Annemarie Renger

Die Bundestagspräsidentin

Am 3.7., 15.8., 29.8. und 29.11 1985 in Bonn

Renate Lepsius: Vor einiger Zeit hast du mit einigen Freunden zur Gründung der »Kurt-Schumacher Gesellschaft« aufgerufen. Im Oktober 1985 wurde in Hannover das Parteihaus auf den Namen Kurt Schumachers umbenann und die Gesellschaft gegründet. Kann ich die Hintergründe erfahren?
Annemarie Renger: Die Gründungs Versammlung war im Sommer 1985. Unsere öffentlichen Veranstaltungen haben den Zweck, Traditionen wieder lebendig zu machen. Geschichte ist wichtig, wenn man wissen will wie alles angefangen hat und wie es nach 1945 gewesen ist. Die junge Generation ist neuerdings auch daran interessiert, sich über die Geschichte der Partei zu informieren. Es gibt auch sehr unterschiedliche Auslegungen Schumacherscher Politik. Ich habe festgestellt, daß vieles von dem, was ich persönlich miterlebt habe nicht kenntnisreich genug dargestellt wird. Ich meine, es ist auch erforderlich zu zeigen, daß die Sozialdemokratie die einzige Partei mit einem geschichtlichen Hintergrund seit 1868 ist, die eine Kontinuität der demokratischen Traditionen Deutschlands widerspiegelt. Schumacher war für eine militante Demokratie: Keine Toleranz den Intoleranten! Das war seine Erkenntnis aus Weimar.
R. L. Die Weimarer Republik und die Erziehung, die du in deinem Elternhaus, einer traditionell sozialdemokratischen Familie, erhalten hast, wurden prägend für deine Entwicklung zur Politikerin. Zwei Männer spielten dabei eine herausragende Rolle: dein Vater, Fritz Wildung, und in der Nachkriegszeit Kurt Schumacher. Fangen wir mit deinem Elternhaus an
A. R.: Mein Vater hatte das Tischlerhandwerk erlernt, ging aber bald in die Arbeitersportbewegung und wurde dort Redakteur, Geschäftsführer und schließlich ehrenamtlicher Stadtrat. Er war eine dominierende Persönlichkeit mit moralischen und politischen Prinzipien, an denen wir unsere Entscheidungen oder Verhaltensweisen immer gemessen haben. Das war eine Herausforderung, aber auch ein Maßstab, den man anerkannte. Das Herz der Familie war meine Mutter. Sie ging schon 1908 in die Partei, als Frauen erstmals eintreten durften. In unserem Elternhaus konnte jeder seine Meinung sagen. Als Kinder wurden wir vollkommen frei erzogen.
R.L.: Kannst du dich noch an deinen Vater erinnern?
A. R.: Er war für uns immer ein Gesprächspartner. Politik war Tagesgespräch. Wir waren alle im Arbeitersportverein, die Älteren in der Partei und ich bei den Roten Falken. Natürlich waren wir bei den Naturfreunden, kauften im Konsum, es war also eine traditionell sozialdemokratische Familie mit einem geschlossenen, kulturellen Milieu: ein typisch sozialdemokratisches Elternhaus. Die Arbeitervereine, die ja auch Kulturvereine oder Bildungsvereine waren, sind für uns in der Mitte der zwanziger Jahre die Grundlage unserer eigenen Bildungsinteressen gewesen, das war unser Lebenselement. Von Jugend an stehe ich durch mein Elternhaus Künstlern aufgeschlossen gegenüber. Picasso kannten wir als einen progressiven Maler, und Piscator war absolute Avantgarde. Hier war die Volksbühne in Berlin entscheidend: Kampf dem Kitsch, die Pickelhaube raus aus den Wohnstuben, das waren unsere Aktionen! Licht, Luft und Sonne haben wir für Menschen gefordert, die an der »Plumpe« im Wedding wohnten. Das war unsere Motivation für unsere Politik. Man behält, was man in der Kindheit oder als junges Mädchen aufnimmt.
R.L.: Das erinnert auch an Initiativen, die du mit einigen Abgeordneten für das Parlament ergriffen hast: einen Kunstbeirat für das Parlament zu gründen, Bonn als Bundeshauptstadt aus seinem provinziellen Schattendasein zu lösen und eine größere kulturelle Verantwortung zu geben. Welche bleibenden Eindrücke hast du aus dieser engen Elternbeziehung?
A. R.: Meine prägende Erinnerung an Weimar ist der Kampf um den Erhalt dieser Republik. Bei uns sind viele bekannte Persönlichkeiten ein und aus gegangen. Bei der Arbeitersport-Internationale 1931 in Wien marschierte ich an der Seite von Paul Lobe. Mein Vater hatte mich sehr früh, wohl weil ich das Nesthäkchen war, zu Veranstaltungen mitgenommen, so daß ich auch die letzte Verfassungsfeier 1932 im Reichstag mit dem greisen Hindenburg noch erlebt habe. Mein Vater war auch ein Mitbegründer der » Eisernen Front«, und ich trug meine blaue Falkenbluse und die drei Pfeile mit Stolz.
R.L.: 1933 bist du vierzehn Jahre alt. Das ist das Alter, in dem die politischen und sozialen Einstellungen von jungen Menschen geformt werden. Es überzeugt, wenn du sagst, daß diese Erfahrungen zu einem wichtigen Bestandteil deiner Persönlichkeit wurden.
A. R.: Ganz zweifellos. Ich habe in meiner Schule, dem Augusta-Lyzeum in Berlin, einer aufgeklärt konservativen Schule, schon damals diskutiert. Einen großen Eindruck hat unsere Oberstudiendirektorin auf mich gemacht, Frau Dr. Mayer-Kulenkampff, die meines Wissens zur Demokratischen Partei gehörte und nach 1945 in die SPD in Bremen eingetreten ist. Sie sollte gezwungen werden, die schwarz-rot-goldene Fahne vom Schulhaus runterzuholen, und hat sich geweigert. Wir wurden in der Aula zusammengerufen, und dann hat diese Frau, als ob nichts geschehen wäre, ihre Morgenansprache gehalten und hat ein Gedicht von Rainer Maria Rilke vorgetragen, das in einem krassen Widerspruch zu diesen Vorgängen stand. Das war für mich ein bleibender Eindruck. Eine unglaublich mutige Frau, klein und in langem Kleid erschien sie da. Mein Deutschlehrer, ich weiß nicht, wo er so plötzlich die Uniform herhatte, sprang in SA-Uniform auf das Podium und hielt eine flammende Rede.
Ich bin großgeworden in der Bülowstraße, wo die Hochbahn langfährt. Hier habe ich die Zeitereignisse aufgesogen. Wir hatten den Sportpalast in der Nähe. Bei uns vor dem Haus wurden Menschen totgeschlagen. Da kamen die Polizisten auf Pferden, es gab zuletzt keine Nacht, wo nicht geschrien und nach der Polizei gerufen wurde, wo die Nazis, die Deutsch-Nationalen und die Kommunisten von offenen Lastwagen Parolen schrien. Als wir dann schon in Steglitz wohnten, habe ich mich einmal mit einem Jungen, das muß 1932 gewesen sein, geschlagen. Als ich im blauen Falkenkittel herumlief, kam dieser Bengel mit einer Brechstange auf mich zu und sagte: »Du alter Franzose, du«: Dem habe ich eine geknallt. So groß war der Haß auf unseren westlichen Nachbarn schon bei Kindern. In unserem Haus hing oben aus dem vierten Stock die schwarz-rot-goldene Fahne. Unter uns hing eine schwarz-weiß-rote Fahne, und der Portier war Kommunist mit einer roten Fahne. Zwischen diesen drei Fahnen spielte sich damals mein politisches Leben ab. Ich war unglaublich engagiert.
R. L.: Nach der Machtergreifung entstand nun eine völlig veränderte familiäre Situation.
A.R.: Die Arbeitersportbewegung wurde verboten, so wurde mein Vater arbeitslos und mußte sich in Abständen bei der Polizei melden, wurde auch kurz von der Gestapo verhaftet, kam Gott sei Dank wieder. Von dem Ersparten hat er ein Lebensmittelgeschäft gekauft, um auch meinen arbeitslosen Geschwistern Arbeit zu verschaffen: In neun Monaten waren wir aber absolut pleite! Damals bekamen meine Eltern 129 Mark im Monat Arbeitslosenunterstützung. Ich mußte die Schule verlassen und erhielt im ersten Lehrjahr 29 Mark; 25 Mark davon gab ich zu Hause ab, und für den Rest konnte ich mir Strümpfe oder sonstwas kaufen.
Mein Vater, der die Entwicklung früh kommen sah, hatte immer das Bewußtsein, die richtige Sache zu vertreten. Es gab nie die Versuchung, uns mit dem NS-System zu arrangieren. Die Familie war ein wirklicher Mittelpunkt. Und was wir machten! Wir sangen unsere Arbeiterlieder, und der eine spielte Mandoline, einer Laute, der andere Gitarre dazu. Es gab immer wieder neue Zuversicht, daß der Nazi-Spuk vorübergehen würde.
R.L.: Wie war dein beruflicher Werdegang?
A. R.: Ich habe Verlagskaufmann gelernt in einem Sachbuchverlag für Stenografie und Technik. Der Verleger hieß Achterberg; seine Tochter war meine Schulfreundin, und ich hatte ihn gebeten, mich einzustellen. Nach der Lehre machte ich Ende 1937 die Abschlußprüfung und heiratete aus dem gleichen Verlag den Werbeleiter Emil Renger. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Meine Eltern waren keineswegs erbaut, denn ich war knapp achtzehn Jahre. Als mein Vater aber den Namen Renger hörte, sagte er: »Renger, Renger? Sagen Sie mal, war Ihr Vater da und da in Treptow?« »Ja«, sagte er, »das war er, das ist mein Vater.« »So«, sagte mein Vater, »das ist ja unglaublich, mit dem war ich in einer Turnabteilung zusammen.« Der Vater war also auch Sozialdemokrat, im Reichsbanner, wie mein Mann auch, im »Tennis-Rot«, also auch im Arbeitersport. Es war natürlich sensationell für die Nazi-Zeit, daß jemand auf einen Menschen trifft, der politisch auf derselben Wellenlänge liegt. Das hat uns zusammengeschweißt und das sozialdemokratische Familienmilieu noch bestärkt. Wir haben dann 1938 geheiratet und bekamen einen Sohn.
R.L.: Aber dein Mann ist dann sehr schnell eingezogen worden?
A.R.: Am 24. August 1939 wurde er eingezogen, und 1944 ist er dann bei Chartres in Frankreich gefallen.
R.L.: So daß du mit einem fünfjähriger Kind als Witwe dastandest?
A. R.: Ja. Da ging Rolf noch nicht zur Schule. Kurz bevor die Russen in Berlin einmarschierten, waren wir von dort weggegangen. Meine Schwester war schon in der Lüneburger Heide, wo mein Vater herkommt. Seine Verwandtschaft lebte dort und hat uns auch aufgenommen. In der Lüneburger Heide habe ich das Kriegsende erlebt. Wir hatten kein Geld mehr, bekamen auch nichts mehr aus Berlin überwiesen. Ich weiß nicht mehr, wie wir uns über Wasser gehalten haben, bis ich dann zu Schumacher kam.
R.L.: Das mußt du mir jetzt erzählen. Wie bist du eigentlich nach Hannover gekommen ?
A. R.: Damals erschien schon unter der Militärregierung der »Hannoversche Kurier«. In dieser Zeitung war eine Rede von Kurt Schumacher wiedergegeben. Das war im Mai oder Juni 1945. Diese Rede, die mir unglaublich imponierte, brachte mich dazu, meinen Vater zu fragen, wer denn dieser Schumacher sei. Mein Vater kannte ihn aus dem Reichstag, erinnerte sich an die bekannte Rede gegen Goebbels und hat ihn mir gleich sehr interessant geschildert. So habe ich an Schumacher geschrieben: »Ich bin die Tochter von Fritz Wildung und möchte bei Ihnen arbeiten. Kann ich als Sekretärin anfangen?«
R.L.: Wie bist du denn darauf gekommen?
A. R.: Einfach so, intuitiv. Dann hat er auch sofort geantwortet, weil natürlich auch der politische Hintergrund wichtig war. So bin ich also unter schwierigen Umständen nach Hannover gefahren in diese furchtbar zerbombte Stadt und habe mich vorgestellt, und er hat mich sofort engagiert.
R.L.: Kannst du das atmosphärisch zurückholen?
A. R.: Ich bin ja schon mit der Aufgeschlossenheit hingegangen, auf einen Mann zu treffen, auf den ich neugierig war, nach allem, was er öffentlich geredet hatte. Ich bin auch mit dem Anspruch hingegangen, was auch immer ich tun muß, ich will politisch arbeiten. Er war sehr mager und groß. Mit einer typischen Geste umfaßte er mit dem linken Arm den leeren Ärmel oder steckte ihn in die Tasche. Der rechte Arm war ja amputiert. Er hatte sehr zwingende Augen. Augen, die einen sofort erfaßten. Ich war damals eine 26jährige junge Frau und war von ihm fasziniert. Es war wie selbstverständlich, daß er mich einstellte, und es war ebenso klar, daß ich zu ihm gehen wollte. Es war nur noch die Frage, wann ich anfangen sollte. Dies zog sich bis zum Oktober hin. Von da an war ich Schumachers Vertraute und Sekretärin.
R.L.: Ich versuche, mir das vorzustellen. Seine schroffe, nach außen verschlossen wirkende und harte Persönlichkeit; Kurt Schumacher, ein geschundener Mann, der jetzt die politischen Fäden zieht und fortan eine Mitarbeiterin um sich hat, die Jugend repräsentiert. Galt seine Härte nicht ebenso politischen Gegnern wie manchen Parteifreunden?
A.R.: Das muß man genau auseinanderhalten: Seine Härte nach draußen bedeutete, daß die restaurativen Kräfte nicht glauben sollten, sie hätten eine Sozialdemokratie vor sich, mit der man umspringen könne wie vor 1933. Sein Engagement galt dem Zusammenschluß aller Sozialisten, die sich vor 1933 von der SPD getrennt hatten, wie ISK und SAP oder zur Parteiführung in Opposition standen wie »Neu-Beginnen«. Eine Verschmelzung von Sozialdemokraten und Kommunisten lehnte er ab. Mit seinem Anspruch: »Es ist ganz egal, aus welchen Gründen jemand Sozialdemokrat ist, aus dem Geist der Bergpredigt, aus philosophischen oder ethischen Gründen oder den Methoden marxistischer Wirtschaftsanalyse« hat er die SPD geeint und dem fortschrittlichen Bürgertum geöffnet.
R.L.: Das hat er schon 1945 so gesehen ?
A. R.: Das hat er 1945 in seiner allerersten Rede gesagt. Es war seine Auffassung, daß Absplitterungen ungut sind. Alle müssen für ihre Meinung ringen können. Aber keiner hat ein Privileg auf die Wahrheit. Sozialdemokraten müssen nur in den Grundprinzipien übereinstimmen. Da war er auch tolerant. Wogegen er gekämpft hat, war die Wiederholung der »Diktatur des Proletariats«. Damit meinte er, es habe immer nur eine Herrschaft über das Proletariat gegeben. Nie habe das Proletariat selbst geherrscht. Das war ja der entscheidende Fehler der Kommunisten und der sowjetischen Außenpolitik - noch nach 1945, als sie versucht haben, wieder im Interesse sowjetischer Außenpolitik auf deutschem Boden Politik zu machen. Den » Einheitssozialismus« ohne Demokratie, den hat er natürlich bekämpft.
R.L.: Wie war es auf der wichtigen Konferenz bei Wennigsen vom 5. bis 7. Oktober 1945?
A. R.: Es war sehr schwer, diese Konferenz zustande zu bringen, weil die Besatzungsmächte dagegen waren. Dennoch waren Genossen aus der amerikanischen und britischen Zone gekommen und aus dem ehemaligen Parteivorstand in London Erich Ollenhauer, Fritz Heine und Erwin Schoettle. Aus der sowjetischen Besatzungszone waren Grotewohl, Dahrendorf und Fechner angereist. Otto Grotewohl kämpfte um den Vorsitz der Partei und die Verlegung der Zentrale nach Berlin. Zu dieser Zeit stand die SPD in der sowjetischen Besatzungszone schon unter dem starken Druck der Besatzungsmacht, sich mit der Kommunistischen Partei zu einer Einheitspartei, der SED, zu vereinigen. Schumacher und die Genossen aus dem Westen waren sich einig, daß eine zentrale Leitung der Partei in Berlin, praktisch abgeschnitten vom übrigen Teil Deutschlands, den Sowjets ausgeliefert wäre. Sie plädierten deshalb für eine vorläufige Regelung: Bis zu einem Gesamtparteitag würde Otto Grotewohl für die sowjetische Besatzungszone und Berlin zuständig sein und Kurt Schumacher Beauftragter der sozialdemokratischen Partei für den Westen. Zu dieser Zeit waren sich beide darin einig, daß eine Vereinigung von SPD und KPD abgelehnt werden würde und daß nur ein Gesamtparteitag aller Sozialdemokraten hierüber Beschlüsse fassen könnte. Otto Grotewohl erklärte damals: »Ehe ich mein Wort gäbe, daß eine Verschmelzung der beiden Parteien erfolgt, würde ich vorher mit Schumacher reden und eher die SPD auflösen.«
R.L.: Aber die Kommunisten hatten die Bajonette hinter sich!
A. R.: Das ist genau der Punkt. Die Sozialdemokraten standen unter Druck. Unter fadenscheinigen Vorwänden wurden sie ständig vor die Kommandantura geladen, um ihren Widerstand zu brechen. Schumacher schätzte die Handlungsunfähigkeit und wohl auch den Handlungswillen von Otto Grotewohl richtig ein.
Nachdem Schumacher Otto Grotewohl am 9. Febraur 1946 noch einmal in Braunschweig getroffen hatte, spitzten sich die Ereignisse dramatisch zu. Schumacher wollte nochmals einen Versuch machen, das Schlimmste zu verhindern, und bat die britische Militärregierung, ihm einen Flug nach Berlin zu ermöglichen, was unter erheblichen Schwierigkeiten erst am 19. Februar 1946 gelang.[1] Während dieses Berlin-Aufenthalts traf Schumacher noch mit den Wortführern des Widerstandes gegen die Zwangsvereinigung zusammen - mit Franz Neumann, Curt Swolinsky, Arno Scholz. Im Oktober 1946 fanden dann in Berlin die ersten freien Wahlen statt - zum erstenmal in meinem Leben konnte ich frei wählen und war sehr stolz -, sie brachten den Kommunisten eine vernichtende Niederlage und machten die SPD mit über 48 Prozent der Stimmen zur stärksten Regierungspartei. Ich sehe noch das Bild vor mir, als Schumacher am Wahltag durch den Ostsektor der Stadt fuhr, um den Menschen Mut zum Wählen zu machen — die Unsicherheit war überaus groß.
R.L: Wie hast du Schumacher persönlich in seiner Arbeitsweise erlebt? Vermutlich war es eine sehr hektische Zeit?
A. R.: Für mich war das natürlich eine große Zeit. Seine Arbeitsweise war sehr unkonventionell. Die Arbeit fing morgens um acht an und endete nachts um zwölf, mit vielen Diskussionen und Gesprächen.
R.L.: Wer waren seine Berater?
A. R.: In den ersten Monaten war Egon Franke der junge Mann. Egon kam noch aus der Arbeiterjugendbewegung, war sechs Jahre im Zuchthaus gewesen. Er war für ihn der junge Mann, der noch alles vor sich hatte, was ihm durch den Ablauf seines Lebens nicht mehr möglich war. Es war ein Verhältnis wie zu einem jüngeren Bruder. Franke war ein richtiger Arbeiterjunge, Schumacher ja nicht. Es gab uneingestanden immer eine gewisse Distanz der Genossen zu Kurt Schumacher, der wiederum ihre Nähe suchte. Er war ein Mann der Diskussion. Zuerst war Alfred Nau da. Aber der wichtigste politische Mitarbeiter in dieser Zeit war Herbert Kriedemann. Dann kamen die Emigranten zurück, angefangen mit Erich Ollenhauer, Fritz Heine, Herta Gotthelf.
R.L.: Wie ging er vor ? Kam er über Dialog und Argumentation zur Formulierung von Politik?
A. R.: Er sah die Dinge scharf und konsequent. Wenn ihm etwas einfiel, mußte ich ihm ständig zur Verfügung stehen. Dann sagte er: »Also komm, schreib mal.« Dann diktierte er den Komplex, der ihn gerade beschäftigte, in einem Entwurf herunter. Im Hinterkopf arbeitete es bei ihm immer, er schrieb das nieder, manchmal selbst mit der Hand, aber meistens diktierte er das gleich. Dann gab es manchmal stundenlange Diskussionen. »Was sagst denn du dazu?« Zu mir sagte er also, ich sei die Stimme des Volkes. Da er ein guter Formulierer war, schlagzeilenträchtig, auch mit überspitzten Aussagen, habe ich manches gute Werk getan, um Scherbenhaufen zu verhindern. Ich habe wirklich bei jeder Rede gezittert. Na, jetzt kommt was. Und ich bemerkte schon vorher, wenn sich seine Argumentation auf eine Konsequenz zuspitzte, wie zum Beispiel »die Kirche ist die fünfte Besatzungsmacht«. Das war im Stadion in Dortmund vor der Wahl 1949. Ich dachte, ich falle vom Stuhl!
R.L.: Du warst ja irgendwann 1946 in Berlin?
A.R.: Nach dem Parteitag von 1946 bin ich auf Wunsch von Schumacher, auch aus persönlichen Gründen, bis Dezember 1946 in Berlin gewesen und habe das Büro des Parteivorstandes eingerichtet. Diese Aufgabe hatte ich auch übernommen, um Abstand zu gewinnen und zu entscheiden, ob ich mit diesem Mann Kurt Schumacher zusammenleben wollte oder nicht. Heiraten wollten wir nie, aber zusammenleben schon. Ich war sechsundzwanzig, und er war fünfzig - da muß man schon gründlich nachdenken.
R.L.: Laß uns jetzt auf 1949» auf die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland, kommen. Wann ist das Parteibüro von Hannover nach Bonn verlegt worden?
A.R.: Das muß wohl im Dezember 1949 oder erst 1950 gewesen sein. Wir haben zuerst nur die Baracke aufgebaut. Unsere Arbeitsbedingungen waren aber schon besser als die der Parlamentarier. Wir saßen zusammen, Schumacher und Adolf Arndt, jeder in einem Zimmer, und dazwischen saßen Horst Ehmke und ich. Ehmke war beim Adolf Arndt und ich bei Kurt Schumacher.
R.L.: Haben die beiden dominierenden Politiker Adenauer und Schumacher oft miteinander gesprochen?
A. R.: Ja, relativ oft. Erst einmal waren sie zwangsläufig durch den Zonenbeirat in Hamburg verbunden. Als Adenauer später Bundeskanzler war, ist Schumacher mehrere Male bei Adenauer gewesen. Einmal habe ich öffentlich gesagt, Schumacher sei es schwergefallen, daß Adenauer ihn immer im ersten Stock empfing - er war schon amputiert -, so daß er sich mühsam die Treppe hinaufquälen mußte, denn im alten Kanzleramtshaus gab es keinen Fahrstuhl. Das sei doch typisch für Adenauer. Darauf sagte mir eines Tages seine Tochter: Das würde ich ganz falsch sehen. Adenauer hätte nicht gewagt, Schumacher unten zu empfangen, um ihm nicht beim Hinaufgehen der Treppe zu demonstrieren, daß er, Schumacher, behindert sei. Ich war oft bei den Gesprächen dabei. Es gab natürlich 1950 das Gespräch über die Wiederaufrüstung mit Adenauer, als Adenauer sagte, daß er nichts in der Frage der Wiederaufrüstung machen würde, ehe er nicht mit Schumacher darüber gesprochen hätte. Als er das sagte, hatte er die Entscheidung schon getroffen. Denn am 26. August 1950 hatte er bereits den Amerikanern die Zusage für ein Kontingent deutscher Soldaten gegeben, ohne das Parlament gefragt zu haben. Das war übrigens der Grund für Gustav Heinemann, das Kabinett zu verlassen. Er machte Politik mit allen Mitteln, auch solchen, die man als unmoralisch empfinden konnte.
R.L: Wann starb Kurt Schumacher?
A.R.: In der Nacht vom 20. zum 21. August 1952 vor Mitternacht ist er einfach eingeschlafen. Er war schon lange schwerkrank. Im Dezember 1951 hatte er einen Schlaganfall und sich erst allmählich davon erholt. Es dauerte lange, zumal er doppelt amputiert war. Er war schon wieder auf gutem Wege und traf für den kommenden Parteitag Vorbereitungen. Das Schreiben fiel ihm schwer, aber reden konnte er wieder, wenn auch etwas langsam. Ich sah mit Schrecken den nahenden Parteitag. Das hatte nun keine Bedeutung mehr.
R.L.: Nach Schumachers Tod verändert sich dein Leben. Du wirst selbst 1953 in den Deutschen Bundestag gewählt. Sofort wirst du von der Presse zur »Miss Bundestag« erhoben. Das hat dich bekannt gemacht.
A.R.: Wahrscheinlich. Ich habe das nie als beleidigend empfunden.
R.L.: Sicher, weil du ein neues Element von Weiblichkeit im Bundestag vertreten hast, einen neuen Typ sozialdemokratischer Parlamentarierin. Wer ist nach dem Tod von Kurt Schumacher auf dich zugekommen?
A.R.: Ich habe das werden wollen. Da ich alles von 1945 an mitgemacht habe und immer politisch engagiert war, habe ich mit Erich Ollenhauer darüber gesprochen. Er hatte denselben Gedanken. Wie es der Zufall wollte: Als Anni Krahnstöver damals Wilhelm Mellies heiratete und sie als Ehepaar nicht gemeinsam Abgeordnete sein konnten, hat sie sich in Schleswig-Holstein nicht mehr aufstellen lassen. Der berühmte »Frauenplatz« wurde dort frei. So bin ich über die Landesliste gewählt worden und bin dort sechzehn Jahre Abgeordnete gewesen. Bis zu diesem Zeitpunkt prägte eine Generation, die fünfzehn Jahre älter war und in der Weimarer Republik schon Funktionen hatte, das Bild. Ich war damals dreiunddreißig Jahre. Mit dreiunddreißig ist man ja noch einigermaßen jung. Da ich unbefangen war, war der Wechsel in eine andere Position für mich gar nichts Neues. Ich bin auch in der Bundestagsfraktion sehr schnell aufgenommen worden. Probleme hatte ich eigentlich bis 1969 nicht. 1969 machten sich die Auswirkungen der Studentenrevolte in der Partei bemerkbar. In Schleswig-Holstein wurde Jochen Steffen Landesvorsitzender, der mich zum Prototyp des konservativen Sozialdemokraten abstempeln wollte. Das habe ich mir nicht gefallen lassen. Das zweite war die Haltung zur Notstandsgesetzgebung, ein tiefer Einschnitt, der die Partei wieder in zwei Gruppen - Rechte und Linke - gespalten hat. Für mich war entscheidend, daß das Parlament im Falle eines Notstandes die Entscheidungsbefugnis behielt.
R.L.: In dieser Zeit warst du Mitglied des Parteivorstandes und des Präsidiums und auch noch Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses, warst also oberste Repräsentantin der SPD-Frauen. Aber als du versucht hast, einen neuen Wahlkreis zu bekommen, gab es Auseinandersetzungen.
A. R.: Von Schleswig-Holstein mußte ich weg, daran gab es keinen Zweifel. Der Bonner Unterbezirksvorsitzende sagte: »Kandidiere doch in Bonn!« Ich habe es ernst genommen. Ich bin zu jedem Ortsverein gezogen und habe mit meiner Meinung nicht hinterm Berg gehalten. Niemand wählt einen dafür, daß man vor den anderen Kotau macht.
Mein Sohn hat mich damals begleitet und mir gesagt: »Ich bin mit 18 Jahren in die SPD eingetreten, aber daß man so miteinander umgeht, habe ich mir nicht vorgestellt.« So stand ich schließlich ohne Wahlkreis da bis kurz vor der Landesdelegiertenkonferenz. Aber dann kam der Unterbezirk Neuss zu mir und bot mir den Wahlkreis an. Ich war immer sicher, daß ich es schaffe! Sie haben mich als Kandidatin gewählt. Ich war aber immer noch nicht auf der Landesliste. Dann bin ich zu der Landeskonferenz gegangen, die in Köln stattfand, habe mich hingesetzt, alle mußten an mir vorbei. Heinz Kühn und Willy Brandt haben mich freundlich begrüßt. Ich sagte: »Ihr solltet doch einen Weg suchen, daß ich einen Platz auf der Landesliste bekomme.« Dann kam ein Vertreter aus Ostwestfalen-Lippe zu mir und fragte: »Bist du damit einverstanden, wir können dir den Platz 21 zur Verfügung stellen.« So wurde ich auf Platz 21 der Landesliste abgesichert. Es war mir ganz und gar wurscht, auf welchem Platz ich stand. Es mußte nur ein Platz sein, der noch eine Chance hatte. So kam ich wieder in den Deutschen Bundestag. Damit will ich nur sagen: Es hat keinen Sinn, vorher aufzugeben. Wenn man eine Niederlage erlebt, hat man zumindest vorher gekämpft.
R.L.: Man muß Farbe bekennen, um vor sich selber Achtung zu behalten. Das ist der entscheidende Punkt.
A. R.: Das ist wesentlich. Man muß Neues hinzulernen und Kompromisse schließen können. Man darf aber nicht seine eigenen Grundsätze, derentwegen man Sozialdemokrat ist und Politik macht, über Bord werfen.
R.L.: Nun hast du im Bundestag viele Freunde. Wenn ich jetzt an die Anfänge der Kanalarbeiter erinnere, wie sind die eigentlich entstanden?
A. R.: Das war am Anfang eine lose Zusammenkunft in der Kneipe » Rheinlust«, die sich auf dem Wege zu den Abgeordneten-Wohnungen der Reuter-Siedlung befand. Wer da vorbeiging und hörte, da war was los, ging eben mal rein, ein Glas Bier trinken, nicht nur Sozialdemokraten, auch Abgeordnete aus anderen Parteien. Das war weit vor 1967.
R.L.: Es war also nicht organisiert, und Egon Franke spielte noch nicht die Rolle eines Organisators.
A. R.: Das fing erst um 1967/68 an, als der Umbruch in der Partei und draußen begann.
R.L.: Das muß aber doch schon früher gewesen sein! 1958 führte der Stuttgarter Parteitag zu einer Generalinventur im Parteivorstand. Es wird das
Godesberger Programm diskutiert, unterschiedliche Meinungen kommen auf den Tisch. Und all dies, meinst du, hätte keine Rolle gespielt?
A. R.: Zu dieser Zeit nicht! Diese Kanalarbeitertruppe war ja viel »linker« als zum Beispiel die Berliner SPD unter Willy Brandt. Sie kam ideologisch aus der Arbeiterbewegung, die Sozialismus noch als Ziel ansah. Das Godesberger Programm war für sie eher ein »bürgerliches« Programm.
R.L.: Das ist sehr interessant! Galt die Neuprogrammierung als Verbürgerlichung der sozialdemokratischen Bewegung? War der Abschied von einer klassenkämpferischen Partei zur Volkspartei umstritten? Gab es in der Gruppe Hemmungen wegen der Leiden, die man für den Traum einer sozialistischen Gesellschaft in der NS-Zeit auf sich genommen hatte?
A.R.: Ja, so war es. Viele Positionen im Godesberger Programm, vor allem auf ökonomischem Gebiet, waren ganz neu. Daß sie trotzdem von diesen Sozialdemokraten auf dem Godesberger Parteitag getragen wurden, war der großen Überzeugungskraft von Erich Ollenhauer zu danken, sonst hätte es als Verrat an der Idee gegolten. Der Mann hat überzeugt. Da wußte man, der verrät niemanden, auch nicht die Ideen. Ja, haben wir dann gesagt, dies ist die neue Zeit. So wurden wir aus Einsicht die tragenden Leute von Godesberg.
R.L.: Wann entsteht das Markenzeichen »Kanalarbeiter« ?
A. R.: Ich weiß nicht mehr, wie dieser Name entstanden ist. Aber mit der Formulierung »wir sind die Kanalarbeiter, wir sorgen für saubere Verhältnisse« waren immer die sozialdemokratischen Überzeugungen gemeint. Die Versuche, auf die Wahl des Vorstandes personell einzuwirken, kamen erst in der Diskussion um die Notstandsgesetzgebung um 1967/68.
R.L.: 1967/68 ist Helmut Schmidt Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, die sich zum ersten Mal in der Regierung befindet. Helmut Schmidt stand in Verbindung zu den Kanalarbeitern. Waren das schon seine Truppen?
A.R.: Er konnte sich auf diese Genossen verlassen. Die Haltung zur Notstandsgesetzgebung war durch die Absage der Gewerkschaften in der Partei zum Sprengstoff geworden. Wer für die Notstandsgesetzgebung war, mußte um sein Mandat bangen.
R.L.: Vor der Bundestagswahl 1969 war diese Frage ausschlaggebend für die Nominierung oder den Abschied von der Politik?
A. R.: So ist es. Von da an begannen die Zusammenkünfte etwas »gruppenmäßiger« zu werden. Zu dieser Zeit hörte ich auch das erste Mal von einer Tagung des Frankfurter Kreises. Zum ersten Mal fiel dieser Name auch im Parteivorstand. Die Gruppe wurde vom Vorsitzenden ernst genommen. Als ich fragte, ob das nicht eine Fraktionierung sei, bekam ich einen Rüffel von Herbert Wehner. Es würden noch ganz andere Dinge passieren! Wir haben uns zuerst nicht als Gruppierung empfunden.
R.L.: Kannst du dich noch an die Gründung der Großen Koalition erinnern?
A.R.: Als es um die Große Koalition ging, war mir klar, wenn wir aus der ewigen Opposition herauskommen wollen, ist dies der Zeitpunkt, um die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokraten zu beweisen. Aber ich war nicht prinzipiell gegen die F.D.P. Wir brauchen auch eine liberale Partei, die »antiklerikal« ist und auch »antisozialistisch«. Nach wie vor bin ich der Meinung, daß die drei Gründer-Parteien alle politischen Strömungen abdecken.
R.L: Marta Schanzenbach, Käte Strobel, Elfriede Eilers und Annemarie Renger, alle vier Frauen, die dann politische Verantwortung übernehmen, sind somit 1966 für die Große Koalition und haben sich auch in der Partei für dieses Ziel eingesetzt. Nun gab es auch Konflikte mit der jungen Generation. Der geistige Hintergrund der Studentenrevolte war auch mit der Notstandsgesetzgebung verbunden.
A. R.: Dies halte ich für die Ursache der Flügelbildungen in der Partei. Noch einmal: Es gab bis zur Entscheidung über die Notstandsgesetzgebung im Parlament zwar Meinungsverschiedenheiten in der Partei und in der Fraktion, aber keine persönliche Gegnerschaft. Ich habe nicht verstanden, daß ausgerechnet in dem Moment, in dem endlich eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung möglich und eine neue Außenpolitik eingeleitet wurde und erstmals soziale Gesetze durchgesetzt wurden, gegen uns protestiert wurde, als ob wir einen reaktionären Staat mit faschistischen Tendenzen etablieren wollten.
R.L.: Es ist die Ambivalenz des subjektiven Zeitempfindens. Junge Menschen erleben Zeit anders, mit anderen Perspektiven, Hoffnungen und Träumen als Politiker, die noch die Weimarer Republik oder die Nazis erlebt hatten.
A. R.: Was ich bis heute nicht verstehe, ist, daß die Jugend uns keine Chancen eingeräumt hat. Dennoch mußten gerade wir Sozialdemokraten versuchen, die Kräfte der außerparlamentarischen Opposition in die SPD zu integrieren und deren demokratische Motivationen zu erhalten. Das ist uns mit den 67/68ern ganz gut gelungen.
R.L: Nun warst du in der Notstandsgesetzgebung als Sprecherin für den Zivilschutz prädestiniert, etwas zu sagen. Wie war deine Position zur Dienstverpflichtung von Frauen?
A. R.: Bei der Notstandsgesetzgebung war ich gegen den Passus zur Dienstverpflichtung von Frauen. Da habe ich das erste und einzige Mal im Bundestag eine Erklärung abgegeben, daß ich, obwohl Gegner einer Dienstverpflichtung von Frauen, dennoch der Notstandsgesetzgebung zustimme, weil die Priorität des Parlaments gesichert ist. Ich war tief enttäuscht, daß Elfriede Eilers, eine weitere Genossin und ich mit dieser Meinung allein blieben.
R.L.: 1969 setzt du dich für die Teilzeitarbeit von Beamtinnen ein. Wie kam es eigentlich dazu?
A. R.: Frau Funcke von der F.D.P. und ich waren die Initiatoren. Mein Vorschlag war, die Teilzeitarbeit in einem Beamtenrechtsrahmengesetz zu regeln, also für alle Beamtinnen in Bund und Ländern eine Regelung zu treffen, damit ihre Versorgungsansprüche erhalten werden konnten. Zunächst ist es in der Bundestagsfraktion auf harten Widerstand bei den Männern gestoßen, wie immer! Durch hartes Bohren haben wir es dann durchbekommen. Wir meinten auch, daß der öffentliche Dienst eine Signalfunktion haben könnte für die Wirtschaft.
R.L: Dies konnte wohl nur innerhalb der Großen Koalition von CDU/ CSU und SPD durchgesetzt werden. Es wurde ein Privileg der Beamtinnen, aus dem damals niemand eine Benachteiligung von Hausfrauen abgeleitet hätte, wie es die CDU/CSU beim Mutterschaftsurlaub für die Arbeitnehmerinnen 1979 leider konstruiert hat. Laß uns noch einmal auf die Anfänge des § 218 zu Beginn der sechziger Jahre zurückkommen. Bemerkenswert sind deine und Marta Schanzenbachs erste Bemühungen für eine Reform des § 218 Anfang der sechziger Jahre, als ein Reformklima in der Bundesrepublik noch nicht vorhanden war, auch unter Studenten und Frauen nicht. Auch SPD-Männer waren damals nicht bereit, dies parlamentarisch aufzugreifen.
A.R.: Damals war ich Mitglied des Sonderstrafrechtsausschusses für die Strafrechtsreform und habe mich mit dem § 218 beschäftigt. Da gab es unterschiedliche Gesetzentwürfe. Bewogen von der außerordentlich hohen Zahl illegaler Abtreibungen, die von Engelmachern und Kurpfuschern vorgenommen wurden, habe ich mich öffentlich für eine Reform des § 218 eingesetzt. Dies hat mich auch nie mehr losgelassen. Damals gab es keinerlei Aufgeschlossenheit der Juristen, auch im Parteivorstand der SPD nicht. Aber interessanterweise gab es zu meinem Artikel auch keinen Sturm der Entrüstung.
R.L.: 1962 schreibst du einen engagierten Artikel zur Reform des § 218 und hast überhaupt keine Reaktion bekommen?
A. R.: Kaum eine Reaktion ! Von niemandem! Es gab keine Resonanz, weder positiv noch negativ.
R.L.: Auch Marta Schanzenbach erinnert sich an eine Sitzung des Parteivorstands 1964 in Berlin, wo sie zum ersten Mal eine Reform des §218
1966 - Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses 65
angesprochen hatte. Sie war entsetzt und tief betroffen von dem Desinteresse der Männer.
A. R.: Belanglosigkeit bis zum Hohn ist es gewesen.
R.L.: Nach Marta Schanzenbachs Rücktritt wirst du 1966 Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses. Wer hat denn das veranlaßt?
A. R.: Nachdem Marta Schanzenbach das Amt aufgab, war ich der Meinung, es wäre gut, wenn eine andere Generation und ein anderer Stil in die Frauenpolitik käme. Ich glaubte, daß man die Frauenarbeit moderner machen und stärker öffnen könnte, aber nicht als selbständige Arbeitsgemeinschaft. Denn unsere Auffassung war immer, die Frauenarbeit überflüssig zu machen, wenn wir gleichberechtigt sein würden. Ich war fest entschlossen, das zu machen. Wie ich es fast immer gemacht habe, bin ich zu Willy Brandt gegangen und habe gesagt, ich würde das gerne machen und dafür kandidieren. So bin ich im Partei vorstand gewählt worden. Ich habe sofort Forderungen angemeldet: Wir brauchen eine Pressereferentin, wir brauchen eine feste Mitarbeiterin im Parteivorstand. Ich werde im Parteivorstand mein Büro haben. Ich bin als Präsidiumsmitglied die Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses. Das ist mir auch gelungen.
R.L.: Gab es das vorher nicht? Hatte Marta Schanzenbach dort keine eigenen Räumlichkeiten?
A. R.: Nein, das Sekretariat bestand aus einer Mitarbeiterin, denn die Zeitung »Die Gleichheit« gab es nicht mehr. Damals wollte ich auch eine Frauenreferentin haben. Das gelang nicht. So versuchte ich das über die Fraktion und mit Hilfe von Herbert Wehner. Die »Arbeitsgruppe Frauenpolitik« wurde eingerichtet; Dorothea Brück wurde die Aufgabe übertragen.
R.L.: Nach den Wahlen 1969 und der Gründung der sozialliberalen Koalition wirst du Parlamentarische Geschäftsführerin.
A. R.: Neulich hat mich jemand gefragt: »Wie haben Sie eigentlich Karriere gemacht?« Meine Antwort: »Wenn Sie mich so fragen, weiß ich es nicht.« Das kam immer plötzlich auf mich zu. Eines Tages kam unser Parlamentarischer Geschäftsführer Heinz Frehsee zu mir und sagte, eigentlich sei es mal an der Zeit, daß eine Frau Parlamentarische Geschäftsführerin würde. Wir Frauen haben ja zu dieser Zeit nie von uns aus Ansprüche gestellt. Im Vorstandsgremium hatten sie sich das ausgedacht. Ich habe gesagt: »Ja klar, das mache ich.« Ohne jeden Widerstand wurde ich dann als Geschäftsführerin gewählt.
R.L.: Jetzt entfaltest du Initiativen. Als Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses bist du auf Frauenthemen ausgerichtet. Wie kommst du auf die Idee, die Parlamentarierinnen zusammenzufassen in eine eigene Arbeitsgruppe, die ja von Anbeginn fachübergreifend konzipiert war?
A.R.: Ich wollte eigentlich keine »Frauenarbeitsgruppe« haben, sondern eine Querschnittsarbeitsgruppe mit einem besonderen Schwerpunkt Frauen-, Familien-, Gesellschaftspolitik.
R.L.: Das macht die Arbeitsgruppe auch heute unter dem Namen »Gleichstellung der Frau«. An dieser Konzeption interessiert mich, wie du darauf gekommen bist. Die »Arbeitsgruppe Frauenpolitik« hat in der sozialliberalen Ära eine Fülle von Anregungen und parlamentarischen Initiativen gebracht und in einer glücklichen Zusammenarbeit vorwärtsgetragen. Sie kann sich viele Sachen an ihren Hut stecken, von denen manche meinen, sie wären von Männern auf den Weg gebracht worden. Aber das Herz der Männer schlug gar nicht so warm für Frauenpolitik, wie man das im nachhinein meinen möchte. Wer war dein Bündnispartner? War das Herbert Wehner?
A.R.: Zunächst war überhaupt kein Bündnispartner da. Ich habe immer Frauenpolitik gemacht wie alle Frauen neben ihrer fachlichen Politik. Ich war im Innenausschuß, und dort kamen durch die Beamtenfragen und die Angestellten im Öffentlichen Dienst und die Teilzeitarbeit schon viele Gesetzgebungsprobleme auf uns zu. Im geschäftsführenden Vorstand habe ich vorgetragen, daß es dringend an der Zeit sei, konkrete Politik für die Frauen zu machen. Und siehe da, es gelang.
R.L.: Auf die Kooperationsbereitschaft der Frauen warst du ja angewiesen. Du bist die Mutter der Kompanie »Arbeitsgruppe Frauen« gewesen.
A. R.: Es kam so: 1971, Willy Brandt war Bundeskanzler, haben wir Frauen eine große Aktion mit Marie Schlei in der Fraktion gestartet. Wir haben ein Programm von Maßnahmen und von Aktionsmöglichkeiten entwickelt, das mit der neuen Bundesregierung umgesetzt werden sollte. Wir haben uns bis nachts um 1 Uhr hingesetzt, Annemarie an der Schreibmaschine, haben dieses Programm entworfen und einen Brief an den Bundeskanzler verfaßt.
R.L.: Den habe ich hier vorliegen.
A. R.: Das ist ein Ergebnis einer Nacht der Frauen der Fraktion.
R.L.: Erst mal habe ich einen Brief vom 30. September 1971 an die Fraktionsmitglieder, in dem du allen die Gründung der »Arbeitsgruppe Frauen« im Arbeitskreis Sozialpolitik mitteilst. Im Brief heißt es weiter: ». . . die Belange der Frau entsprechend zu vertreten, insbesondere, wenn es sich um die Bereiche Beruf, Familie und soziale Sicherheit handelt. Hierzu ist die Mitarbeit aller Genossen, nicht nur der Genossinnen notwendig und erwünscht. Wegen der aktuellen Diskussion um die Reform des § 218 StGB wäre eine rege Mitarbeit von Kollegen aus dem Arbeitskreis Rechtswesen besonders zu begrüßen«, unterzeichnet Annemarie Renger. Hast du vergessen, daß zu Beginn dieser Arbeit eine Auflistung aller Probleme erfolgt, die SPD-Frauen und Gewerkschaftsfrauen zu dieser Zeit auf Konferenzen erhoben hatten ?
A. R.: Nein, das habe ich nicht vergessen. Wir haben alles aufgelistet. Es gab Strichlisten, aus denen sich ein Vorrang für den Krankheitsurlaub erwerbstätiger Frauen ergab. Dies war ein Wunsch sozialdemokratischer Frauen, weit mehr noch der Gewerktschaftsfrauen. Man sah ganz konkret, wo die Nöte sind. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, daß erwerbstätige Frauen und Männer bei Krankheit ihrer Kinder bis zu fünf Tagen von der Arbeit freigestellt und entsprechend bezahlt werden.
R.L.: Welche Frauen haben von Anbeginn mitgearbeitet in der Arbeitsgruppe ?
A. R.: Unterschiedlich. Elfriede Eilers, Marie Schlei, die das Verbindungsmitglied darstellte zum Arbeitskreis Sozialpolitik, und Helga Timm. Die Initiative ging damals von einem ganz kleinen Kreis aus, im wesentlichen von Dorothea Brück und mir. Aber ich muß gestehen, daß ich immer mehr an die erwerbstätige Frau und ihre Doppelfunktion gedacht habe als an die nichterwerbstätige Frau.
R.L.: Tatsächlich wurde aber bei dieser Gesetzesinitiative für einen Krankheitsurlaub für die erwerbstätigen Eltern von Kindern ein Paket geschnürt, das auch die Haushaltshilfe für die Hausfrauen enthielt.
A. R.: Wichtig war auch die Zusammenarbeit zwischen Bundesfrauenausschuß und Gewerkschaftsfrauen. Es gab regelmäßige Begegnungen, so daß wir weitgehend übereinstimmten. Dies sieht man auch an meiner Stellungnahme als Vorsitzende der »Arbeitsgruppe Frauen« zur Rentenreform, die noch vor der Wahl 1972 verabschiedet wurde. Im Spätherbst 1971 hatte die Arbeitsgruppe eine stufenweise Verwirklichung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frauen gefordert. In erster Linie eine Rentenversicherung für alle und die Möglichkeit der Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung für nichterwerbstätige Ehefrauen, vor allem aber die Anrechnung von Zeiten der Erziehung von Kleinkindern im Babyjahr, die leider durch die CDU-Mehrheit bei der Rentenreform 1972 zu Fall kam.
R.L.: Nach der Bundestagswahl 1972 wird die SPD erstmals stärkste Fraktion im Bundestag und stellt den Bundestagspräsidenten. Überraschenderweise hatte Herbert Wehner schon im Wahlkampf angekündigt, bei einem guten Wahlergebnis der SPD werde er sich persönlich dafür einsetzen, eine Frau mit einer herausgehobenen Position zu betrauen. Jeder vermutete, daß Wehner aus emotionalen Gründen Marie Schlei favorisierte. Die erste Frau im Amt der Bundestagspräsidentin wurde aber Annemarie Renger.
A. R.: Vorhin hast du gefragt, wie bist du das geworden ? Weil Frauen nicht länger nur Alibi-Funktionen erhalten sollten, habe ich schlicht und ergreifend zu Herbert Wehner gesagt, daß eine Reihe von Genossen es für richtig hielten, daß ich kandidierte. Ich wollte ihm offiziell mitteilen, daß ich in der Fraktion für dieses Amt kandidieren würde. Ich habe das immer selbst gemacht. Als ich davon hörte, habe ich mir gesagt, warum sollst du das nicht machen? Die Partei hat mit diesem Amt zeigen wollen, daß sie aufgeschlossener gegenüber Frauen ist als bisher.
R.L.: Willst du sagen, du hast einfach deine Nase rausgestreckt, dich gemeldet und dich zur Wahl gestellt?
A. R.: Immer. Ja, so ist es. - Aber es gab schließlich nur einen Vorschlag. Ich war keineswegs bei allen beliebt, das ist auch ganz normal. Da habe ich auch gar nichts dagegen. Ich hatte vielleicht auch mit einem Ministerium geliebäugelt und mal zu Willy Brandt gesagt, daß ich eigentlich in seinem Kabinett Ministerin werden könnte. Da muß man ja auch seine Fahne raushängen. Das hätt' er sicher nicht gerne gehabt und ich wohl auch nicht. Aber ich dachte, du mußt den Anspruch erheben. Und Wehner hatte mit Sicherheit Marie Schlei favorisiert. Marie hatte eines Morgens im Deutschlandfunk erklärt, sie kandidiere nicht gegen Annemarie Renger, sie fände auch, daß mir das eher zukomme als ihr. So etwas gibt es auch.
R.L.: Unter den Parlamentarierinnen gab es wohl ziemlich übereinstimmend die Auffassung, daß du besser für ein repräsentatives Amt geeignet seist?
A.R.: Dies muß wohl so gewesen sein. Aber jetzt komme ich zum Thema Alibi-Frau: Einige sozialdemokratische Frauen schrieben mir, ich solle dieses Amt nicht annehmen, weil es nur eine Alibi-Funktion hätte. Es gab auch negative Kommentare, leider auch von Frauen. Ich war im Gegensatz dazu der Meinung, man müsse jedes Amt annehmen, um zu zeigen, daß Frauen das können. Später habe ich von vielen Leuten Briefe bekommen, daß sie sich erst durch die Art und Weise, wie ich das Amt ausgeübt hätte, für Politik interessiert hätten und dann selbst aktiv in der Politik geworden wären.
R.L.: Du hast diesem Amt eine neue Lebendigkeit verliehen und es aus dem starren Repräsentativverständnis der Männer gelöst. Plötzlich saß kein männlicher Politiker mehr abgehoben über den Volksvertretern, sondern es präsidierte eine lebhafte Frau, die liebenswürdig, aber zugleich auch hartnäckig und bestimmt Verfahrensregeln durchsetzen konnte. Ich entsinne mich als damals frisch gebackene Parlamentarierin an teils hämische Reaktionen von Männern. Wird eine Frau in der Lage sein, die Verfahren mit Würde über die Bühne zu bringen, muß sie nicht scheitern ? Allen Vorurteilen zum Trotz hast du die Rolle souverän ausgefüllt, nachdem du erste Unsicherheiten überwunden hattest.
A. R.: Ja, das ist richtig. In welcher Weise sich Vorurteile ausdrückten, wäre eine Geschichte für sich. Bei der Wahl zur Bundestagspräsidentin am 13. Dezember 1972 setzte sofort eine Kampagne ein, die mit dem Bundeshaushalt zusammenhing und unter dem Vorwand, »jetzt kommt mit einer Frau der Luxus«, mir vorhielt, daß die Präsidentin ihr Amtshaus für 100 000 Mark renovieren lassen wollte.
R.L.: Nach meinem persönlichen Eindruck war das Amtshaus des Bundestagspräsidenten äußerst bescheiden und wirkte heruntergewirtschaftet. Nicht einmal Geschirr gab es, sondern nur Restbestände.
A.R.: Eine Ausarbeitung der Bundesbauverwaltung hatte ergeben, daß das Haus, 1907 mit elektrischen Anlagen versehen, wegen Feuergefährlichkeit mit einer neuen Anlage ausgestattet werden mußte. Die Renovierung des Amtshauses koste so viel, wurde mir angekreidet, obwohl ich damit überhaupt nichts zu tun hatte, sondern die Bauverwaltung sie angeordnet hatte. Es war wirklich mein Eindruck, daß einige Leute es nicht verkraften konnten, daß zum ersten Mal eine Frau, noch dazu eine Sozialdemokratin, dieses Amt bekleidete; und so wollte man mich auf diese Weise diskreditieren. Der Bundestagspräsident war ein Amt, so war wohl die Meinung, das eigentlich einem Mann gebührte! Wenn ich eine Ordnungsmaßnahme durchzuführen hatte, hatte ich den Eindruck, jetzt sind alle Männer solidarisch. Offensichtlich war es so eine Art Kraftprobe - ob die nicht kleinzukriegen sei.
R.L.: Ist das heute noch so, oder ist alles vorbei und abgeschlossen ?
A.R.: Dies hat sich vollkommen verändert. Übrigens hatte Frau Funcke als Vizepräsidentin ähnliche Probleme.
R.L.: Der Prozeß des Abbaus von Vorurteilen zwischen den Geschlechtern ist doch zäher und langwieriger, als wir immer glauben.
A. R.: Ja, so ist es. Sprünge nach vorn und plötzlich negative Reaktionen. Das erinnert mich auch daran, daß für mich das Amt zu diesem Zeitpunkt besonders schwierig wurde, als ich die große Behörde mit 1600 Mitarbeitern als oberster Dienstherr übernahm und unerwartet mein Mann starb.[2]
R.L.: Nun fährst du 1973 als Präsidentin zu einem offiziellen Besuch nach Moskau, an dem auch Herbert Wehner teilnahm. Diese Reise nach Moskau, Leningrad und Kiew spielte eine etwas pikante Rolle beim Zerfall der Regierungsmacht von Bundeskanzler Brandt. Wie hast du die Ereignisse erlebt?
A.R.: Die Delegation bestand aus Herbert Wehner als Fraktionsvorsitzendem, der zum ersten Mal wieder russischen Boden betrat, nachdem er 1941 als Beauftragter der Komintern nach Schweden geschickt worden war und dort dann mit dem Kommunismus brach. Außerdem nahmen der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Mischnick, und die beiden stellvertretenden Vorsitzenden der Union, von Weizsäcker und Stücklen, teil. Es war am 25. September 1973. Die herausragende Figur war Herbert Wehner. Alles war gespannt auf ihn, der in dieses Land zurückkam.
R.L.: Sprach er Russisch?
A. R, Nein! Jedenfalls habe ich es nie gehört. Jeder dachte, wie Wird man diesen Mann einordnen, der für die Kommunisten ein Renegat war. Wie
gehen die Russen auf ihn zu ? Die erste Erfahrung war unglaubIch. Er ist von den Sowjets behandelt worden wie ein rohes l Nein ich muß es anders sagen: wie ein Mann, zu dem sie aufschauen. Eine Sache, die ich bis heute nicht begreife. Du mußt diese Enge kommunistischer Funktionäre kennen, wenn die sonst mit einem ehemaligen Kommunisten sprechen. Daß sie  Wehner in seiner Funktion akzeptieren mußten, war mir klar. Aber sie haben ihn angeguckt, als ob jeder Satz von ihm eine Offenbarung sei.
Meine Aufgabe war schwierig, nämlich die verschiedenen Strömungen von Regierung und Opposition in der Delegation zusammenzuhalten, was mir einigermaßen gelang. Gleich am ersten Tag bekam Stücklen ein Telegramm, er solle den Besuch abbrechen, weil Herbert Wehner etwas gesagt hatte, dem er nicht widersprochen hätte. Es spitzte sich zu beim Treffen zwischen mit dem Stellvertretenden Außenminister, Bei dieser Begegnung ergriff Herbert Wehner das Wort und äußerte eine massive Kritik an der damaligen SPD/FDP Regierungspolitik. Dem Sinne nach, was im Vertragswerk[3] drinstehe werde von dieser Regierung nicht ernst genommen, es werde nicht genug getan, um den Vertrag mit Leben zu erfüllen. Er sprach besonders das Verhältnis zur CSSR,[4] mit der wir einen Vertrag noch nicht abgeschlossen hatten an.
R. L, Wobei die Berlin-Klausel eine große Rolle spielte.
A. R.:. . . die er als überzogen bezeichnete. Darum erklärte ich sofort - ehe von Weizsäcker und Stücklen anfingen zu widersprechen - es handle sich um die persönliche Auffassung von Herrn Wehner, aber nicht um die Außenpolitik der Bundesregierung.  Worauf Herbert aufstand und hinaus
rauschte. Er führte außerdem Sondergespräche, von denen er der Delegation nichts sagte, was das Klima belastete. Dies war aber nur die Vorstufe zu einer weit schlimmeren Sache, die sich auf dem Empfang des Botschafters Sahm in der Deutschen Botschaft in Moskau abspielte.
Wehner kam viel zu spät, war aber gleich Mittelpunkt und sammelte sofort einen Pulk von Journalisten um sich herum. Was er schon früher moniert hatte, verkündete   er nun öffentlich und stellte Willy Brandt als jemanden hin der gern lau bade. In  Leningrad fand unter großen Schwierigkeiten die erste Fernsehübertragung mit  Nowottny, diesmal unter dem Titel »Bericht aus Leningrad«, statt. Der wollte diese Kontroverse natürlich hochspielen. Das Schönste war, er bekam keine Verbindung nach Bonn, stand auf, ein ungewohnt aufgeregter Nowottny. Das nutzte ich aus und nahm mir seinen Zettel, den er für das Gespräch vorbereitet hatte. Und als er zu seinen kessen Fragen kam habe ich gut kontern können. Einfach zack gemacht!
Selbstverständlich habe ich die Regierungsposition vertreten.
R.L.: Dein Auftritt in Moskau war souverän. Als du in die Bundestagsfraktion zurückgekommen bist, saß die Fraktion bedrückt oder traurig, auf jeden Fall unmutig und lustlos dort, und niemand wagte, das heiße Eisen anzurühren. Vielleicht erinnerst du dich, daß es zwei Abgeordnete gab, die dennoch das Wort in der Fraktion ergriffen: Hermann Rappe und ich. Beide haben wir Herbert Wehner angegriffen. Als ich mich wieder auf meinen Platz setzte, erwartete ich, mit Gift und Galle von Wehner überschüttet zu werden. Seltsamerweise passierte gar nichts! Er schwieg und ging zu einem anderen Tagesordnungspunkt über. Ist das nicht seltsam?
A.R.: Jetzt beginne ich mich wieder zu erinnern. Ich saß neben Helmut Schmidt. Und ich sagte zu ihm: »Aber Helmut, du mußt doch jetzt etwas sagen!« Bezeichnenderweise schwieg er. Das war wohl der Anfang des Zusammenwirkens zwischen Helmut Schmidt und Herbert Wehner. Das, was sich da in Moskau abspielte, kam für mich wirklich völlig unerwartet. Ich hätte es nicht für möglich gehalten nach dieser tollen Wahl 1972 und gegen diesen populären Bundeskanzler.
R.L.: Wie war deine Rolle bei der Parlamentsreform und den kulturellen Aufgaben, denen du im Namen des Parlaments einen gewissen Freiraum erkämpft hast?
A.R.: Dies war ein Teil der Aufgaben des Präsidenten, die ich sofort aktiviert habe. Zugleich habe ich einen Beirat für Diätenfragen geschaffen. Der weitere Punkt sind die Neubauten für das Parlament. Nach unglaublich langwierigen Vorarbeiten waren 1976 die Pläne abgeschlossen. Es handelte sich nicht um Gigantomanie, wie einige glauben machen wollten, sondern um einen Neubau, der von der Parlamentsreform ausging und die Arbeitsmöglichkeiten der Abgeordneten verbessern sollte. Leider wurden die Pläne schließlich von einigen Leuten kaputtgemacht. Es hat mich sehr geärgert, daß die mühselige Arbeit für die Katz war.
R.L.: Der Gedanke, daß sich die Demokratie auch in ihren Bauten repräsentieren könnte, hat dich wohl sehr bewegt?
A. R.: Wir hatten zwei Grundgedanken. Der eine Gedanke ist die Selbstdarstellung des Parlaments in der Demokratie, auch als Selbstbehauptung gegenüber der Exekutive, der andere die Öffnung des Parlaments zum Bürger. Das sollte durch eine Begegnungsstätte in der Form einer offenen Lobby geschehen.
R.L.: Es ist wirklich eine Ironie der Geschichte, daß Innenminister Zimmermann heute über seinen Beamtenapparat in den kulturellen Bereich hineinregiert und Kunsthalle, Mahnmal und das Haus der Geschichte auch inhaltlich am Parlament vorbei bestimmen will.
A. R.: Im Rahmen der Planungen für das Regierungsviertel bestand die Idee, Kunsthalle und Museum in eine Beziehung zum Parlament zu setzen, um damit auch die städtische Bevölkerung und die Besucher in diesen Bereich einzubeziehen. Kunst und Politik sollten sich ergänzen, so daß sich auch die Politik mit der Provokation von Kunst auseinandersetzen muß und umgekehrt.
R.L.: Du sprichst von Provokation der Kunst auf die Politik. Laß uns kurz auf die »wilden« Maler zurückkommen und die Openend-Party,[5] die du besucht hast.
A. R.: Ich bin sehr gern unter Künstlern. Natürlich hatte ich auch den egoistischen Gedanken, die Bonner Kunsthalle damit zu unterstützen. Ich kam später in die Gesellschaft und saß dann neben Salome, der mich sogleich herausforderte. Salome hat mich darauf gebracht, daß bei der Mehrzahl von Ausschreibungen für Wettbewerbe von Bauten Künstler nicht ebenso wie die Architekten dabei sind. Salome hat mich so lustig überfallen und hat gefragt: »Was, Sie wollen mich verlassen, ohne von mir ein Autogramm zu haben?« Helmut Middendorf hat noch gesagt, er wäre früher mal Jungsozialist gewesen. Er hat mir in den Katalog reingeschrieben: »Auf der Linie von Helmut Schmidt für Annemarie Renger.«
R.L.: Kommen wir nach diesem Ausflug in die Kultur- und Kunstszene auf die Ereignisse 1974 zurück: den Kanzlerwechsel.
A. R.: Bevor Helmut Schmidt Bundeskanzler wurde, war er in meinen Augen der beste Fraktionsvorsitzende, den wir je hatten. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Attitüde, manchmal rüde mit Leuten umzuspringen oder auch arrogant zu sein, hat er die Fraktion straff geführt, ihr aber auch so viel Freiheit gelassen, daß sie kreativ sein konnte.
R.L.: Wie war dein persönliches Verhältnis zu ihm? Waren es freundschaftliche Gefühle?
A. R.: Ja! Ich will Helmut Schmidt keineswegs verherrlichen. Kontroversen gab es schon in der Zeit, als Helmut Schmidt Verteidigungsminister war, also in der ersten Regierung Brandt. Meine engeren Freunde hatten bemerkt, daß in der Partei nur eine Richtung Platz griff, die Brandt sogar noch begünstigte. In dieser Zeit bin ich mehrere Male bei Helmut Schmidt gewesen und habe gesagt, er wäre der einzige, der gegensteuern könnte.
R. L.: Bevor er Kanzler wurde ?
A.R.: Bevor er Kanzler wurde! Ich erinnere mich, als wir zusammengehockt und uns gegenseitig den Kropf geleert haben. »Da ist nichts mehr zu machen«, oder: »Wir müssen unbedingt etwas tun, die Partei geht einen falschen Weg. Der einzige könnte der Helmut sein.« Es war zwischen acht und neun Uhr abends, als ich gesagt habe: »Ich rufe ihn jetzt im Ministerium an und schau, ob er noch da ist. Ich werde jetzt hingehen und mit ihm sprechen.« So kam ich also auf die Hardthöhe, wo alles ruhig und still war und mir vorne der Wachhabende diesen zackigen Gruß machte, mich durch dunkle Flure in ein dunkles, lang gestrecktes Zimmer brachte. Am Ende saß Helmut Schmidt. »Helmut, ich bin von unseren Freunden beauftragt worden, mit dir über diese Probleme zu reden und dich um einen Vorstoß zu bitten und zu überlegen, ob du nicht stärkeren Einfluß auf den Parteivorstand nehmen könntest.« Das hat er sich angehört. Dann hat er gesagt: »Weißt du, jetzt habe ich mich gerade zurückgezogen und mir gesagt, das kann ich nicht ändern. Ich bin dazu auch gar nicht mehr in der Lage, weder körperlich noch psychisch. Ich habe jetzt dieses Amt als Verteidigungsminister. Das ist so umfassend, das muß ich gut machen. Laßt mich damit zufrieden!« Natürlich war ich tief enttäuscht, übrigens nicht zum ersten Mal. Damals hatte er schon resigniert.
R.L.: Er hatte seine gesundheitlichen Grenzen im Auge?
A. R.: Nachträglich würde ich heute hineindeuten, daß es auch eine gesundheitliche Überforderung war. Im Präsidium war er stets allein. Er beschwerte sich darüber, daß andere Absprachen trafen mit Eppler und Brandt, aber auch mit Wehner und Brandt. Sie kamen mit fertigen Beschlüssen und Empfehlungen, die er nicht kannte, was ihn immer aufgeregt hat. Unter der Kanzlerschaft von Brandt muß es für ihn noch bedrückender gewesen sein. Ich wanderte also wieder zurück zu meinen Freunden und sagte: »Ihr könnt alles vergessen. Mit dem ist leider nichts zu machen.«
R.L.: Es ist interessant, daß die Kanalarbeiter verschiedene Versuche machen, um Helmut Schmidt auf die Entwicklung in der Partei hinzuweisen. Es hat also eingesetzt in der Zeit, als er noch Verteidigungsminister war, schon vor 1972. Gab es einen Zusammenhang mit irgendwelchen Parteibeschlüssen?
A. R.: Wir hatten ja 1969 den großen Aufstand der Jungsozialisten mit den Beschlüssen von München. Es war diese Entwicklung nach der Studentenrevolte und deren Einflüssen auf die SPD, die uns auf den Plan gerufen hatte. Wir hofften, daß Helmut Schmidt gegensteuern würde. Wir hatten einfach Angst, daß die Partei - wie einstmals die SAP — ideologisch weit nach links abdriftete. Später, als die Regierung Helmut Schmidt in Gefahr war, haben wir traditionellen Sozialdemokraten alles getan, um diese Regierung zu halten. Durch diese Haltung wurden die Kontroversen mit den Linken so intensiv. Wir sagten uns, sie wissen nicht, was sie tun. Darum haben wir Warnsignale ausgesandt. Es lag uns daran, die Sympathie der jungen Generation zu gewinnen, aber doch nicht unter falschen Vorzeichen.
R.L.: Als junger Mensch wendet man sich immer gegen den eigenen Vater, nicht gegen Fremde.
A. R.: Gerade weil ich Schwierigkeiten mit der rebellierenden Jugend hatte, wollte ich mich damit auseinandersetzen. Ich regte also an, den Vorsitzenden des Berliner AStA, Knut Nevermann, vor den Abgeordneten in der Parlamentarischen Gesellschaft sprechen zu lassen. Die Bereitschaft zum Dialog war durchaus vorhanden. Allerdings gab es auch nach diesem Gespräch Verständigungsprobleme. Die Generation, die den Aufbau der Bundesrepublik erreicht hatte, fühlte sich zu Unrecht angeklagt.
R. L.: Entstand nicht erst später in der Auseinandersetzung um die Terrorismusgesetzgebung innerhalb der Fraktion die trennende Polarisierung von »Parlamentarischer Linken« und Mehrheitsfraktion?
A.R.: Die erste Ursache für die Polarisierung zwischen links und rechts - Begriffe, die ich im übrigen für mich ablehne - war die Notstandsgesetzgebung.
Parallel damit lief die Studentenbewegung. Die setzten sich mit ihren Beschlüssen in München 1969 im Gegensatz zur Gesamtpartei. Es war die Zeit der »Doppelstrategie« und neuer theoretischer Auseinandersetzungen. Ausgangspunkt für unsere realen Ängste, daß auch die zweite demokratische Republik kaputtgemacht würde, war die in den Terrorismus abgleitende Baader-Meinhof-Gruppe.[6] Am NATO-Doppelbeschluß brachen erneut Gegensätze in der SPD auf. Es ging darum, der Sowjetunion zu signalisieren, daß bei einer weiteren Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen SS 20 auch der Westen nachrüsten müsse in der Absicht, sie zu Verhandlungen zu zwingen. 1979, auf dem Berliner Parteitag der SPD, gelang es Helmut Schmidt noch, die Partei mit großer Mehrheit zur Annahme des Beschlusses zu bewegen. Wäre der Beschluß nicht zustande gekommen, hätte Helmut Schmidt zurücktreten müssen.
R.L.: Dort gab es das dramatische Duell von Schmidt und Eppler, das Erhard Eppler mit dem denkwürdigen Satz: »Lieber Helmut, nicht jeder Sieg ist schließlich auch ein Gewinn« beendete und damit später sogar recht bekommen hat.
A.R.: Ja, dauerhaft war diese Mehrheit nicht. Auf dem Sonderparteitag in Köln 1983 stimmten nur noch 14 Delegierte für die politische Linie von Helmut Schmidt. Es war für mich der traurigste und beschämendste Moment in meiner Partei.
R.L.: Laß mich am Schluß ein versöhnliches Ende finden: Ein stetiges Thema in über dreißig Jahren deiner politischen Arbeit war die Forderung, gleichen Lohn für gleiche Arbeit für die arbeitenden Frauen durchsetzen zu können. Für Musterprozesse hast du sogar die Unterstützung der Bundestagspräsidentin angeboten. Was hat dich dazu bewogen?
A. R.: Diese Aktion hat öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Durch meine Initiativen wurden Frauen in den Betrieben unterstützt, die nicht gewußt haben, welche Macht sie darstellen und welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. Also für gleichen Lohn einzutreten, aber auch die Gewerkschaften herauszufordern, sich stärker für die Interessen der Frauen, auch bei der Abschaffung der Leichtlohngruppen, einzusetzen. Ich bin durch viele Betriebe gegangen und habe am Arbeitsplatz Frauen zugehört. Ich bin auf Betriebsversammlungen gewesen, wo auf einmal Arbeiterinnen aufstanden und sagten: »Ich wußte vorher gar nicht, daß ich reden kann«, also einfach los geredet haben, nun schon unter dem Beifall der Männer. Es sind einige Musterprozesse geführt worden. Bei mir im Wahlkreis waren es zwei Betriebe. Bei den Arbeitgebern, mit denen ich sprach - ich bin auch zur Betriebsleitung gegangen -, war die Wirkung natürlich nicht überwältigend, aber sie haben Zugeständnisse gemacht. Leider hat auch die F.D.P. eine negative Rolle bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen gespielt und eine Bremserrolle bei der Diskussion um das EG-Anpassungsgesetz[7] und die Arbeitszeitordnung eingenommen. Das müssen jetzt die jüngeren Frauen machen.
Ich bin nach wie vor der Meinung, daß Veränderungen in der Gesellschaft nicht isoliert, allein von den Frauen durchgesetzt werden können. Wir Sozialdemokraten und insbesondere die weiblichen Abgeordneten haben Politik für die Frauen gemacht.