nebenfunktion, sie bildet den "Humus für die Vervollkommnung ( ... ) des Mannes" (ebd.). Denn Perfektibilität - laut ROUSSEAU das Spezifikum des Menschen - sei in ihrer ,Natur' nicht angelegt (vgl. ebd.). Mit dieser - hier nur sehr verkürzt wiedergegebenen Extrapolation meint S. BOVENSCHEN die fortgesetzte Unterdrückung der Frau aufgewiesen zu haben. Nun ist aber bei ROUSSEAU zu lesen:

"Eine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann dürfen sich im Geist ebenso wenig gleichen wie im Antlitz, und in der Vollkommenheit gibt es kein Mehr oder Weniger" (ROUSSEAU 1978, 720/21).

Demnach müßte es Perfektibilität auch für die Frau geben und man könnte allenfalls behaupten, daß diese bei ihr ein anderes Ziel haben müsse als beim Mann, nicht aber, daß sie in ihrer Natur' nicht angelegt sei. Eine solche Interpretation von S. BOVENSCHEN legt vielmehr den Schluß nahe, daß sie das "männliche Modell" (des autarken Individuums) zum alleinigen Maßstab nimmt; meines Erachtens aber verbaut sie sich damit gerade die Frage nach der Spezifität des Weiblichen, die sie doch stellen möchte. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man sein Augenmerk auf ihre Verwendung der Termini 'Gleichheit' und 'Ungleichheit' richtet. Ungleichheit kann ja verschiedenes bedeuten:
Man könnte es verstehen im Sinne von Differenz - dann hieße es lediglich: die Erziehung zum Unterschied, zur Verschiedenheit, zur Andersartigkeit. So gestellt, ergäbe sich daraus eine offene Frage nach den Bestimmungen, mit denen diese Differenz markiert werden soll: so müßte sie m. E. gestellt werden.
Ungleichheit kann aber auch heißen: Ungerechtigkeit, das Fehlen von gleichen Rechten (die im Sinne der Naturrechtsdiskussion allen Menschen von Natur aus zustehen), Chancenungleichheit auf Selbstverwirklichung (im modernen Jargon gesprochen) und also Unfreiheit, Herrschaft, Unterdrückung. In diesem Kontext gebraucht., bezieht sich der Begriff auf die politische Philosophie und Geschichte des Bürgertums und impliziert eine eindeutige Wertung und Kritik.
Eine sorgfältige Lektüre hätte diese verschiedenen Bedeutungen im Begriff der Ungleichheit im Auge zu behalten und die Frage zu stellen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen; das heißt z. B. inwiefern und über welche argumentativen Vermittlungsschritte die Andersheit der Frau/des Weiblichen mit ihrer politischen Entrechtung einhergeht usw. Das tut S. BOVENSCHEN nicht,- mir scheint, daß bei ihrer Verwendung dieses Begriffs beide Bestimmungen auf eine recht undurchsichtige Weise miteinander vermengt sind. Sie suggeriert damit, daß Ungleichheit' mehr oder weniger identisch ist mit Ungerechtigkeit', die Frau erscheint so bloß als "lauer Kompromiß" oder "verstümmeltes Gattungswesen": "Das Weibliche fällt aus der menschheitsgeschichtlichen Genealogie heraus" (a. a. 0., 176).
Als Ergebnis dieser Analyse erscheint, was von vornherein schon feststand: ein neuerlicher Beleg für den (patriarchalischen) Herrschaftswillen der Männer:

"Die Berufung auf Natur, die bei ROUSSEAU einen wichtigen geschichtsphilosophischen und politischen Stellenwert hat als Ruf nach Freiheit und Fortschritt, muß in bezug auf die Frauen die Diktatur der Unterwerfung und den uilabänderlichen Stillstand begründen. Im Namen der Natur definiert der Mann die Frau als Zierat seiner gesellschaftlichen und individuellen Existenz" (a. a. O., 177).

Mir scheint eine solche Lesart aus zwei Gründen unzureichend, von denen ich im vorliegenden Beitrag hauptsächlich den zweiten genauer verfolgen will.

1. Den ersten Einwand könnte man als formalen' bezeichnen; gleichwohl ist er inhaltlich folgenreich: Die Lesart eines Textes muß seiner Schreibart angemessen sein, sonst führt sie zwangsläufig zu Fehldeutungen. Was heißt das in bezug auf ROUSSEAU?
J. J. ROUSSEAU schreibt sein Werk auf der Schwelle zu einer Epoche, in der sich die moderne Subjektivität in der Literatur - und als literarische - formuliert. Er ist einer der ersten (oder sogar der erste), der "Literatur" im modernen Sinne schreibt und sich den damit verbundenen Paradoxien in existentieller Konsequenz aussetzt; auf diesen Aspekt haben vor allem die außerordentlich luziden ROUSSEAU-Arbeiten von JEAN STAROBINSKI (1961 und 1971), MAURICE BLANCHOT (1982) und JACQUES DERRIDA (1974) aufmerksam gemacht. BLANCHOT beschreibt dieses Paradox folgendermaßen:

"J. STAROBINSKI bemerkt völlig zutreffend, daß ROUSSEAU als erster jene Gattung von Schriftstellern verkörpert, deren Vertreter wir alle mehr oder minder geworden sind: daß er ein Schriftsteller ist, der sich schreibend gegen die schriftliche Aussage ergrimmt, ein Literat, der gegen die literarische Bildung plädiert', der sich daraufhin in die Literatur hineinbohrt, in der Hoffnung, aus ihr herauszukommen, und dann nicht mehr aufhört zu schreiben, weil er die Möglichkeit, etwas mitzuteilen, nicht mehr besitzt" (M. BLANCHOT 1982, 63/64).

ROUSSEAUs überaus raffinierter und komplexer Strategie des Schreibens und der Selbstdarstellung ist weder mit einer ideologiekritischen noch sonst einer auf Eindeutigkeit abzielenden Lesart beizukommen. Das gilt nicht nur für seine im engeren Sinne literarischen Texte wie die ,Nouvelle Héloise', sondern für sein gesamtes ceuvre, mithin auch für den Emile'. In der Tat ist dieser weit mehr als ein pädagogisches Traktat: er ist zugleich ein Pamphlet gegen die (traditionelle) Erziehung, eine philosophische Abhandlung über den Menschen, ein Roman mit drei Hauptfiguren (Emile, der Erzieher Jean-Jacques, Sophie) und noch einiges mehr. Man kann ihn daher nicht lesen wie einen Text im traditionellen Sinne, indem man für bare Münze nimmt, was er sagt; der literarischen Inszenierung muß ebensoviel Aufmerksamkeit gewidmet werden wie dem eigentlichen pädagogischen Diskurs'.
Aus Platzgründen werde ich auf dieses Problem nur an einigen Stellen eingehen können und meine Ausführungen auf den zweiten Einwand konzentrieren:
2. Dieser bewegt sich auf inhaltlicher' Ebene. Selbst wenn man das Problem der Textkonstitution einmal beiseite läßt und einer inhaltsorientierten Lektüre den Vorzug gibt, könnte man zu anderen Schlüssen kommen als den bislang referierten. Es geht um das InterpretationsRaster der Unterdrückung der Frau' und den dabei implizierten Machtbegriff, ich schlage vor, eine Argumentation von MICHEL FOUCAULT aufzunehmen und die 'feministische Repressionshypothese' zu überprüfen.
FOUCAULT hat das Problem der Macht ins Zentrum seiner historischen Untersuchungen gestellt und dabei die These formuliert, daß ein Verständnis von Macht als Repression den modernen Machtmechanismen keineswegs mehr angemessen ist (am ausführlichsten in: M. FOUCAULT 1977). Dieser von ihm sog. Repressionshypothese' zufolge wird Macht wesentlich als negative Kraft, als Anti-Energie definiert, deren hauptsächlicher Funktionsmechanismus darin bestünde, etwas Lebendiges (bspw. die Sexualität) zu beherrschen, indem man es unterdrückt. FOUCAULT charakterisiert diese Vorstellung so:

"Diese Macht wäre zunächst arm an Ressourcen, haushälterisch in ihrem Vorgehen, monoton in ihren Taktiken, unfähig zur Erfindung und gleichsam gezwungen sich beständig zu wiederholen. Sodann wäre es eine Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte, nein zu sagen, außerstande etwas zu produzieren, nur fähig Grenzen zu ziehen, wesenhaft AntiEnergie; ihre Wirksamkeit bestünde in dem Paradox, daß sie nichts vermag als dafür zu sorgen, daß die von ihr Unterworfenen nichts vermögen außer dem, was die Macht sie tun läßt. Endlich handelt es sich um eine Macht, deren Modell wesentlich juridisch ist, einzig und allein auf die Verkündung des Gesetzes und das Funktionieren des Verbotes ausgerichtet. Alle Arten der Beherrschung, Unterwerfung und Verpflichtung laufen somit am Ende auf Gehorsam hinaus" (FOUCAULT 1977, 106).

Meine Vermutung ist, daß eine solche Vorstellung von Macht auch den feministischen ROUSSEAU-Interpretationen zugrunde liegt: Der Mann (oder auch: das Patriarchat) wäre in diesem Fall der Souverän, der als Subjekt der Machtausübung vorgestellt wird: er diktiert das Gesetz, erläßt das Verbot, zieht Grenzen. Die Belege für eine solche Deutung werden, bspw. von S. BOVENSCHEN, bevorzugt zitiert:

"Sie (die jungen Mädchen - CG) müssen sofort an Zwang gewöhnt werden, damit er sie nie etwas kostet; sie müssen daran gewöhnt werden, alle ihre Launen zu beherrschen, um sie dem Willen der anderen unterzuordnen" (ROUSSEAU 1978, 742; zit. bei: BOVENSCHEN 1979, 173).
"Aus diesem gewohnheitsmäßigen Zwang entsteht eine Gefügigkeit, deren die Frauen ihr ganzes Leben bedürfen, da sie niemals aufhören, unterworfen zu sein, sei es einem Mann oder dem Urteil der Männer, und es ihnen nie erlaubt ist, sich über dieses Urteil zu erheben. Die erste und wichtigste Qualität einer Frau ist die Sanftmut" (ebd., 744; zit. bei: BOVENSCHEN ebd.).

Bezeugen diese Zitate nicht deutlich genug die vollständige Unterdrükkung und Entrechtung der Frau bei ROUSSEAU? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein. Man kann aber auch anders fragen: Bezeichnen sie wirklich das Zentrum, das Wesentliche des von ROUSSEAU entworfenen Geschlechterverhältnisses?
Denn die 'Repressionshypothese' nicht zu akzeptieren, bedeutet ja nicht, in symmetrischer Umkehrung zu behaupten, es habe keine Repression gegeben; lediglich ihr zentraler Status wird in Fragt gestellt.
FOUCAULTs Ansatz läßt sich kurz so skizzieren:
Alle unsere Analysen von Machtverhältnissen bedienen sich eines historisch überholten begrifflichen Instrumentariums, mit dem die spezifischen und vielfältigen Formen moderner Machtausübung nicht mehr erfaßt werden können. Zentraler Bestandteil solcher Analysen ist die Vorstellung, die Macht, die in den Händen einer souveränen Instanz sei, sei wesentlich Abschöpfungsinstanz', Ausbeutungsmechanismus, "eine den Untertanen aufgezwungene Entziehung von. Produkten, Gütern, Diensten, Arbeit und Blut.. ." (FOUCAULT 1977, 162). Das berühmte "Recht über Leben und Tod" der Untertanen ist in einer solchen Gesellschaft letztlich nur das Recht über den Tod: der Souverän manifestiert seine Macht, indem er bei Übertretung des Gesetzes den Tod des Untertanen verlangen kann. Nun behauptet FOUCAULT, daß das Abendland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts "eine tiefgreifende Transformation dieser Machtmechanismen" (a. a. O., 163) erlebt habe:

"Die Abschöpfung tendiert dazu, nicht mehr ihre Hauptform zu sein, sondern nur noch ein Element unter anderen Elementen, die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten: diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten" (ebd.).

FOUCAULT spricht vom "Eintritt des Lebens in die Geschichte", d. h. in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken (vgl. 169). Deshalb müsse man andere Kategorien entwikkeln, um die Strategien der Macht zu entziffern, um ihrer poduktiven' Effizienz, ihrem strategischen Reichtum, ihrer positiven' Funktionsweise Rechnung zu tragen. Die neuen Machtverfahren bedienen sich nicht primär des Rechts, sondern der Technik-, nicht des Gesetzes" sondern der Normalisierung, nicht der Strafe, sondern der Kontrolle (vgl. 110- 111). Sie sind nicht mehr vom Modell der Souveränität, d. h. von einem Machtzentrum (und sei es auch der Staatsapparat) her zu denken, sondern umgekehrt muß man dieses als Effekt einer Vielzahl von lokalen und diskontinuierlichen Konfrontationen, Taktiken und ,Spielen' begreifen:

"Zweifellos muß man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist

der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt" (ebd., 114).
Über die wissenschaftstheoretischen und politischen Implikationen eines solchen Machtbegriffs ließe sich viel sagen (und wurde auch schon viel gesagt). Ich will. diese Debatte hier beiseite lassen und statt dessen ausprobieren, ob ein solches Verständnis von Macht neue Perspektiven auf die Frage des Geschlechter-Verhältnisses eröffnet. Warum sollte man nicht FOUCAULTs methodisches Postulat auch hier produktiv anwenden können?:

"Es geht also zugleich darum, mit Hilfe einer anderen Theorie der Macht einen anderen Raster der historischen Entzifferung zu entwickeln und sich mit einem näheren Blick auf das historische Material Schritt für Schritt zu einer anderen Konzeption der Macht vorzuarbeiten" (a. a. O., 112).

Wenn es stimmt, daß man die modernen Gesellschaften nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Repression, der dualen Aufspaltung in Herrscher und Beherrschte, analysieren kann, dann eröffnet sich damit eine Fragestellung nach der Distribution (von Macht), d. h. der strategischen Verteilung verschiedener Funktionen auf verschiedene Positionen. Man müßte dann mehr nach der Dynamik eines Zusammenspiels bzw. von Konfrontationen fragen als nach der Statik von Über- und Unterordnungsverhältnissen. Was das Verhältnis der Geschlechter betrifft, so verdiente die "Idee der Ergänzung" (K. HAUSEN) eine genaue Uberprüfung, insofern sie von einem harmonischen Zusammenwirken dual aufgespaltener Eigenschaften (und also von einem statischen Modell) ausgeht. In fernerer Perspektive müßte möglicherweise auch ein Begriff des "Patriarchats" überprüft werden, der auf der Repressionshypothese basiert.
Der Diskurs von J. J. ROUSSEAU ist nur ein Gegenstand unter anderen, an dem man diese Probleme diskutieren kann; m. E. ist er deshalb fruchtbar, weil in ihm die hier zur Debatte stehende Transformation von ,alten' zu 'neuen' Machttechniken in Form zahlreicher Überlagerungen und Widersprüchlichkeiten seinen Niederschlag gefunden hat.

II.

Emile und Sophie oder die Beschaffenheit der Differenz

1. Die andere Sprache der Frauen

Das Kapitel "Sophie oder die Frau" im Emile' beginnt mit folgenden Worten:*

"Sophie muß Frau sein, so wie Emile Mann ist, das heißt, sie muß alles besitzen, was der Konstitution ihrer Gattung und ihres Geschlechts entspricht, um ihren Platz in der physischen und moralischen Ordnung ausfüllen zu können" (ROUSSEAU 1978, 719).

ROUSSEAU versucht nun zu bestimmen, was es heißt, Frau' bzw. ,Mann' zu sein. Dabei stellt er zunächst fest, daß es - soweit die Frau als Gattungswesen in Betracht gezogen wird - keine Differenzen zwischen den Geschlechtern gibt:

"in allem, was nicht mit dem Geschlecht zusammenhängt, ist die Frau Mann (frz.: homme): sie hat dieselben Organe, dieselben Bedürfnisse, dieselben Fähigkeiten..." (ebd.).

Die Differenz muß also dort markiert werden, wo sie evident ist: auf dem Feld der Sexualität, wo Mann und Frau als Geschlechtswesen in Betracht kommen:

"... das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß alles, was sie gemein haben, gattungsbedingt und alles Unterschiedliche geschlechtsbedingt ist" (720).

Diese sexuelle Differenz ist aber nicht nur eine organische, ihre Bedeutsamkeit erhält sie dadurch, daß sie eine Verschiedenheit des Verhaltens impliziert, genauer gesagt, eine geschlechtsspezifische Repräsentation des Begehrens:

"Wer könnte glauben, daß sie (die Natur - CG) unterschiedslos beiden das gleiche Entgegenkommen vorschreibt, und daß der Teil, der zuerst Verlangen spürt, auch der sein müsse, der es zuerst bezeugt (frz.: témoigner)?" (721).

ROUSSEAU fordert in dieser Hinsicht eine klare Distribution: Der Mann soll "aktiv und stark", die Frau "passiv und schwach" sein; "notwendigerweise muß einer wollen und können, und es genügt, wenn der andere nur schwachen Widerstand zeigt" (ebd.). Man könnte versucht sein, diese Bestimmung als Beweis für die Unterdrückung der weiblichen Sexualität zu verstehen,- doch sollte man mit einer solchen Interpretation vorsichtig sein. Schließlich soll die Frau nicht nichts tun, sondern Widerstand zeigen, (frz.: résister). Diese 'résistance' ist nicht zu verwechseln mit Sprachlosigkeit, sondern Bestandteil einer anderen Sprache der Frauen:

"Hat die Frau nicht die gleichen Bedürfnisse wie der Mann, ohne das gleiche Recht zu haben, sie zu bezeugen? Ihr Los wäre allzu grausam, wenn sie selbst bei legitimem Verlangen nicht eine Sprache besäße, jener gleichwertig, die sie nicht zu sprechen wagt" (773).

Wie sieht diese andere Sprache der Frauen aus?
ROUSSEAU folgert aus der unterschiedlichen Verteilung von Stärke und Schwäche, "daß die Frau eigens dazu geschaffen ist, dem Mann zu gefallen" (721). Für den Mann gebe es eine solche Notwendigkeit nicht, zumindest nicht unmittelbar: "sein Vorzug besteht in seiner Kraft, er gefällt einzig darum, weil er stark ist" (ebd.). Das jedenfalls sei das "Gesetz der Natur", wenn schon nicht das "der Liebe".
Da die Frau dem Mann nicht nur gefallen soll, sondern ihm auch untergeordnet ist (ebd.), muß sie ihre Attraktivität einsetzen, um das Begehren des Mannes zu wecken, sowie ihre "Zurückhaltung und Scham ( ... ), um sich das stärkere (Geschlecht - CG) untertan zu machen" (ebd.). Die Macht der Frau liegt in ihren Reizen,- mit deren Einsatz und Dosierung soll sie den Mann zwingen, "seine eigene Kraft zu entdecken und zu gebrauchen" - also ist die Aktivität und Stärke des Mannes in Wirklichkeit nur reaktiv?
Tatsächlich differenziert ROUSSEAU wenig später zwischen Schein und Wirklichkeit:*
"Eine dritte Folge der Anlage der Geschlechter ergibt also, daß der stärkere Teil scheinbar der Herr sei, sich in Wirklichkeit aber dem schwächeren unterwerfe, nicht aus frivoler, galanter Gewohnheit und herablassender Großmut, sondern nach einem unabänderlichen Gesetz der Natur, die der Frau eine größere Leichtigkeit mitgibt, die Begierden zu erregen, als dem Mann, sie zu befriedigen und ihn so, auch wenn er bereit ist, vom Belieben der Frau abhängig macht und ihn zwingt, seinerseits danach zu trachten, ihr zu gefallen (sic!), um zu erreichen, daß sie ihn den Stärkeren sein läßt" (724 - u. v. m.).
Ich möchte die These formulieren, daß diese Konstellation, die ROUSSEAU hier für das sexuelle Verhältnis der Geschlechter beschreibt, nicht - wie S. BOVENSCHEN meint [2] - ein Ausnahmefall, ein Zugeständnis an die Frauen auf abgespaltenem Terrain o. ä. ist, sondern im Gegenteil charakteristisch für den "weiblichen Mechanismus" in allen Bereichen,und daß es daher auch keineswegs darum geht, diese erotische Macht' der Frauen einfach nur zu domestizieren, sondern sie hervorzubringen, zu fördern und gleichzeitig zu kontrollieren, zu regulieren usw. Während die Strategie des Mannes eine der direkten Aktion' ist (der Mann spielt den Part des Angreifers), ist die weibliche Sprache und Strategie eine der List, der Verführung, der Koketterie usw.; d. h. einer indirekten und verschleierten Aktion: die Frau muß, was sie erreichen will, über den Umweg des männlichen Willens erreichen, der formell ihr Oberhaupt ist.

"Die Frau ( ... ) schätzt und beurteilt die Triebkräfte, die sie einsetzen kann, um ihre Schwäche auszugleichen, und diese Triebkräfte sind die Leidenschaften des Mannes. Der Mechanismus der Frau ist kraftvoller als der unsere, alle seine Hebel rütteln das Menschenherz auf. Alles, was ihr Geschlecht aus sich nicht vollbringen kann, was ihm aber angenehm oder notwendig ist, muß sie uns durch ihre Kunst wollen lassen ( ... ). Sie muß durch ihre Reden, ihre Blicke und Gebärden die Empfindungen der Männer ergründen. Sie muß ihnen durch ihre Reden, ihre Handlungen, Blicke und Gebärden die Gefühle einzuflößen verstehen, an denen ihr liegt, ohne daß es den Anschein hat, als täte sie es bewußt" (776 u. v. M.).

Wir sehen, daß die Interaktion zwischen den Geschlechtern in einen Bereich äußerster Zweideutigkeit führt: scheinbar hat der Mann das Sagen, er muß sich in der Position des Oberhauptes wähnen, die er formell innehat. In Wirklichkeit aber dirigiert die Frau seinen Willen, indem sie ihn etwas wollen läßt (frz.: faire vouloir). Die Effektivität ihrer Aktion ist an die Bedingung geknüpft, daß ihr Wille nicht explizit wird, sondern im Verborgenen bleibt. Der Mann muß sich weiterhin als 'Souverän' wähnen:

"Die Herrschaft der Frau ist die Herrschaft der Sanftmut, der Geschicklichkeit und der Gefälligkeit, ihre Anordnungen sind Schmeicheleien, ihre Drohu-ngen sind Tränen. Sie soll im Haus regieren wie ein Staatsminister, indem sie sich befehlen läßt, was sie tun wilt' (817 - u. v. m.).

Konstitutiv für die Effektivität des weiblichen Mechanismus ist die Verschleierung, das Nicht-Zeigen der eigenen Absicht; der Schleier erweist sich denn auch bei ROUSSEAU als die zentrale Metapher des Weiblichen. Ich möchte das an drei Beispielen zeigen:

  1. am Konzept der Schamhaftigkeit', die die sexuelle Interaktion strukturiert, #am Konzept der heimlichen Politik' der Frauen; und
  2. am Konzept der Mütterlichkeit' und ihrer Funktion in der modernen Erziehung.

2. Weiblichkeit als Schamhaftigkeit

Die weibliche Schamhaftigkeit wird eingeführt innerhalb einer sexuellen Ökonomie (des Lebens): sie ist das Supplement für den bei den Frauen fehlenden (negativen) Instinkt der Tierweibchen. Diese kennen das sexuelle Verlangen nur als Bedürfnis:

"... ist das Bedürfnis befriedigt, hört das Verlangen auf, sie stoßen das Männchen nicht mehr nur zum Schein zurück, sondern in vollem Ernst. (...) Welchen Ersatz (frz.: suppl~ment) für diesen negativen Instinkt gäbe es bei der Frau, wenn man ihr das Schamgefühl nähme?" (722).

Denn im Unterschied zum Tierweibchen hat die Frau ein "unbegrenztes Liebesverlangen" (frz.: des désirs illimités), das durch die Scham im Zaum gehalten werden muß. Offensichtlich ist dies ein Charakteristikum nur der Frau; die Ökonomie der Scham besteht darin, den Mann vor den unbegrenzten Begierden der Frau zu schützen - somit das Leben vor dem Tod:

"Bei der Leichtigkeit der Frauen, die Sinne der Männer zu erregen und auf dem Grund ihres Herzens die Reste eines fast erloschenen Temperaments wieder zu erwecken - es brauchte nur eines unglückseligen Landes auf Erden, wo die Philosophie solches Brauchtum eingeführt, hätte (nämlich daß die Frauen ohne Scham ihr Verlangen bezeugen dürften, wie die Männer - CG), so würden die Männer, von den Frauen tyrannisiert, schließlich zu deren Opfern und alle wehrlos dem Tod entgegengetrieben" (722).

Offenbar zeichnen sich die beiden Geschlechter durch ganz unterschiedliche Temperamente aus: jenes der Männer wird als "fast erloschen" beschrieben, das Temperament der Frauen muß dagegen als exzessiv, ausschweifend und von tödlicher Hitze vorgestellt werden, weshalb es im Interesse der Arterhaltung - durch Scham gedämpft werden muß. Man könnte nun vermuten, das Temperament der Frauen sei von größerer Ursprünglichkeit oder Natürlichkeit als jenes der Männer, so als wäre die Geschichte wie ein Vulkan vorzustellen, der sich im Laufe der Zeit immer mehr abkühlt. Die Männer hätten dann bereits eine höhere Stufe der Zivilisation (= Abkühlung) erreicht, während die Frauen noch im vorgeschichtlichen, animalischen Naturzustand befangen wären, doch läßt sich eine solche Deutung nicht mit ROUSSEAUs geschichtsphi,losophischer Konstruktion in Einklang bringen. Denn im Naturzustand gibt es keine "unbegrenzten Begierden" - weder beim Tier noch bei dem von ROUSSEAU entworfenen "wilden Menschen": beide sind nur durch Bedürfnisse geprägt (vgl. dazu den 2. Discours, in: ROUSSEAU 1981).
Es gibt für das behauptete 'zügellose Temperament' bzw. die 'unbegrenzten Begierden' der Frauen - und folglich für das Postulat der weiblichen Schamhaftigkeit - keine stimmige geschichtsphilosophische Begründung, daher liegt der Schluß nahe, daß sich die Sache umgekehrt verhält, d. h. daß die unbegrenzten Begierden' der Frau nur als Vorwand genommen werden, um eine Legitimlerung für das Postulat der weiblichen Schamhaftigkeit zu finden. Was - als Supplement - das Abgeleitete sein soll, wäre dann in Wirklichkeit primär, insofern sich die Argumentation von ihm aus strukturiert. Wenn diese Vermutung stimmt, dann müßte die Scham noch andere Funktionen haben als die vermeintlich biologischen.
In der Tat findet sich bei ROUSSEAU noch ein weiteres Argument, das in überraschendem Widerspruch zum ersten steht. Es lautet - wiederum ex negativo:

Wenn es keine Schamhaftigkeit der Frauen gäbe, wenn "beide Geschlechter den ersten Antrag der Liebe gleichermaßen stellen wie annehmen könnten", dann würde "die angenehmste aller Empfindungen ( ... ) im menschlichen Herzen nur einen flüchtigen Eindruck hinterlassen..." (ROUSSEAU 1978a, 419).

Das heißt: ohne das Schamgefühl der Frauen würde die eben noch heraufbeschworene zerstörerische Wut der Liebe gar nicht erst entstehen können! Je leichter beide Geschlechter ans Ziel ihrer Wünsche gelangten, desto mehr würde die Intensität der Liebe verblassen und schließlich ganz dahinschwinden; die sexuellen Partner würden einander gleichgültig. So beschreibt St. Preux in der Nouvelle H~loise' das Verhältnis der Geschlechter in Paris, in seinen Augen der Metropole der Sittenverderbnis:

"Ein Liebeshandel dauert nur ein wenig länger als ein Besuch; er ist eine Ansammlung artiger Gespräche und artiger Briefe, voll von Witz, Beschreibungen, Lehrsprüchen und Philosophie. Was die Sinnlichkeit anlangt, so verlangt diese nicht so viel Heimlichkeit; man hat sehr verständig eingesehen, die Leichtigkeit, die Begierden zu befriedigen, müsse sich nach dem Augenblicke richten, in dem sie entstehen. Die Erstbeste oder der Erstbeste, es sei der Liebhaber oder ein andrer, ein Mann ist doch immer ein Mann, und alle sind fast gleich gut (...). Zudem sind in einem gewissen Alter fast alle Mannspersonen ein und dieselbe Mannsperson, fast alle Frauen ein und dieselbe Frau, alle diese Puppen stammen von ein und derselben Galanteriehändlerin; und hier ist kaum eine andre Wahl zu treffen, als sich dem Gegenstand zuzuwenden, der am bequemsten zur Hand ist" (ROUSSEAU 1978b, 279).

Die verallgemeinerte Schamlosigkeit produziert - sozusagen auf der ,höchsten Stufe' der Zivilisation - den Rückfall in den Naturzustand: wo es noch keine Liebe gab, wo jeder Mann und jede Frau sich gleich viel galten, d. h. als Individuen einander gleichgültig waren. [3]
Das Postulat der weiblichen Schamhaftigkeit erscheint nunmehr in ganz neuem Kontext: innerhalb bzw. im Dienste einer Ökonomie der Verführung. Die Liebe selbst ist bedroht durch die aufklärerische Philosophie, der das Gebot der Scham nur ein alter Zopf' ist; indem sie den Frauen diesen Schleier nimmt, untergräbt sie in ROUSSEAUs Augen das Fundament der Liebe, die Einbildungskraft. Denn Liebe ist mehr als der bloße Paarungstrieb des Naturzustandes; sie ist ein imaginäres Phänomen, das nur aufgrund des Vermögens der Einbildungskraft seine Wirkungen entfaltet:

"... was anders ist die wirkliche Liebe selbst als Zauberbild, Lüge, Illusion? Man liebt viel mehr das Bild, das man sich macht, als den Gegenstand, auf den man es bezieht. Sähe man, was man liebt, genau so, wie es ist, gäbe es keine Liebe mehr auf Erden. Wenn man aufhört zu lieben, bleibt die Person, die man liebt, die gleiche wie vorher, man sieht sie aber anders; der Schleier des Zaubers fällt, und die Liebe schwindet dahin" (ROUSSEAU 1978, 669 - u. v. m.).

Ein solcher für die Liebe konstitutiver Schleier ist die Scham: "Das Verlangen, das mit Scham bedeckt wird, wird dadurch nur um so verführerischer, die Scham entflammt es, indem sie es hemmt. .." (ROUSSEAU 1978a, 419). Der Unterschied zwischen der' Liebe und dem bloßen Trieb besteht darin, daß die Liebe eine Begehrensdynamik entfaltet, die sich auf eine Person richtet, aber von unendlicher Dauer und Intensität sein kann,- der Trieb dagegen läßt sich an jedem beliebigen Objekt befriedigen und ist von nur endlicher Dauer: er erlischt, sobald er gestillt ist. Die Liebe ist unstillbar; gerade vermöge jenes Schleiers zwischen dem Liebenden und seinem Gegenüber, der die Einbildungskraft immer von neuem erregt, wird das Begehren aufrechterhalten:

"Die unmittelbare Wirkung der Sinne ist schwach und begrenzt, erst durch die Vermittlung der Phantasie richten sie ihre größeren Verheerungen an. Die Einbildungskraft erregt die Begierden, indem sie ihre Gegenstände mit mehr Vorzügen ausstattet, als die Natur ihnen gegeben hat, die Einbildungskraft läßt das entrüstete Auge entdecken, was es nicht so sehr als nackt, sondern als unbekleidet wahrnimmt. Kein Kleid ist so züchtig, daß ein von der Einbildungskraft entzündeter Blick den Begierden nicht mehr enthüllte" (ROUSSEAU 1978a, 471).

Dieser Verhüllungs-Effekt ist das Werk der Frau. Ihre Schamhaftigkeit ist zweideutig: sie ist sowohl Schleier vor dem Begehren der Frau als auch Mittel zur Steigerung des Begehrens des Mannes: je schamhafter eine Frau, desto verführerischer ist sie zugleich - und desto mehr Macht hat sie über den Mann.
Man sollte übrigens beachten, daß das Konzept der Schamhaftigkeit nicht gleichzusetzen ist mit einem Modell von Kastration (das hieße: die Frau versteckt, was sie nicht hat'), sondern daß es sich hier um eine Ökonomie der Darstellung, der Präsentation handelt; denn insofern die Scham wie ein Schleier funktioniert, macht sie auch stets etwas von dem sichtbar, was sie verbirgt. Ein Schleier ist zwar ein Hindernis, aber ein transparentes - gerade aufgrund dieser Zweideutigkeit erregt er das Begehren. J. STAROBINSKI hat diesen Mechanismus so beschrieben:

"Das Verborgene fasziniert. Warum sonst erfand Poppäa die Maskierung der Schönheiten ihres Angesichts, als um diese ihren Liebhabern noch teurer zu machen?' (MONTAIGNE). In der Verschleierung und der Absenz liegt eine seltsame Kraft, die den Geist dazu zwingt, sich dem Unzugänglichen zuzuwenden und für seine Eroberung alles zu opfern, was er besitzt. ( ... ) Sowohl Hindernis als auch vermittelndes Zeichen, erzeugt der Schleier der Poppäa eine verhüllte Vollkommenheit, die gerade dadurch, daß sie sich entzieht, unser Verlangen dazu herausfordert, ihrer habhaft zu werden" (STAROBINSKI 1961, 9/10 - Übersetzg. v. m., CG).

Diesen "Mechanismus des Begehrens" (ebd., 9) hat ROUSSEAU im Auge, wenn er - gegen die Aufklärer - an der weiblichen Schamhaftigkeit festhält.
Die Politik der Frauen auf dem Schauplatz der Erotik ist also zweideutig, schamhaft und obszön zugleich, insofern sie sich nie ganz auf offener Szene' abspielt: der Mann wird nie genau wissen, woran er bei der Frau ist.

"So ist die Ungewißheit, ob die Schwäche der Stärke nachgibt oder ob sich der Wille ergibt, das Süßeste im Sieg des Mannes, und es ist eine übliche List der Frau, diese Ungewißheit zwischen ihr und ihm immer bestehen zu lassen" (ROUSSEAU 1978, 724).

Die Liebe ist deshalb das 'Reich der Frauen'. "Notwendig sind sie es, die dort das Gesetz geben, weil ihnen nach. der Ordnung der Natur der Widerstand gehört und weil die Männer ihn nur um den Preis ihrer Freiheit überwinden können" (ROUSSEAU 1978 a, 380).

3. Die 'heimliche Politik' der Frauen

In ROUSSEAUs Gesellschaftsvertrag, dem Kernstück seiner politischen Philosophie, scheinen die Frauen nicht vorzukommen. Tatsächlich werden sie explizit nur einmal erwähnt, noch dazu an bezeichnender Stelle: in dem Kapitel "Vom Volke", wo es um ihre 'Fruchtbarkeit' geht! (vgl. ROUSSEAU 1981, 309).
Müssen wir daraus schließen, daß die Frauen in ROUSSEAUs politischem Denken keinen Ort haben, daß sie aus dem Entwurf einer freien Republik ausgeschlossen sind?
So einfach liegen auch hier wiederum die Dinge nicht; man muß aber genauer hinsehen. Ich möchte auf zwei Aspekte hinweisen, die ein anderes Licht auf seine politische Konstruktion und die darin vorgesehene Funktion der Frauen werfen.

1. ROUSSEAU geht davon aus, daß der wilde Mensch im Naturzustand als Einzelner lebt, der gesellschaftliche Zusammenschluß (der einen Verlust seiner ursprünglichen Freiheit beinhaltet) wird erst in dem Moment notwendig, wo äußere Hindernisse auftreten, die es dem Einzelnen erschweren bzw. verunmöglichen, für seinen Lebensunterhalt allein zu sorgen.

"Ich nehme an, die Menschen seien an der Stufe angelangt, wo die Hindernisse, die ihrem Verharren im Naturzustande entgegenstehen, durch ihren Widerstand den Sieg über die Kräfte davontragen, die jeder einzelne aufbieten kann, um in diesem Zustand zu verbleiben. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht mehr fortdauern, und das Menschengeschlecht würde untergehen, wenn es nicht seine Daseinsweise änderte" (ROUSSEAU 1981, 279).

ROUSSEAU weist mit dieser Annahme, die das Kapitel "Vom Gesellschaftsvertrag14 einleitet, alle Theorien über eine ursprüngliche Geselligkeit der Menschen zurück; der gesellschaftliche Zusammenschluß erfolgte aus einer Überlebensnotwendigkeit, aus dem Zwang, das physische Überleben, die elementare Bedürfnisbefriedigung fortan gemeinsam zu sichern. "Der Gesellschaftsvertrag hat die Erhaltung der Vertragschließenden zum Zweck" (a. a. 0., 296).
Was im Gesellschaftsvertrag organisiert wird, ist also die Selbsterhaltung der Gattung. Leben aber, das wird an bezeichnender Stelle im Emile gesagt, ist mehr als bloße Selbsterhaltung. Zu Beginn des 4. Buches heißt es dort:

Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal, um zu existieren, das andere mal, um zu leben, als Gattungs- und Geschlechtswesen" (ROUSSEAU 1978, 438).

Das "Leben" beginnt erst mit der 'zweiten Geburt', der Geburt als Geschlechtswesen, die zugleich eine der Leidenschaften, der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft und der Moralität des Menschen ist.

"Sobald der Mann eine Gefährtin braucht, ist er kein isoliertes Wesen mehr, sein Herz ist nicht mehr allein. Alle seine Beziehungen zu seiner Gattung, alle Zärtlichkei-ten seiner Seele werden mit jener geboren. Seine erste Leidenschaft wird bald die anderen in Wallung bringen" (444)."Nun hat sich die zweite Geburt (...) vollzogen. Jetzt erst wird der Mann zum wirklichen Leben geboren, und nichts Menschliches ist ihm mehr fremd" (440).

Das bedeutet: das Leben wird in dem Moment mehr als bloße Existenz im Sinne von Selbsterhaltung, in dem die Frau ins Spiel kommt. Wir können nun sagen, daß sie im Gesellschaftsvertrag deshalb ausgespart ist, weil hier nicht das Leben, sondern das bloße Überleben der Gattung organisiert wird.

2. Es gibt einen zweiten, gewichtigeren Hinweis im Gesellschaftsvertrag selbst, der diese Vermutung bestätigt:
In dem Kapitel "Einteilung der Gesetze" unterscheidet ROUSSEAU zwischen vier Arten von Gesetzen und stellt ausdrücklich fest, daß nur die erste Art, nämlich die "Staatsgesetze, welche die Regierungsform bestimmen", für den Gesellschaftsvertrag von Belang seien. Die anderen drei Gesetzesarten bleiben ausgeklammert; es sind dies: die bürgerlichen Gesetze, die Strafgesetze und die Sitten und Gebräuche. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf diese vierte Art von Gesetzen lenken, denn ROUSSEAU sagt über sie folgendes:

"Zu diesen drei Arten von Gesetzen tritt eine vierte hinzu, die wichtigste von allen, die weder in Marmor noch Erz, sondern in die Herzen der Bürger eingeschrieben wird. Sie bildet die wahre Verfassung des Staates; sie gewinnt jeden Tag neue Kraft; wenn die andern Gesetze altern oder erlöschen, gibt sie ihnen neues Leben oder tritt an ihre Stelle; sie erhält ein Volk im Geiste einer verfaßten Ordnung und setzt unmerklich die Macht der Gewohnheit an die Stelle der Staatsmacht. Ich spreche von den Sitten und Gebräuchen und vor allem von der öffentlichen Meinung, einem Feld, das unsern Politikern unbekannt ist, von dem aber der Erfolg aller andern Gesetze abhängt..." (Rousseau 1981, 314 - u. v. m.).

ROUSSEAU markiert damit eine Leerstelle im Gesellschaftsvertrag, deren Relevanz gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, insofern von ihr letztlich das Funktionieren der staatlichen Ordnung abhängt.
Ich will versuchen, diese Leerstelle auszufüllen und in sie die Weiblichkeit (die Funktion der Frauen) wieder einzuschreiben, um die es an dieser Stelle implizit geht. Die Sitten und Gebräuche, die öffentliche Meinung, die Macht der Gewohnheit - dies umschreibt ein Feld, das die Frauen beherrschen; das ist am ausführlichsten in ROUSSEAUs "Brief an d'Alembert über das Schauspiel" (1978 a) nachzulesen. Ich beschränke mich hier auf einen Auszug aus der Widmung "An die Republik zu Genf", die ROUSSEAU seinem 2. Discours vorangestellt hat. Dort ist - an die Adresse der Frauen gerichtet - folgendes zu lesen:

"Könnte ich wohl jene kostbare Hälfte der Republik übergehen, auf welcher das Glück der andern Hälfte beruht und deren Sanftmut und Weisheit den Frieden und die guten Sitten in diesem Staate aufrechterhalten? Liebenswürdige und tugendhafte Bürgerinnen, die Herrschaft über unser Geschlecht bleibt ewig das Los des Eurigen. Welch ein Glück, wenn sich eure keusche Gewalt nur in der ehelichen Verbindung äußert und nur zum Ruhme des Staates und zum allgemeinen Glüc.k spürbar wird. ( ... ) Es geziemt also euch, durch eure liebenswürdige und unschuldige Herrschaft und durch eure gewinnende Art, die Liebe zu den Gesetzen im Staate und die Einhelligkeit unter seinen Bürgern wachzuhalten, getrennte Familien durch glückliche Eheverbindungen zu vereinigen . . . Bleibt also für immer das, was ihr jetzt seid; bleibt die keuschen Wächterinnen der Sitten und die süßen Bande des Friedens! Fahrt fort, die Rechte des Herzens und der Natur bei jeder Gelegenheit zum Besten der Pflichten und der Tugend zur Geltung zu bringen!" (ROUSSEAU 1981, 50).

Ohne die den Frauen hier zugewiesenen Funktionen im politischen Gemeinwesen im einzelnen untersuchen zu wollen, läßt sich doch sagen, daß alle qualitativen Bande innerhalb der Gesellschaft von den Frauen gestiftet werden: der Frieden, das Glück, die guten Sitten, die Liebe zu den Gesetzen etc. Die Frauen vereinigen getrennte Familien, sie fungieren als Bindeglied zwischen den "freien" Bürgern der Republik, den Männern bzw. deren Familien. Diese wären möglicherweise ansonsten so frei', daß ein Gesellschaftsverband nie zustande käme bzw. von Dauer wäre.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß die Ausübung dieser Funktionen an eine Bedingung geknüpft ist, die auffällige Parallelen aufweist zu jener, die die weibliche Strategie auf dem Schauplatz der Erotik bestimmte: auch auf dem Feld der Politik können Frauen ihre Macht nur heimlich entfalten, indem sie im verborgenen agieren; keinesfalls dürfen sie in der Sphäre der Öffentlichkeit in Erscheinung treten.
Im Brief an d'Alembert stellt ROUSSEAU diesbezüglich fest,

"daß es für die Frauen außerhalb eines zurückgezogenen und häuslichen Lebens keine guten Sitten gibt, (...) daß die friedliche Sorge für Familie und Haushalt ihr Teil ist, daß die Würde ihres Geschlechts in seiner Bescheidenheit liegt, daß Scheu und Scham bei ihr nicht von Ehrbarkeit zu trennen sind, daß sie sich bereits von den Männern verführen läßt, wenn sie ihre Blicke sucht, und daß jede Frau sich entehrt, die sich zur Schau stellt..." (ROUSSEAU 1978 a, 417/18 u. v. M.).

Ging es vorhin um den Schleier der Schamhaftigkeit, der für die Liebe konstitutiv ist, so ist hier der Schleier oder die schützende Hülle des Hauses die Bedingung für die guten Sitten der Frauen und damit letztlich für die Lebensfähigkeit der Gesellschaft.
Die Gesellschaft ruht auf bzw. lebt von einer Sphäre, die jenseits des Lichts der Öffentlichkeit, jenseits der formellen Regeln und Verträge des gesellschaftlichen Verkehrs angesiedelt ist. Man könnte noch viele weitere Beispiele anführen, die ROUSSEAUs Interesse an der 'Heimlichkeit der Macht' oder der 'Macht der Heimlichkeit' belegen, beispielsweise hatte er in jüngeren Jahren das Projekt, ein Buch zu schreiben über wichtige historische Ereignisse, deren heimliche Urheber Frauen waren (davon ist uns ein Exposé überliefert, das den Titel trägt: "Essai sur les évenemens importants dont les femmes ont été la cause secrette", abgedruckt in: ROUSSEAU 1961, 1257-59). Es gibt viele Anzeichen dafür, daß ROUSSEAU diese verschämte, verführerische Macht - die er stets der Seite der Frauen zuschrieb - für weitaus effektiver hielt als die offen zur Schau getragene männliche. Möglicherweise hat er hier die von FOUCAULT beschriebene historische Transformation von Machtmechanismen gespürt, und sie in seinem Denken dergestalt verarbeitet, daß er die traditionelle Repräsentation von Macht den Männern zuschrieb, die neuen Formen einer eben erst sich entfaltenden 'Disziplinarmacht' aber auf das Konto der Weiblichkeit verbuchte?
Ich möchte noch einmal FOUCAULT zitieren:

"Die traditionelle Macht ist diejenige, die sich sehen läßt, die sich zeigt, die sich kundtut und die die Quelle ihrer Kraft gerade in der Bewegung ihrer Äußerung findet. Jene aber, an denen sich die Macht entfaltet, bleiben im Dunkeln, sie empfangen nur soviel Licht von der Macht, wie diese ihnen zugesteht: den Widerschein eines Augenblicks. Ganz anders die Disziplinarmacht: sie setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt. In der Disziplin sind es die Untertanen, die gesehen werden müssen, die im Scheinwerferlicht stehen, damit der Zugriff der Macht gesichert bleibt" (FOUCAULT 1976, 241).

Die Frauen sind im politischen Gemeinwesen unsichtbar, deshalb aber noch lange nicht ohnmächtig. Deutlicher noch zeigt sich ihre 'heimliche Macht' in ROUSSEAUs Konzept der "natürlichen Erziehung".

4. Die neuen Mütter: Weiblichkeit im Erziehungsprozeß

Die von FOUCAULT beschriebene Umkehrung des Paares Sehen' und ,Zeigen' ebenso wie die des Paares Sprechen' und Hören [4] ist genau das, was ROUSSEAU als fundamentale Erziehungsmaximen im Emile' propagiert - und zwar nur für Emile, nicht für Sophie. Daß der Erzieher spricht und der Zögling hört, der Erzieher sich zeigt und der Zögling sieht, wird von ihm als falsche, veraltete Methode verworfen,- viel effektiver sei das umgekehrte Vorgehen: daß der Zögling sich zeigt (weil er sich unbeobachtet wähnt) und der Erzieher sieht; daß der Zögling spricht (weil er sich frei wähnt) und der Erzieher hört, um daraus seine Schlüsse zu ziehen und seine Maßnahmen zu treffen.

"Ich predige euch eine schwere Kunst, ihr jungen Lehrer, nämlich beherrschen ohne Vorschriften zu geben und durch Nichtstun alles zu tun. ( ... ) In der gepflegten Erziehung befiehlt der Lehrer und glaubt dadurch zu herrschen. In Wirklichkeit ist es das Kind, das herrscht. ( ... ) Folgt mit eurem Zögling dem umgekehrten Weg. Laßt ihn immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. (...) Zweifellos darf es (das Kind - CG) tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, daß es es tut. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne daß ihr wißt, was es sagen will" (ROUSSEAU 1978, 264-66 - u. v. m.).

Das Wichtigste an dieser Art von Erziehung ist, daß Emile sich freifühlt, während er in Wirklichkeit unter ständiger Kontrolle steht, daß er glaubt, spontan und nach eigenem Willen zu handeln, während der Erzieher jeden Lernschritt für ihn im wahrsten Sinne des Wortes 'inszeniert'; daß er sich unbeobachtet glaubt, während der Erzieher ihn permanent überwacht. Die Methode ist deshalb so effektiv, weil sie den Zögling nicht zum Lernen zwingt, sondern ihn dazu verführt; es ist keine direkte Strategie der Vorschrift (des väterlichen Wortes), sondern eine der indirekten, verschleierten (mütterlichen) Aktion. Die Strategie der zwanglosen Erziehung, der Erziehung zu 'Freiheit und Selbständigkeit', ist eine weibliche. Sie ist das historisch neue Dispositiv, in das die Frauen als Mütter eingespannt werden sollen. Man begreift nun, warum es für ROUSSEAU von so zentraler Wichtigkeit ist, daß die Frauen wieder zu Müttern werden:

"Wollt ihr jedermann zu seinen ersten Pflichten zurückführen, dann fangt bei den Müttern an, und ihr werdet staunen, was für Veränderungen ihr schafft. (...) Wenn ( ... ) die Mütter sich dazu verstehen, ihre Kinder selbst aufzuziehen, dann werden die Sitten sich von selbst erneuern und in allen Herzen wieder die natürlichen Empfindungen erwachen, und der Staat wird sich wieder bevölkern. Dieser erste Punkt, dieser allein wird alles wieder ins Lot bringen" (ROUSSEAU 1978, 124/25).

Eine solche hingebungsvolle Mutter hat ROUSSEAU in seiner Romanheldin Julie gestaltet; ihre Erziehungsmaximen, von denen St. Preux im 3. Brief des 5. Teils einen ausführlichen Bericht gibt, sind deckungsgleich mit denen von Emiles Erzieher. Julies oberstes Prinzip ist von der Mutterliebe, wie sie sagt, eingegeben, es besteht darin,

"meine Kinder glücklich zu sehen. (...) Ich entschloß mich, meinem Sohn soweit als möglich jeden Zwang zu ersparen, ihm den vollen Gebrauch seiner kleinen Kräfte zu lassen und keine Regung der Natur in ihm zu stören" (ROUSSEAU 1978 b, 596).

Am auffälligsten ist für St. Preux, daß alles gleichsam von selbst zu geschehen scheint, daß Julie nie Vorschriften macht oder sonst dirigistisch in das Verhalten ihrer Kinder eingreift: "man könnte meinen, sie begnüge sich, sie zu sehen und zu lieben, und all ihre Mutterpflichten wären erfüllt, wenn sie den Tag bei ihr zugebracht hätten" (a. a. O., 588). Doch Julie klärt ihn darüber auf, daß dies nur Schein ist und daß sich in Wirklichkeit hinter dieser zur Schau getragenen Nachlässigkeit die "wachsamste Aufmerksamkeit" verbirgt, die "mütterliche Zärtlichkeit" sich jemals hat einfallen lassen. Julie erläutert den Zweck dieses "Scheins" so:

"Auf diese Art entwickelt sich dieser Charakter (der Kinder - CG) täglich ohne Zurückhaltung vor unsern Augen, und wir können die Regungen der Natur bis in ihre geheimsten Anfänge erforschen. Da sie sicher sind, daß sie weder gescholten noch bestraft werden, wissen sie weder zu lügen noch sich zu verstellen, und in allem, was sie sagen, es sei nun unter sich oder zu uns, lassen sie ohne Zwang alles sehen, was auf dem Grunde ihres Herzens liegt. (...) ich tue auch nicht, als ob ich ihnen zuhörte, und wenn sie die tadelnswertesten Dinge von der Welt sagten, so würde ich doch so tun, als ob ich nichts davon wüßte: In Wirklichkeit höre ich jedoch mit der größten Aufmerksamkeit zu, ohne daß sie es merken; ich führe genau Buch über das, was sie tun und was sie sagen; dies sind die natürlichen Früchte des Bodens, den man bebauen muß" (a. a. O., 613).

In alldem begreift sich Julie nur als die "Magd des Gärtners", die den Boden bereitet und das Unkraut jätet; dem Vater (Herrn von Wolmar) komme es zu, "die guten Pflanzen darin zu pflegen" (ebd.).
"Die Herrschaft der Frau ist eine Herrschaft der Sanftmut": nicht nur dem Mann, sondern auch den Kindern gegenüber. Wie wir sehen, ist diese Sanftmut etwas recht Tückisches: die Verschleierung von Herrschaftsausübung, eine subtile Form von Zwang, die dem anderen noch dazu die Illusion seiner Freiheit gleich mitliefert.
Die weibliche List (der Mütter) erzeugt also die männliche Freiheit' (der Söhne) - und ebenso erzeugt die männliche Freiheit (der Väter oder kommissarisch auch der Mütter) die weibliche List (der Töchter). Denn Sophies Erziehung verläuft gerade andersherum: sie wird von klein auf direktem Zwang ausgesetzt, ihr werden klare Grenzen gezogen und Vorschriften gemacht,- man könnte sagen, Sophie werde nach der alten Methode' erzogen: das Ziel ihrer Erziehung ist die Unterordnung unter einen anderen Willen.

"Rechtfertigt immer die Pflichten, die ihr den jungen Mädchen auferlegt, aber unterlaßt es nie, ihnen Pflichten aufzuerlegen. Muße und Eigensinn sind für sie die gefährlichsten Fehler (...). Sie müssen sofort an Zwang gewöhnt werden, damit er sie nie etwas kostet; sie müssen daran gewöhnt werden, alle ihre Launen zu beherrschen, um sie dem Willen der anderen unterzuordnen" (ROUSSEAU 1978, 742).

Das Resultat einer solchen Erziehung ist die weibliche List; was der Erzieher bei Emile um jeden Preis verhindern wollte, nämlich daß dieser unter Vorspiegelung von Gehorsam in Wirklichkeit den Erzieher täuschen könnte, wird bei Sophie nicht nur einkalkuliert, sondern sogar provoziert (wenn auch in Maßen):

"Um ein junges Mädchen gefügig zu machen, darf man es nicht unglücklich machen; (...) ich hätte nichts dagegen, wenn man ihm manchmal ein wenig List zugestände (...). Auf keinen Fall darf seine Abhängigkeit zur Qual werden, es genügt, es sie fühlen zu lassen. Die List ist ein dem weiblichen Geschlecht natürliches Talent (...), es geht nur darum, ihren Mißbrauch zu verhindern" (a. a. 0., 745).

Hätten wir damit eine neue Formel für die 'Ergänzungsthese' gefunden, etwa dergestalt, daß die männliche Freiheit die weibliche List hervorbringt und umgekehrt? Daß also diese beiden qualitativ verschiedenen Arten, seinen Willen durchzusetzen, einander harmonisch ergänzen und komplettieren?
Mir scheinen diesbezüglich Zweifel angebracht zu sein. Ein Indiz für solche Skepsis könnte das Fortsetzungsfragment zum 'Emile' sein, das den bezeichnenden Titel trägt: "Emile und Sophie oder Die Einsamen". ROUSSEAU entwirft dort ein neues Szenarium:
Emile und Sophie werden nicht glücklich miteinander, obwohl doch optimale Voraussetzungen bestanden. Das Unheil nimmt seinen Lauf, sobald der Erzieher die beiden jungvermählten Eheleute verläßt. Emile schreibt retrospektiv:

"Mußte dieser Abstieg mit Ihnen, grausamer Vater, beginnen? Welches Verhängnis brachte Sie dazu, von diesem friedlichen Leben Abschied zu nehmen, das wir zusammen führten? (...) Hätten Sie sich nicht zurückgezogen, so wäre ich noch immer glücklich (...) Nein, unter Ihren Augen hätten sich das Verbrechen und seine Leiden meiner Familie niemals genähert... " (ROUSSEAU 1979, 648).

Was ist passiert? Kurz gesagt, widerstehen selbst diese beiden Muster an Tugend den Versuchungen der Großstadt nicht, Sophie, die vom Schicksal stärker Gebeutelte, fällt einer hinterlistigen Verführung anheim und bricht die eheliche Treue. Nicht genug damit, wird sie auch von dem 'anderen' geschwängert. Emile sieht daraufhin keine andere Möglichkeit, als sein immer noch geliebtes Weib (und Kind) zu verlassen, beide irren nun einsam auf der Welt umher...
Dieser von ROUSSEAU ausgesponnenen Fortsetzung, die Fragment geblieben ist (es existieren nur zwei Briefe von Emile an seinen Erzieher), könnte man zweierlei entnehmen:

  1. Die harmonische Ergänzung der Geschlechter scheint, selbst auf der Ebene der Fiktion, nicht zu funktionieren.
  2. Sie bricht in dem Moment zusammen, wo der Erzieher, der bislang als Vermittler fungierte, von der Bildfläche abtritt.

Diese Tatsache müßte uns aufmerksam machen auf die Funktion des Dritten, der zwischen den Geschlechtern vermittelt, indem er bald Nähe, bald Distanz schafft, hie für Transparenz, da für Hindernisse sorgt und ständig damit beschäftigt ist, die äußerst prekäre duale Struktur auszubalancieren. Um diese Position des Dritten geht es nicht nur in der Liebesgeschichte zwischen Emile und Sophie, die im 5. Buch des 'Emile' geschildert wird; sie strukturiert auch die gesamte Handlungsdynamik in der Nouvelle 'Eloise', wo die Position des Dritten (zwischen den beiden Liebenden) mal von Julies Eltern, mal von der Cousine Clara, mal von Lord Eduard besetzt wird.
Es spricht vieles dafür, daß ROUSSEAUs Phantasie, die das dramatische Geschehen in seinen Werken inszeniert, einer anderen Logik folgte als seine Ratio, die eine deutliche Polarität der Geschlechter forderte und sogar soweit ging, jedes 'travestissement', jede 'confusion' zwischen den Geschlechtern als Indiz für Dekadenz und Sittenverfall zu werten (vgl. dazu: SARAH KOFMAN 1982, 108ff.). Vielleicht ist der Dritte als Grenzgänger und Vermittler zwischen den polarisierten Geschlechtern die eigentlich zentrale Figur in ROUSSEAUs Szenarium?
Doch eröffnet sich mit dieser Frage ein Feld, das einer gesonderten Untersuchung bedürfte.

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