Gespräch mit Käte Strobel Im September 1984 in Überlingen und im Februar 1986 in Bonn
Käte Strobel: Es gibt bestimmte Dinge, die tauchen immer wieder auf, wenn man Gespräche über alte Zeiten führt. Ich hatte das große Glück, daß beide Eltern ungemein politisch interessiert waren. Aber da wir sechs Kinder waren und noch dazu ein Pflegebruder, also sieben Kinder insgesamt, konnte meine Mutter außer Haus nicht aktiv sein. Mein Vater hat dann abends meiner Mutter aus Bebels »Die Frau und der Sozialismus«[1] vorgelesen, während sie Strümpfe stopfte und Kleider ausbesserte. Dies war schon vor dem Ersten Weltkrieg, als beide die Armenkrankheit - eine Lungentuberkulose - hatten, mein Vater wurde deswegen erst 1916 eingezogen. Wie hat uns das als Kinder beeinflußt? ich bin das vierte Kind. Einer meiner Brüder, er ist 1902 geboren, hat bei einem Aufsatz in der Schule zu der Frage, was er werden wolle, geschrieben: ein August Bebel. Dies war typisch für unsere Erziehung. Meine Schwester, zwei Jahre älter als ich, war immer eine hervorragende Schülerin. Sie bekam ihre erste Strafe in der Schule mit einem Stock auf die Hand, weil sie gesagt hatte: »Christus war der erste Sozialdemokrat.«
Renate Lepsius: Wie standen dein Vater und deine Mutter zur Kirche ?
K.S.: Beide waren zwar in der evangelischen Kirche geblieben aus Rücksicht auf ihre Eltern, sind aber dann ausgetreten, als ihre Eltern starben. Wir sind nicht religiös erzogen worden. Meine Eltern waren an sich gegen die Kirche, weil diese gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung auftrat.
R.L.: Also, du bist nicht zur Konfirmation gegangen ?
K.S..: Ich bin konfirmiert worden, habe das noch durchgesetzt, als meine Eltern schon ausgetreten waren, aber doch aus einem durchsichtigen Grund: Ich war mit der Tochter des Pfarrers, der uns konfirmiert hatte, befreundet. Ich bin dann mit 16 Jahren auch aus der Kirche ausgetreten. Mein ältester Bruder, er ist 1899 geboren, kam aus der ersten Klasse der Volksschule nach Hause und sagte: »Heute hat uns der Lehrer ein schönes Märchen erzählt.« Er meinte die Geburt Christi.
In dieser Zeit arbeitete mein Vater schon als Zuschneider in der Schuhfabrik, war also nicht mehr selbständig als Schuhmachermeister tätig. Sein Vater war noch Schäfer und kam aus einer kleinbäuerlichen Familie aus dem Mittelfränkischen. Mein Vater wurde sehr früh Vertrauensmann seiner Kollegen im Betrieb. Ich erinnere mich auch, daß in dieser fränkischen Schuhfabrik die Arbeiter, als mein Vater entlassen worden war, so lange gestreikt haben, bis er wieder eingestellt wurde. Damals gab es ja noch keinen Kündigungsschutz für einen Vertrauensmann. Das muß vor dem Ersten Weltkrieg gewesen sein.
R.L.: Kannst du dich noch erinnern, welche Bücher bei euch zu Hause eine Rolle spielten?
K.S..: Das ist eine sehr unpolitische Erinnerung, die ich im Zusammenhang mit Lesen habe. Da sind die Courths-Mahler-Heftchen, meine Schwester und ich haben sie leidenschaftlich gern gelesen. Wenn meine Mutter kam, haben wir sie immer vor ihr verstecken müssen!
R.L.: Wollte sie nicht, daß ihr die schönen Schmalzgeschichten lest?
K.S.: Das wollte sie absolut nicht! Aber ich könnte nicht sagen, ob mein Vater Bücher hatte, die man gewissermaßen als Bibliothek bezeichnen könnte. Mich selbst haben später Lily Brauns »Memoiren einer Sozialistin« sehr beeindruckt. Denn alles, was nicht konformistisch ist, bleibt ja länger hängen. Ich habe meine alte Ausgabe immer noch zu Hause; ich kann mich nicht davon trennen, ebensowenig wie von Bebels »Frau und der Sozialismus.«
R.L.: Welche Ausbildung haben eure Eltern dir und deinen Geschwistern mit auf den Weg geben können?
K.S.: In meiner Schulzeit hat mich immer belastet, daß wir Freischüler waren und die Bücher nicht selber kaufen konnten. Von daher stammt mein Engagement für Erziehungsfragen, für die kostenlose Bereitstellung sämtlicher Lehr- und Lernmittel und für die Simultanschule. Ich habe meinen Kopf durchgesetzt, daß ich wenigstens die Handelsschule besuchen konnte. Als ich nun aus der Schule kam, gab es zu Hause lebhafte Diskussionen. Meine ältere Schwester, die selbst gerne Lehrerin geworden wäre, sagte: »Käte müßte eigentlich Strafverteidiger werden.« Ich habe schon damals gekämpft, wenn ich etwas als ungerecht empfand, und habe mich überall hineingehängt, auch wenn es mich nichts anging. Eigentlich wollte ich Gärtner werden. Aber mein Vater sagte mir, das habe keinen Sinn, wenn man nicht Eltern hat, die einem eine Gärtnerei verschaffen können. Da blieb dann eben die Handelsschule, weil ich gute Zeugnisse und auch eine schöne Handschrift hatte.
R.L.: Wie war die politische Einstellung deines Vaters?
K.S.: Er war immer gegen die Bewilligung der Kriegskredite. Aus dem Krieg zurückgekommen, ist er der USPD beigetreten. Im Zentralverband der Schuhmacher mit Sitz in Nürnberg war der Reichstagsabgeordnete Simon Vorsitzender, einer der bekannten USPD-Reichstagsabgeordneten. Zu seinem Kreis gehörte mein Vater.
R.L.: Dein Vater ist aber 1922 beim Zusammenschluß in die SPD zurückgekehrt und nicht in die KPD gegangen?
K.S.: Ja, denn antikommunistisch war er eigentlich immer. Daß er in der USPD war, hat bei mir dazu geführt, daß ich in der SPJ war. Es gab ja die Arbeiterjugend der sozialdemokratischen Partei in der Zeit der sogenannten MSPD. Meine Schwester und ich waren aber in der Sozialistischen Proletarierjugend, der Jugend der USPD. Bei uns herrschte eine gewisse Überheblichkeit gegenüber der Arbeiterjugend, die wir als »Tanzjugend« bezeichneten. Für uns waren das Volkstänzer, während wir uns auf Bildung konzentrierten. Dazu möchte ich eine Episode aus der ersten Wahlperiode erzählen: Ich hatte im Bundestag gesprochen. Danach kam Erich Ollenhauer zu mir und sagte: »Der Renner war eben bei mir und hat mich gefragt: > Woher weiß Frau Strobel das alles?<« Ollenhauer hat mir weiter erzählt: »Da war ich stolz und habe ihm gesagt: Dieses Wissen haben wir alle uns in der Jugendbewegung angeeignet.«
In meiner Jugend habe ich alles verschlungen, was es zu lesen gab. Geographische und naturkundliche Schriften haben mich ungemein interessiert. Die Anregungen bekam ich über die Sozialistische Proletarierjugend und auch über den »Offenen Zeichensaal« in Nürnberg, wo Weiterbildung am Abend angeboten wurde. Der »Offene Zeichensaal« war von der Stadt organisiert, erst später gab es daneben die Volkshochschule. Damals habe ich auch an der Volkshochschule ein Seminar über die Vereinigten Staaten von Europa besucht. Mich hat das schon immer bewegt. Als SPJler waren wir äußerst gesellschaftskritisch. Ich kann mich entsinnen, daß wir uns bei einer Maifeier der USPD als Jugendgruppe auf die Bühne gestellt und gesungen haben: »Der Feind, den wir am tiefsten hassen, das ist der Unverstand der Massen!« Damit haben wir unsere eigenen Eltern gemeint und die USPD, weil dort geraucht und getrunken wurde und Modetänze getanzt wurden.
R. L.: Diese Gesellschaftskritik in Organisationen der Jugendbewegung innerhalb der Partei hat uns ja auch später ständig begleitet, Generationskonflikte und vermutlich auch andere Gesellschaftsauffassungen, die sich von den Vorstellungen der Eltern abheben. Mit 18 Jahren bist du in die SPD eingetreten und dann später Landesvorsitzende der Kinderfreunde[2] in Bayern geworden.
K.S..: In der SPJ in Nürnberg hatten einige Leute intensiv mit der Kinderbetreuung angefangen. Ich habe dann ebenfalls das Schwergewicht meiner politischen Arbeit auf sozialistische Erziehung in der Kinderfreundebewegung gelegt. Ich hatte eine Falkengruppe als Helfer. Wir haben uns auch mit Fragen sozialistischer Politik auseinandergesetzt. Ich habe in meinem Leben schon immer gern viel und engagiert diskutiert. Mein Mann und ich haben schon bei den Kinderfreunden oft um politische Auffassungen gestritten. Er wollte immer mit dem Kopf durch die Wand.
Für eine Organisation hatten die Nürnberger Kinderfreunde kein Geld. Mein Mann arbeitete als Schriftsetzer bei der Parteizeitung. Wir haben abends nach der Arbeit - ich war seit 1923 kaufmännische Angestellte beim Bayerischen Landesverband für Obst- und Gartenbau - im Büro der Parteileitung Schriften angefertigt, Matrizen geschrieben und abgezogen. Wir haben gemeinsam unsere Gruppenabende und am Wochenende die Wanderungen mit den Kindern gemacht. Für unsere Ferienzeltlager hatte Kurt Löwenstein, der Vorsitzender der Kinderfreunde im Deutschen Reich war, die Idee der Kinderrepublik, die erstmals 1922 in Seekamp bei Kiel umgesetzt wurde. Der Gedanke der Kinderrepublik beruhte auf Selbstverwaltung und praktizierter Demokratie durch die Kinder. Jedes Zelt bildete eine Familie, einige Zelte zusammen eine Dorfgemeinschaft mit Bürgermeister. Ziel der Kinderrepublik war die praktische Erziehung zum demokratischen Sozialisten. Ich war als Kinderfreundehelfer Parteifunktionär. Es war eine große Familie: die Gewerkschaften, die Partei, die Jugendbewegung und die Kinderfreundebewegung.
R.L.: Wie bist du dann 1932 in den Reichsvorstand gekommen?
K.S.: Ich gehörte zu der Gruppe von Leuten, die in den Diskussionen hervorgetreten waren: Franz Haas, später Bürgermeister von Nürnberg, Karl Maly, später Jugendamtsdirektor - übrigens mein Schwager -, mein Mann und ich. Mein Mann war Nürnberger Vorsitzender, Franz Haas Bezirksvorsitzender und ich Landesvorsitzende. Wahrscheinlich bin ich als Landes Vorsitzende in den Reichsvorstand berufen worden.
R.L.: Also eine Art Seilschaft, die ihr da gebildet habt!
K.S..: Auch im Widerstand hat sie ihren Zusammenhalt bewahrt, als 1933/ 34 Franz Haas und mein Mann verhaftet wurden, weil sie eine Widerstandsgruppe in Nürnberg gebildet hatten. Nach 1933, als die meisten Männer einen Zeitschriftenverteiler organisiert hatten, war mein Mann der Kontaktmann zur Nachrichtenübermittlung über Fritz List in Berlin zur Partei in der Tschechoslowakei. Er hat mit Tinte, die man nachher nicht mehr lesen konnte, seine Berichte geschrieben, die Fritz List bei uns abgeholt wie auch im ganzen Reich gesammelt hat. In dieser Zeit konnte ich nie schlafen - aus purer Angst. Mein Mann sagte immer: »Ich kann gut schlafen, ich habe ein ruhiges Gewissen.« Sein Gewissen war nur beruhigt, weil er etwas gegen die Nazis tat.
R.L.: Hatte er denn seinen Beruf verloren ?
K.S..: Mein Mann war in der Parteizeitung »Fränkische Tagespost« tätig, die von den Nazis verboten wurde. Auch mein Vater hat seinen Beruf verloren, er war ja bei den Gewerkschaften. Mein Schwager hat seine Stelle verloren, weil er ehrenamtlicher Stadtrat war. Auch meine beiden Brüder wurden arbeitslos.
R.L.: Hast du deine Tätigkeit aufgeben müssen?
K.S..: Ich habe weiter arbeiten können, weil der Chef des Bayerischen Landesverbandes für Obst- und Gartenbau, der ein sehr engagierter Mann bei der Bayerischen Volkspartei gewesen war, mich gehalten hat. Als der Prozeß gegen meinen Mann anlief, hat er zu mir gesagt: »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Das war mutig, weil ja alle Namen immer groß in der Presse standen und wir einen Beauftragten hatten, dem er Rechenschaft ablegen mußte.
R.L.: Du hast dann die Familie ernährt?
K.S.: Meine Kinder wurden erst geboren, als mein Mann wieder aus dem KZ zurückkam. 1938 ist meine erste Tochter auf die Welt gekommen. In unseren ersten Ehejahren hatten wir keine Zeit für eigene Kinder, weil wir uns um die Kinder anderer Leute gekümmert haben. Wir wollten auch noch keine Kinder. Das hing auch mit dem § 218 zusammen. Wir waren damals in einem Verein für Sexualhygiene. Das war eine Organisation, die Hilfe bei der Empfängnisverhütung und, wenn nötig, auch für einen Schwangerschaftsabbruch anbot.
R. L.: Du schilderst, daß dein Mann mit ruhigem Gewissen schlafen konnte, gerade weil er etwas gegen die Nazis unternehmen konnte, daß er Berichte nach Berlin durchgegeben hat und daß sich viele Genossen aus der Arbeiterjugend am Widerstand beteiligt haben.
K.S.: Ja, aber was mein Mann machte, das hat er in Nürnberg allein gemacht. In Berlin waren viele verhaftet worden oder geflohen. Er hat den Kontakt aufrechterhalten und diesen Auftrag bekommen, hat sich Leute gesucht, von denen er Material bekam. Parallel sind damals Gruppen entstanden, die in Prag den sozialistischen Pressedienst und den »kleinen Vorwärts« holten. Ursprünglich sollte dies auch mein Mann machen, also schwarz über die Grenze gehen und Zeitschriften holen. Dann kam jedoch über Fritz List der andere Auftrag, der wichtiger erschien. Aber an der Weitergabe hat er sich beteiligt. Dann haben sie Heiner Stöhr gebeten, die Grenzgänge zu übernehmen. Als diese Gruppe am 22. April 1934 aufflog, wurde auch mein Mann verhaftet. Nachts um drei Uhr ist er verhaftet worden. Aber er galt eben nur als Verteiler. Heiner Stöhr kam damals ins Zuchthaus und war bis zum Schluß in Dachau. Wir Frauen haben von allem gewußt und haben uns auch indirekt beteiligt.
Ich hatte damals folgendes Erlebnis: Als mein Mann schon bei den »999ern«, also schon zum Strafbataillon eingezogen worden war und ich auf dem Lande mit den Kindern lebte, weil wir erstmals in Nürnberg total ausgebombt wurden, da fiel mir ein, um Gottes willen, im Garten, im Schuppen steht ein Fahrrad, und in der Lenkstange ist diese »sozialistische Aktion« und der »kleine Vorwärts« verborgen. Mein Nachbar war ein hoher SS-Funktionär, deshalb war ich besorgt. Damals bin ich dann mit dem Fahrrad in die Gartenstadt gefahren und habe alles rausholen und vergraben können.
R.L.: Wie viele sind denn damals verurteilt worden ?
K.S..: Das waren ungefähr zwanzig Leute, alle, die in Nürnberg diese Schriften verteilt haben. Bald darauf ist auch die Münchener Gruppe verhaftet worden. Mein Schwager, Karl Maly, war von Anbeginn in Dachau, weil alle Nürnberger Stadträte sofort nach Dachau kamen. Karl berichtete nach seiner Entlassung: »In Dachau wissen alle, was ihr hier macht. Das kann nicht mehr lange dauern, dann fliegt ihr alle auf!« Als die Schutzhaft vorüber war und sie in die Untersuchungshaft kamen, unterstanden sie einem Amtsrichter. Dieser Amtsrichter wollte sich immer mit mir unterhalten. Bei ihm lief die ganze Post durch. Er kannte den Briefverkehr zwischen meinem Mann und mir genau. Er hat mal zu mir gesagt: »Allen Respekt vor diesen Männern. Sie haben es verstanden, ihre Frauen aus der Verhaftung herauszuhalten, und nie zugegeben, daß die Frauen das gewußt oder auch mal mitgemacht haben.«
R.L.: Ist dein Mann gefoltert worden?
K.S..: Mein Mann war zum Beispiel im Loch-Gefängnis unterm Rathaus. Das sind die alten Loch-Gefängnisse, wo die Gefangenen in Einzelhaft bis zum Bauch im Wasser standen. Als ich schon im Stadtrat in Nürnberg war, kam ich zufällig in die Eingangshalle des Rathauses und sah meinen Enkel mit einem Verwandten an der Seite. Ich fragte: »Was macht ihr denn hier?« »Wir gehen in die Loch-Gefängnisse!« Darauf sagte ich: »Dein Großvater war in den Loch-Gefängnissen damals in sogenannter Schutzhaft.« Mein Mann hat darüber nie gesprochen, auch über Dachau nicht.
R.L.: 1937 ist dein Mann entlassen worden. Hat er dann wieder Arbeit gefunden ?
K.S..: Er wurde überall abgewiesen. Er hat vorübergehend einmal in einer Oblatenfabrik gearbeitet, die einem Kommunisten gehörte. Dieser Otto Schmidt hat Leute wie meinen Schwager und meinen Mann beschäftigt, die keine Arbeit finden konnten, weil sie politisch unzuverlässig waren. Später hat er sogar noch die staatliche Schriftsetzermeisterprüfung machen können und bei einem Buchdrucker gearbeitet, bis er 1943 zu den »999ern« eingezogen worden ist. Er hat gesagt, das Strafbataillon sei schlimmer gewesen als Dachau. Das hing damit zusammen, daß er nur in der ersten Zeit nach der Machtergreifung in Dachau war. Auch bekannte jüdische Bürger aus Nürnberg wurden zu Tode gefoltert. Aber die Massenvernichtung hatte noch nicht begonnen.
R.L.: Du hast doch die politischen Ideale mit deinem Mann geteilt, oder?
K.S..: Er war hundertprozentig für die Gleichberechtigung und hat mich immer gefördert.
R.L.: Du hast einen Mann gehabt, der in der Nazizeit gequält wurde und dessen gesamte Familie für seine Gesinnung zahlen mußte, einen Mann, der nach 1945 zu deinen Gunsten auf öffentliche Ämter verzichtet hat. Das war wohl für ihn in mancher Hinsicht ein Opfer.
K.S.: Er war aber im Jahr 1945 nicht da! Ich bin überzeugt, wenn mein Mann damals dagewesen und nicht erst 1946 gekommen wäre, daß es dann anders gelaufen wäre. Die SPD in Nürnberg hätte sicher damals nicht Ehepartnern je ein Mandat angetragen. Das ist heute anders. Als mein Mann zurückkam, war ich bereits Kandidatin für den Bayerischen Landtag. Dann wurde ich für den Bundestag aufgestellt. Mein Mann, der dann bei der Stadt Nürnberg Personalrat war, wäre sicher für den Stadtrat aufgestellt worden, wenn nicht seine Frau ein Mandat gehabt hätte. So war das halt damals! Meine Schwester meinte seinerzeit, wenn ihr Mann aus dem Krieg zurückkäme, würde sie ihm die Haare einzeln ausreißen, wenn er sich wieder um Politik kümmern würde. Dann kamen die ersten Meldungen, daß Fritz Schäffer von den Amerikanern zum bayerischen Ministerpräsidenten berufen wurde. Da habe ich zu meiner Schwester gesagt: »Wir müssen uns doch um die Politik kümmern, sonst wird ganz Bayern schwarz.«
R.L: 1949 wirst du in den Bundestag gewählt, dem du bis 1972 angehörst. Als Mitglied des Parteivorstandes ab 1958 zählst du mit zu den führenden Frauen in der Partei. 1966 wirst du die erste sozialdemokratische Bundesministerin.
K.S.: Ich habe unseren Frauen in Franken damals gesagt: »Steht nicht dauernd an der Klagemauer, sondern leistet praktische Arbeit auf Gebieten, in denen wir den Männern beweisen können, daß wir nicht nur Sozial- und Frauenpolitik machen.« Ich hatte aber auch Schwierigkeiten, denn bei der Kandidatenaufstellung für den ersten Deutschen Bundestag war mir in Nürnberg ein Mann vorgezogen worden. Ich war in der Kampfabstimmung unterlegen und über die Landesliste in den ersten Bundestag gekommen. Ich habe 1953 im Erlanger Wahlkreis kandidiert, ihn aber nicht geholt. Damals habe ich sämtliche Bürgermeister besucht. Da hat mir einer mal gesagt: »Hoffentlich haben Sie einen sicheren Listenplatz auf der Landesliste, denn Weiber werden bei uns nie gewählt!« 1957 habe ich dann in Nürnberg kandidiert. Inzwischen war ich im Europäischen Parlament. Dann hieß es: »Die Käte hat inzwischen so viele übergeordnete Aufgaben, sie muß den Wahlkreis Nürnberg bekommen.« Aber als die CDU die absolute Mehrheit errang, habe ich den Nürnberger Wahlkreis, den wir seit 1893 hatten, verloren. Ein völlig namenloser Politiker, der Vorsitzende der Nürnberger Hausbesitzer, wurde statt dessen gewählt.
R.L.: 1958 bist du auf dem Stuttgarter Parteitag in den Parteivorstand gewählt worden. Du gehörtest zusammen mit Irma Keilhack und Marta Schanzenbach zu einer neuen Generation von Frauen in der Parteiführung
K.S..: Im geschäftsführenden Vorstand war bis 1958 Herta Gotthelf für die Frauenarbeit und die »Gleichheit« zuständig. Wir haben die Herta alle geliebt. Sie war ungemein aktiv, sie kam aus der Emigration. Aber es gab immer Meinungsverschiedenheiten mit Herta, weil sie dagegen war, daß wir in den überparteilichen Organisationen mitgearbeitet haben, also in der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie war für die Isolation - so haben wir es genannt.
R.L.: Sie repräsentierte noch die sozialistische Gegenkultur - die Klassengesellschaft - aus einer vergangenen Zeit.
K.S..: Einige von uns waren für mehr Einfluß in den Frauenverbänden. Dies schaffte ein gewisses Gegengewicht zu Herta. Das war die eine Sache. Die andere war, daß es in der Partei seinerzeit eine Aversion gegen den hauptamtlichen geschäftsführenden Vorstand gab. Dies übertrug sich auch auf Herta Gotthelf. Jedenfalls haben wir alle 1958 kandidiert.
R.L.: Wer hat dich denn gefragt? Wie ist es zu deiner Kandidatur dann gekommen?
K.S..: Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, daß die Bayern sagten: »Das geht nicht, denn dann haben wir drei Kandidaten, möglicherweise wird der oder der nicht mehr gewählt.« Diese Geschichte haben Frauen ja immer wieder erlebt, daß man ihnen vor einem Parteitag sagte-»Wenn du auch noch kandidierst, gefährdest du den!« Es waren immer nur die Frauen, die angeblich andere gefährdet haben.
R.L.: Wie waren denn deine Beziehungen zu deinen Kolleginnen, zum Beispiel zu Marta Schanzenbach? Ihr habt im Parteivorstand zusammengesessen und im Bundesfrauenausschuß eng zusammengearbeitet. Ich erinnere mich, als wir sogenannten jüngeren Frauen 1961 in den Bundesfrauenausschuß kamen und die »Frauenenquete« vorbereitet haben, daß wir eng kooperiert haben.
K.S.: Wir haben alle relativ gut zusammengearbeitet. Ich habe mit Irma Keilhack in der Verbraucherpolitik viel zusammengemacht. Marta und ich hatten unterschiedliche Aufgabengebiete. Ich hatte außerdem ein besonders gutes Verhältnis zu Elinor Hubert, obwohl es vorher keine Berührungspunkte mit ihr gab. Wir haben Marta auch im Bundesfrauenausschuß sehr gestützt. Sie kam ja auf den Gedanken, daß man die Frauenarbeit etwas emanzipatorischer machen sollte. Dann kam die Frage, ob Annemarie Renger als Nachfolgerin von Marta Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses werden sollte. Auch Lucie Kurlbaum-Beyer war im Gespräch. Sie war ehrenamtlich stark engagiert in den Konsumgenossenschaften. Lucie und ich kannten uns von daher. Damals gab es interne Diskussionen darüber, wie man die Frauenarbeit ein bißchen aus der mütterlichen Ecke herausführen könnte. Die Frage war, ob das über Annemarie Renger oder Lucie besser gelänge. Wir fragten uns auch immer, wer setzt sich im Vorstand am besten durch?
R.L.: Das war einmal im Parteivorstand und dann in der Bundestagsfraktion. Habt ihr euch da schon zusammengeschlossen und eure Vorstellungen mit eingebracht?
K.S..: Die erste, die von uns vorpreschte, war Anni Krahnstöver. Anni hat anfänglich neben Louise Schroeder sicher am meisten Einfluß auf die Fraktion genommen.
R.L.: Wie war das eigentlich mit dem »Hofgartenkränzchen«, auf das mich einige Kolleginnen angesprochen haben? Mit welchen Fraktionskollegen hattest du denn engeren Kontakt?
K.S..: Das Hofgartenkränzlein war ein kleiner, offener Diskussionskreis. Die etwas feuilletonistische Bezeichnung war wohl entstanden, weil wir uns in einem Raum am Bonner Hofgarten trafen. Man konnte in dieser Diskussionsrunde laut denken, ohne darauf festgenagelt oder zitiert zu werden. Es wurden unterschiedliche Gesprächspartner eingeladen, um auch alternative Möglichkeiten zu diskutieren.
R.L: Wie ist diese Gesprächsrunde entstanden? Kannst du dich erinnern, wer daran im Laufe der Jahre teilgenommen hat?
K.S..: Entstanden ist es aus ganz persönlichen Kontakten. Zum Diskussionskreis gehörten Sozialdemokraten unterschiedlicher Richtung. Die einen, Walter Seuffert, Erwin Schoettle, Herbert Kriedemann, kamen aus dem Wirtschaftsrat, sie hatten meines Wissens in dieser Zeit auch viel mit Anni Krahnstöver diskutiert, bevor diese später Mellies heiratete. Daß Waldemar von Knoeringen zu uns stieß, wenn er mal in Bonn war, ging vielleicht auf die Kontakte der Emigrationsgruppe »Neues Beginnen« zurück. Ich bin wohl über meine Zusammenarbeit mit Herbert Kriedemann in der Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik eingeladen worden. Wir haben schon damals in Straßburg gegen die Konzeption bzw. Preispolitik der EG opponiert. Wir sind eben öfter mal miteinander ein Glas Wein trinken gegangen und haben selbstverständlich miteinander diskutiert. Du fragst mich, wer sonst teilgenommen hat: Ich erinnere mich an Heinrich Deist, Fritz Erler, Ludwig Metzger, ich denke, daß auch Helmut Schmidt als Gesprächspartner sehr gefragt war, Willy Brandt, der in dieser Zeit noch in Berlin war, und ich glaube, Carlo Schmid und Irma Keilhack.
R.L.: Kann man sagen, daß dies ein geistiger Vorläufer für den Stuttgarter Parteitag und für Godesberg gewesen ist? Zumindest habe ich den Eindruck, daß viele dieser Politiker das Godesberger Programm inhaltlich unterstützt und forciert haben. Diese Namen sind ja weitgehend identisch mit den Politikern, die 1958 in den Parteivorstand in Stuttgart gewählt worden sind.
K.S..: Ich würde eher sagen, daß engagierte sozialdemokratische Politiker den Wunsch hatten, in einem offenen Gesprächskreis völlig frei miteinander zu diskutieren - was meines Erachtens gut und wichtig war. Aber wir legten Wert darauf, uns jeder Fraktionsbildung zu enthalten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß es keine Personaldiskussionen, keine Abreden und kein Festlegen auf Meinungen gab. Man konnte ungeschützt miteinander reden, in einer vertraulichen Atmosphäre.[4] Mit Genossen, die ich gut kannte, habe ich mich auch scharf auseinandergesetzt.
In der ersten Wahlperiode ging es um den Butterpreis. Damals hatten wir noch feste Preise. Da hat Herbert gesagt, weil ich nicht für die Erhöhung war: »Wenn man natürlich von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, kann man leicht für einen niedrigeren Butterpreis eintreten.« Da habe ich geantwortet: »Ich habe zwar nicht wie du sechs Semester Volkswirtschaft studiert, aber als Hausfrau gelernt, wie sich eure Gesetze aus dem Wirtschaftsrat auf uns ausgewirkt haben.« Die Fraktion stimmte so, wie Herbert Kriedemann und Professor Fritz Baade das wollten. Baade sagte eine Woche später zu mir: »Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen. Sie hat gesagt, Frau Strobel hat Recht!« So hat man Selbstsicherheit gewonnen, wenn Kollegen einem zugestanden haben, daß man nicht dumm ist.
R.L.: Hattest du denn persönliche Beziehungen zu Herbert Wehner, der als Architekt der Großen Koalition gilt?
K.S..: Ich habe immer einen persönlichen Draht zu Herbert gehabt. Das geht zurück auf die Zeit, als ich in den Parteivorstand kam. Nach Willy Fischers Tod habe ich seine Frau Gunda zu meinem Fahrer gemacht, weil sie plötzlich im Abseits stand. Herbert Wehner, der schon immer menschliche Kontakte förderte, hat sich sehr gefreut, daß ich das gemacht habe. Respekt als Politikerin habe ich mir bei Wehner in einer der ersten Parteivorstandssitzungen verschafft. Um was es ging, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß er mich ruppig behandelt hat. »Ich bin genauso gewählt wie du«, habe ich zu ihm gesagt, »so laß ich mich von dir nicht behandeln. Du kannst unrecht haben, und ich kann unrecht haben!« Von diesem Moment an hat er mich respektiert.
R.L.: Ich habe etwas Ähnliches erlebt.
K.S..: Natürlich hat er einen nur akzeptiert, wenn man etwas geleistet hat. Anders Helmut Schmidt: Wenn ihn etwas drückte, jammerte er ein bißchen. Helmut sagt zu mir immer noch »Tante Kate«, und das schon seit langem. Ein Beispiel aus dem Kabinett, das für mein Verhältnis zu Helmut typisch ist: Willy Brandt hatte die Angewohnheit, wenn die Sitzung geschlossen war, Witze zu erzählen. Einmal sagte er: »Ah, ich wüßte noch einen schönen Witz, aber der ist eigentlich nichts für Frauenohren. Kate, hör' halt weg!« Darauf sagte Helmut: »Wieso, Käte habe ich immer für einen Mann gehalten!« So war seine Art, eine Person zu akzeptieren. Helmut und ich, wir waren nicht immer einer Meinung. Aber wir haben alles offen miteinander ausgetauscht. Er gehörte auch zu denen, die nachher bei jeder Gelegenheit sagten: »Menschenskind, du fehlst uns !«
R.L.: Als erster sozialdemokratischen Bundespolitikerin wird dir 1966 in der Großen Koalition das Amt der Gesundheitsministerin angetragen. Wie ist diese Aufgabe auf dich zugekommen?
K.S..: Ich muß hier ein bißchen ausholen. In dieser Zeit war ich bereits Vorsitzende der Sozialistischen Fraktion des Europäischen Parlaments. Ins Europäische Parlament war ich gegangen, weil ich immer für die Vereinigten Staaten von Europa eintrat, zugleich auch aus meiner Erfahrung im Bundestag mit der Landwirtschaftspolitik. In der Mannschaft von 1965 war ich eigentlich als künftiger Europaminister vorgesehen. Dann kamen die Verhandlungen über die Große Koalition, die Herbert Wehner geführt hat. In der Fraktion gab es die Auseinandersetzung über die Frage, ob eintreten oder nicht. Fritz Erler war schon krank. Er hatte einen Brief geschrieben, daß man eintreten sollte. Es war ein sehr überzeugender Brief, gerade von ihm. Dann rief Willy Brandt mich an und sagte: »Wir bekommen keinen Europaminister. Bist du bereit, den Gesundheitsminister zu machen?« Ich mußte mich sofort entscheiden. Blitzschnell habe ich also im Kopf geschaltet: Gesundheitsminister, das sollte eigentlich Elinor Hubert werden.
R.L.: Du hast sofort an Elinor Hubert, an die einzige Ärztin in unserer Fraktion, gedacht?
K.S..: Es waren damals drei Ärzte in der Fraktion, aber ich habe sofort an Elinor Hubert gedacht, weil sie führend war in der Gesundheitspolitik der SPD. Ich weiß nicht mehr, ob ich das Willy Brandt gesagt habe. Ich weiß nur, daß ich dachte, wenn also schon ein Ministeramt einer Frau angeboten wird, dann darfst du nicht nein sagen. Das war eigentlich die grundsätzliche Überlegung, so daß ich dann ja sagte.
R.L.: Hast du diese Entscheidung allein getroffen oder nach Rücksprache mit deinem Mann?
K.S..: Nein, ich habe sie für mich allein getroffen, aber in Übereinstimmung mit meinem Mann. Wir hatten vorher zu Hause über die Große Koalition und über die Mannschaft diskutiert. Die Belastung war für ihn schon sehr groß durch meine Funktion in der sozialistischen Fraktion des Europäischen Parlaments. Ich war immer unterwegs.
R.L.: Gleichzeitig warst du die führende Parteifrau der SPD. Du warst zu diesem Zeitpunkt im Parteivorstand, auch im Präsidium, nach dem Ausscheiden von Marta Schanzenbach. Du bist 1966 an ihre Stelle getreten. Dies ist ja wohl einvernehmlich gelaufen.
K.S.: Ja sicher, mit Marta hätte ich nie konkurriert. Ich habe also ja gesagt und mich danach sofort mit Elinor Hubert und Hans Bardens, dem zweiten Arzt in der Fraktion, zusammengesetzt. Beide haben mir sehr geholfen. Denn für die Gesundheitspolitik brachte ich ja nur aus meinem Engagement für die Verbraucher meine Kenntnisse zum Lebensmittelrecht und zur Veterinärmedizin mit.
R.L: Nun hast du ein Ministerium bekommen, das wenig Kompetenzen hatte.
K.S..: Erstens wenig Kompetenzen und zweitens besetzt von Juristen - eigenartigerweise. Frau Schwarzhaupt, meine Vorgängerin, war Juristin. Ihr Staatssekretär war ebenfalls Jurist. Er war ein tüchtiger, angenehmer Mann. Auch die Abteilungsleiter waren zum Teil Juristen. Elinor Hubert wie Hans Bardens, aber auch führende Gesundheitspolitiker der CDU, die sagten alle: »Jetzt wird endlich mal von Manger-Koenig Staatssekretär, das ist der prädestinierte Mann dafür!«
R.L.: Und er wurde es.
K.S..: Ich habe selbstverständlich von Manger-Koenig genommen, weil ihn mir Elinor und Hans Bardens empfohlen haben. Dann kamen einige Angriffe: Diese Gesundheitsministerin wisse nicht einmal, wie man einen Blinddarm operiere. Im Ministerium herrschte eine massive Antistimmung. Es war ein ganz schwarzer Laden. Ein Mediziner, der eine Unterabteilung leitete, hatte in der Kantine öffentlich darüber gesprochen, daß ich nicht einmal wisse, wie man Fremdwörter ausspreche. Eine Volksschülerin werde den Ärzten vor die Nase gesetzt. In diese Richtung gingen die Angriffe. So etwas hat bei mir immer dazu geführt, daß ich mir sagte: »Denen werde ich beweisen, was ich kann.« Unsere Leute, Elinor und Hans Bardens, hatten Frau Schwarzhaupt schon das Leben sauer gemacht. Sie haben sie in der Fragestunde ständig mit medizinischen Fragen attackiert, und sie hat selber antworten müssen.
R.L.: Damals wurden noch die Minister in die Fragestunde reingeholt ?
K.S..: Es gab ja noch keine Parlamentarischen Staatssekretäre. Sie haben sie also ständig auch über spezielle medizinische Dinge stolpern lassen. Man erhält die Fragen, läßt sich von den Beamten die Antworten formulieren, und dann muß man selber sehen, wie man weiterkommt bei den Zusatzfragen. Dafür haben sich die anderen dann bei mir rächen wollen. Nun haben wir vereinbart, wenn es ganz medizinisch wird, dann geht von Manger-Koenig in die Fragestunde.
R.L.: Wie ist es dann 1969 zur Zusammenlegung gekommen ? Das Jugend-und Familienministerium waren ja bis dahin gesonderte Ministerien. Hast du um die zusätzlichen Kompetenzen Jugend und Familie gekämpft?
K.S.: Nein. Der Ausgangspunkt war: Wir hatten im Wahlkampf schon immer gesagt, daß die Zahl der Ministerien verringert werden sollte. Außerdem wollte ich nicht allein als Gesundheitspolitikerin abgestempelt sein. Ich habe immer die Meinung vertreten, Frauen sollen sich nicht ausschließlich in soziale Fragen abdrängen lassen. Ich war 1949 eingestiegen in die Landwirtschaftspolitik, bin in den Außenhandelsausschuß gegangen, weil ich wußte, von einer liberalen Außenhandelspolitik hängt einiges für die Preisentwicklung ab, und bin eigentlich über die Europapolitik im Außenpolitischen Ausschuß gelandet. Natürlich lag mir die Gesundheit der Verbraucher am Herzen. Das Gesundheitsministerium war für das Lebensmittelrecht und für die Veterinärmedizin zuständig. Das war ein großes Glück für mich, weil ich darüber alles wußte, was man wissen mußte. Insofern haben Irma Keilhack und ich in die Konzeption der Gesundheitspolitik erst den Gesundheitsschutz über Ernährungsfragen eingebracht. Bei den Beratungen spielten natürlich auch die schlechten Erfahrungen mit dem Familienrniniste-rium eine Rolle, das weniger gesellschaftspolitisch als weltanschaulich tätig war. Im Koalitionsgespräch mit der F.D. P. wurde beschlossen, Gesundheit, Jugend und Familie zusammenzulegen. Es war damals der Wunsch von Willy Brandt, daß man das Ministerium in Jugend, Familie und Gesundheit umtauft und »Jugend« an die erste Stelle rückte. Aber dann erhob, das war für mich die Schattenseite, Genscher Anspruch auf die Umweltfragen. Beim Gesundheitsministerium waren die ersten Initiativen für die Umweltpolitik gelaufen, zum Beispiel das erste Lärmschutzgesetz. Auch das Gesetz für reine Luft war so gut wie fertig. Das mußten wir ans Innenministerium abgeben, was ich nicht gerne getan habe. Leider ist völlig untergegangen, daß das Gesundheitsministerium in der Großen Koalition die allerersten Initiativen in Sachen Umweltschutz ergriffen hat.
R.L.: Du hast, als du Ministerin wurdest, sofort die Fragen der sexuellen Aufklärung aufgebracht. Deine Rolle bei der Aufhebung von Tabus im Sexualbereich ist sehr hoch einzuschätzen. Ich stelle die These auf, daß die Reform des § 218 unmöglich gewesen wäre ohne den Beitrag, den du als Gesundheits- und Familienministerin bei der Enttabuisierung der Fragen zum Thema Sexualität geleistet hast. Wie bist du an Themen wie Sexualaufklärung und Familienplanung, zu deinem Einsatz für die Einführung der Pille und den Sexualkundeatlas gekommen?
K.S..: Das geht auf meine Vergangenheit in der Jugendbewegung zurück. In der sozialistischen Erziehungsbewegung der Weimarer Republik wurde schon damals Sexualaufklärung angestrebt. Man setzte sich für Familienplanung ein. 1966 war ja übrigens auch die Anfangszeit der Pille.
R.L.: Daß aber ein verantwortlicher Minister die Pille zu einem Thema offizieller Regierungspolitik machte, war überhaupt nicht selbstverständlich, zumal sich die SPD zunächst in Partnerschaft mit den Christdemokraten befand, den Kronzeugen der Restauration unter Adenauer.
K.S..: Es gab einige harte Erlebnisse. Mein Mann hat immer gesagt, ich sei ein Pflichtmensch. Und ich bin es der Partei gegenüber auch immer gewesen. Ich habe mich immer gefragt, ist das für die Partei gut, oder hast du jetzt etwas gemacht, was der Partei schadet? Im Dezember 1966, am Tag meiner Vereidigung, gab ich der »Bildzeitung« mein erstes Interview. Die haben mich sofort gefragt, welche Politik ich »in Sachen Pille« vorhabe. Wenn ich mich nicht irre, hatte ich schon vorher bei den Eingangsgesprächen mit Elinor, auch mit von Manger-Koenig über die Pille gesprochen. Sie hatten mir gesagt, daß aus medizinischen Gründen die Pille für Mädchen unter sechzehn Jahren nicht vertretbar sei. Ich habe in dem Interview die Pille befürwortet. Ich konnte das aus eigenem Erleben tun, weil ich wußte, was es bedeutete, Kinder zu bekommen, wenn man sie noch nicht wollte. So habe ich also gesagt, Pille ja, aber keine Verordnung unter sechzehn. Am anderen Tag, als das Interview erschien, kam Hans Hermsdorf zu mir: »Bist du von allen guten Geistern verlassen, wie wollen wir unsere Wahlkreise halten, wenn du den unter Sechzehnjährigen die Pille verweigerst?« Dies war für mich ein großer Schock. Hast du deiner Partei geschadet? Ich habe dann natürlich auch sofort mit den anderen darüber gesprochen. Wir sagten: Die Pille allein genügt nicht. Sexualerziehung ist nötig, Familienplanung und Aufklärung. Dies war ja der Beginn der Pille, die dann medizinisch weiterentwickelt und erforscht wurde.
R. L.: Diese Themen haben auch bei den Studenten, mehr noch in der Frauenbewegung eine Rolle gespielt. Wer war der Ideenträger ? Für mich ist wichtig, daß du zurückgreifst auf die Weimarer Republik, auf deine Erfahrungen in der sozialistischen Jugendbewegung. War es schon ein sozialdemokratischer Beitrag in den Regierungsverhandlungen der Großen Koalition?
K.S.: Das geht zurück auf meine Erfahrungen mit dem §218 vor 1933! Geprägt durch die Jugendbewegung, konnte ich auch ein bißchen beurteilen, was meine Mutter mitgemacht hat. Sie hat sieben Kinder geboren, aber sicher nicht sieben gewollt. Wie war das mit den Frauen, die Eingriffe machen ließen und ihr Leben dabei aufs Spiel setzten? Die Mutter meines Mannes ist nach seiner Meinung an einer Abtreibung zugrunde gegangen. Schrecklich, wie viele Frauen daran gestorben sind. Das habe ich miterlebt. Das war sehr prägend. Ein bißchen hing das auch mit meiner Verehrung für Käthe Kollwitz zusammen, die das Leben der armen Frauen bildhaft dargestellt und sich für sie engagiert hat.
R.L: Also, du erinnerst dich an deine Jugendzeit, welche Belastung der § 218 in der Weimarer Republik war?
K.S..: Ja, der § 218 war eine fürchterliche Belastung für die Bevölkerungsschicht, die sich eine Abtreibung, die gesundheitlich gefahrlos war, nicht leisten konnte.
R.L.: Vor 1966 wurde eine Reform des § 218 offiziell noch nicht diskutiert, es gab lediglich Diskussionen über die ethische Indikation. In der öffentlichen Diskussion wagten Politiker nicht weiterzugehen.
K.S..: Im Gesundheitsministerium war das anders. Es wurde zwischen Medizinern und dem Minister diskutiert. Ganz automatisch hatte sich ergeben, daß wir in die Diskussion um den § 218 eingeschaltet wurden. Aber eigentlich zuständig war das Justizministerium.
Der Aufklärungsfilm »Helga« war der erste Film, der in der Öffentlichkeit eine Geburt zeigte. Die Anregung zum Film »Helga« kam sicher aus der Bundeszentrale für gesundheitliche Autklärung. Das Ministerium ist über den Minister und den Staatssekretär voll eingestiegen. Der Film »Helga« hat über eine Million Mark eingespielt, in die Bundeskasse, wohlgemerkt. Ohne uns hätten die Kolle-Aufklärungsfilme gar nicht gemacht werden können. Der Film »Helga« hatte also ein Tabu gebrochen.
R.L.: Aber es war deine politische Entscheidung und persönliche Bereitschaft, alle öffentliche Kritik auf dich zunehmen.
K.S..: Es war nicht nur meine Bereitschaft, sondern mein Wille. Das war schlimm. Sogar mein Mann wurde seinerzeit darauf angesprochen, daß ich doch den Sexualkundeatlas herausgegeben hätte und deshalb damit rechnen müsse, in die Hölle zu kommen.
R.L.: Es hat sicher deinen Bekanntheitsgrad gesteigert. Denn du bist zum Symbol geworden, wie man sexuelle Fragen offen und differenziert angehen kann.
K.S..: Übrigens ist der Sexualkundeatlas in sechs Sprachen übersetzt worden. Auch in Skandinavien ist er erschienen, wo man im Grunde wesentlich weiter war in diesen Fragen. Zunächst gab es eine Auseinandersetzung mit den Schulen über die Sexualerziehung. Die Zuständigkeit liegt ja bei den Ländern. Die Länder haben ihr Material von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bezogen. Dann gab es Länder, die unser Material akzeptiert haben, und andere Länder, die unser Material nicht an die Schulen weitergeben wollten, wie zum Beispiel Bayern.
R.L.: Aber der Anstoß ist gegeben worden. . .
K.S.: Ja, und die Sexualerziehung in den Schulen begann. Natürlich war klar, dazu braucht man erst eine »Erziehung« der Lehrer. Es gab Lehrer, die es gern angepackt haben, und Lehrer, die es nicht gerne machten, die selber nicht nur grundsätzliche Vorbehalte hatten, sondern Hemmungen. Hemmungen, die eben auch Eltern hatten. Deshalb unsere verschiedenen Schriften, mit denen man den Eltern helfen wollte, in die Sexualerziehung einzusteigen. Von da führte natürlich der Weg zur Reform des §218. Es begannen im Ministerium die Auseinandersetzungen über die Reform des § 218 - können wir, wollen wir?
R.L.: Aus dem Justizministerium unter Gerhard Jahn kam dann der Indikationsentwurf.
K.S..: Zunächst ging es um die Zuständigkeit. Wir mußten sehr boxen, um mitberaten zu dürfen. Daß wir nicht federführend sein konnten, das wußten wir. Auch bei den sozialbegleitenden Maßnahmen haben wir kämpfen müssen. Zur Reform des §218 waren im Gesundheitsministerium beide Meinungen vertreten: für die Indikationsregelung und für die Fristenregelung. Ich selbst war für die Indikationslösung.
R.L.: Du bist nicht mehr in die Situation gekommen, darüber abzustimmen, weil die Abstimmung erst 1974 erfolgte.
K.S..: In die Abstimmung bin ich nicht gekommen, aber als Pflichtmensch hätte ich mit der Fraktion gestimmt. Als ich noch Minister war, habe ich für die Indikationslösung geworben. Von Manger-Koenig und ich hatten es sehr schwer, die soziale Indikation bei den anderen Ministerien durchzusetzen. Die Auseinandersetzung war so stark, daß während meines Winterurlaubs 1971 im Harz Alfons Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium, und Staatssekretär von Manger-Koenig mich mit dem Hubschrauber aufgesucht haben. Wir haben mit Bayerl und Jahn um die Einführung der sozialen Indikation gerungen, bis die Juristen eingesehen haben, auf den Regierungsvorschlag einer Indikationslösung kommen wir überhaupt nur, wenn wir Gründe einer sozialen Notlage in den Vordergrund schieben.
R.L.: Parallel zu deinen Bestrebungen gab es eine Abgeordnetengruppe der Fraktion um Helga Timm, Hans de With, die als Fraktionsinitiative die Fristenregelung erarbeitet haben. Dieser Gruppenantrag wurde erst in der Regierung Brandt nach 1972 zur Mehrheitsmeinung der SPD-Fraktion.
K.S..: Aber im ersten Kabinett Brandt ab 1969 war noch die Mehrheit für die Indikationslösung. Ich erinnere mich da an eine Auseinandersetzung mit Helmut Schmidt, der damals schon für die Fristenregelung eingetreten ist Nur, wenn zwei Abgeordnete gegensätzlicher Meinung waren, haben wir uns deshalb nie verfeindet. Wenn eine Minderheit in der Fraktion für die Fristenregelung eintrat, wurde das nicht abgestempelt, das seien nun die Linken gewesen, die mit der Regierungspolitik haderten.
R.L.: Zwei andere Bereiche, die Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes und die Ausbildungsförderung, sind von dir mitinitiiert worden.
K.S.: Ja, durch die Zusammenlegung des Familien- und Jugendministeriums mit dem Gesundheitsministerium kam die Ausbildungsförderung zu uns. Der erste Ausbildungsförderungs-Gesetzentwurf ist noch unter Frau Brauksiepe in der Großen Koalition gemacht worden. Katzer war als Arbeitsminister mit zuständig, aber federführend war Jugend und Familie. An der Ausbildungsförderung war die spätere Staatssekretärin im Entwicklungshilfeministerium, Brigitte Freyh, beteiligt. Als noch Heck der zuständige Minister war- bis 1968 -, wurde man sich nicht einig. Heck wollte so weit nicht gehen. Später, bei Frau Brauksiepe, wurde das erste Gesetz verabschiedet, beeinflußt von Katzer, der den Zusammenhang mit dem Arbeitsförderungsgesetz wohl auch gesehen hat. Bei der Zusammenlegung wurden wir also zuständig und haben die Reform sofort weiterbetrieben. Ab Oktober 1969 war Heinz Westphal zu mir als Parlamentarischer Staatssekretär gekommen. Er war am Jugendwohlfahrtsgesetz, aber auch am Ausbildungsförderungsgesetz beteiligt. Bereits im ersten Deutschen Bundestag hatte es eine Initiative zur Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes gegeben.
R.L.: Das geht ja noch weiter zurück in die Weimarer Republik, als Marie Juchacz Trägerin dieser Reform war.
K.S..: Marta Schanzenbach wußte, daß mein Schwager in Nürnberg Leiter des Jugendamtes war und daß wir von der Kinderfreundebewegung her schon vor 1933 an einer Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes interessiert gewesen waren. Mein Schwager in Nürnberg hat zu mir immer gesagt: »Als erstes müßt ihr das Jugendwohlfahrtsgesetz reformieren.« Wir haben die ganze Zeit, auch später, als ich selber im Ministerium zuständig war, mit den Nürnbergern zusammengearbeitet.
R.L.: Zu zwei weiteren Punkten: einmal die in deiner Amtszeit einsetzende Neuregelung des Kindergeldes durch Abschaffung der Steuerfreibeträge für Kinder und die Vorsorgeuntersuchungen für Kleinkinder. Wann haben die Überlegungen in deinem Hause eingesetzt?
K.S.: Zunächst gab es im Bundestag auf Vorschlag des Familienministers oder der Fraktion wiederholt eine Erhöhung des Kindergeldes. Die SPD-Fraktion hatte immer wieder die Einbeziehung des ersten Kindes verlangt und war immer wieder an den konservativen Mehrheiten gescheitert. Erst im Kabinett Brandt hat das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit diesen Vorschlag eingebracht. Zuerst wurde im Kabinett und dann natürlich im Bundestag beschlossen, daß Kindergeld ab dem ersten Kind bezahlt wird. Daneben war uns klar, daß das Kindergeld nicht die einzige materielle Hilfe für die Familie sein kann. Ergänzt wurde dieser Familienlastenausgleich bereits durch die Ausbildungsförderung. Die Einbeziehung der Schüler weiterführender Schulen war ja ein wesentlicher Fortschritt, ein großer Schritt in die Richtung, Kindern aus Arbeiterfamilien den Besuch weiterführender Schulen zu ermöglichen.
R.L.: Nun hat man noch in deiner Amtszeit, bevor du 1972 das Amt aufgegeben hast, die Weichen gestellt, um den Familienlastenausgleich insgesamt zu verändern und die Steuerfreibeträge abzuschaffen.
K.S..: Das war ein weiterer Schritt im Familienlastenausgleich, den wir vorbereitet hatten, solange ich Ministerin war, den wir aber nicht mehr zu Ende geführt haben. Auch wurde viel mehr Mädchen der Besuch weiterführender Schulen ermöglicht, weil sie Ausbildungsförderung erhielten. Erst durch die steuerrechtliche Änderung in der 7. Legislaturperiode wurde die Finanzierung möglich.
R.L.:In einer Pressemeldung hast du im November 1972 geäußert: »Nach sechsjähriger Stagnation hat die Bundesregierung 1970 eine Verbesserung des Kindergeldes veranlaßt. Der Kindergeldsatz wurde für das dritte Kind von 30 auf 60 Mark erhöht, die Einkommensgrenze für die Gewährung von Zweitkindergeld für Familien mit zwei Kindern wurde 1971 von 650 DM auf 1100 DM monatlich, im Januar 1972 auf 1250 DM monatlich angehoben. Die Art der von früheren Regierungen und Parlamentsmehrheiten gestalteten Kindergeldregelung plus zusätzliche Steuervergünstigung benachteiligen jedoch Familien, die wegen ihres geringen Einkommens die Steuerfreibeträge oft gar nicht oder nicht voll ausschöpfen können. Wichtigste familienpolitische Aufgabe in der 7. Legislaturperiode wird deshalb die Verabschiedung der Reform des Familienlastenausgleichs sein.«
K.S.: Die tatsächliche Reform des Familienlastenausgleichs ist mir wie bei der Lebensmittelreform durch die vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode nach dem Mißtrauensvotum 1972 nicht mehr ganz gelungen.
R.L.: Wie kam es zur Aufnahme von Vorsorgeuntersuchungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen?
K.S.: Dies ging auf eine Initiative des Gesundheitsministeriums zurück, mußte aber mit dem Arbeitsminister abgesprochen werden. Walter Arendt hat das sofort akzeptiert, war aber skeptisch, ob Vorsorgeuntersuchungen von Männern angenommen würden, weil es eine unangenehme Untersuchung sei. Aber die Vorsorgeuntersuchung für Kinder geht weitgehend auf von Manger-Koenig zurück, der als Mediziner genau wußte, wie außerordentlich wichtig für die gesundheitliche Entwicklung eines Kindes eine rechtzeitige Untersuchung ist. Die Entscheidung wurde davon beeinflußt, daß wir eine zu hohe Kindersterblichkeit bei der Geburt und im Säuglingsalter hatten. Wir lagen leider im internationalen Vergleich an der obersten Grenze. Leider werden weder die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen noch die Kinderuntersuchungen voll ausgenützt.
R.L.: Darf ich noch mal fragen, wie du das gesehen hast, als Katharina Focke 1972 das Ministerium übernahm, das du ja immerhin seit 1966 geleitet hattest?
K.S..: Ich war bei einem Abendessen bei Willy Brandt. Ich saß zwischen Helmut Schmidt und ihm; Willy Brandt fragte mich, ob es endgültig sei, daß ich ausscheide, und ich sagte: »Ja!« Er sagte: »Wen siehst du denn als deinen Nachfolger?« »Wenn, dann gebt dieses Ministerium endlich einem Mann und gebt einer Frau ein anderes.« Georg Leber hörte das Gespräch und sagte: »Ich habe schon vor drei Jahren gesagt, gebt Käte das Verkehrsministerium. « Da hat Willy gesagt, er glaubt nicht, daß man das schaffen könne. Er fragte mich, wen ich denn bei den Frauen sehe. Da habe ich gesagt: »Katharina Focke.« Zur Auswahl standen Annemarie oder Katharina. Ich hatte Katharina im Kabinett Brandt als sehr tüchtig kennengelernt, hielt sie auch für eine Politikerin mit vielen guten Kontakten und hatte Respekt vor ihr.
R.L.: Deine Politik für Frauen und für Familien, das war doch nur ein Teil des umfassenden Spektrums deines Ressorts?
K.S..: Von 1949 an, erst als Parlamentarierin, dann als Ministerin und später im Wirtschafts- und Sozialausschuß der EG, immer lag mir der Rechtsschutz der Verbraucher am Herzen. Meine schwierigste politische Arbeit war die Gesamtreform des Lebensmittelrechts. Unser Lebensmittelrecht ist dann bei der Rechtsangleichung in der EG beispielhaft geworden und ist es heute noch. Schwierig war auch das Krankenhausfinanzierungsgesetz. Dafür mußte ich erst eine Grundgesetzänderung durchsetzen; auch der Gesamtkomplex des Arzneimittelrechts hat viele Verbesserungen für die Menschen gebracht. Warum erwähne ich dies alles? Weil es beweist, was Frauen durchsetzen und erreichen können, wenn man ihnen dazu die Chance gibt und sie sich dieser Aufgabe mit fester Überzeugung widmen. Ich habe dies immer getan.