Die Menschen sind die einzige tierische Spezies,
in welcher das Weib in bezug auf seine Ernährung
auf den Mann angewiesen ist, die einzige,
in welcher daher die geschlechtlichen Beziehungen
zugleich ökonomische Beziehungen bedeuten.
Charlotte Perkin-Gilman (Mann und Frau)
Die Berufslosigkeit hat den Charakter
der Frauen heruntergebracht
[42]Hier nun scheint es mir am Orte, abgesehen von meinem eigenen Leben und von meinen persönlichen Erfahrungen, es noch einmal gründlich auszusprechen, wie tief man den Zustand und die Lage der Frauen dadurch herabdrückt, daß man den Töchtern in den Familien des mäßigbegüterten Mittelstandes das Recht auf eine verständige gewerbliche Tätigkeit entzieht und ihnen damit die Möglichkeit einer ehrenvollen Unabhängigkeit versagt.
Wohin man sich wendet, kann man die Klage vernehmen, daß von Jahr zu Jahr die Zahl der unverheirateten Frauenzimmer zunimmt. Man braucht sich nur in unsern Gesellschaften umzusehen, um sich zu überzeugen, wieviel Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sich hinter den bleichen Gesichtern jener alternden Mädchen verbergen, die mit allem ihrem guten Willen, sich zu helfen, und mit dem erzwungenen Lächeln die Traurigkeit ihres armen Daseins nicht abändern und nicht verbergen können.
Kaum in eine Familie kann man eintreten, die nicht in ihrer Verwandtschaft alternde und unverheiratete Schwestern oder Töchter hätte, welche gelangweilt und müde, ohne eigene Freude und Hoffnung ein leeres, nutzloses Dasein führen und sich ohne Lust von einer Gesellschaft und Vergnügung zu der anderen hinschleppen, nur um einen Wechsel in die öde ihrer Tage zu bringen. Sich selbst zur Last, in vielen Fällen auch den Ihren eine schwere Last, hört man die Frage: Wohin mit ihnen? was soll man mit ihnen machen? Und da man sich die rechte Antwort aus Vorurteilen nicht geben mag, bescheidet man sich, die alten Mädchen in der Gesellschaft und in den Familien als ein unvermeidliches Übel zu ertragen.
Ich habe mich erst nach meinem vierzigsten Jahre verheiratet, und wenn ich auch durch meine schriftstellerische Tätigkeit von meinem dreißigsten Jahre ab eine Ausnahmestellung und deshalb von dem Obelwollen und von der halben Lächerlichkeit nicht zu leiden gehabt habe, welche sich an die alten Jungfern haften, so hat doch auch mir die Gelegenheit nicht gefehlt, es zu beobachten, was es mit dem kläglichen Dasein eines untätigen, unnützen Mädchens auf sich hat, dem in den meisten Fällen die überzeugung nicht erspart bleiben kann, daß es zu niemandes rechter Freude auf der Welt ist.
Gegen dies Elend, das nicht wegzuleugnen ist, gibt es nur ein Mittel - die Emanzipation der Frauen zu Arbeit und Erwerb, von der ich schon einmal in diesen Aufzeichnungen gesprochen habe und auf die immer wieder anmahnend zurückzukommen, der Verlauf meiner Lebensgeschichte mich zwingen wird.
Keine bürgerliche Familie auf der Welt hat es Hehl, daß sie bei der Erziehung eines Sohnes das Ziel im Auge hat, ihn so früh als möglich zu selbständigem Erwerb fähig zu machen. Man gesteht es mit Freude und Genugtuung ein, wenn der Sohn es mit zwanzig Jahren einmal dahingebracht hat, dem arbeitsbeladenen Vater nicht mehr zur Last zu fallen. Man spricht damit unumwunden aus, daß in den Familien unserer Mittelstände die Ernährung erwachsener Kinder eine Last ist, und man bedenkt es nicht, welchen Eindruck es auf die etwa anwesenden Töchter machen muß, sich In solcher Weise stillschweigend als schwere Bürde fii, den Vater bezeichnet zu sehen. Aber man geht darin noch weiter.
Während man es für einen jungen Mann als eine Sache der Ehre ansieht, sich sein Brot zu erwerben, betrachtet man es als eine Art von Schande, die Töchter ein Gleiches tun zu lassen, wie das auch in meinem Vaterhause so geschah. Bringt irgendwo die Notwendigkeit es mit sich, daß ein Mädchen für ihren Unterhalt arbeitet, nimmt eine Kaufmannstochter, eine Geheimratstochter, eine Professorentochter eine Stelle als Lehrerin, als Gesellschafterin, als Kinderwärterin oder Haushälterin an, so wird dies Ereignis irgendwie beschönigt. Es heißt: die Tochter habe eine unwiderstehliche Neigung, die Welt kennenzulernen, sie habe eine so große Vorliebe für den Verkehr mit Kindern, sie solle sich doch auch einmal Jahr und Tag unter fremden Menschen bewegen lernen. Man erfindet irgendeine Verwandtschaft oder Bekanntschaft mit den Familien, in welche das Mädchen eintreten soll, um der Sache einen unverfänglichen, gemütlichen und vornehmen Anstrich zu geben; aber man entschließt sich nur in den seltensten Fällen dazu, einfach zu sagen: Das Mädchen geht fort, um sein Brot zu verdienen, um doch etwas zu tun, um uns das Leben zu erleichtern. Und man nimmt ihm damit die Genugtuung, seinen Entschluß von andern gebilligt und anerkannt zu sehen, man nimmt ihm die Freude, mit welcher es vielleicht seinen Beruf ergriffen hat, und die frische, gehobene Stimmung, mit welcher man einer neuen Lebenslage entgegentreten muß, um Behagen und Fortkommen darin zu finden.
Ebenso geht man zu Werke, wenn die Töchter endlich hie und da Unterricht erteilen; und doch sind Gouvernanten- und Gesellschafterinnenstellen und Unterrichtgeben noch diejenigen Broterwerbe, welche durch die oft wiederkehrende Notwendigkeit, sich ihnen zu unterziehen, gewissermaßen als anständig und angesehener Familien nicht unwürdig betrachtet werden. Aber es gibt zahlreiche Mädchen, denen die Kenntnisse, die Anlage für geistige Beschäftigung fehlen, die nicht lehren und erziehen können, die aber nichtsdestoweniger mittellos, also ebenfalls in der Lage sind, ihr Brot verdienen zu müssen. Auch diesen tritt das Vorurteil entgegen, daß Broterwerb eine Schande für eine Frau oder ein Mädchen aus guter Familie sei, und nötigt sie, es zu verheimlichen, daß sie für Magazine sticken und nähen. Jahrelang habe ich in der Berliner Gesellschaft die Witwe und die drei Töchter eines Generals gesehen, welche von der Witwenpension der Generalin, von fünfhundert Talern, unmöglich leben konnten. Man wußte, daß sie sich zu Hause Entbehrungen aller Art aufzuerlegen hatten, und dazu saßen die unglücklichen alternden Mädchen in den Gesellschaften da, emsig an Tapisseriearbeiten nähend und immer ihr Entzücken an diesen Nähereien aussprechend, während jeder Verständige sich fragen mußte: wie können Leute in so beschränkter Lage so unvernünftig viel Geld an nutzlose Arbeiten, an eine bloße kindische Liebhaberei verschwenden?
Die Generalin fand es gentil, ihre Töchter mit dieser Liebhaberei für Wolle und Kanevas töricht erscheinen zu lassen. Einzugestehen, daß die braven Mädchen noch bis spät am Abende, noch in der Gesellschaft, für ihr Brot arbeiteten, wäre nicht gentil gewesen; dafür würde es aber vielleicht manchem Manne, mit dem die Generalin eine ihrer Töchter gern verheiratet hätte, Achtung vor den armen Personen gegeben haben, über die man sich jetzt lustig machte. Ihr beharrlicher Fleiß würde vielleicht einer oder der anderen von ihnen zu einer Ehe mit einem der verständigen Männer verholfen haben, die jetzt das ewige rastlose Tapisserlenähen in der Gesellschaft einfältig und töricht fanden.
Hat in einer Familie ein Sohn keine Anlage zum Studieren, so ist man gern geneigt, ihn Kaufmann, Maschinenbauer, Techniker und in guten, verständigen Bürgerfamilien auch Handwerker werden zu lassen. Der junge Mensch steht am Werktisch, am Verkaufst'sch, am Pulte seines Magazins, verkehrt mit der Außenwelt, verkehrt mit seinen Kollegen, und hat er sonst eine gute Erziehung genossen, so sieht man in seinem Eintritt in das Leben keine besondere Gefahr. Für das besterzogene, innerlich tüchtigste Frauenzimmer aber würde man bei solchem Schritte gleich wieder Bedenken tragen. Das heißt, man würde den Töchtern, auch den besten, die Schmach antun, sie durch ihre ganze Jugend, und in diesem Falle dehnen die Familien die Zeit der Jugend für ihre Töchter übermäßig lange aus, für moralisch unselbständig, für sittlich unzuverlässig zu halten. Aus der Besorgnis, daß sie sich wie Unmündige betragen könnten, erhält man sie also lebenslang in einer Unmündigkeit, in der aus ihnen unmöglich etwas Rechtes werden kann.
Aber es ist nicht überall so in der Welt, und es kann und wird auch bei uns in Deutschland nicht immer so bleiben. In Amerika, wo die weibliche Jugend der Mittelstände, bei guten Sitten und feinen Manieren, doch viel selbständiger ist als bei uns, arbeiten zu Lowell in den Fabriken die Töchter angesehener Bürger aus dem ganzen Staate, und man hat für sie sogar eigene Logierhäuser eingerichtet, in denen sie leben, bis sie wieder in ihre Familien zurückkehren, nachdem sie sich eine mehr oder weniger große Summe für ihre Ausstattung erworben haben. In Genf werden wohlerzogene Mädchen in den Uhrenfabriken beschäftigt, in Belgien in den Comptoirs und Bureaux der Eisenbahnen, in Frankreich sind die Frauen und Töchter der Kaufleute bei der Buchführung tätig. In Bern leisten die geschickten Hände und die Sauberkeit von Frauen die vortrefflichsten Dienste bei der Bereitung von mikroskopischen Präparaten, und selbst bei uns in Deutschland findet man eine Anzahl von Putzläden, Weißzeug- und Tapisserieläden, die von Frauen geleitet werden, zum Teil auch Frauen zu Besitzern haben, und die in der Regel vortrefflich gedeihen.
[...]
Aber bei uns in Deutschland sind es bis jetzt meist nur die nicht Gebildeten, die Familien des sogenannten kleinen Bürgerstandes, welche ihre Töchter zum Broterwerb erziehen. [...] Finden sich gebildete, den sogenannten guten Ständen angehörende Familien, die es kein Hehl haben, daß sie ihre erwachsenen Töchter nicht leicht erhalten, daß sie ihnen keine Mitgift zu geben, keine ausreichende Versorgung für ihr Leben zu bieten vermögen, entschließt man sich, diese Töchter ebensogut wie die Söhne etwas Ordentliches lernen zu lassen, erwerben sie sich die Kenntnisse von Buchführern, von Gehülfen in Kaufmannsgeschäften, entschließen sie sich, Handwerke zu erlernen, welche innerhalb ihrer Fähigkeiten liegen, so werden sie mit der Zeit auch Beschäftigung, mit der Beschäftigung Erwerb, mit dem Erwerb Freude am Leben, und eine relative Freiheit und Selbständigkeit gewinnen. Die Eltern werden dann häufiger Gelegenheit finden, ihre Töchter zu verheiraten, denn es ist leichter, einen Hausstand zu begründen, wenn Mann und Weib gemeinsam für denselben arbeiten, als wenn der Mann allein die Frau ernähren soll, die nichts gelernt hat, als ihre Zeit in müßiger Weise mit Haushaltungsdetails hinzubringen, welche in der Hälfte dieser Zeit abzutun sind, und Luxusarbeiten oder schlechte Musik zu machen, welche besser gänzlich unterblieb.
Die Hauptsache aber ist, daß die Ehe nur dann in ihr wahres Recht eingesetzt, nur dann zu der idealen Schönheit erhoben werden kann, die freierwählte, freigeschlossene Verbindung gleichberechtigter Gatten zu sein, wenn sie aufhört, für die Frauen den einzig möglichen Weg zu materieller Versorgung und zur Begründung ihrer gesellschaftlichen Geltung darzubieten.
Man behauptet, für die Frauen sei die Liebe die Hauptsache im Leben. Das ist unter uns nicht der Fall und darf in den jetzigen Zuständen kaum der Fall sein. Man würde richtiger sagen: wie die Verhältnisse liegen, ist die Ehe die Hauptsache für die Frau, ja nicht allein die Hauptsache, sie muß nur zu oft für sie eine Sache der Berechnung werden, und ist das jetzt auch fast überall für die Mädchen und für ihre Mütter. Diese Zustände haben den weiblichen Charakter in der Masse verdorben. Was man von der Selbstlosigkeit unseres Geschlechtes, was man von dem Egoismus der Männer in ihrem Verhalten gegen die Frauen behauptet und als ein Axiom in den weiblichen Katechismus aufgenommen hat, ist nach meinen Erfahrungen und nach meiner überzeugung, das eine wie das andere, zum größten Teile eine Unwahrheit.
Neun Zehntel der unglücklichen Lieben und Leidenschaften, mit denen die weibliche Jugend in sich zu kämpfen hat, sind nur eine natürliche Folge ihrer mißlichen Lage und ihrer schlechten Erziehung; und die jungen Männer sind in gewissem Sinne bei ihrem Eintritt in die Gesellschaft weit naiver als die Mädchen in dem gleichen Zeitpunkt. Das aber ist natürlich, denn die Männer sind freier, und ihr Verhältnis zu den Mädchen ist daher unbefangener, absichtsloser und also schöner als das der Mädchen zu den Männern.
Ein junger Mann, der ein Mädchen hübsch, gescheut,angenehm findet, verrät ihr das in der Regel so unbefangen, so absichtslos, wie man seine Freude am schönen Wetter ausspricht, und weil sie ihm wohlgefällt, möchte er ihr auch gefallen. Er bemüht sich, ihr im besten Lichte zu erscheinen, er leistet ihr kleine Dienste, die ihr Freude machen, er sucht sich die liebliche Empfindung, welche ihre Nähe ihm bereitet, sooft als möglich zu verschaffen, er macht ihr also, wie man das nennt, in aller Form den Hof. Er kann aber dies Wohlgefallen für drei, vier Mädchen zu gleicher Zeit in sich tragen, ohne bei einer einzigen zu denken, daß eben sie seine Frau werden solle; denn seine täglichen Berufsarbelten erinnern ihn daran, daß er vorläufig noch anderes zu tun habe, als an das Heiraten zu denken. Er hat ernsthafte Beschäftigungen, ernste Interessen, das Wohlgefallen an dem jungen Mädchen ist ihm eine Freude, ein Genuß. Die aufwallende Neigung, die aufdämmernde Liebe bleiben ihm ein reines Empfinden, weil er weiß, daß seine Verhältnisse es ihm nicht erlauben, ein Verlangen daran zu knüpfen. Er kann, wenn er nicht zufällig sich einem reichen Mädchen gegenüberfindet, keinen Vorteil davon erwarten, er baut keine Plane darauf, seine Zukunft, seine Existenz haben gar keinen Zusammenhang damit. Er liebt um der Schönheit, um der Liebe willen. Und treten dann Hindernisse, tritt eine Trennung zwischen ihn und den Gegenstand seiner Neigung, so kann er vielleicht davon schwer getroffen werden, aber auch hier bleibt sein Schmerz rein; denn sein Verlust ist nur ein geistiger, und er steht in allen seinen übrigen Beziehungen, er steht in Betracht seines ganzen Lebensplanes und Lebensweges unangetastet da, mag das Mädchen ihn lieben oder sich von ihm wenden.
Bei den Mädchen ist das nicht der Fall. Von ihrer frühesten Jugend an wird ihnen die Ehe als ihr einziger Lebensberuf vorgehalten, und wenn sie mit fünfzehn, sechzehn Jahren die Schule verlassen, die Einsegnung überstanden haben, so treten sie trotz ihrer Unfertigkeit als berechtigte Mitglieder in die Gesellschaft ein. Unreif, mangelhaft unterrichtet, unausge-bildet für irgendeinen ernsten Zweck, werden sie dem Manne gegenübergestellt. Ohne Lebensplan, ohne einen Ehrgeiz, ohne Aussicht auf Selbständigkeit durch ihr eigenes Tun bleibt ihnen keine Hoffnung für ihre Zukunft als die Ehe. Man bewacht, man behütet sie vor jeder Neigung, vor jeder Liebe, die nicht die sichere Anwartschaft auf die Ehe, auf die bürgerliche Versorgung in ihrem Gefolge hat. Das zur Liebe vorzugsweise geschaffene Geschlecht soll gar nicht lieben, sondern vor allen Dingen sich verheiraten. Sorgfältige Mütter und Väter halten von ihrem Hause und von ihren Töchtern diejenigen Männer fern, die denselben Neigung einflößen und keine Versorgung bieten könnten, und während es keinem Manne Nachteil bringt, wenn man von ihm aussagt, er habe für diese oder jene junge Schöne eine Liebe empfunden, ist es dem Rufe eines Mädchens schon nicht vorteilhaft, wenn es heißt, sie habe jemand geliebt, dessen Frau sie nicht geworden ist.
So ist es denn jetzt allmählich dahin gekommen, daß ein Jüngling, ein junger Mann, einem Mädchen ohne jeden Nebengedanken von Herzen huldigen, und kaum ein Mädchen die Huldigungen eines Mannes annehmen kann, ohne sehr bald darauf bestimmte Ansprüche zu gründen und an die Ehe zu denken. Die Partie ist dadurch aber gänzlich ungleich. Denn der junge Mann sucht in der Gesellschaft das Vergnügen, das Mädchen hat man dahingebracht, dort unter der Hülle und unter der Ägide des Vergnügens die Erreichung ihres Berufes, den Mann zu suchen - und ich wiederhole es, das hat den Charakter des weiblichen Geschlechtes im allgemeinen heruntergebracht. Es gibt wenig unbemittelte Mädchen von starkem Selbstgefühl, wenig entschlossene, mutige Naturen unter ihnen, welche die Kraft behalten, zu lieben um der Liebe willen und einen ihnen nicht zusagenden Mann zurückzuweisen, wenn derselbe ihnen eine Versorgung und eine nur einigermaßen gute Stellung in der Gesellschaft zu bieten hat. Sie werden deshalb auch in der Mehrzahl zu Schmeichlerinnen und zu Sklavinnen des Mannes erzogen, der sich um sie bewirbt, und werden deshalb folgerichtig seine Tyrannen, wenn die Bewerbung dann ihr Ende erreicht, die Ehe Mann und Weib für immer aneinandergebunden hat und der Frau die materielle Existenz und die gesellschaftliche Stellung begründet sind, welche sie erstrebte. Die Folge davon ist der Hochmut und die Nichtachtung der Männer gegen die Frauen. Sie haben nicht unrecht mit der Behauptung, welche man von ungebildeten Männern überall vernehmen kann, daß sie nur zu wollen brauchen, um jedes Mädchen haben zu können.
Dazu kommt noch, um die Achtung der Männer und die würdige Haltung der Mädchen zu verringern, daß die Frauen in ihrer Arbeitslosigkeit so sehr dazu geneigt sind, sich müßiger Einbildungen hinzugeben. Was der huldigende Mann dem Mädchen an Freundlichkeit erweist, wird meist ernsthafter genommen, als es von ihm gesagt ward. Während er am nächsten Tage des heiter gesprochenen Wortes in seinem Comptoir, auf der Anatomie, bei seinen Akten kaum gedenkt, sitzt das Mädchen und grübelt darüber nach, wendet und deutet es und legt es zurecht nach ihren Wünschen. Woran sie am Morgen noch zweifelt, das glaubt sie am Mittag, weil sie es glauben zu können wünscht. Sie tritt ihrem jungen Verehrer also bei dem nächsten Zusammentreffen zuversichtlicher entgegen. Das steigert sein Vergnügen, macht ihn freundlicher, und von Tag zu Tag in gleicher Weise vorwärtsgezogen, finden die jungen Herzen sich bald auf einem Wege, den zu betreten sie vielleicht beide nicht willens waren.
Das Mädchen, das ein weit positiveres Interesse daran hat, geliebt zu werden, als der Mann, ist sich daher ihrer Empfindung auch viel schneller bewußt und nur zu geneigt, die gleiche Empfindung in dem Geliebten vorauszusetzen. Durch keine Tätigkeit von sich selber abgezogen, wird ihr schnell zur Hauptsache, zum Mittelpunkte ihres Lebens, was dem Manne noch ein Nebensächliches ist. Seine Ruhe steigert ihre Ungeduld, sie sieht und berechnet deshalb die Schranken nicht, welche den Mann, selbst wenn seine Liebe der des Mädchens gleich ist, von der Erreichung seiner Wünsche abhalten. Kommt nun durch zwingende Verhältnisse die Notwendigkeit des Scheidens heran, so findet sie gewöhnlich den Mann, der täglich den Bedingnissen des praktischen Lebens gegenübersteht, noch der Überlegung fähig und damit der Fassung fähig und Herr über sich selbst, wo das Mädchen ohne die erhebende Kraft einer selbstbestimmenden Wahl, ohne Tätigkeit, ohne Hinblick auf irgendein zu erreichendes Ziel, plötzlich vor der Zerstörung aller ihrer Hoffnungen einem ohnmächtigen Verzagen zur Beute wird.
Der Mann geht mit seinem Schmerze an die Arbeit und in das Leben hinein, das Mädchen bleibt mit ihrem Schmerze sitzen, und dumpfes Verzagen macht schnell alt. Man hat nicht viel Mitleid mit einem Manne, der seine Geliebte nicht zur Frau bekommt, aber man bedauert ein Mädchen in der gleichen Lage, und Bedauern drückt vollends herab. Jenem sagt man: Arbeite, zerstreue dich, und du wirst vergessen! Dieser bedeutet man: Tröste dich!
Aber woran? womit? - Etwa mit dem Hinblick auf die Familie, die in der Regel ebenso betrübt ist, die Tochter nicht versorgt zu wissen, als diese, nicht genug Liebe gefunden zu haben?
Aussicht auf Befreiung
[43]Vierzehn Tage nach der Abreise des Königs empfing ich einen Brief von August Lewald. Er schrieb mir, daß er gern eine recht genaue Schilderung der Huldigungsfeierlichkeiten für die »Europa« haben möchte und daß ich ihm einen Gefallen tun könnte, wenn ich ihm eine solche machen wolle. Mir war das sehr erwünscht, denn ich war froh, wenn ich etwas zu schreiben hatte, und da ich selbst noch unter dem frischen Eindruck des oben Erlebten war, so sprach ich das bis zu einem gewissen Grade in der Skizze aus, die ich meinem Vetter sendete. Er druckte sie so ab, wie ich sie geschrieben, und es war noch vor Weihnachten, als mein Vater eines Tages einen Brief von Lewald erhielt, in welchem dieser meinem Vater sein Wohlgefallen an meiner kleinen Arbeit aussprach. Er lobte das Sachliche der Beschreibung, lobte den Stil und machte die Bemerkung: »Fanny hat ein so entschiedenes Talent der Darstellung, daß ich nicht begreife, wie sie nicht von selbst darauf gekommen ist, sich mehr darin zu versuchen. Sie ist ohne Frage eine dichterische Natur, und es wäre nicht zu verantworten, wenn sie eine solche Begabung nicht benutzte und ein Feld brachliegen ließe, von dem sie für ihre Zukunft gute Früchte ernten könnte.«
Mir stieg, als ich diese Worte las, das Blut vom Herzen schnell und warm zu Kopfe; ich sah meinen Vater an, er mochte mir die Freude von den Augen ablesen. Ja! das war es! das konnte mir helfen! Es war mir ein Blick aus der Wüste in das Gelobte Land, es war eine Aussicht auf Befreiung, es war die Verwirklichung eines Gedankens, die Erfüllung eines Wunsches, die ich mir einzugestehen nicht getraut hatte.
Ich suchte aus meines Vaters Mienen zu erraten, was er zu dem Briefe Lewaids dächte. Er verstand das.
»Ich habe anfänglich Bedenken getragen, dir den Brief zu geben«, sagte er, »weil ich glaube, wenn du wirklich ein Talent zum Dichten hättest, würdest du es von selbst getan haben, und du weißt nebenher, daß ich für das Heraustreten der Frauen aus ihrer Sphäre nicht bin. Anderseits aber bist du in einem Alter, in welchem ich dir nicht verheimlichen mag, was Lewald über dich urteilt, und wenn du in der Muße, die du hast, deinen Stil ausbilden willst, so kann das in jedem Falle dir für dein ganzes Leben nur vorteilhaft sein. Nur sprich nicht darüber, denn wer über die Dinge spricht, die er tun möchte und vielleicht einmal tun wird, ist ein Narr!« Mir war zumute, als wären mir Flügel verliehen! Ich konnte den Augenblick nicht erwarten, in welchem ich mich an meinem Schreibtisch befinden würde, und als ich nun in meine kleine Stube eintrat, als ich mich vor dem Schreibtisch niedersetzte, kam mir der kleine Raum, so hübsch er mir immer erschienen war, doch wie erleuchtet und verwandelt vor. Es war ein klarer Wintertag ohne Frost und Schnee, wie sie bei uns vor Weihnachten, nach langem Regenwetter bisweilen vorkommen. Die Straße war trocken, es sah hell aus, wenn ich das Auge hinauswendete. Die Mittagssonne schien auf die Bilder, die über meinem Schreibtisch hingen, auf die Statuette der Jungfrau von Orleans, die zwischen ihnen auf ihrer kleinen Konsole stand, auf mein großes Efeuspalier und meinen Lehnstuhl, die noch heute, einundzwanzig Jahre später, an meinem Schreibtisch stehen und mir jetzt den damaligen Tag recht lebhaft in das Gedächtnis rufen. Ich kam mir wie in einem Märchen, wie verzaubert vor, denn es dünkte mir, als sei mir die Herrschaft über die Welt geschenkt, als brauchte ich nur den Zauberstab, die Feder in die Hand zu nehmen, um für mich und andere, Welten, Menschen, Ereignisse und Schicksale aus dem Nichts hervorzuzaubern.
Was mir in früher Kindheit mein Lehrer, Herr von Tippeiskirch, vorausgesagt, was mir oft dunkel, oft klarer vorgeschwebt und was mir einzugestehen nur der große Begriff mich abgehalten, welchen ich von der Würde und von der Bedeutung dichterischen Schaffens gehabt hatte, das erkannte mir jetzt ein Mann unbedenklich zu, der so viele Talente sich unter seinen Augen hatte bilden sehen, so vielen ein Rat und ein Führer geworden war. Ich sollte die Fähigkeit des Dichters haben, ich sollte ein Dichter werden können! Ich war über alles Sagen glücklich!
Also eine Schriftstellerin
[44]»Du willst also Schriftstellerin werden?« »Wenn du nichts dagegen hast, lieber Vater! will ich es ganz gewiß.«
Er zuckte mit den Schultern, wie er es zu tun pflegte, wenn er sich in etwas fügte, was ihm nicht lieb war. Das tat mir wehe und leid.
»Überlege dir die Sache, lieber Vater!« fuhr ich fort, »und das eine bemerke ich dabei ausdrücklich: bedenke, daß ich nichts halb zu tun pflege.« »Was heißt das?« fragte er kurz und ernst. »Ich meine, wenn ich arbeite, so ziehe ich die gelben Glacehandschuhe aus und fasse die Dinge fest und mit nackter Hand an. Wenn ich schreiben soll, so muß ich ganz heraussagen können, was ich denke, und jedes Thema berühren, das mir dazu angemessen scheint. Ich kann keine Rücksicht nehmen auf dasjenige, was du von mir zu hören wünschest oder was du die Kinder (so wurden wir in Gesamtheit noch immer genannt) hören lassen willst.« »Das begreife ich!« entgegnete er mir. Wir waren beide gleich ernsthaft, der eine wie die andre, denn ich wollte, wenn ich meinen neuen Lebensweg antrat, am wenigsten meinen Vater darüber im unklaren lassen, wie ich über denselben dachte. »Auf die Weise wie bisher«, nahm ich noch einmal das Wort, »kann ich dauernd dann nicht weiterleben. Wenn ich die Mittel dazu erwerben kann, muß ich die Welt sehen und freier mit Menschen, mit Männern, die mich fördern, verkehren können, als es hier bei uns am Teetisch, in Gegenwart von euch und von fünf Schwestern geschehen konnte.« Ich sah, daß diese Verlangnisse und Aussichten meinem Vater ungelegen und nicht erwünscht waren, und ich erklärte, wenn er mit dieser meiner Meinung nicht einverstanden sei, so wäre ich in diesem Momente noch bereit, auf die Erfüllung meiner Wünsche zu verzichten.
Mein Vater schwieg einen Augenblick und frühstückte während der ganzen Unterredung ruhig fort. »Ich sehe nur nicht ab, was für ein Äquivalent ich dir dafür zu bieten hätte!« meinte er nach einer Weile. »Du bist dreißig Jahre, bist unverheiratet, und ich kann nicht sagen, hier ist ein Vermögen, das dich lebenslänglich unabhängig erhält. Auf der andern Seite bist du immer verständig gewesen, hast mir nie Anlaß gegeben, mit dir unzufrieden zu sein, und du versprichst dir Glück von der Ausübung deines Talentes. Also tu, was dir gut deucht, und Gott gebe, daß es zu deinem Guten sei. Nur das eine bedinge ich mir ganz ausdrücklich aus, es darf niemand, auch Rat Crelinger und Doktor Kosch - der letztere war unser Hausarzt - das geringste von deiner Schriftstellerei erfahren.«
»Verlaß dich darauf!« beteuerte ich, »aber bedenke, lieber Vater, daß alle Kinder es wissen.« »Ich werde ihnen verbieten, davon zu reden!« sagte er mit jener Zuversicht, die sicher ist, sich unbedingten Gehorsam zu verschaffen.
Er stand auf, nahm den Brief von Lewald und betrachtete die Anweisung, welche darin lag. Sie war au porteur ausgestellt, und von seinem bisherigen Ernste zum Scherze übergehend, sagte er: »Da du also heute angefangen hast, Geld zu verdienen, wirst du es wohl auch gleich in Händen haben wollen. Ich werde die Anweisung nehmen und dir das Geld heraufschicken.« Er wendete sich nach der Türe, kehrte noch einmal um, sagte mit einer unverkennbaren Bewegung: »Also eine Schriftstellerin!« - Dann zog er die schönen Augenbrauen ein wenig in die Höhe, diese Miene drückte es bei ihm aus, daß etwas ihm nicht Erwartetes und nicht eben Angenehmes geschehen sei, und meinen Kopf in seine beiden Hände nehmend und mich herzlich küssend, sprach er: »Gott gebe dir Glück dazu!«
Damit ging er hinaus, und ich war so gerührt, daß mir die Tränen über das Gesicht flössen. Feierlicher war mir nicht zumute, als ich mich meinem Manne für das ganze Leben angelobte. Denn das eine wie das andere war mir die freudige Übernahme eines aus tiefster Überzeugung und innerster Notwendigkeit übernommenen Berufs, dem mit allen meinen Kräften nachzuleben, dem mich in voller Liebe und Freiheit gänzlich hinzugeben mir ein Glück war. Es war kein unbewußtes Hineindämmern in die Zau-befgärten der Poesie. Ich hatte eine große Vorstellung von der Macht des Dichters auf den Geist seines Volkes und von der Gewalt des Wortes über das Herz der Menschen. Und weil ich die Wahrheit suchte und die Wahrheit über alles schätzte, wo ich sie erkannt hatte, so nahm ich mir vor, ihr in keiner Zeile und mit keinem Worte jemals abtrünnig zu werden, und wie groß oder wie gering mein Einfluß jemals werden könnte, ihn nie anders als im Dienste desjenigen zu verwenden, was mir Schönheit, Freiheit und Wahrheit hieß. Und dies Versprechen habe ich mir treu gehalten!
Macht der Gewohnheit
[45]Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und es gibt kaum irgendeinen feierlichen Akt, der nicht sein komisches Zwischenspiel in sich erzeugte.
So war denn auch der frohen Erhebung jener ersten Stunde, in welcher ich über meine Zukunft entschied, gleich an demselben Tage eine sehr komische Niedergeschlagenheit und ein lächerlicher Vorgang gefolgt. Mein Vater schickte mir, wahrscheinlich um mir ein Vergnügen zu machen, durch seinen Lehrling den Betrag meines ersten Honorars in harten Talerstücken herauf, aber statt mich daran zu erfreuen, war es mir äußerst widerwärtig, das Geld zu nehmen. Auferzogen in einer Umgebung, in der alle Frauen es gewohnt waren, von ihren Männern oder Vätern versorgt und unterhalten zu werden, und sich vornehmer zu dünken, je reichlicher dieses geschah, kam ich, die doch seit Jahren gar kein höheres Verlangen als das nach Selbständigkeit gehabt hatte, mir plötzlich wie herabgesetzt, wie aus meiner angestammten Kaste ausgestoßen vor, als ich mit diesen acht Talern die Gewißheit vor mir hatte, daß ich von diesem Tage an beginnen werde, für Geld zu arbeiten, um mir mein Brot einmal selber zu erwerben.
Emanzipation zu ernster Pflichterfüllung
[46]Ob diese mehr oder weniger gelungene Arbeit aber von einem Manne oder von einer Frau geleistet wird, ob ein Mann oder eine Frau einen Irrtum ausspricht, eine Wahrheit verkündet, das scheint mir völlig gleichgültig zu sein. Das Publikum und die Kritik haben es mit dem Werke zu tun, und der Irrtum bleibt gleich verwerflich, die Wahrheit gleich beherzigenswert, das Schöne und Edle bleibt erhebend, das Häßliche und Gemeine verdammenswert, von wem immer es ausgegangen ist.
In England, Frankreich und Italien erkennt der Volksgeist diesen Grundsatz auch durch die Sprache an. Der Schöpfer eines geistigen Werkes heißt der Autor, welchem Geschlechte er auch angehöre; in Deutschland ist es anders, und die deutsche literarische Kritik ist in diesem Punkte selbst noch hinter dem Volksgeiste unseres Vaterlandes zurückgeblieben. Denn während das Volk sich längst gewöhnt hat, diejenigen deutschen Frauen, welche ihm in ihren Werken ein Anerkennenswertes darzubieten hatten, zu seinen »Schriftstellern« zu zählen, behandelt die Kritik die weiblichen Dichter in der Mehrzahl mit einer vornehmen Herablassung oder mit einer Art von Galanterie, die beide in meinen Augen eine Kränkung sind, weil sie selbstredend den Gedanken in sich verschließen, für die geringen Fähigkeiten, für die Unbedeutendheit einer Frau sei das Geleistete gut genug, sei das Nichtgelungene zu entschuldigen. Man sagt mit voller Wahrheit: besser als das Recht sei auch das Beste nicht! So habe ich denn mein Lebelang die Empfindung gehabt, daß es für den weiblichen Schriftsteller nichts Besseres geben könne, als wenn man ihn abstrakt beurteilt und ihm, wie jedem andern Schriftsteller, die volle, schwere Verantwortung für sein Werk und dessen Wirkung auferlegt. Denn die Entwicklung eines Menschen kann nur innerhalb einer völligen Gleichberechtigung mit seinen Mitstrebenden eine vollständige werden, und wer über die Reihen der Allgemeinheit erhoben wird, nimmt davon ebensosehr an seiner Entwicklung Schaden, als derjenige, welchen man unter dem Niveau der Allgemeinheit zurückzuhalten strebt. Darum haben auch Fürsten und Frauen eine Masse übler Eigenschaften miteinander gemein, denn sie werden beide von dem Boden der Allgemeinheit ferngehalten, nach besondern konventionellen Regeln behandelt und beurteilt, nach einem besondern Maßstabe geschätzt und dadurch endlich gewöhnt, an sich selber nicht jene Ansprüche zu machen, an sich selber nicht die einfachen, ernsten und strengen Forderungen zu stellen, ohne deren Genügung es mit dem Menschen auf keinem Gebiete des Lebens etwas Rechtes wird. Solange ich denken konnte, hatte es mich zu hören verdrossen, wie diese oder jene Leistung gut genug sei, wenn man bedenke, daß sie von einer Frau herstamme; und ich hatte daher, als ich meine ersten Arbeiten an meinen Vetter Lewald gesendet, dieselben mit einem Männernamen unterzeichnet. Ich hatte mein »Recht« haben wollen, nichts mehr, nichts weniger. Meinem Vater hatte diese meine Absicht zugesagt, Lewald hatte aber davon nichts wissen mögen. So war denn auch mein erster Roman, »Clementine«, ohne alle Bezeichnung, der zweite, »Jenny«, als ein Roman von der Verfasserin der »Clementine« erschienen, und ich hatte die Belustigung genossen, daß man nach dem Erscheinen der »Jenny« diesen Pseudonym, wunderlich genug, als den Versteck eines männlichen Schriftstellers anzusehen beliebte. Wie es mir aber nur eine sehr geteilte Genugtuung gewährte, als Doktor Heinrich Laube mir nach dem Bekanntwerden meines Namens in bezug auf die »Jenny« in seinem Blatte das Zugeständnis machte, er freue sich anzuerkennen, daß er der weiblichen Kraft zu wenig zugetraut; so hatte ich auch nur eine sehr gemischte Zufriedenheit darüber, als die Behörde einen für unzulässig gehaltenen Ausspruch durchgehen zu lassen beschloß, weil eine Frau ihn getan hatte.
Wem man das Gefühl seiner Verantwortlichkeit nimmt, dem nimmt man das Gefühl seiner Bedeutung, und wem man, wie es die Kritik den weiblichen Schriftstellern gegenüber nur zu häufig tut, von vornherein erklärt, daß man ihm nur eine sehr relative und beschränkte Kraft zuerkenne, dem nimmt man den rechten freudigen Ernst des Strebens, den weist man eben auf das Kleinliche hin, das man ihm doch wiederum zum Vorwurf macht. Alles, was ich für
den weiblichen Schriftsteller fordere, ist, daß man ihn ohne Schonung, aber auch ohne Vorurteil behandele, daß man von ihm absehen und sich an seine Leistung halten möge; mit einem Worte, daß man den weiblichen Schriftsteller dem männlichen gleich verantwortlich und damit gleichberechtigt an die Seite stelle, was noch lange nicht genug bei uns geschieht. Und so komme ich denn immer wieder darauf zurück, für die Frauen jene Emanzipation zu verlangen, die ich in diesen Blättern schon vielfach für uns begehrt: die Emanzipation zu ernster Pflichterfüllung, zu ernster Verantwortlichkeit und damit zu der Gleichberechtigung und Gleichstellung, welche ernste Arbeit unter ernsten Arbeitern dem einzelnen erwerben muß.
Erste eigene Häuslichkeit
[47]Allmählich kamen alle meine Bekannten, so Männer als Frauen, sahen, wie ich mich eingerichtet hatte und wie es mir erging. Die Frauen lobten die Sauberkeit meiner Stube, wunderten sich, was ich aus der Wohnung gemacht hätte, aber, ich merkte es allen an, sie waren gewissermaßen gerührt über mich; und vollends diejenigen, welche etwas von meinem Vaterhause wußten, streichelten mich und sahen mich so mitleidig an, daß ich es ganz bequem gehabt hätte, mich bedauern oder bewundern zu lassen, hätte ich an diesen billigen Herzenserregungen ein Wohlgefallen gehabt.
Die einen fanden es sehr merkwürdig, daß der Vater mir schon jetzt die Erlaubnis gegeben habe, allein zu wohnen. Ich sagte ihnen, ich sei bald vierunddreißig Jahre. Man wendete mir ein, ich sähe aber weit jünger aus! - »Nimmt mir das meine gesunde Vernunft? macht mich das unzurechnungsfähig?« fragte ich und wurde mit der Frage erst recht ein Gegenstand der Verwunderung für diese Art von Leuten. »Wenn Sie nur ein eignes Mädchen hätten!« wendeten mir andre ein, die recht wohl wußten, daß ich die hundert Taler nicht übrig hatte, welche ein Dienstmädchen mich für das Jahr gekostet haben würde. -»Was soll ich denn mit dem Mädchen machen?« fragte ich. »Soll es mich bedienen? das kann ich entbehren, und mich zu beschützen und zu bewachen, dazu brauche ich ein Dienstmädchen doch nicht!« - »Es wäre aber doch anständiger!« bemerkte man mir wohlmeinend.
Welch ein Anstand, welch eine Tugend, deren Anschein durch die Anwesenheit eines armen Dienstmädchens, durch eines jener jungen Geschöpfe aufrechterhalten werden sollte, von deren Sitten grade jene Art von Frauen im allgemeinen das Schlimmste zu denken sich berechtigt halten.
»Aber werden Sie denn auch Männer bei sich sehen?« forschte man vorsichtig. »Ja! wie anders?« versetzte ich.
»Nun freilich! Sie sind Schriftstellerin, Sie können das!« meinte ein Fräulein, das sich noch immer überwachen ließ, obschon die gefährlichen und gefährdeten Tage der Jugend weit hinter ihm lagen. Und wenn diese Besuche mich verließen, so schlug ich an meine Brust und sagte triumphierend: >Gottlob, daß ich nicht bin wie dieser eine!« Und es kam mich ein Grauen an vor der Lüge der gesellschaftlichen Gesittung, deren Voraussetzung eine Unsittlichkeit
und Zuchtlosigkeit ist, wie man sie kaum nachzudenken imstande ist. Sie waren mir bisweilen förmlich zuwider, diese Mütter und diese Töchter mit den regelrecht freundlichen Mienen, mit den festgeknöpften Handschuhen und den festgebannten Augen, die nicht rechts und nicht links sehen durften, wenn die Mutter nicht vorher auf die Stelle hingeblickt, auf welche die Tochter ihre Augen zu richten hatte. Sie waren mir lächerlich und beklagenswert in ihrer Unfreiheit und in ihrer automatenhaften Beschränktheit, und ich dachte mit Verehrung an meine junge kleine Putzmacherin, die jetzt meine alte gute Freundin ist und schon damals mutterseelenallein in dem Dachstübchen einer entlegenen Straße wohnte, von niemand beraten, von niemand bewacht als von sich selbst und ihrem eigenen Ehrgefühl. Nur daß es niemandem einfiel, der braven Arbeiterin einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich nicht bewachen ließ, oder es ihr zum Verdienste anzurechnen, daß sie sich so wohl zu behüten verstand.
Es ist jedem auf die eine oder die andere Weise sicherlich geschehen, daß er eine Gegend oder eine Sache lange unter demselben Augenpunkte betrachtet hat, bis er sich einmal plötzlich überzeugt, daß er nicht auf der rechten Stelle gestanden und daß er falsch gesehen habe. Man ist dann immer ganz verwundert, man begreift nicht, wie man für eine Gestalt halten können, was doch ein elender Baumstamm gewesen, wie man für ein Gebirge ansehen mögen, was sich eben vor unsern Augen in Wolken auflöst. So geht es dem Menschen auf geistigen Gebieten ebenfalls, und so ging es mir schon sehr frühe mit den sogenannten guten Sitten und dem Anstand der ebenfalls sogenannten guten Gesellschaft. Es fiel mir dabei ein altes Märchen ein, das mich als Kind sehr beschäftigt und beunruhigt hatte, weil in demselben jeder gezwungen war, dasjenige nackt auszusprechen, was er wirklich dachte, während er des Glaubens lebte, nur dasjenige zu sagen, was er zu äußern eben für angemessen fand.
Wenn eine Mutter mir sagte: >Ich lasse meine Töchter nicht allein zu einem Balle bei einer Freundin gehen!<, so mußte ich mir unwillkürlich den Nachsatz machen: >Denn dort findet sie schlechte Gesellschaft, vor der meine Anwesenheit sie beschützen soll.< Hieß es: >Ich lasse meine Tochter nicht ohne Begleitung die Straße betreten, so setzte ich mir hinzu: >Denn ich traue ihr nicht über den Weg, und sie ist so einfältig und leichtsinnig, daß ich sie in jedem Betrachte bewachen lassen muß.< >Meine Töchter nehmen in meiner Abwesenheit keinen Besuch an!< bedeutete eigentlich: >Denn die Männer, welche mein Haus besuchen, sind so roh und so entsittlicht, daß ich Verletzung und Beleidigung der einfachsten Sittlichkeit von ihnen voraussetzen muß!< - Und ich habe mich, wenn ich diese Bemerkungen machen mußte, immer gefragt, wie Männer nur die geringste Neigung zum Verkehr mit denjenigen jungen Frauenzimmern haben sollen, über deren Wert die Mütter selbst so geringschätzig urteilen, oder wie sie als Gäste ein Haus betreten mögen, in welchem man ihnen weniger Zutrauen gewährt als dem Diener, welcher gelegentlich den Beschützer der Töchter zu machen hat. Wir sind in der Gesittung, nach der Meinung der sogenannten großen Welt, gewiß sehr weit vorgeschritten, und sie ist in Wahrheit doch mit allem ihrem Christentum und all ihrer Kultur, mit ihrer Bildung und Erziehung, auf die sie so stolz ist, nicht wesentlich über die Kultur des orientalischen Harems hinausgekommen; denn es gibt keine Sittlichkeit ohne persönliche Freiheit, wie es überhaupt keine Tugend ohne Freiheit gibt. Unsere Anstandsgesetze bringen dem Manne eine Jungfrau zum Weibe; ihm ein wahrhaft tugendhaftes sittliches Weib, zu geben, müßten unsere gesellschaftlichen Zustände anders, müßten unsere Mädchen freier und selbständiger erzogen und unsere Kultur mehr sein, als eine Hecke von Präventivmaßregeln, hinter welchen man sich gegen eine Roheit und Unsittlichkeit verschanzt, die doch glücklicherweise zu den Ausnahmen in unserer Gesellschaft gehören. Alle Fenster zu vermauern, weil hier und da ein unvorsichtiges Kind zum Fenster hinausgefallen ist, ein Kranker sich hinausgestürzt hat, wäre sicherlich eine sehr törichte Maßregel.
Der Mangel an Verdienst treibt die Frauen
in die Arme der Prostitution
[48]Es muß dem Weibe Gelegenheit gegeben werden, seinen Weg durch das Leben selbst zu finden, oder mit anderen Worten, das tägliche Brot sich selbst zu verdienen. Die Befähigteren müssen es finden können als Lehrerinnen, besonders der weiblichen Jugend, als Künstlerinnen, in den Comptoiren usw., in Handel und Wandel. Bei der Organisation der Arbeit muß man auch des Weibes sich annehmen, es muß zu allen den Arbeiten zugelassen werden, zu denen seine
Kräfte sich eignen. Unter den arbeitenden Klassen ist jetzt das Weib viel schlimmer daran als der Mann. Es kann sich tagelang abmühen und wird doch kaum halb soviel verdienen als er. Dieser Mangel an Verdienst, ja überhaupt an Arbeit, an einer sicheren Stellung im Leben wirft die Frauen in die Arme der Prostitution. Die einen gibt sie der öffentlichen Schande und Verachtung preis, die anderen dulden ihre geheime Schmach in einer aus Berechnung, ohne Liebe geschlossenen Ehe.
Adresse eines Mädchens
[49]an den hochverehrten Herrn Minister Oberländer, an
die durch ihn berufene Arbeiterkommission und an
alle Arbeiter
- Meine Herren!
Indem ich mir erlaube, eine Adresse an Sie zu richten, welche weiter keine Unterschrift trägt als den einfachen Namen eines Mädchens, so kann diese Freiheit nur entschuldigt werden durch das unbegrenzte Vertrauen, welches ich in das Ministerium des Innern setze, durch die Wichtigkeit, welche ich der Arbeiterkommission beilege, und durch den Anteil, welchen ich von jeher an dem Lose der arbeitenden Klassen genommen habe.
Meine Herren! Mißverstehen Sie mich nicht: Ich schreibe diese Adresse nicht trotzdem, daß ich ein schwaches Weib bin - ich schreibe sie, weil ich es bin. Ja, ich erkenne es als meine heiligste Pflicht, der Sache derer, welche nicht den Mut haben, dieselbe zu vertreten, vor Ihnen meine Stimme zu leihen. Sie werden mich deshalb keiner Anmaßung zeihen können, denn die Geschichte aller Zeiten hat es gelehrt, und die heutige ganz besonders, daß diejenigen, welche selbst an ihre Rechte zu denken vergessen, auch vergessen wurden. Darum will ich Sie an meine armen Schwestern, an die armen Arbeiterinnen mahnen! Meine Herren - wenn Sie sich mit der großen Aufgabe unserer Zeit: mit der Organisation der Arbeit, beschäftigen, so wollen Sie nicht vergessen, daß es nicht genug ist, wenn Sie die Arbeit für die Männer organisieren, sondern daß Sie dieselbe auch für die Frauen organisieren müssen.
Sie wissen es alle,daß unter den vorzugsweise sogenannten arbeitenden Klassen die Frauen so gut wie die Männer für das tägliche Brot arbeiten müssen. Ich will mich hier nicht dabei aufhalten, nachzuweisen wie, weil die Frauen nur zu wenig Arten von Arbeiten zugelassen sind, die Konkurrenz in denselben die Löhne so herabgedrückt hat, daß, wenn man das Ganze im Auge behält, das Los der Arbeiterinnen noch ein viel elenderes ist als das der Arbeiter. Sie werden es alle wissen, daß es so ist, und wenn Sie es noch nicht wissen, so setzen Sie Kommissionen ein, die es Ihnen werden bestätigen müssen. - Nun kann man zwar sagen: Wenn die Männer künftig besser als jetzt bezahlt werden, so können sie auch besser für ihre Frauen sorgen und diese sich der Pflege ihrer Kinder widmen, statt für andere zu arbeiten. Einmal, fürchte ich, wird das Los der arbeitenden Klassen nicht gleich in diesem Maße verbessert werden können, und dann bleibt immer noch die große Schar der Witwen und Waisen, auch der erwachsenen Mädchen überhaupt, selbst wenn wir die Gattinnen und Mütter ausnehmen. Ferner heißt dies aber auch, die eine Hälfte der Menschen für Unmündige und Kinder erklären und von den andern ganz und gar abhängig machen. Es heißt dies, um es gerade herauszusagen: die Sittenlosigkeit, das Verbrechen begünstigen. Ein Mädchen, das als Arbeiterin ihr Dasein nur kümmerlich fristen kann, wird ihr ganzes Bestreben darauf richten, einen Mann zu bekommen, durch den sie diesen Sorgen enthoben wird - ist sie schon verderbt, so gibt sie sich aus Berechnung dem ersten besten Mann hin, damit er sie, wenn auch nicht um ihrer selbst, doch um ihres Kindes willen heirate - oder wenn sie auch nicht so tief gesunken, heiratet sie doch den ersten besten, gleichviel ob sie ihn liebt und zu ihm paßt oder nicht. Auf alle Fälle wird die Zahl der unglücklichen, unmoralischen, leichtsinnig geschlossenen Ehen, der unglücklichen Kinder und der unglücklichsten Proletarierfamilien auf eine bedenkliche Weise gerade dadurch vermehrt, daß das Los der alleinstehenden Arbeiterinnen ein so trauriges ist. Ich habe hier noch gar nicht auf die schlimmste Folge des weiblichen Proletariats aufmerksam gemacht - es ist die Prostitution. Ich erröte, daß ich dies Wort vor Ihnen nennen muß - aber mehr noch als darüber erröte ich über die sozialen Zustände eines Staats, der Tausenden seiner armen Töchter kein anderes Brot zu geben vermag als das vergiftete eines scheußlichen Gewerbes, das sich auf das Laster der Männer gründet!
Meine Herren! im Namen der Moralität, im Namen des Vaterlandes, im Namen der Humanität fordere ich Sie auf: Vergessen Sie bei der Organisation der Arbeit die Frauen nicht!
Sie, hochverehrter Herr Minister, werden sie nicht vergessen, denn Sie haben ein Herz für alle Leiden des Volks! - Sie haben an die armen verhungernden Klöpplerinnen, an den allgemeinen Notstand schon damals gedacht, als Ihr prophetisches Wort: daß es, wenn es so fortgehe wie bisher, nur noch hundert Reiche und Millionen Arme geben werde, innerhalb der Kammer spurlos verhallte und nur draußen in die dankbaren Herzen der Armen und ihrer Freunde fiel! - Auch das Los der armen Arbeiterinnen werden Sie jetzt in Ihre und darum in die besten Hände nehmen und werden auch mir nicht zürnen, daß ich meine schwache Stimme für einen Teil des Volks erhob, der noch nicht gewagt, seine Interessen selbst zu vertreten.
Und Sie, meine Herren, die Sie zur Prüfung und Regelung der Arbeiterverhältnisse mit berufen sind -denken Sie auch an das schwächere Geschlecht, das, weil es sich nicht selbst zu helfen vermag, ein heiliges Recht hat, diese Hülfe von Ihnen, dem stärkern Geschlecht, tu fordern! Vergessen Sie auch die Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhnerinnen, Strickerinnen, Naherinnen usw. nicht - fragen Sie auch nach Verdienst, nach dem Druck, unter dem sie schmachten, und Sie werden finden, wie nötig hier Ihre Hülfe ist.
Und auch für Sie, meine Herren, auch für Sie, die ganze große Schar der Arbeiter, habe ich diese Adresse geschrieben. Auch Sie haben als das stärkere Geschlecht die Pflicht, sich des schwächern anzunehmen! Sind es nicht Ihre Frauen, Schwestern, Mütter und Töchter, deren Interessen es zu wahren gilt, so gut wie Ihre eigenen? - Statt dessen hat es in Berlin geschehen können, daß die Fabrikarbeiter, die eine Verbesserung ihres Loses begehrten, darauf drangen, daß aus den Fabriken alle Frauen entlassen würden! - Das ist ein Mißbrauch des Rechts des Stärkern! - Arbeiter! ich bin überzeugt, die Mehrzahl von Ihnen ist von einem andern Geist erfüllt! - Nein, geben Sie nicht zu, daß fortan noch das Elend Ihre Töchter zwingt, noch ihr einziges Besitztum - ihre Ehre, da man ihre Arbeitskraft verschmäht, an den lüsternen Reichen zu verkaufen] - Dulden Sie nicht ferner, daß diese Schande im Geleit der Armut ist! Denken Sie nicht nur daran, wie Sie sich selbst, sondern auch wie Sie Ihren Frauen und Töchtern Brot verschaffen können! Ich bin gewiß, meine armen Schwestern teilen meine Gefühle, aber ihre Tage gehen so in Not und Stumpfheit dahin, daß sie nicht wagen, wie es die Männer tun, ihre Bitten und Wünsche öffentlich auszusprechen. So habe ich dies allein für sie zu tun gewagt durch das einzige Mittel, durch das es mir möglich ist, eine Wirkung für das Allgemeine wenigstens zu versuchen — durch die Presse. Möchte es mir gelungen sein, Ihre Aufmerksamkeit auf die Lage der Arbeiterinnen und der Notwendigkeit einer Verbesserung derselben gelenkt zu haben!
Louise Otto
Wohl auf denn, Schwestern,
vereinigt Euch mit mir
[50]Die Geschichte aller Zeiten, und die heutige ganz besonders, lehrt: daß diejenigen auch vergessen wurden, welche an sich selbst zu denken vergaßen! - Das schrieb ich im Mai des Jahres 1848 hinaus in die Welt, als ich zunächst meine Worte an die Männer richtete, die sich in Sachsen mit der Frage der Arbeit beschäftigten - ich mahnte sie damit an die armen Arbeiterinnen, indem ich für meine Schwestern das Wort ergriff, auf daß sie nicht vergessen wurden! Dieser selbe Erfahrungssatz ist es, welcher mich zur Herausgabe einer Frauen-Zeitung veranlaßt. Mitten in den großen Umwälzungen, in denen wir uns alle befinden, werden sich die Frauen vergessen sehen, wenn sie selbst an sich zu denken vergessen! Wohlauf denn, meine Schwestern, vereinigt Euch mit mir, damit wir nicht zurückbleiben, wo alle und alles um uns und neben uns vorwärtsdrängt und kämpft. Wir wollen auch unser Teil fordern und verdienen an der großen Welterlösung, welche der ganzen Menschheit, deren eine Hälfte wir sind, endlich werden muß.
Wir wollen unser Teil fordern: das Recht, das Rein-Menschliche in uns in freier Entwickelung aller unserer Kräfte auszubilden, und das Recht der Mündigkeit und Selbständigkeit im Staat. Wir wollen unser Teil verdienen: wir wollen unsere Kräfte aufbieten, das Werk der Welterlösung zu fördern, zunächst dadurch, daß wir den großen Gedanken der Zukunft: Freiheit und Humanität (was im Grunde zwei gleichbedeutende Worte sind), auszubreiten suchen in allen Kreisen, welche uns zugänglich sind in den weiteren des größeren Lebens durch die Presse, in den engeren Familien durch Beispiel, Belehrung und Erzeihung. Wir wollen unser Teil aber auch dadurch verdienen, daß wir nicht vereinzelt streben nur jede für sich, sondern vielmehr jede für alle, und daß wir vor allem derer zumeist uns annehmen, welche in Armut, Elend und Unwissenheit vergessen und vernachlässigt schmachten.
Wohlauf, meine Schwestern, helft mir zu diesem Werke! Helft mir für die hier angedeuteten Ideen zunächst durch diese Zeitung wirken! -
Ich meine nun zwar alles gesagt zu haben, was über die Tendenz dieser Zeitung zu sagen ist - aber leider muß ich denen recht geben, welche mir zuflüstern, umgekehrt von der gewöhnlichen Redensart, »es sei mit dem Positiven nicht genug«: ich müsse auch noch Negatives hinzufügen - will hier sagen: ich müsse mich und diese Zeitung vor Mißverständnissen schützen. - Nein! ich kann darüber keine Worte machen!
Ich berufe mich auf mein Leben, auf mein schriftstellerisches Wirken seit 1843 - wer etwas davon kennt,
wird wissen, daß ich nicht zu den sogenannten »Emanzipierten« gehöre, zu denen, welche das Wort »Frauenemanzipation« in Mißkredit gebracht haben, indem sie das Weib zur Karikatur des Mannes herabwürdigten. Für diejenigen, die noch nichts von mir wissen, möge einstweilen die Versicherung genügen, daß ich eben durch die Tendenz dieser Zeitung dem Irrtum entgegenzuarbeiten hoffe, welcher oft gerade die begabtesten Frauen veranlaßte, ihr Streben nach geistiger Freiheit in der Zügellosigkeit der Leidenschaften zu befriedigen. - Man wird also weder mich noch meine mitarbeitenden Schwestern zu diesen »Emanzipierten« werfen können, wohl aber werden wir stolz darauf sein, wenn man uns Nachfolgerinnen jener edlen Jungfrau aus Bethanien nennt, von welcher das leuchtende Vorbild aller Menschen sagte:
»Maria hat das bessere Teil erwählt!« -
So fordere ich denn hiermit alle gleichgesinnten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, welche für die Rechte der Frauen in die Schranken traten, auf, mich bei diesem Unternehmen durch Beiträge zu unterstützen. Ich bitte auch diejenigen meiner Schwestern, die nicht Schriftstellerinnen sind, um Mitteilungen, zunächst die Bedrückten, die armen Arbeiterinnen, auch wenn sie sich nicht geschickt zum stilisierten Schreiben fühlen; ich werde ihre einfachen Äußerungen gern, wenn nötig, verdolmetschen - aber es liegt mir daran, daß gerade ihre Angelegenheiten vor die Öffentlichkeit kommen, so kann ihnen am ersten geholfen werden.
Alle Gesinnungsgleichen lade ich zum recht zahlreichen Abonnement ein, damit das Unternehmen gedeihen könne!
Louise Otto
Ehrgeiz schickt sich nicht für alle
[51]Für eine Frau ist es aber meistens ein Unglück, wenn sie in ihrer Seele dieses rastlose, nimmer ermattende, ewig brennende, ewig schmerzende und nie zu befriedigende Feuer des Ehrgeizes trägt; wenn diese, dem Manne bestimmte Gabe, dieser Genius aller großen Taten, sich einmal in eine Frauenseele verirrt hat, so wird sie leiden und sterben müssen an den Zuflüsterungen dieses Genius, der für sie nichts ist als ein Dämon, welcher ihr täglich tantalische Qualen bereitet. Was soll den Weibern der Ehrgeiz! Wir haben in unsern Staatseinrichtungen keine einzige Sprosse, keine einzige Stute, zu der das Weib emporklimmen könnte oder dürfte, kein einziges öftentliches Ziel, zu dem das Weib ihre Arme emporstrecken und rufen könnte- >Ich will Dich erreichen, dich erreichen, du sollst mich verklären und meinen Namen erheben!< Ist doch nach dem Ausspruch eines großen Dichters das die beste Frau, von der niemand spricht! Arme deutsche Frauen, deren einziger Ehrgeiz sein soll, ungenannt und ungekannt an der Fessel harter Notwendigkeit und Pflicht durch das Leben zu gehen, oder indem ihr euch frei macht, die ganze Welt im Kampf gegen euch zu sehen; der Neid, die Erbitterung, im Kampf gegen eure Begeisterung und Glut! -Eva war ehrgeizig, sie fühlte in sich dies mächtige Drängen und Wogen einer vorwärtsstrebenden, verlangenden Seele; sie fühlte ihre Seele die Schwingen regen und gegen ihre Brust schlagen mit der Sehnsucht nach Freiheit, und sie wußte nicht, wohin sich retten mit all diesen neuen und stürmischen Gefühlen, die wie eine zerstörende Woge über ihr Herz hingefahren waren, um alles zu zerstören, was bis jetzt darin angebaut worden. Aber auch etwas Gutes hatte dieser kaum erwachte Ehrgeiz schon in ihr bewirkt; sie gedachte jetzt ohne Erröten, ohne Herzklopfen des schönen Victor von Sendeck, sie hatte alle seine Worte vergessen, alle seine schönen Phrasen, sie erinnerte sich nur, daß er gesagt hatte, sie würde eine Zierde der Gesellschaft sein, und ihr Ehrgeiz, dem es versagt war, nach dem Größern und Höhern zu streben, stürzte sich nun auf das Nichtige und Kleine; da ihm die Welt versagt war, wollte er sich mindestens die Gesellschaft erobern. [...]
Der Ehrgeiz war in ihr erwacht, und ihr ganzes Wesen glühte jetzt, diesen zu befriedigen. Man hatte sie für befähigt gehalten, diese schwierige Mission nach Holland zu übernehmen. Einem Weibe hatte man Klugheit, Besonnenheit und Verschlagenheit genug zugetraut, um das zustande zu bringen, woran die staatsklugen Diplomaten verzweifelten. Sie war berufen worden, um endlich dieses übermütige Vorurteil der Männer, welches die Frauen von jeder geistigen Berufstätigkeit entfernte, zu widerlegen, um diesen hochmütigen Herren der Schöpfung zu beweisen, daß das Weib mit denselben Fähigkeiten, derselben Geisteskraft und Energie von der Natur ausgerüstet und daß Gott sie nicht dazu verdammt, die gedankenlose Sklavin des Mannes zu sein, sondern daß sie das gleichberechtigte, gleichbefähigte, denkende Wesen, welches Gott an die Seite des Mannes gestellt als die ihm ebenbürtige Ergänzung seines Selbst! Das war die Aufgabe, welche Aphra Behn sich gestellt, indem sie diese Mission nach Holland übernommen, und diese Aufgabe, welche sie eine heilige nannte, trachtete sie mit der ganzen Kraft ihres Wesens zu erfüllen!
Aber freilich, die allgütige Natur hatte ihr eine große und siegreiche Waffe gegeben, mit der sie die ihr Widerstehenden bekämpfen konnte. Diese Waffe, das war ihre Schönheit und ihre Jugend, dieses zweischneidige Schwert, mit welchem sie Wunden austeilte, welche sie niemals heilen wollte!
Aber sie wollte siegen, sie wollte sich alles unterwerfen und dienstbar machen. Es war ihr eine grausame Freude, diese stolzen Männer sich vor ihr demütigen und sie unterliegen zu sehen, und dennoch, wenn sie mit ihrem Lächeln und ihren flammenden Augen, mit ihrer anmutsvollen Heiterkeit und ihrem lieblichen Spott immer neue Sklaven zu ihren Füßen fesselte, lächelte sie verächtlich dazu. Diese Männer, sagte sie dann zu sich selber, wie kleinlich sind sie und wie erbärmlich alle! Ein bißchen jugendliches Fleisch und Blut, das besticht sie, das reißt sie hin, weiter nichts! Wenn man dieser Aphra Behn, welche sie heute alle anbeten, wenn man ihr plötzlich das Gesicht und die Gestalt eines alten Weibes gäbe, sie bürden achtlos an ihr vorübergehen, und meine Worte und meine Scherze würden keinen Eindruck mehr auf sie machen, weil sie nicht von purpurnen, sondern von verwelkten Lippen gesprochen würden.
Ein Brief an die Herausgeberin
-
[52]Ich erlaube mir folgenden, an mich persönlich gerichteten Brief mitzuteilen, da er insbesondere für die Leserinnen und Mitarbeiterinnen dieser Schrift von Interesse sein wird. Mit dem Vorwurf, welchen er über die Art der Darstellung enthält, erkläre ich mich durchaus einverstanden und werde mich gewiß bemühen, diesen großen Fehler abzulegen, wie ich dies ebenfalls meinen Mitarbeiterinnen empfehle. Es ist freilich sehr schwer, sich auf etwas zu stützen, ehe ein neues Fundament gegeben ist. Das Leben der Frauen bedarf einer solchen Umwälzung, daß man eigentlich nur gegen das Bestehende ankämpfen kann. Solange wir uns nicht in gemeinsamen Beratungen aussprechen und unsere Ansichten gegeneinander austauschen, haben wir keine Basis, auf die wir aufbauen und von Worten zur Tat übergehn könnten. Das vereinzelte Schreiben ist gleich vereinzelten Atomen, die hin und her fahren, ohne zu einem organischen Leben zu gelangen. Wir können bei unserer charakterlosen Stellung immer nur von Allgemeinheiten ausgehen und zu Allgemeinheiten hinführen, und gerade in dem Individuellen, dem Besondern liegt die anziehende wie die treibende Kraft. Das Leben hat uns bis jetzt wie eine Herde Schafe eingepfercht, und da gibt es nur einige Hauptmerkmale, 1. daß wir uns alle beengt fühlen, 2. daß wir uns gegenseitig im Weg stehn und 3. daß wir heraus möchten.
Die Redaktion
Den 8. April
- »Sie werden es gewiß nicht seltsam finden, liebes Fräulein, wenn sich Ihnen die Unbekannte so ohne weiteres naht, Sie würden es nicht, auch wenn keine Vermittlung zwischen uns stattgefunden hätte, nun um so weniger, da Sie durch Elisabeth A. wenigstens von meiner Existenz und Richtung wissen. Ist es doch nur einfach und natürlich, daß wir, die wir das Bedürfnis oder vielmehr die Notwendigkeit der Verbesserung unserer Lebenszustände fühlen, zuerst danach greifen: uns in Verbindung mit den Gesinnungsgenossen zu setzen, uns dem Bunde anzuschließen, durch den wir zur Wirksamkeit und zur Tat erstarken. Zwar gibt es vor der Klarheit des Bewußtseins keinen Zweifel mehr über unser Wollen und Müssen, und ständen wir auch ganz allein inmitten widerstrebender Kräfte, wir würden den Kampf für unsere Überzeugung beginnen, einerlei, ob wir dabei untergingen oder mit Erfolg kämpften, aber wieviel schöner und beglückender, weil erfolgreicher, es ist, im Bunde mit edlen Menschen, an der Hand lieber Freunde zu gehn, bedarf keiner Versicherung, und ich habe fast schon zuviel Zeit damit verloren, denn wir beide wissen das alles und brauchen es uns nicht erst zu sagen. Lassen Sie mich denn nur ein Wort hinzufügen, einfach und wahr, wie es sich zwischen denen ziemt, die arbeiten wollen, um die Welt der Lüge und des hohlen Scheins zu vernichten. Nach allem, was ich von Ihnen weiß, aus Ihren eignen Worten, von Elisabeth und durch Fröbel, glaube ich zweifellos an Sie und komme in Vertrauen und Liebe zu Ihnen, ob Sie mich aufnehmen wollen zur tätigen Hülfe bei Ihrem schönen Streben. Eine weiter unter keinen außergewöhnlichen Verhältnissen, aber doch im steten Kampfe mit den Hindernissen der alten Welt, fortgesetzte folgerechte Entwicklung zur Freiheit liegt insoweit hinter mir, als die Klarheit der Erkenntnis über das Wollen nun hinausdrängt zum Tun und ich auch keinen höhern Beruf vor mir sehe, als an der Befreiung unseres Geschlechts aus unwürdigen Verhältnissen zu arbeiten mit dem heiligen Ernst, der zu dem Wohlgefallen an der Anmut und Schönheit des Weibes auch notwendig die Achtung und Anerkennung vor seiner Würde, seinem Wollen und Können fordert. Daß diese Forderung nur durch uns selbst gerechtfertigt werden kann, daß zu dem Ende die Einsichtsvolleren unter uns tätig werden müssen, um zu wecken, zu beleben und zu erziehen, unterliegt keinem Zweifel, und ich wüßte kaum, wie man es verantworten sollte, wenn man sich dieser Aufgabe entzöge, sobald die Einsicht sie begriff und die Fähigkeiten dafür da sind. - Dennoch aber ist es ein anderes Verhältnis, in welches ich zu Ihnen trete, als vielleicht die andern gelehrten Frauen, die Ihnen Mitwirkung versprechen, denn zu denen gehöre ich nicht. Verhältnisse, die meine Erziehung durchkreuzten und die große Geisteseinsamkeit, in der ich leider hier lebe, haben noch viele Lücken in meiner Bildung gelassen, aber ich habe freilich eine selbstschöpferische Natur, und eigne Erfahrungen und Nachdenken haben in mir zur Reife gebracht, was ich eben nur wiederzuerkennen brauche. Das positive Wissen aber, das allerdings notwendig ist, läßt sich ja mit Eifer nachholen, ich komme daher nun zu Ihnen, nicht in bloß geistiger Gemeinschaft des Verstandes und Wissens, sondern ich gehe direkt auf Ihr Herz zu und will mir da eine Stelle erobern, damit, wenn ich Ihnen helfen soll arbeiten, Sie auch mir helfen und mir eine Freundin und Führerin werden, wodurch denn für uns beide neben der Arbeit noch ein heimlich Glück entkelmt, das entsteht, wenn ein Herz das andere zu seiner Heimat macht. Ich muß noch viel von Ihnen lernen, und das geht viel besser, wenn man sich liebt, d. h. in solch einem Verhältnis; denn es gibt auch ein Lernen außerdem, das in sich selber seine Lust hat. -
Dies soll Ihnen aber nur andeuten, wie ich mich zu ihnen stelle, denn ich verlange nicht, daß Sie von diesem grünen Blatte aus mich gleich in Ihr Herz schließen, ich sehe vielmehr mit der Zuversicht in die Ferne, daß, wenn wir uns finden, es auf ein oder die andere Weise möglich zu machen sein wird, daß wir einmal eine Weile zusammenleben, wo dann mündlich alles sich schneller ergänzen läßt, was auf dem Papier zu lang und zu ermüdend ist.
Nun möchte ich gern von Ihnen recht in Ihre Intentionen eingeweiht werden. Ich würde Ihnen dann nächstens einen oder den andern kleinen Aufsatz zuschicken, der Ihrer Kritik anheimfiele, welche, je aufrichtiger sie sein wird, desto willkommner. Daß jeder solcher Aufsatz eine unmittelbar praktische Seite haben muß, begreife ich als Ihren Absichten gemäß, denn wir wollen ja gerade die getrennten Welten vereinigen und die Träumenden aus dem Wahne wecken, daß ihr Leben hier nur ein Gehenlernen am Gängelbande fremder Fürsorge sei, sondern daß wir in eine demokratische Lebensordnung gesetzt sind, wo jeder ein freier, für sich selbst verantwortlicher Mensch sein soll. - Zunächst würde es wohl ein Aufsatz über Religion sein, welcher in sehr kurzer Entwicklung die Schleiermachersche Theorie widerlegen sollte, daß die Religion nur Abhängigkeitsgefühl und nur im Empfinden begründet sei, den ich unlängst schrieb. Meinen Namen beizufügen trage ich kein Bedenken, denn ich bin nun so weit, daß ich mit der stillen Uner-schrockenheit, die keine Arroganz ist, sich nicht aufdrängt, aber auch nicht fürchtet, mein Zeugnis ablege vor der Welt. Zur Verbreitung der Zeitschrift beizutragen mache ich mir natürlich zur Pflicht. Hätte ich etwas dabei zu erinnern, so wäre es das, daß sie eben auch wieder nur zu sehr für die schon Gebildeten und Edleren unseres Geschlechts und der Gesellschaft überhaupt ist. Ihre so geistvollen, scharfsinnigen und in edelster Ausdrucksweise gegebnen Aufsätze setzen doch eine schon sehr große Reife voraus; aber ich fühle freilich die Schwierigkeit sehr wohl, durch diese Art der Mitteilung einen allgemein faßlicheren Weg einzuschlagen, solange es uns nur möglich ist, schriftlich zu wirken und nicht durch Erziehung, mündlichen Vortrag, Vorstellungen mannigfacher Art, der Kunst usw. Gewiß aber sind Sie auch mit mir der Meinung, daß wir auch keine Aristokratie des Geistes mehr wollen, uns nicht, wenn es auch der feinste Egoismus ist, mehr abschließen wollen in eine zu den edelsten Genüssen befähigtere Kaste, sondern uns selbst verleugnen, indem wir die uns vertraute Sprache umstimmen in den schlichten einfachen Volkston, der die ewigen Gedanken den Unmündigen und Vernachlässigten nahebringt und ihnen die Augen öffnet für das Licht.
Alles dieses, tausend anderes, habe ich mit Ihnen zu besprechen, wünsche mir Ihre Meinung, Ihre Belehrung darüber, Ihren Rat für meine Studien auf der von uns erwählten Bahn, kurz so ziemlich alles, was man von einer Freundin zu verlangen pflegt. - Aber es ist doch wohl besser, daß ich nun erst einhalte und Ihrer Antwort harre, ob Sie auf den Bund auch eingehn und weiter von mir hören wollen. Bis dahin: leben Sie wohl.«
Erwiderung
- Ihr Brief, l. F., hat mich sehr erfreut. Es gereicht mir immer zur aufmunternden Genugtuung, wenn ich in meinen Bestrebungen erkannt werde, und mehr noch, wenn ich einsichtsvolle Mitarbeiter dafür finde. Sie selbst legen keinen Wert auf fruchtloses Anlernen, das von keinem belebenden Gedanken geleitet wird, darum darf ich ohne Scheu alle die Voraussetzungen von mir abweisen, die Sie über mein Wissen usw. hegen. Ich nehme nichts in Anspruch als den Willen, das als recht Erkannte zu fördern. Aber der Wille muß stark sein, daß er alle die Hemmnisse zu überwinden nicht ermüdet, die sich demselben sowohl innerlich wie äußerlich entgegenstemmen. Es ist eine dornenvolle Laufbahn, die wir Gleichgesinnte betreten, und oft verzweifle ich an der Kraft, ein Feld zu bebauen, das zuvor erst urbar gemacht werden muß; gegen Vorurteile und Gewohnheiten zu kämpfen, die dem eignen Geschlecht zu Glaubenssatzungen und, was das Schlimmste ist, zur andern Natur geworden sind. Sie wünschen meine Ansichten und Absichten in dieser Beziehung näher kennenzulernen; aus der Art, wie ich dazu gelangte, werden sich diese von selbst ergeben. Seit meiner frühesten Jugend empfand ich nichts schmerzlicher als die Nichtachtung und Geringschätzung meines Geschlechts. Ich fühlte dies so tief, daß mir oft war, als ob ich selbst in einer Seelenwanderung alle Erniedrigungen desselben durchlebt hätte. Eine Mißhandlung selbst des gemeinsten Weibes, wie der leiseste Zweifel an weibliche Befähigung, die Uberhebung der oft sehr unbegabten Männer, überhaupt das Vorausbestimmen, das Oktroyieren weiblicher Eigentümlichkeit empörte und erbitterte mich oft so sehr, daß es mir das Leben unerträglich gemacht hätte, hätte ich nicht mit aller Kraft der Seele dagegen angekämpft. Ich sah und hörte nichts als das Profane und Profanierende in der allgemeinen Lebensanschauung und Lebensweise; alle Verhältnisse der Frauen schienen mir beleidigend und unstatthaft, vor allem aber erschien mir die Ehe als der Zentralpunkt aller Entwürdigung und Knechtung. So lernte ich zwar nur eine Seite des Lebens, aber diese von Grund aus erfassen, und wenn sich mir die Schattenseite so tief einprägte, so spricht dies weniger für einen trüben Blick, als daß die Lichtseite zu schwach war, ihn aufzuhellen. Erst nach meiner Seelenwanderung durch die stygischen Schatten gelang es mir, mich auch auf der Oberwelt etwas umzusehen. Ich finde die Keime zum Schönen und Guten überall, und das zu Erreichende dehnt sich vor mir bis zu unermeßlicher Weite aus; ich lebe nur in dem Gedanken der Freiheit, der Vervollkommnung, und es ist vielleicht diese fast leidenschaftliche Begeisterung für die allseitige Erhebung des Menschen, die mich meine Kräfte zersplittern läßt, und jene reizbare Empfindlichkeit gegen erniedrigende Voraussetzungen, die mich bisher nicht mit der Energie handeln ließ, wie sie doch meine Anschauungsweise bedingt. Mein Hang, der Wahrheit auf den Grund zu gehn, lenkte meinen Sinn vorzugsweise auf wissenschaftliche Werke, aber leider, möchte ich sagen, auf alle Zweige; ich suche mich überall nur zu orientieren, ich trachte nach einem Oberblick über das Ganze, nach einem Begriff vom Leben und vom menschlichen Wesen, nach einer Begründung dessen, was ich für recht erkannte. Feuerbachs »Wesen des Christentums« gab mir den Mut, in der Ankämpfung gegen die höchste, zugleich gegen jede oktroyierte Autorität anzukämpfen. Mehrere meiner Schriften, die damals ohne Namen erschienen, würde ich jetzt nicht mehr schreiben, und doch würde ich ohne dieselben nicht über meinen damaligen Standpunkt hinausgekommen sein. Ohne das Zerreißen der letzten, verstecktesten Fessel, des verborgensten Fädchens, das so geheimnisvoll hinüber- und herübergleitet, können wir uns nicht frei machen von den Nachwirkungen einer Moral, die uns von frühester Jugend an umspinnt und die namentlich für das weibliche Geschlecht zu einem meist undurchdringlichen Netz wird.
Ich glaubte, freisinnig zu sein und meiner Überzeugung große Opfer bringen zu können, und je weiter ich gehe, desto mehr ertappe ich mich auf einem Widerstreben, geheiligte Schranken zu durchbrechen, gegen Formen zu verstoßen, und doch würde ich in Widerspruch mit mir selbst geraten, wollte ich auf dem betretnen Weg nicht noch viel weiter gehn, als ich gegangen bin. Es ist viel leichter, mit Prinzipien kämpfen, als die Konsequenzen daraus ziehn, viel leichter, dem Atheismus huldigen, als z. B. die Staatsehe für eine Unsittlichkeit zu erklären. Zu den tief-gewurzelten Vorurteilen, die mir entgegentreten, gesellt sich die Abneigung gegen reformatorische Frauen, und man ist viel milder gegen Übertretung der Schranken als gegen Bekämpfung derselben. Doch das sind vormärzliche Phantasien, und wir müssen zu den Märzerrungenschaften auch die zählen, uns mit Gleichmut anfeinden zu lassen.
Mit unsrer Revolution beginnt tatsächlich eine neue Stufe der Entwicklung, die sich längst in der Idee vorbereitet hat. Es ist diese ein Gegensatz zu der frühern, die auf dem Grundsatz der Bevormundung und Abhängigkeit, der Einschränkung und Einschüchterung ruhte, ein notwendiges Ergebnis der Unreife. Da diese Lebensanschauung sich in allen Verhältnissen kristallisiert hat, bis in die innerste Empfindung eingedrungen ist - weshalb sich auch das Volk so schwer seiner Fesseln entledigt und nur eine nach der andern zu zerreißen wagt -, so ist es unsere Aufgabe, in Wort und Tat jenen Gegensatz recht deutlich hervorzuheben und in allen Zuständen die Erhebung, Selbsterhebung und Unabhängigkeit, die ungehemmte Entwicklung, vor allem aber statt der Einschüchterung die Ermutigung und das Selbstgefühl geltend zu machen.
Sie und mit Ihnen so viele, wie auch ich, bauen auf Erziehung; aber was läßt sich nicht alles darunter begreifen. Aufklärung, Selbsttätigkeit, Leben ist Erziehung; die Erziehenden bedürfen der Erziehung zumeist und zuerst, und wie sehr bedarf die jetzige Generation der Aufgeklärten noch der Aufmunterung und Selbsterhebung, um das kommende Geschlecht zum Bewußtsein der Menschenwürde, zum Gebrauch seiner Kräfte heranzubilden.
Ein Hauptaugenmerk für uns Frauen muß aber gegenwärtig auf das Bestreben gerichtet sein, uns die Mittel zur Unabhängigkeit zu erwerben. Erwerb! Dieses Wort klingt so profan für ästhetische Zensoren, die Frau ist nur geschaffen, das Schöne zu pflegen, entgegnet man. Aber täuschen wir uns nicht, nicht im Erwerb liegt das Unschöne, sondern in der Art des Erwerbs ist dies zu suchen, und wahrlich, die jetzigen so verzweifelten Erwerbsarten des weiblichen Geschlechts bricht diesem sophistischen Einwand den Stab.
Solange das Geld herrscht, sind wir Sklaven ohne Geld, und wenn das Geld auf seine wahre Basis zurückgeführt ist, wenn es zum Tauschmittel wird, dann ist es dasselbe, ob ich mir Geld erwerbe oder ob ich Material zur Verarbeitung anschaffe; es kommt dann nur auf die Verwendung an, Verwendung, Tätigkeit und Erwerb stehn aber alsdann auf einer Stufe des Wertes. Es heißt die Frau der menschlichen Würde berauben, wenn man ihr das Recht der Selbsttätigkeit entzieht oder sie in der Geltendmachung desselben hemmt. Dies geschieht aber durch unsere ganze politische und soziale Einrichtung. Die Folgen sehn wir in den jämmerlichen Subsistenzbemühungen der Frauen, deren äußerste schmachvolle Spitze ich nicht nennen mag, weil mich der Zorn übermannt, ich weiß nicht, ob mehr über die Stupidität, die diesen Zusammenhang nicht erkennt, oder über die Sache selbst.
Mit Schleiermachers Ergebenheitsphilosophie bin ich, wie Sie wohl sehn werden, sowenig einverstanden wie Sie; es ist die Theorie des »passiven Widerstands«, dessen lehrreiche Wirkung wir in der Politik recht in der Nähe beobachten konnten. Unglaublich ist die Einseitigkeit, mit der oft geistvolle Menschen das Verhältnis der Innenwelt zur Außenwelt betrachten. Die Ergebung in den sogenannten Willen Gottes, d. h. das freiwillige Fügen in die Notwendigkeit, in das Unabänderliche enthält eine Wahrheit, aber sie wird erst vernünftig, wenn alle Mittel, die Dinge nach unserm Sinn zu wenden, erschöpft sind. Und wo ist die Grenze? Es kann sie jeder nur in seinem Vermögen und im Verhältnis seines Willens zu seiner Kraft suchen. Das bereitwillige Fügen ist daher nur ein anderer Name für das Verzagen oder für die Willen-und Kraftlosigkeit. Es zeigt von schlechtem Vertrauen auf die von der Religion so hoch gepriesene göttliche Kraft im Menschen, an dieser Kraft zu verzagen, und zeigt von wenig Energie, das Störende und Hemmende von der religiösen Seite aufzufassen, d. h. als Mittel zu innerer Erhebung und Vervollkommnung. Der Geist erstarkt wohl im Kampf mit Widerwärtigkeiten, aber er erschlafft noch viel mehr in der ruhigen Ergebung, im passiven Widerstand. Meine Philosophie besteht darin, niemals im Kampf mit Widerwärtigem zu erlahmen, immer zum Kampf zu ermutigen, und solange unsere politischen und religiösen Zustände noch so durchaus nur die Ergebenheitsmoral predigen, lieber die eine Seite der Wahrheit: Geduld und Fügsamkeit, zu überspringen. Aber ich glaube auch nicht an die Unwandelbarkeit der Dinge und halte alles für möglich, was der Mensch zu erreichen oder zu werden sich innerlich gedrängt fühlt. Schleiermachers Ansichten vom Leben gehören in den Mäßigkeitsverein, wie die Freiheiten des Konstitutionalismus. Die Vergangenheit soll uns nie zum Prokrustesbett der Zukunft werden, wie den Geschichtsauslegern in der Paulskirche. Die Wahrheiten der Vergangenheit sind nur da, um sie zu bekämpfen. So heißt es auch, die Frau ist zum Leiden und Dulden bestimmt, aber diese Wahrheit ist zum Verzweifeln, und ich betrachte es daher als eine Lebensaufgabe, ihr zu nahe zu treten und keinen Versuch zu scheuen, wo und wie ich kann, sie zu vernichten. So ist es mit allen menschlichen und religiösen Wahrheiten: es sind Ideen, Ideale aus der Erfahrung geschöpft, dem Herzen entnommen, aber sie dürfen nicht zur Vorschrift werden. Ich begreife erst jetzt die Tiefe der Wahrheiten in der christlichen Religion, nachdem ich ihren Glaubenssatzungen entgegengetreten bin. Ich begreife aber auch jetzt erst, warum sie von Tyrannen wie von Freiheitsbegeisterten für ihre Zwecke zu gebrauchen ist; es kommt nur darauf an, wo man den Lichtstrahl hinfallen läßt: auf die Notwendigkeit oder auf die Freiheit.
Die Religion darf meiner Ansicht nach nicht mehr als Glaube, sondern als Ideal aufgefaßt werden, das mit der Erkenntnis wächst und niemals beengt, sondern stets befreit. Die Religionslehre muß sich auf die Psychologie stützen, wohin sie ihrem ganzen Wesen nach gehört. Ich glaube auch, daß es unserer Zeit weniger entspricht, Wahrheiten ohne Anwendung zu erörtern, als sie unmittelbar auf das Leben und das zu Erstrebende zu beziehn — wie man die Sonnenstrahlen auffängt und sie auf einen zu erhellenden Punkt leitet. Das war es, was ich in bezug auf literarische Wirksamkeit sagen wollte: Wir müssen uns mehr dem Leben selbst zuwenden und darin einen Zweig nach dem andern, einen Mißstand, eine Forderung, einen Plan nach dem andern anschaulich machen. Leider können wir uns, ohne Luftschlösser zu bauen, oder, was dasselbe ist, sozialistische Systeme zu entwerfen, bis jetzt beinahe nur mit dem Abreißen befassen; es besteht so gut wie gar nichts, worauf wir im Sinne der Neuzeit, im Sinne der Vereinigung zum Zweck der Unabhängigkeit des einzelnen weiter bauen könnten. Und grau ist alle Theorie. Unser äußeres Leben ist durchaus uniformiert, in etwas gröberem oder feinerem Tuch, in reicher oder dürftiger Stickerei besteht der ganze Unterschied; so verschieden, so mannigfaltig auch unser inneres Leben sein mag, es schlummert noch embryonisch im Unbewußten. Wir können daher vorerst nichts tun, als hindeuten auf die noch schlummernden, aber sicher vorhandenen Kräfte und auf das Erwecken derselben durch Vereinigung. Einer allein vermag kein Haus zu bauen, und das Haus des Architekten bleibt so lange ein Luftschloß, als es nur auf dem Papier steht. Solange wir nur Architekten haben, nur Baumeister und keine Gesellen, nur Emanzipierte und keine Emanzipierenden, nur vereinzelt auftauchende Kräfte ohne Zusammenhang und Zusammenwirken, können nur enorme Talente, eine George Sand, eine Jenny Lind, die hohe Befähigung des Weibes dartun, ohne Schiffbruch zu leiden, die übrigen müssen mehr oder weniger wirkungslos verschwinden. Und ich sehe doch nicht, daß alle die Männer, die sich so wesentlichen Einfluß auf die Lebensgestaltung zuschreiben oder diesen beanspruchen, lauter Genies sind. - Wenn in Ungarn unter einem Korps von 140 Nationalgardisten 16 Frauen kämpften, so spricht dies ebenso für die Energie der weiblichen Seele als für die nationale Begeisterung, und wie nahe liegt es, diese Kräfte in ein entsprechendes Gebiet überzuleiten.