Das katholische Modell

Weiblichkeit und Gegenrevolution 

Die Tugenden des edlen Geschlechts

Im Jahre 1866 verknüpfte Anna Maria Mozzoni, die bedeutendste Vertreterin des italienischen Feminismus, eine für das katholische Frauenbild der Restaurationsära charakteristische aristokratische Genealogie weiblicher Tugenden mit emanzipatorischen Idealen. Die »edle Kühnheit« der Marie-Antoinette von Frankreich, die sittliche Größe der Herzogin d'Angouleme und die Energie der Marie-Caroline de Berry werden zu Pfeilern, auf denen der Beweis für die sittliche Überlegenheit des Charakters der Frauen beruht. Der feministische Traum der Emanzipation — die Frauen sollten verdientermaßen, d. h. »aufgrund ihrer moralischen Tugenden«, die Stellung der Männer einnehmen - appelliert an die Geschichte: Sie stehe über den parteilichen Leidenschaften und »weist jedem (Geschlecht) die ihm gebührende Rolle zu«.[1] Von der Überlegenheit der Frauen ist auch der Theatiner Pater Gioacchino Ventura überzeugt. Im Vergleich zu ihnen seien die Bourbonen als das erkennbar, was sie sind, nämlich »nichtswürdige Männer«, ohne jegliche männliche moralische Kraft.
Die Feministin und der Priester sind sich also einig in dem Vorhaben, die Frauen zu adeln. Gewiß, Pater Ventura ist ein untypischer Vertreter des Klerus im 19. Jahrhundert. Er ist ein Gefolgsmann von Lamennais, lebt seit 1848 aufgrund von Zwistigkeiten mit Papst Pius IX. im Exil in Frankreich und ist Verfasser der weit verbreiteten Schrift La donna cattolica (1855)[2]die ein Grundpfeiler für die moralische Erziehung des weiblichen Geschlechts war. Sein entschiedenes Eingreifen zugunsten der moralischen Tugenden der Frauen (»man muß heutzutage die Frau nicht nur in den Augen des Mannes, sondern auch in ihren eigenen Augen erhöhen«) unterscheidet sich kaum von dem ungeachtet unterschiedlicher politischer und religiöser Positionen vorherrschenden erbaulichen Ton der gesamten europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Venturas Modell bezieht sich auf den Archetypus der »Mutter als Lehrerin und Erzieherin«, der während der Französischen Revolution im Zuge der Debatte um die weibliche Erziehung entstanden ist. Die »neue« Mutter sollte in den Herzen der Kinder und auch der Männer die sozialen und individuellen Tugenden entwickeln und bestärken. Das ist die klassische Vorstellung des pädagogischen Denkens der Revolution von Lakanal bis zum Italiener Buonarroti.
Die katholische Kultur der Restauration übernimmt problemlos dieses Modell und wird dabei durch die Wissenschaft unterstützt. In Frankreich hatte sich unter dem Einfluß der Schriften von Georges Stahl Ende des 18. Jahrhunderts die Überzeugung vom Primat der Seele über den Körper durchgesetzt. Die von Pierre Roussel 1775 verfaßte Schrift Systeme pbysique et moral de la femme, die über ein Jahrhundert als grundlegend galt, stellte heraus, daß das Wesen der Weiblichkeit über die physiologische Beschränkung durch die Geschlechtsorgane hinausreiche. Schwäche und Sensibilität der Frauen seien keine negativen Folgen der Beziehung zwischen Leib und Seele, sondern vielmehr positive Attribute des Geschlechts. Auch die Seele genieße die Extension der Zeichen der Weiblichkeit: von den Muskelfasern bis hin zum moralischen Verhalten.[3]
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickeln viele katholische Autoren die Theorie einer besonderen »historischen« Fähigkeit des Christentums, diese »empfindsamen« Charakteristika der Weiblichkeit anzuleiten und sie von allen körperlichen, ja fleischlichen Äußerungen zu lösen.[4] Befreit von aller Abhängigkeit zwischen physiologischer Struktur und psychologischer Substanz verbreitet sich dieses Idealmodell des Weiblichen im gesamten nachrevolutionären Europa. Die weibliche Seele, die sich von der männlichen unterscheiden und diese ergänzen soll, wird für die Kirche der Restauration zu einer Quelle der Zivilisierung und Bekehrungsmöglichkeiten. Ebenso erachtet der klassische Idealismus die weibliche Seele als erforderlich, um die volle Humanität zu erlangen (die Familie als Kern der Sittlichkeit in der Hegeischen Rechtsphilosophie). Dasselbe gilt auch für die Romantik mit ihrem Ideal der harmonischen Komplementarität der Liebe.
»Dieses Geschlecht, dem nur Sanftheit und Geduld zuteil geworden zu sein scheint, hat häufig den tatkräftigsten Eifer, die unerschrockenste Hingabe, die erstaunlichste Selbstbeherrschung gezeigt«, schreibt zu Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts das katholische Tagesblatt L'Ami. In dieser Zeitung gilt die Überlegenheit des weiblichen Lebens gegenüber dem männlichen bereits als Faktum.[5] In den Augen der Katholiken der Restauration ist es einer der wenigen Verdienste der Revolution, daß sie die Dialektik von weiblicher Stärke und Schwäche voll ins Bewußtsein gehoben hat. Die Frau als neues soziales Subjekt scheint unverdorben durch politische Leidenschaften und durchdrungen von christlichen Gefühlen, so daß sie schon allein dadurch zum moralischen Beispiel wird. Auf dem Gipfel strahlen - als unmittelbarer politischer Bezugspunkt - die Frauen der Königsfamilie mit ihren strategischen Heldentaten, doch weiter unten gibt es ein unerschöpfliches Netz weiblicher Ressourcen ohne Klassenschranken.         »Gebete, Zärtlichkeiten, Klagen, Liebkosungen« sind die Waffen weiblicher Überredungskunst, der intime Weg der Frauen, um in Frankreich auf das öffentliche Leben wirkungsvoll Einfluß zu nehmen. Joseph de Maistre faßt nahezu perfekt die Ansichten seiner Epoche zusammen: »Im Guten wie im Schlechten ist der Einfluß eures Geschlechts groß.« Er meint damit allerdings nur den Einfluß der Frauen im erweiterten Familienkreis: »Ihre Kinder, ihre Freunde, ihre Hausangestellten sind mehr oder weniger ihre Untertanen.« Ein »empirisches« Beispiel liefert hierfür Pater Pierre Alexandre Mercier. Er nimmt in Fourvieres von 1850 bis 1857 20 000 Reumütigen die Beichte ab, also im Schnitt vierzehn Beichten pro Tag. Der Anteil der Frauen ist leider nicht bekannt. Der Pater hat seine Erfahrungen mit diesen Berichten über Tugend und Sünde in einer Reihe von Vorträgen unter dem Titel »De l'influence salutaire ou pernicieuse qu'exerce la femme dans la societe« (Über den heilsamen oder verderblichen Einfluß der Frau in der Gesellschaft) zusammengetragen. Der Text wird als Beispielsammlung für Predigten empfohlen.[6]

Gott wechselt das Geschlecht

Die katholische Erschaffung einer weiblichen Gegenmacht, die auf Gefühlsressourcen als moralisches Korrektiv wider die Männer zurückgreifen kann, gelingt in Frankreich um so leichter, als dort die »Weiblichkeit des Herzens« bereits zur literarischen Tradition gehört. Von Madame de Sevigne bis zu Madame de Lafayette schildern Autorinnen in ihren herausragenden literarischen Werken den weisen und leichten Zugriff der Frauen im Geflecht der privaten Beziehungen. In Italien war die Situation anders. Es gab weder einen Nationalstaat noch eine nationale Gesellschaft. Was das bedeutet, zeigt unter anderem die Verbreitung allgemeiner Verhaltens-Ratgeber. »Das bloße Fehlen von Gesellschaft (...) führt natürlich dazu, daß es in Italien einen Stil, einen bestimmten italienischen Ton nicht gibt«, klagte schon Leopardi.[7] Es ist letztlich die Kirche, die eine Vereinheitlichung der Sitten und damit eine herrschende zivilisatorische Tradition durchsetzt, indem sie die Tugenden des aristokratischen Benehmens mit denen des guten Christen zusammenfügt.[8] In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bricht die bis zu Boccaccio und Filippo da Bergamo reichende Tradition unverschämter Abhandlungen über Frauen endgültig ab. Die Kirche dehnt ihre Hegemonie aus. Wenn italienische Autoren jetzt beispielhafte Frauenleben darstellen, dann orientieren sie sich an katholischen Lehrbüchern aus Frankreich. Dieser Einfluß ist von anhaltender Wirkung. Gegen Ende der 80er Jahre zog die Civiltä Cattolica gegen den (von einer Frauenzeitschrift begangenen) Frevel zu Felde, berühmte Italienerinnen wie Mathilde von Canossa und Katharina von Siena neben zwei Märtyrerinnen der neapolitanischen Revolution von 1789, Eleonora Fonseca Pimentel und Luisa Sanfelice, auf der gleichen Ehrengalerie zu plazieren.[9] Die weibliche soziale Identitätsbildung verlangt jetzt auch nach eigenen Leitbildern wie sie im Katholizismus von der literarischen Ikonographie und einer Fülle an weiblichen Heiligen reichlich angeboten werden.[10]             Die Abwendung von der Kirche und der Antiklerikalismus sind im 19. Jahrhundert ausschließlich eine Sache von Männern. Priester klagen allgemein, daß in ihren Gemeinden die Männer wegblieben. Ihre Religion geht nicht verloren, aber sie erhält einen anderen Status. War die Religion vorher eine umfassende, absolute Geisteshaltung, so erhält sie nun Züge der Relativität bloßer religiöser Meinungen. Vor allem der Glaube der Männer drückt sich zunehmend in »politischen Positionen« aus, während er bei den Frauen noch als »Geisteshaltung« erhalten bleibt. Bei Frauen drückt sich die Stärke des Glaubens mehr denn je durch »faktisches Verhalten« aus. Der Katholizismus des 19. Jahrhunderts steht also im Zeichen des weiblichen Geschlechts. Die Feminisierung der Praktiken, der Frömmigkeit wie auch des Klerus sind offensichtlich. »Gott hat das Geschlecht gewechselt«, konstatiert um die Mitte des Jahrhunderts Michelet, der noch heute als Wegbereiter einer geschlechtsspezifischen Sprache für religiöse Glaubensinhalte gilt.
Von Frauen war selten die Rede, wenn französische Seelsorger nach dem Sturm der Revolution die beherrschenden Laster auflisteten, als da sind: zunehmende Sonntagsarbeit, Fernbleiben von der Messe, Nichtbeachtung der Pflicht zur Osterkommunion. Frauen praktizieren ihre Religion aufmerksamer und sie sind strenggläubiger als die Männer. Versucht man trotz des regional sehr unterschiedlichen Verhaltens eine  nationale Gesamtbeurteilung zu formulieren, so dürften von vier praktizierenden Katholiken wohl drei Frauen gewesen sein.[11] Zu Beginn des 19. Jahrhunderts notierte Aegidius Jais, daß er während seiner jahrzehntelangen Sorge um die Seelen im Salzburger Umland nur auf einen einzigen Ort gestoßen sei, in dem nicht überwiegend Frauen den Beichtstuhl aufsuchten.[12] Aussagen über die nach Geschlecht differenzierten religiösen Praktiken stützen sich häufig allein auf die impressionistischen Berichte der Pfarrer. Doch auch die Andachtsbücher verweisen auf das Überwiegen der Frauen. »Die Religion steht, da sie eine Angelegenheit des Gefühls ist, den Frauen näher als dem Mann«, schreibt 1814 der deutsche Benediktiner C. Gärtner in einem speziell an die Frauen gerichteten Lesebuch. Um die Mitte des Jahrhunderts bestätigt die Civiltä Cattolica die Feminisierung der Andachtspraktiken als »unbestritten und offenbar«. Überall in den Kirchen ist das »weibliche Geschlecht« gegenüber dem »männlichen« in der Überzahl." In Rom sind im Heiligen Jahr 1825 zwar nur 38 Prozent der Pilger Frauen.[14] Aber in der Masse der Gläubigen, die aus ganz Frankreich nach Ars ziehen, dem ersten und meistbesuchten Wallfahrtsort um die Mitte des 19. Jahrhunderts (60000 bis 80000 Pilger pro Jahr), ist das Übergewicht der Frauen deutlich: von den 397 namentlich identifizierten Pilgern sind 64,5 Prozent Frauen. Sie zeigen, daß sie die katholische Religion nicht nur praktizieren, sondern auch mehrheitlich von religiöser Inbrunst beseelt sind.

Identifikation der katholischen Frau

Eine »Völkerpsychologie« der Geschlechter

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschreiben die Pfarrer ihre Gemeinden - unter anderem mangels statistischer Verfahren - noch, ohne nach dem Geschlecht der Gläubigen zu differenzieren. Auch sonst sind ihre Kategorien reichlich vage und ungenau. So wird die »Völkerpsychologie« gewissermaßen auf die Größe der Kirchengemeinde verkleinert: Wir erfahren einiges über das jeweilige »Temperament« eines Dorfes - fromm, arbeitsam, gleichgültig, störrisch -, womit es sich für die Pfarrer erübrigt, die ganz konkreten Tugenden der verschiedenen Gläubigen zu beschreiben. Dieses territoriale »Abstecken« von psychologischen Menschentypen - ihre Zuordnung nach Gemeinde oder Region, wie es etwa Philippe Boutry für die Diözese von Ars beobachtet hat [15] - wird dann umgekehrt auch auf ganze Nationen ausgedehnt. Und das erlaubt wiederum die Identifikation aller gesellschaftlichen und moralischen Eigenschaften des »typisch« Weiblichen dieser oder jener Nation. Die Neigung zu derartiger Typenbildung war keineswegs eine Eigenart der Kirche: Auch Stendhal, Michelet und ihre italienischen Nachfolger, der humanistische Gelehrte Tomaseo ebenso wie der Anthropologe Mantegazza, teilen die Frauen in »nationale Typen« ein. Daraus leiten sie spezifische moralische Verhaltensweisen ab: unterschiedliche Grade an Leidenschaft, Emotionalität, Opfergeist, Bereitschaft zum ehelichen Gehorsam usw.
Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist die Kirche unter dem Druck von Industrialisierung, Verstädterung, Alphabetisierung und schließlich Politisierung der Frauen gezwungen, sich den Standards der weltlichen Sozialwissenschaften anzunähern, den undifferenzierten Kosmos der Frau aufzugeben und präzisere Typologien unter Einbeziehung von Klasse, Familienstand, Altersgruppe und Beruf zu entwickeln.[16] Das Verblassen einer scharfen und antagonistischen Unterscheidung zwischen katholischen und nichtkatholischen Frauen ist eine der positiven Folgen dieser weniger summarischen Erfassungsmethoden. »Wir müssen die Gewohnheit ablegen, eindeutige und absolute Typen zurechtzuzimmern, und wir sollten möglichst nicht im Singular sprechen, wie etwa: >die christliche Frau, die nicht- christliche Frau<, schreibt am Ende des Jahrhunderts Pater Gabriel d'Azambuya.[17]
Ebensowenig wissenschaftlich ist die im 19. Jahrhundert übliche, höchst impressionistische Einordnung ganzer Nationen nach unterschiedlichen katholischen »Temperamenten«. Als Elisabeth Galitzin 1828 im Gefolge von Mutter Oberin Sophie Barat durch Italien nach Rom reist, »spürt« sie, daß sie das Land der Katholizität durchquert. In der heiligen Stadt ist sie aufgewühlt vor Freude: Selbst die Luft ist »durchtränkt von der Nähe des Heiligen Stuhls Petri«. Die Straßen sind von Kreuzen gesäumt und mit Marienbildern geschmückt, vor denen Männer wie Frauen niederknien (»Maria ist die Herrin, vor der ganz Italien auf den Knien liegt«, schrieb Hippolyte Taine), die Städte und Dörfer sind mit Heiligenstatuen übersät: ein Beweis für die Frömmigkeit der Italiener.[18] Felicite de Lamennais dehnte zur gleichen Zeit jene heilige Topographie gläubiger Folgsamkeit auf nahezu die gesamte Bevölkerung des Kirchenstaates aus.
1862 fühlt sich die zweifellos emanzipierte Louise Colet im Dom von Mailand umfangen von einer »himmlisch volkstümlichen Atmo- sphäre (. . .), die mit der Seele dieses Volkes untrennbar verbunden ist«.[19] Ihre anhaltende Sympathie für das Risorgimento (als Kind hatte sie sich nach der Lektüre von Le mie prigioni in Silvio Pellico verliebt) trägt dazu bei, sie in der Gewißheit zu bestärken, daß der höchste  Grad an Katholizität bei den Italienerinnen und Italienern zu finden sei.
Die Gestalt der zugleich nationalen und katholischen »Italienerin« entsteht in den 1830er Jahren, unter dem Einfluß von liberalen politischen Idealen: Sie wird als kulturelles Vorbild entworfen, das nicht auf das Hinterland eines in den Grundzügen gemeinsamen »Nationalcharakters« zurückgreifen kann. Schließlich war es in Italien schwierig, derart gegensätzliche Haltungen auf einen Nenner zu bringen wie etwa das spöttisch aggressive Verhalten gegenüber dem Klerus, wie Goethe es bei der jungen neapolitanischen Aristokratie beobachtet hatte,[20] oder die starke Loyalität gegenüber dem katholischen Glauben und dem Königshaus beim Piemonteser Adel, der sich sehr bewußt vom restlichen, »in Goldonis Florindo- und Rosaura-Gestalten getreulich porträtierten«[21] italienischen Adel abgrenzte. Die erste Typisierung des Ideals der nationalen »Italienerin« stammt von Niccolo Tomaseo: »Die italienische Frau, die zu inspirieren vermag, die zu gehorchen und zu befehlen weiß, wo es nötig ist, ist uns eine Gewähr für ein weniger hartes Schicksal. Wo immer Männer verdorben und schwach sind, dort sind die Frauen weniger schwach und weniger verdorben.«[22] Für die Civilta Cattolica ist dieser Text zu liberal (»obgleich er viel Gutes enthält«); sie empfiehlt für die christliche Bildung der weiblichen Seelen zuverlässigere Autoren, und diese stammen allesamt aus den Reihen des Klerus. Aber Tomaseos Modell der »neuen« patriotischen und gleichzeitig durch und durch katholischen »Italienerin« lebt fort in den zahlreichen Traktaten und moralischen Abhandlungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Auch die Kirche entwickelt ihre eigene »Völkerpsychologie«. Sie tut dies natürlich auf religiöser Grundlage. Die Vertreibung der englischen Frauen vom Sockel der moralischen Autorität, auf den der Katholizismus sie gestellt hatte, ist ein Topos der Auseinandersetzung mit dem Protestantismus: »Die englische Frau (...) erregt keine Bewunderung mehr; kaum noch empfängt sie die ihrem Geschlecht geschuldete Achtung«, schreibt 1844 der Anti-Engels Abbe Gaume, als er untersucht, in welcher Weise die unterschiedlichen religiösen Bekenntnisse die Ausübung familiärer Macht und Gegenmacht der Frauen schützen.[23] Das 19. Jahrhundert mit seinem Primat des männlichen Diskurses bleibt sich in seiner Rhetorik durchaus treu bei dieser üppigen Produktion von Modellgestalten. Frauen werden bedacht mit einem »Gegendiskurs«, der sich im wesentlichen auf die Eigenart ihrer Religiosität bezieht. Diese erscheint als »empfindsame« Frömmigkeit und strahlt von den Andachtsstätten auf das alltägliche Familienleben aus. Das Gefühl der Selbstbestätigung (so typisch für die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert) erwächst den Frauen aus dem bewußten Einsatz ihrer Produktion imaginärer und wirklicher Frauen moralischen Souveränität im häuslichen Leben und aus der Erziehung der Kinder. Selbstverständlich gibt es die vielen Unzulänglichkeiten des realen Lebens. Sie werden jedoch abgeschwächt durch die feste Überzeugung, daß die menschlichen Gefühle nichts anderes sind als üblicherweise enttäuschende Reflexe der religiösen Gefühle, die ihrerseits tragfähige Vorbilder und Ausdrucksmittel für das irdische Gefühlsleben liefern.
Die Entwicklung der religiösen Empfindsamkeit im 19. Jahrhundert steht in engem Zusammenhang mit dem familiären Gefühlshaushalt. Das vom Katholizismus propagierte weibliche Modell war ausschließlich das der Ehefrau und Mutter. Von der Ehefrau verlangt die Kirche Unterwerfung und Bereitschaft zur Entsagung. Die Welt ist ein Jammertal für alle, insbesondere jedoch für die Frauen. Die emotionalen, und erst recht die sexuellen Aspekte der ehelichen Liebe werden von der schamhaften katholischen Literatur des 19. Jahrhunderts ausgespart, ein Schweigen, das bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts anhielt. Selten und nur knapp werden die »ehelichen Pflichten« angedeutet, die stets zu erfüllen sind, ohne jede Enthaltung, auch nicht »um der Tugend willen«. Der Ehemann ist eine Gabe Gottes, er führt die Frau durch ihr Opfer zur Heiligkeit.[24]

Der Code der Gefühle

Mit der Enzyklika Arcanum antwortet die Kirche 1880 auf die weltlichen Angriffe gegen die Ehe. Papst Leo XIII. bekräftigt die Autorität des Ehemanns: »Der Mann ist Herr über die Frau: wie Christus der Herr der Kirche ist.« Die Ehefrau »soll sich dem Ehemann unterwerfen und ihm gehorchen, nicht in der Art einer Magd, sondern als Gefährtin, das heißt dergestalt, daß sie die Unterwerfung immer noch mit Anstand und Würde leistet«[25]
Die Enzyklika Leos XIII. bestätigt und verlangt die Würde der Frau in der Ehe, obgleich der eheliche Schutz sich bisweilen als blutrünstig erweist. Die scharfe Verurteilung eines Ehemannes, der seine ehebrecherische Frau tötet, enthüllt das dramatische klassenübergreifende Hintergrundgeschehen der unauflöslichen Institution Ehe. Für den übergroßen Teil der um die Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen bürgerlichen und aristokratischen Italienerinnen ist eine Ehe nach dem Willen der Familie noch immer die Norm. Die selbständige, vom Gefühl bestimmte Wahl des Ehegatten gehört in eine andere, von feministischen Pamphleten geschilderte mythische Welt »des freien Amerika« mit seiner Gleichberechtigung auf dem Heiratsmarkt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entfalten die Romane der katholischen Schriftstellerinnen zum Lieblingsthema »Ehe« viele der moralischen Reformvorschläge, für die sich die internationalen Vorkämpfer einer Soziologie der ehelichen Beziehungen begeisterten (Legouve, Letourneau, Mantegazza, Lombroso, Lhotzky, Werner, Carpenter, etc.). Die passiv hingenommene Verheiratung mit sehr viel älteren Männern ist eines der am heftigsten debattierten Themen der Erneuerung. Den Erbhygienikern war dieser ungleiche Handel - ästhetisches Kapital der Frau gegen ökonomisches Kapital des Mannes - ein Dorn im Auge. In den Texten der katholischen Schriftstellerinnen aber wird das ungleiche Heiratsalter sehr viel seltener kritisiert als das System der doppelten Moral, das den Heiratsmarkt beherrscht. Die aus dem Alter des Ehemanns herrührenden Schwierigkeiten lösen sich in den Geschichten meistens im Happy-End auf.[26] Man darf nicht vergessen, daß das Bestreben, unter die Haube zu kommen, und die bis zum Ersten Weltkrieg vorherrschende Auffassung, daß die Frau lediglich in der Ehe zu einer würdigen sozialen Existenz gelangen kann, nicht nur in der katholischen Publizistik zu finden ist. Die aus Vernunft und nicht aus Leidenschaft oder um des Trostes willen geschlossene Ehe, zu der die Presse der Gioventu Femminile der Azione Cattolica noch in den 1920er Jahren rät, hat eine lange Tradition antiemotionaler Pädagogik. Die nur von den Augen oder vom Herzen geleitete Wahl des Ehepartners führt zu instabiler und vergänglicher Ehe. Vom Ehemann der praktizierenden Katholikin wird lediglich verlangt, daß er ein guter Christ sei.
»Sie hat sich ferngehalten vom Murren in Weiberkreisen über die Niedertracht der Männer«, heißt es in der Lobpreisung auf Rita da Cascia, verlesen in Rom während der Zeremonie ihrer Heiligsprechung (1900). Das lange Erdulden der von einem »rohen, bestialischen« Mann auferlegten ehelichen Strafen und die würdevolle Distanz zu anderen Frauen, die ebenfalls Opfer ihrer Ehe waren, sind Themen, die einen großen Teil der Heiligenbiographien des 20. Jahrhunderts beherrschen.[27] Das ist das kirchliche Gegenstück zur zahlreichen weltlichen Literatur über die schlechte Ehe, die bis in die Details Ritas Leiden im Eheleben enthüllt. Mit der Heiligsprechung von Rita schafft die Kirche ein Vorbild, mit dem sie eingesteht, daß das Eheleben für Frauen eine Last oder gar ein Martyrium sein kann. Um 1900 taucht in den spärlichen Beispielen katholischer Autobiographien über unglückliche Ehen auch die Sexualität auf. Jaqueline Vincent - 25 Jahre lang Dienstmagd und Geliebte eines brutalen und atheistischen Ehemannes, dann ab 1925 Karmeliter-Terziarin - schreibt ein erschütterndes Livre de l'amour, in welchem sie eheliche Beziehungen als mystische Folter bezeichnet.[28]

Hortus Clausus

Berufungen

Ehefrau und Mutter, das sind die dominanten Bilder, die die unverheiratete Frau in den Hintergrund drängen. Die ledige Frau mit ihrem Platz außerhalb der Familie ist ein soziales Problem, welches das Fin de siecle beschäftigt. Zwischen der ledigen Frau als Problem und der stark zunehmenden »Feminisierung des Klerus« besteht ein enger Zusammenhang. In Frankreich steigt die Anzahl der Frauen, die in alte und neue religiöse Kongregationen eintreten, zwischen 1808 und 1880 von unter 13000 auf über 130000 an. Im Jahre 1830 war das Verhältnis von Frauen zu Männern im Ordensklerus zwei zu drei. 1878 dreht sich das Verhältnis um: drei Frauen kommen auf zwei Männer. Zwei Drittel der Gründerinnen neuer Kongregationen stammen aus den oberen Klassen. Vor der Revolution kamen 29 Prozent aus dem Adel und 33 Prozent aus dem Bürgertum. Im 19. Jahrhundert steigt der Anteil der Bürgerlichen auf 46 Prozent, der des Adels sinkt auf 19 Prozent. Die übrigen Mitglieder dieses machtvollen Heeres kommen aus den Familien kleiner Bauern, Handwerker und Lohnabhängiger.[29] Claude Langlois hat betont, daß dieses Phänomen der Feminisierung des Klerus eine einzigartige Neuerung darstellt. Die neuen Ordensgemeinschaften unterstanden der Autorität ihres Gründers, vor allem aber der der Gründerin und der Generaloberin. Diese institutionelle Autonomie der neuen Frauenorden kommt insbesondere bei der Mädchenerziehung zur Geltung. 1876 stehen 80 Prozent der 500000 französischen Kinder, die den Kindergarten besuchen, unter der Obhut religiöser Gemeinschaften. Schwieriger ist es, die katholische Vorherrschaft über die Erziehungsanstalten (in Frankreich wie in Italien) in Zahlen auszudrücken. Die erste nationale statistische Erhebung Italiens von 1872 zeigt, daß Ordensgemeinschaften und religiöse Kongregationen ein absolutes Monopol über 570 erfaßte Internate haben. Dreißig Jahre später kann der Staat lediglich 86 öffentliche Institute den insgesamt 1429 privaten Schulen und Internaten entgegensetzen. Zu letzteren zählen ca. 800 Hilfswerke und Wohlfahrtseinrichtungen mit 48677 Internats- und 59179 externen Schülerinnen.[30] Diese Zahlen sind ein Beleg für das unerschütterliche Vertrauen, das auch die nichtkirchlichen Eliten in die Prägung der weiblichen Rolle durch die katholischen Mädchenschulen setzen.[31] Die beeindruckende Feminisierung des französischen Klerus ist ein wahrhaft nationales Phänomen. Es erreicht die anderen katholischen Länder mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. In Frankreich liegt die Blütezeit der Ordensneugründungen mit einer Generaloberin als Leiterin zwischen 1820 und 1830. In Italien, wo die Kirchenpolitik in den Einzelstaaten extrem unterschiedlich war, erlauben die verfügbaren Daten vor der nationalen Einigung noch kein Gesamtbild. Die Zunahme der weiblichen religiösen Einrichtungen scheint ein Jahrzehnt später als in Frankreich eingesetzt zu haben. 1861 erfaßt die erste Zählung im Königreich Italien 42 664 »Nonnen«, ohne jedoch dabei zwischen »Nonnen« und »Schwestern«, zwischen Klöstern mit Klausur, Konservatorien, Oblatenschulen oder neuen zentralisierten Instituten zu unterscheiden. Auch in Italien ist die Feminisierung des Klerus eine wohlbekannte Tatsache; schließlich gibt es nur 30632 männliche Ordensmitglieder. Es gibt 1,95 Nonnen pro Tausend der Bevölkerung. Das ist weniger als in Belgien, wo die Zahl bei 2,70, und mehr als in Spanien, wo sie bei 1,20 liegt. Die höchsten Prozentsätze sind in Umbrien und den Marken zu verzeichnen, zwrei Provinzen des ehemaligen Vatikanstaates. Doch die übergroße Mehrheit der Ordensfrauen - in Zahlen 22 619 - findet sich im Süden, in den Provinzen Neapels (13 651) und in Sizilien (8968).[32]
In einem der neapolitanischen Klöster schrieb Enrichetta Caracciolo über ihren erzwungenen Klostereintritt. Die Misten del chiostro napoletano (1864)[33] - die private und politische Autobiographie einer Adligen, die durch den unbeugsamen Willen der Mutter der Gefräßigkeit des »levitischen Landes par excellence« übergeben wurde - ist die antihagiographische, vom Risorgimento inspirierte und patriotische Kehrseite einer Nonnenbiographie.[34] Diese Misteri, diese Geheimnisse, waren den Spitzen der Hierarchie des römischen Klerus im übrigen wohlbekannt, welche sie dem bourbonischen Königshaus in die Schuhe schoben. Die »Berichte der Bischöfe an den Heiligen Stuhl« sprachen von Einkleidungen, die in der Art von Karnevalsparaden vorgenommen wurden, mit Tänzen und Festen; von der Wahl der Oberin, die wie in einer Massenversammlung mit Beifallsrufen begleitet wurde; von unkontrolliertem Kommen und Gehen von Ärzten, Hausangestellten und Priestern in den Klöstern der neapolitanischen Aristokratie.[35]
Alle bekannten Vermutungen über die Extreme »religiöser Hingabe« in Sizilien lassen sich erahnen, wenn man in den Seiten eines weitverbreiteten Handbuchs für klösterliches Verhalten blättert. Hier ist der Körper der offensichtliche und charakteristische Ort der Sünde. Im Körper entsteht sie, dort hat sie ihren Sitz: die Sünde der Zunge (üble Nachrede), des Auges (Neid), und des Gaumens.[36] Der Leib ist also in dieser Verhaltenslehre niemals ein bloß abstrakter Begriff, sondern wird konkret dazu angehalten, die analogen heiligenden Körperhaltungen nachzuahmen. In Wirklichkeit schwächt aber dieses absolute Übergewicht der realistischen Vorstellung von Körperlichkeit die Strenge einer auf den Willen zur Entkörperlichung abzielenden Pädagogik, wie sie Odile Arnold für die französischen Klöster in der zweiten Jahrhunderthälfte beschrieben hat.[37]

Oberinnen mit Unternehmergeist

Ein hohes Maß an Emanzipation - am Ende des 19. Jahrhunderts stehen die Engländerinnen an zweiter Stelle hinter den Amerikanerinnen - erlaubt es den Stifterinnen neuer religiöser Orden in der englischen Terra incognita, fiktionale und nichtfiktionale »katholische« Literatur für Bekehrung und Eigenfinanzierung zu benutzen. Lady Georgiana Fullerton (Ellen Middleton, 1844) und Fanny Taylor (Tyborne, 1857) verwenden die Erträge aus ihren Bestsellern zur Förderung der Poor Servants of the Mother of God. Das ist die erste »gewerbliche, sich selbst tragende« Kongregation; sie betrieb u. a. eine gewerbliche Wäscherei. [38] In England und Amerika [39] entwickelt sich die Feminisierung des Klerus im Zeichen einer praktisch-karitativen Religiosität, deren Betätigungsfeld das soziale Elend ist. Auch das starke »Selbstbewußtsein« der englischen Ordensfrauen ist an eine karitative Praxis gebunden; bewußt überschreiten sie die zum Schutze der Frauenehre erlassenen Beschränkungen der Bewegungsmöglichkeiten für weibliche Bettelorden. Auch die Französin Jeanne Jugan erhält ihr Charisma durch Almosensammeln entlang der Straßen Westfrankreichs, um mit dem Geld Vagabunden in den Instituten ihrer Kongregation beherbergen zu können. »Ich bin Jeanne Jugan«, sagt die von Tür zu Tür gehende Stifterin der 1843 gegründeten Petites Sceurs des Pauvres, welche in den 80er Jahren nach Sacre-Cceur die an Immobilienbesitz zweitwichtigste Kongregation wird. Das Wanderleben der Jeanne Jugan dauert dreizehn Jahre. 1852 erkennt der Bischof von Rennes die Kongregation an und verpflichtet die Petites Sceurs des Pauvres zur klösterlichen Tugend des festen Wohnsitzes im Ordenshaus.[40]
Die Idee, Frauen durch ihre sozialen Tätigkeiten den Zugang zur Welt zu öffnen, wirkt lange Zeit beunruhigend. Die verbreitete Angst, daß die moralische Integrität einer Frau außerhalb des Schutzes der Familie und des häuslichen Herdes Schaden nehmen könne, findet ihren Niederschlag in traditionellen Verhaltensweisen wie der sowohl in katholischen wie laizistischen Familien üblichen strengen Überwachung von Frauen. Noch unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg kostet es Armida Barelli, die Gründerin der Gioventu femminile italiana der Azione Cattolica, viel Mühe, die höchst katholischen Widerstände des Vaters der zweiundreißigjährigen Marchese-Tochter Teresa Pallavicino zu brechen: »Papa läßt mich einfach nicht alleine reisen.« In Parma (der Stadt der Pallavicino.) ist es nicht anders als in Palermo: »In Sizilien gehen die jungen Mädchen und Frauen nicht einmal nach der Hochzeit allein aus, und Ihr wollt sie auf Propagandareise durchs Land schicken, um Vereinigungen zu gründen?« So lautet der Einwand der kirchlichen Hierarchie von Palermo gegen Barellis Organisiereifer. Ohne Zweifel trägt die intensive Reisetätigkeit der Leiterinnen der Gioventu Femminile, die damit erfolgreich ein soziales Verbot umstoßen, das das gesamte weibliche Geschlecht betrifft, zu ihrem Charisma bei. Armida Barelli, die Präsidentin, und Teresa Pallavicino, die Vizepräsidentin, diese katholischen »neuen Frauen«, fahren im Auto durch Italien, und wo immer sie auftauchen, werden sie triumphal begrüßt. Sie gelten als Symbol für ein Höchstmaß an Emanzipation und Selbstbestimmung »des Geschlechts«. Sie begeistern auch die Mitglieder an der Basis, die selbst von einem solchen innovativen Verhalten noch weit entfernt sind.[41]
Die von der offiziellen politischen Bühne ausgeschlossenen katholischen Frauen finden ein Betätigungsfeld in der Wohltätigkeit. Adelige Frauen sind die ersten, die sich direkt auf das soziale Elend einlassen. Für einige von ihnen werden in Italien wie in Spanien[42] sogar die Regeln des mediterranen Ehrenkodex gelockert. Ihre bedingungslose, »von Tugend geleitete Leidenschaft« führt zu enthusiastischen Briefwechseln und dauerhaften Freundschaften - die dann später in Biographien verewigt worden sind. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die international in der Wohltätigkeit aktiven Paolina Craven und Georgiana Fullerton. Der mächtige Wunsch, allen Elenden zu helfen, wird auch in historischen Rekonstruktionen dokumentiert. So schreibt Teresa Ravaschieri, selbst berühmt als Begründerin von Wohltätigkeitseinrichtungen in Neapel, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine monumentale Storia della carita napoletana. Selbst in Vorstellungen über den idealen Ehemann kann das Interesse für wohltätige Aufgaben einen Niederschlag finden: »Ich möchte auch, daß er reich wäre, um viel Gutes für die Armen tun zu können.« Nicht selten erwächst der Wunsch zu heilen aus dem selbst erfahrenen Schmerz und dessen Vergleich mit dem Schmerz anderer Menschen. Häufig geben die Wohltäterinnen den Hospitälern oder Fürsorgeeinrichtungen den Namen ihrer in zartem Alter verstorbenen Kinder. Doch diese Art der sozialen Praxis war meistens auch der bewußte Versuch, der männlichen Machtausübung alternative Werte entgegenzusetzen. In diesem Sinn deuten die Wohltäterinnen der jüngeren Generation das Werk der Ravaschieri nach ihrem Tod. »Ihrem Feingefühl, ihrer Unabhängigkeit von jeglichem Cliquenwesen (. . .) ist es zu danken, daß heute jede Frau, auch ohne sich als Feministin zu fühlen, bei uns eintreten kann, um wohltätig zu wirken.«[43]
In Paris steht während der Regierungszeit von Jules Ferry Mademoiselle David-Nillet unter dem strengen Schutz eines Onkels; nur zur Sonntagsmesse darf sie aus dem Haus gehen. Mit ihrer Heirat wird sie zu Albertine Duhamel. Die Änderung des Familienstandes legt bei ihr organisatorische Fähigkeiten frei, die man der ehemals so abgeschieden Lebenden nicht zugetraut hätte. Nach 1910 führen ihre sozialen Aktivitäten sie kreuz und quer durch Frankreich. In zehn Jahren besucht sie rund 3400 Einrichtungen, das ist im Vergleich mit dem cursus bonorum der auch schon sehr aktiven Wohltätigkeitsdamen des 19. Jahrhunderts eine beispiellose Leistung.[44] Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich die Katholiken auf die Herausforderung des Feminismus mit seinen sozialen Laienaktivitäten ein; sie beginnen, die Werte und Erfahrungen zu aktualisieren, um davon ausgehend den Frauen einen neuen Sinn für Identität anzubieten. Die »kämpferische Frau« (donna militante) - ein von Papst Pius XI eingeführter Begriff - tritt nun an die Stelle der Wohltätigkeitsdame. Die Frauenabteilungen von Azione Cattolica finden überall in Europa Zustimmung. Es sind stark hierarchisch gegliederte Strukturen, auf die sich das nationale Charisma ihrer Leiterinnen stützt. 1910 hat die Ligue patriotique des Francaises 450 000 Anhänger. Die 1908 gegründete UDACI (Unione donne di azione cattolica italiana) umfaßt im ersten Jahr ihres Bestehens über hundert Komitees mit 15 000 Mitgliedern.[45] Die »neue Frau« des militanten Katholizismus ist eine Frau der Tat, allerdings ohne die männer-ähnlichen Züge, mit denen das katholische Feuilleton (in Civiltä Cattolica) die Feministin karikiert.[46]
Das Selbstbewußtsein der katholischen Führerinnen ist gewaltig. Es mag noch bei den Aktivistinnen unter Kontrolle gehalten werden, aber bei Frauen in höheren Ämtern tritt es deutlich hervor. Es erwächst aus den Schwierigkeiten, die bei der persönlichen »Emanzipation« zu meistern waren. »Was mich betrifft, so bin ich zu aufrecht, um Opportunistin zu sein: Solange mein Gewissen es zuläßt, konziliant zu sein, bin ich es; darüber hinaus werde ich es nie sein können (. . .) Eure Eminenz hat auch meinen schlechten Charakter angesprochen, und darin könnte Eure Eminenz recht haben. Ich habe einen unnachgiebigen Charakter«, schreibt 1914 die Prinzessin Cristina Giustiniani Bandini (1866-1959) an Pius X. Sie war Gründerin und von 1909 bis 1917 unermüdliche Präsidentin der Union der katholischen Frauen in Italien. Nach der Erziehung - natürlich beim Sacre-Coeur - tritt sie mit 18 Jahren ins Kloster ein. Sie verläßt es nach einem Jahrzehnt gegen den Willen ihres Vaters. Um zu leben, muß sie jetzt arbeiten. Die alte römische Aristokratie ist unnachgiebig gegenüber selbständigen Entscheidungen ihrer Töchter, wenn diese sich außerhalb der vorgeschriebenen Wege der Ehe oder des Klosters bewegen.[47]

Verbote und Lektüre

Wenig lesen, gut lesen

Während des gesamten 19. Jahrhunderts — und im 20. Jahrhundert bis zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg — ist die Lektüre der Frauen Gegenstand aufmerksamer Kontrolle. Dem Roman wird der höchste Grad an Gefährlichkeit zugeschrieben. Die Verdammung durch die Kirche folgt bei ihren Urteilskriterien Rousseauschen Ideen - »Ein anständiges Mädchen liest keine Bücher über Liebe« -; damit können sich Katholiken und Laien gleichermaßen identifizieren. Die junge Mailänderin, die im Oktober 1787 dem durch Italien reisenden Goethe gesteht: »Man lehrt uns nicht schreiben, (. . .) weil man fürchtet, wir würden die Feder zu Liebesbriefen benutzen; man würde uns nicht lesen lassen, wenn wir uns nicht mit dem Gebetbuch beschäftigen müßten«,[48] braucht dieses »man« nicht zu spezifizieren; denn was die Ausbildung der Frauen angeht, folgt die weltliche Gesellschaft dem Standpunkt der Kirche. Und doch bewegt sich die betrübte Halbanalphabetin gemäß den Regeln der zeitgenössischen Modernität: sie reist, plaudert, verführt (sie ist eine von Goethes italienischen Geliebten). Aber Bücher sind ihr strengstens verboten.
Wir können vermuten, daß es viele weibliche Strategien zur Umgehung der strengen Verbote gab. Der Roman ist so sehr Verkörperung der Sünde, daß die Leserin sich schon schuldig macht, wenn sie ein solches Buch nur in die Hand nimmt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts suchte Harlowes Buch Clarissa die ländlichen Gebiete der Bourgogne heim. Nicht einmal das aufmerksame Auge ihrer jansenistischen Mutter schützt Sophie Barat, die aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammende künftige Gründerin der Kongregation des Sacre Cceur, vor diesem Roman. Obwohl er sich wie ein Lauffeuer verbreitet, kann Sophie die Schuld für ihre Lesesünde nicht nach außen abwälzen. Ihr ganzes Leben lang empfand sie Reue wegen dieser Lektüre. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nennen pädagogische Unterweisungen den Ursprung dieser Ansteckungsgefahr beim Namen. Der besorgte Blick, dem im 19. Jahrhundert die Jugend ausgesetzt ist, entdeckt als Brutstätte für die Versuchung eben gerade jener Altersgruppe Freundinnen, ältere Schwestern und vor allem Brüder, welche der aufmerksamen Überwachung durch die Eltern weniger streng ausgesetzt sind. Die Intensität weiblicher Freundschaften basiert auch auf dem Austausch verbotener Bücher. Um der Kontrolle einer »ultra-rigorosen« Mutter, einem wahren Auswuchs an christlicher Perfektion, zu entgehen, bittet 1831 Paolina Leopardi eine Freundin aus Bologna um Stendhal und Walter Scott.
Die soziale Ehre, die die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts der Rolle der Ehefrau zugesteht, mildert die Strenge dieser Vorschriften und handhabt sie nach der Heirat wesentlich lockerer. In Frankreich entschärfen die in der Nachfolge von Baronin Staffe oder Madame de Genlis schreibenden Verfasserinnen von Verhaltensanleitungen die Kontrolle der Lektüre, sobald es um verheiratete Frauen geht. In Italien dagegen konstatieren die katholischen Handbücher zur Lebensführung noch am Ende des 19. Jahrhunderts mit Bestürzung, daß im Ehestand die Einhaltung von Lektüreverboten nicht mehr eine unumstößliche Gewissenssache ist.
Das Ausmaß der empfohlenen oder verbotenen Frauenlektüre ist schwieriger zu definieren. Der im 19. und bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in größeren Mengen produzierte katholische Lesestoff ist von der Forschung noch nicht mit der »Quantität« der weiblichen Lektüre korreliert worden. Die erlaubten Titel wiederholen sich. Eine der seltenen Informationen über den Bücherbesitz in der städtischen Mittelschicht Italiens ist beeindruckend. In Neapel, der bevölkerungsreichsten Stadt Italiens, in der die Tageszeitungen eine Auflage von 50000 haben, sind in den 1870er Jahren Haushalte, die keine Bücher besitzen, in der Mehrzahl. Im Italien des frühen 19. Jahrhunderts repräsentiert eine Frau mit einem Buch in der Hand — das kein Andachtsbuch ist — alles andere als die angesehene und gesellschaftlich geschätzte Verbindung von ästhetischen und kulturellen Werten. Es gibt nur wenige liberale und aufgeklärte Katholiken, die von Büchern träumen, die »ausdrücklich mit Blick auf den Intellekt der Frauen geschrieben sind« und keine Andachtsbücher sind. Für Silvio Pellico sollen darin »süße Gefühle«, »häusliche Fürsorge« und »heroische Begeisterung für die Liebe, die privaten Tugenden und Religion« vorkommen, und sie sollen sich auf weibliche Genealogien stützen: auf Familiengeschichten von Töchtern, Ehefrauen und Müttern.[50] Ein seinen Vorstellungen entsprechendes Buch ist eine unvorstellbare Ware für die Buchläden mit ihren Andachts- und Zuchtbüchern, die die lombardische Produktion im frühen 19. Jahrhundert beherrscht.[51] Erst in den 70er Jahren erhält das italienische Verlagswesen von der ersten Generation nationaler Romanschriftsteller eigene »Gemälde der privaten Gefühle«. Vorher ist Italien das Land der Übersetzungen: Abgesehen von einer gewissen Zahl an Andachtsbüchern kommen insbesondere die Romane und die Benimmratgeber aus Frankreich.
Mit einem großen zeitlichen Vorsprung gegenüber den Italienerinnen gehen die katholischen Schriftstellerinnen Frankreichs und Englands den doppelten Weg der Erziehungsschriften und des Romans. Diese literarische Gattung gilt für die Kirche nach wie vor als sündhaft. Das erklärt die vielen absichernden Erklärungen der Autorinnen. (1869) -
Die bekannte Madame Bourdon (Mathilde Froment, 1817-1888) unterscheidet ihr Buch Souvenirs d'une institutrice »Alltagsszenen aus der wirklichen Welt« - von einem echten Roman wie Jane Eyre der allseits bewunderten Charlotte Bronte. Sie trägt auf ihre Weise dazu bei, die strenge Trennung zwischen guten und schlechten Romanen aufzubrechen. Sie macht nicht nur die ruhmreichen Beispiele einer weiblichen literarischen Tradition bekannt, sondern sie befördert darüber hinaus den Übergang von der Leselust zur Schreiblust. Eine gehorsame Schülerin händigt, wie es die Internatsregeln vorschreiben, der Erzieherin, der Hauptfigur der Souvenirs, das Buch Corinne von Madame de Stael zur Kontrolle aus. Entflammt vom Wunsch nach literarischem Ruhm - »vielleicht gefährlich, aber verlockend!« -, sieht sich die Erzieherin nun als Schriftstellerin, die »den Einbildungen, die durch unsere Phantasie schweben«[52] eine literarische Beständigkeit zu geben vermag. Die »Phantasie« der Frauen, die die katholische Erziehung des 19. Jahrhunderts zu zügeln versuchte, ist nicht mehr zu bremsen: Es ist ein reicher Fundus, aus dem sich das literarische Schreiben der Frau entwickeln kann.
In Italien bieten die Autoren, die den katholischen Leserinnen um die Mitte des Jahrhunderts empfohlen werden - philosophische Abhandlungen von Plutarch, Diskurse von Sokrates, Werke von Cicero, von Augustin Thierry oder von Muratori -, keine geschlechtsspezifischen Identifikationsmodelle an.[53] Die streng klassische Lektüre soll eine anti-romantische Funktion erfüllen. Monsignor Dupanloup hat 1879 für eine wesentlich jüngere Altersgruppe ähnliches vorgeschlagen. »Um den weiblichen Verstand zu stärken«, schreibt der Bischof von Orleans die Lektüre der großen französischen Autoren des 17. Jahrhunderts vor - Pascal, Bossuet, Fenelon, Racine, Corneille, La Bruyere, Madame de Sevigne. Das 18. Jahrhundert läßt er ganz aus, für das 19. Jahrhundert erwähnt er nur einige christliche Poeten. Er verbannt die exakten Wissenschaften und die Literatur: In seinem durchaus innovativen Programm steht literarische Disziplin an erster Stelle.
Lest wenig und dafür Gutes, lautet die Maxime.[54] Wieder lesen, zurückblättern (»nie ein Buch beiseite legen, bevor es zu Ende gelesen ist«), Zusammenfassungen erstellen, die wichtigsten Abschnitte abschreiben, keine Abschweifung: Lesen ist eine Gewissensprüfung mit Hilfe eines Textes. Durch Bücher kann man eher Charakterzüge aufbauen und verändern als sie kennenlernen. Die Instrumente der geistigen Orthopädie von Madame Swetchine, die sich sagt, sie sei »mit wenig Charakterstärke geboren«, sind Bleistift und Papier. »Mit dem Bleistift schreiben, (. . .) das ist wie leise sprechen.« Man markiert die Seiten, liest sie erneut, schreibt Zusammenfassungen ab und verfaßt (dieses Mal mit der Feder) Kritiken und Reflexionen.[55]

Lesestile und Strategien des Eigensinns

Überzeugender als die Vorschriften von Dupanloup vermitteln die intellektuellen Autobiographien von Frauen Einblicke in das Leben einer wirklichen »mit Studien befaßten Frau«: Eine solche Möglichkeit können sich nur wenige adlige Frauen in wohlwollenden familiären Situationen verschaffen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist weibliche Ausbildung häufig nur Gedächtnistraining; die bloße Wiedergabe dient als Gegengift gegen innere Abschweifungen durch »Einbildungskraft«. Einen Text auswendig zu kennen, erleichtert das laute Vorlesen, eine Form der Familien- und Salonunterhaltung, deren Protagonisten bis zum Ende des Jahrhunderts die Frauen der oberen Klassen sind. Diese Lernmethode wendet die sechzehnjährige Turiner Baronesse Olimpia Savio (1816-1889) ausschließlich auf französische Autoren an: »Racine, Corneille, Mignet, Marmontel, Bouilly, Berquin, Bossuet, Fenelon, Madame de Maintenon, Madame de Sevigne, Massillon«, aber »nichts Italienisches«. Für das Königreich Sardinien und Piemont in den 30er Jahren ist Olimpia Savio durchaus ein Beispiel für eine »gehobene« mütterliche Erziehung: »Ich bin die einzige Tochter und wurde deshalb immer an der Seite meiner Mutter erzogen.« Sie ist das insbesondere für Frauen seltene Beispiel eines hartnäckigen Willens zur kulturellen Befreiung. Olimpias Mutter war eine Pionierin, eine nächtliche Autodidaktin, die ihre Bücher unter der Matratze versteckte, eine Kämpferin gegen ihre Mutter und Großmutter, die ihre Lektüre auf Andachtsbücher beschränkt sehen wollten.[56]
Erst Ende des 19. Jahrhunderts erhalten Frauen bzw. Mädchen allmählich Zutritt zu höheren Schulen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es 233 Schülerinnen in den staatlichen Lyzeen, aber 12 605 Schüler jetzt entdeckt die katholische Hagiographie rückblickend den Wert der Hartnäckigkeit von Frauen, die sich autodidaktisch etwas beigebracht haben. Gerade die Strenge der Arbeitsmethode schützt sie gegen den Ruch des Ungehorsams. Die seliggesprochene Elena Guerra (1835-1914), Gründerin eines Erziehungsinstituts für Mädchen in Lucca, studierte nachts Latein beim Lichte von kleinen, aus Nußschalen gefertigten Lämpchen, um sich nicht durch den Kerzenverbrauch zu verraten.[57] Die Außergewöhnlichkeit solcher Vorbilder wird durch unzählige Nacheiferinnen keineswegs geschmälert und läßt ihnen den hagiographischen Charakter.
Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhoben sowohl die medizinische Wissenschaft als auch die kirchliche Predigt ihre warnende Stimme. Sie zeigen sich besorgt über die täglichen Anstrengungen des Schulalltags, denen sich eine immer größere Zahl von Schülerinnen aussetzt, und über das weibliche Streben nach der Abschlußprüfung samt allen belastenden Folgen des Konkurrenzverhaltens. Die pathologische Sequenz des im 19. Jahrhundert beliebten Modells der seelisch-körperlichen weiblichen Schwäche - Bronchozöle, Bleichsucht, Schäden der Wirbelsäule, Hysterie - kennt als einzige Ursache den schädlichen Erwerb von Buchwissen. Dieselbe Erklärung findet sich noch im 20. Jahrhundert in der katholischen Presse, die jedoch einen Ausgleich durch Leibeserziehung für Mädchen strikt ablehnt. Gleichzeitig tauchen allerdings am Horizont des neuen Jahrhunderts die ersten katholischen Theoretiker einer »neuen« weiblichen Erziehung auf, die sich - wie der spanische Jesuit Ramon Ruiz Amado - die Lehren der amerikanischen Hygieneschule zu eigen machen. Sie kritisieren von der Kanzel herab Formen des im 19. Jahrhundert beliebten weiblichen Zeitvertreibs wie »die langen Zusammenkünfte am Klavier, weitverbreitet bei den spanischen Senoritas«, und schlagen eine intensive sportliche Betätigung auch für Mädchen vor.[58] Auf dem Land hält sich die Gewohnheit des Vorlesens aus den Andachtsbüchern noch bis nach dem Ersten Weltkrieg. Es war eine Form, den Katechismus zu lernen, wurde aber seit Beginn des 20. Jahrhunderts das Banner der Bekehrungsversuche von Seiten der katholischen Frauenorganisationen. In Nivernais wurde Ende der 50er Jahre mit dem Gebetbuch Lesen und Schreiben gelernt; zur Übung wurden die Vokale des Symbols der Apostel gesucht und abgeschrieben.[59] Das abendliche Lesen der Gebete mündete ein in eine Form des Lernens. Die Gebete wurden eher vom Rhythmus der andächtig umgeblätterten Seiten »geleitet« als vom Inhalt der Botschaft.
Die Kirche hält an ihrer Klassifizierung der Bücher in gute und schlechte Bücher fest. Sie hat es dabei mittlerweile mit einer ständig wachsenden Produktion von populären Romanen zu tun. 1905 bringt das Werk des Abbe Bethleem Romans ä lire et ä proscrire Ordnung in die üppig sprießende Kultur der populären Romane in Frankreich. Bonne Presse konzentriert sich auf junge Mädchen als Leserinnen. Doch jeden Samstag gibt es die Groschenromane für 65 Centimes, und sie sind schon längst kein heimliches Vergnügen mehr. Die jungen Mädchen liegen den ganzen Sonntag ausgestreckt auf dem Bett und vergessen ihre religiösen Pflichten.[60] Das weibliche Bewußtsein, daß das Lesen schlechter Bücher Sünde ist, läßt nach. Das unschuldige Erstaunen beichtender Mädchen, die bestraft werden für eine Lektüre, die ihr Beichtvater für schlüpfrig hält, zeigt die Problematik der Selbstkontrolle in einer Gesellschaft, in der das Buch den Charakter moralischer Erziehung verloren hat und statt dessen Gefährte der Freizeit geworden ist.
Für die »militante« Katholikin, diesen neuen sozialen Typus des 20. Jahrhunderts, werden die Bücher zu obligatorischen Instrumenten ihrer Ausbildung. 1927 schenkt Papst PiusXI. der Nichte der Marchesa Maddalena Patrizi, Präsidentin der UDACI, zur Hochzeit eine ideale Bibliothek, die ca. achtzig Bände umfaßt: »Lauter Bücher eigens für sie«, ganz wie Dupanloup es gewollt hatte. Von 37 Autoren sind 25 Franzosen (Dupanloup, Gratry, Tissier etc.); zu den italienischen Werken gehörte eine Kunstgeschichte, ein Verhaltenshandbuch, das Gesamtwerk von Manzoni und das Sillabario del Cristianesimo von Olgiati aus der Mailänder Gruppe der Universitä Cattolica.[61] Diese Büchersammlung bringt sowohl die anhaltende kulturelle Abhängigkeit Italiens von Frankreich in der Rezeption geistlicher Literatur deutlich zum Ausdruck als auch die Rigidität des religiösen Verlagswesens. Nach Claude Savart gilt letztere, auch außerhalb Frankreichs, noch über das 19. Jahrhundert hinaus.[62]

Die Frömmigkeit: Praktiken und Einstellungen

Die weibliche Privatisierung der Verehrung

Gebete, die leichter faßbaren gesprochenen Gebete ebenso wie die nicht greifbaren mentalen Gebete - eine Unterscheidung von Bremond -, bestimmen den Rhythmus des Alltagslebens von Frauen. Die Zeit der Restauration verändert den Grundton des Gebets. Das beherrschende Gefühl von Angst und göttlicher Vergeltung, das im 18. Jahrhundert das Beten durchzog, verschwindet allmählich. Die für die Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts typischen zielgerichteten Gebete - die Schutz und göttliches Wohlwollen für Gesundheit, geschäftlichen Wohlstand, Reisen oder Kriege erbitten - sind sowohl durch den wachsenden Individualismus der Epoche geprägt als auch durch den Willen der Theologie, sich gegen den Mystizismus zu wappnen.
Im klassenübergreifenden System der doppelten Moral, auf dem viele Ehen des 19. Jahrhunderts basieren, hat das Gebet auch friedensstiftende Funktion. Die zeitgleichen Gebete von Maria Adelaide von Savoyen, königliches Vorbild für eheliche Ergebenheit (von Pius IX. 1847 mit der »Goldenen Rose« ausgezeichnet, einer päpstlichen Ehrung für die tugendhaftesten Herrscherinnen und Prinzessinnen der katholischen Welt), und des Herzogs Vittorio Emanuele (zukünftiger König von Italien) adeln eine unvollkommene Ehe. Das Gebet erhebt sich über das wohlbekannte und offen gezeigte ehebrecherische Verhalten des Ehemanns und stellt zu Kriegszeiten in der raum-zeitlichen Einheit der Anrufungen Gottes den Frieden der Beziehung wieder her. »Wenn ich erfahren kann, an welchem Tag Ihr kämpfen werdet, werde ich am Morgen meine Gebete für Euch sprechen«, schreibt die Herzogin. Vittorio Emanuele bestätigt ihr, daß in Peschiera durch ihre Fürbitte die feindlichen Kugeln umgeleitet worden seien.[63]
Die durch die Moralauffassung Alfons von Liguoris beeinflußte italienische Frömmigkeit eröffnet eine neue Dimension der Vertrautheit mit dem Heiligen und verändert die religiöse Empfindsamkeit völlig. Ob maßlose Emotionalisierung, krankhafte Intensität und unkontrollierter Mystizismus oder im Gegenteil gewohnheitsmäßige Wiederholung und kurzes häusliches Gebet, alle diese charakteristischen Merkmale des Gebets im 19. Jahrhundert sind auch Zeichen für die fortschreitende Feminisierung des Heers der Gläubigen. Die Kirche nimmt dieses Phänomen zur Kenntnis und stellt die Mutter stärker heraus. Wie ein »Pfarrer am häuslichen Herd« wünscht sie sich der Abbe Pichenot. Wie Marie-Francoise Levy gezeigt hat, geben die für Mütter geschriebenen Andachtsbücher des 19. Jahrhunderts der Liebe Gottes mehr Gewicht als der Angst vor der Verdammnis.[64]
Gott ist Gegenstand der Liebe, er unterhält mit den Gläubigen seit ihrer Mädchenzeit persönliche Beziehungen. Das Jesuskind ist in der romantischen Ikonographie als Inbegriff des Leidens dargestellt, mit dem von Dornen bekränzten kleinen Herzen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts werden die Jungfrau und das Kind in vertrauteren, nicht mehr schmerzensreichen Bildern der Mutterschaft dargestellt. Das vom Schwert durchbohrte und von Dornen bekränzte Herz verlagert sich weg vom organischen Zentrum. Es liegt in der Hand des kleinen Jesuskindes wie ein Apfel oder ein Spielzeug und ist nicht länger eine offene und anklagende Wunde.
Eine frühkindliche Neigung zum Gebet - glückliches Ergebnis mütterlicher Initiation - taucht in einem großen Teil der Hagiographie des 19. Jahrhunderts auf und bleibt unberührt vom Verdacht, es könne sich um eine natürliche kindliche Bereitschaft zur spielerischen Wiederholung gehandelt haben. Mit sechs Monaten ist Jean-Baptiste-Marie Vianney, der zukünftige heilige Pfarrer von Ars, bereits das -wachsame Gewissen der Mutter, die ihn dazu erzogen hat, sich vor dem Essen zu bekreuzigen: Er ermahnt sie, falls sie es vergessen sollte.[65] Die geistlichen Ratschläge an die kleinen Gläubigen gebieten Maßhalten: Monsignor Dufetre betont, daß es keine quantitative Beziehung zwischen wahrer Andacht und äußeren Praktiken gibt, und er empfiehlt, bei Gebeten unci frommen Exerzitien nicht zu übertreiben.[66]
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Andachtsübungen für Mädchen aktiver und sorgfältiger ausgestaltet. Sie orientieren sich an dem durch den Marienkult gesteigerten Glauben der Erwachsenen. Die Altersgrenze für individuelle religiöse Handlungen sinkt. Im Monat Mai errichten auch die Mädchen und Halbwüchsigen  kleine Marienaltäre in ihren Zimmern. Viele haben wie Caroline Brame ein persönliches »kleines Oratorium«.[67] Auch die Heiligenbilder werden weiblicher. Die mit leidenschaftlicher Manie betriebene Dekoration entdeckt die canivets, feinste Spitzen aus Papier, mit denen die Darstellungen der Jungfrau mit dem Kind umrahmt werden. Die Meßbücher werden dicker. Für fromme Sammlerinnen wird ihr Besitz doppelt wünschenswert als Beweise des Glaubens und als Freundschaftspfande. Das päpstliche Dekret Quam singulari erlaubt 1910 die private Kommunion und fördert deren Ausbreitung. Ein Heiligenbild mit dem Namen und einem Spruch aus dem Evangelium, passend zum jugendlichen Alter der Kommunikantin - ist Teil des Ereignisses. Die Kommunion ist eine erste bewußte Etappe nicht nur des spirituellen Lebens, sondern auch der gesamten gesellschaftlichen wie emotionalen Existenz: »Das Leben der Frau spielt sich in ihrer ersten Phase ganz und gar zwischen zwei weißen Schleiern ab: dem Schleier der Erstkommunion und dem Hochzeitsschleier.« Dieses Zitat aus dem bekanntesten italienischen Ratgeber zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein Beispiel unter vielen für die Verbreitung dieser chromatisch-literarischen Synthese auch in Kreisen, die nicht im strengen Sinne konfessionell sind.[68]

Tempel der Ehe und unbefleckte Jugend

Embleme religiöser Frömmigkeit finden sich vor allem im Schlafzimmer. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schützen die neapolitanischen Bürgerinnen und Bürger den Tempel ihrer Ehe mit Kruzifixen, Madonnenstatuen und Gemälden mit heiligen Sujets (manchmal gibt es bis zu elf in einem Zimmer).[69] Ob solche ikonographischen Modelle, die schon lange zur alltäglichen Dekoration gehören, zur intensiven Andacht Anlaß geben, ist nur schwer zu beurteilen. Für Mädchen und Halbwüchsige wird daraus eine lebende, ehrfürchtige Selbstikonographie, indem sie die Haltung des betenden Engels einnehmen. Das ist die erste Ebene körperlicher Selbstkontrolle, mit deren Hilfe die katholische Lehre die Regeln des moralischen Verhaltens von Frauen aufzwingt. Bilder mit so deutlichem Signalcharakter - weißgekleideter Körper in aufwärts gerichteter Haltung, Blick nach oben: Inbrunst; gesenkter Blick: Bescheidenheit - sind die Grundlage für die herrschende »dogmatische Engelslehre«; so nennt Paolo Mantegazza die obsessive soziale Ehrfurcht vor den Normen, die die weibliche Reinheit verteidigen.
Die   sechzehnjährige   russische   Adlige   Marie   Bashkirtseff,   die   im Leben wie im Tode (sie starb 1884 im Alter von 26 Jahren an Schwindsucht) die kosmopolitische jeune fille verkörperte, fügt der spätromantischen existentialistischen Maxime »leben, leiden, weinen, kämpfen« ein hartnäckiges »und eine gute Portion Ehrgeiz haben« hinzu. Beim Gebet in der St.-Peter-Kirche in Nizza, das Kinn in die schönen weißen Hände gestützt, weist sie den Versuch zurück, Weiblichkeit in engelhaften Formen zu ritualisieren. »Ich mache mich häßlich, als eine Form der Buße«.[70]
Auch darin war sie Pionierin, denn die Ratgeberliteratur betrachtet noch bis ins neue Jahrhundert hinein Kirchen und Gottesdienst als optimale Orte, um - mit dem Ziel, einen Heiratskandidaten zu finden - die weiblichen Tugenden herauszustellen. Das Vaterunser, das Ave Maria, das Credo, das Angelus sind die Morgen- und Abendgebete der Mädchen ab sieben, acht Jahren und der jungen Frauen. Nach Abschluß der mütterlichen Einweisung geht das Ritual weiter mit Anforderungen an die Person. »Notwendig« im Gebet eines halbwüchsigen Mädchens im 19. Jahrhundert sind Bitten um schönes Aussehen, eine schöne Stimme und eine glückliche Ehe. Und daß das Gebet die Pocken und den Tod von der Mutter fernhalte. So ist sich auch Marie Bashkirtseff bewußt, daß »es über das Notwendige hinaus geht«, wenn sie im unausbleiblichen Nachsatz ihrer Gebete um eine Begegnung mit dem gerade aktuellen Geliebten bittet.
Die Entdeckung des 19. Jahrhunderts, daß die weibliche Adoleszenz eine Quelle schwer kontrollierbarer Träumereien in sich birgt, beunruhigt nicht nur die Katholiken. Die Kirche wählt nicht zufällig den Monat Mai für die Marienverehrung. Die Madonna muß darüber wachen, daß die weibliche Unschuld »inmitten der Versuchungen, die in der schönen Jahreszeit haufenweise auftreten«, bewahrt bleibt. Der Marienkult im Mai wird von italienischen Jesuiten zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Dionisi, 1726; Liguori, 1750; Lalomia, 1785; Muzzarelli, 1785) vorgeschlagen und breitet sich im katholischen Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Diese vorbeugende religiöse Praxis sollte die jugendlichen Liebesgefühle, die in ländlichen Gesellschaften schwierig zu kontrollieren sind, ins Übernatürliche sublimieren. Die Reinheit der Jungfrau wird zum Identifikationsmodell, zum Zentrum der weiblichen Erziehung. Nach der Erstkommunion geht die Aufgabe des Schutzes der jungen Katholikinnen auf die Kongregationen der Figlie di Maria (Töchter Marias) über. In Frankreich entsteht 1820 die erste Congregation des Enfants de Marie du Sacre-Cceur in Paris. In Italien entstehen zusätzlich zu den Figlie di Maria nach 1854 (dem Jahr des Dogmas) weitere weibliche Vereinigungen, die sich der unbefleckten Jungfrau weihen.
In der explosiven Ausbreitung dieses Kultes zeigt sich eine spezifische und komplexe Übereinstimmung mit den Wünschen und Projektionen der Frauen. Die beeindruckende Analyse von Luisa Accati führt die symbolische Kraft der unbefleckten Maria darauf zurück, daß es sich um »eine Inszenierung des (weiblichen) Verführungswunsches« handle. Die jungen Mädchen träumen von und sehnen sich nach der Liebe, aber sie fürchten die mit der Entjungferung verbundenen sozialen Verbote und den physischen Schmerz. Die Verehrung der unbefleckten Jungfrau ermöglichte es, so Accati, »sich des sexuellen Begehrens bewußt zu werden, ohne es zu akzeptieren«. Es ist nicht nur der »Wunsch, das Vergnügen zu genießen, ohne Schuld zu empfinden«, wie Isidor Sadger sagte, sondern die »Suche nach Vergnügen ohne Schmerz«. Ein Kult also, der die narzißtische Selbstgenügsamkeit der Frau festigt, indem er sie an jene primäre Erfahrung in der Pubertät kettet. Dieser Theorie zufolge suchen die Frauen die einzige Selbstbestätigung im tugendhaften Verhalten und in der angenehmen Erscheinung, während sie all ihren anderen Fähigkeiten mißtrauen.[71]

Tugend und Erscheinung

Sichtbar gemachte Jungfräulichkeit

In den Dörfern Frankreichs sind die rosieres ein Beispiel für das soziale Abmessen der weiblichen Tugenden. Die im Mai mit Kränzen aus Rosen gekrönten jungen Mädchen (ungefähr Tausend im 19. Jahrhundert) stehen als Beispiel für eine Jugend, die im gerechten Kampf für die Verbesserung der eigenen Situation das Kapital der Jungfräulichkeit nicht aufgibt. Vor einer Kommission, bestehend aus Bürgermeister, Pfarrer und Lehrer, müssen sie mit einem ärztlichen Attest beweisen, daß sie Jungfrauen sind, in bescheidenen Verhältnissen leben und eine gute Arbeitshaltung haben. Als Prämie winken 1500 Franken als kirchlich-staatliche Mitgift, die die Jury der rosiere zwei Monate vor ihrer Hochzeit aushändigen wird.[72]
Ein solcher Wettbewerb ist für kein anderes Land als Frankreich denkbar. Mehr als jede andere in Europa bedient sich die französische Gesellschaft für politisch-pädagogische Ziele der »Geschlechter-Allegorie«. Die rosiere ist die demonstrative Antwort auf den gegen Ende des Jahrhunderts durch Umfragen und literarische Reportagen - wie Les Demi-Vierges von Marcel Prevost (1895) oder Les jeunes filles peintes par elles-memes von Remy de Gourmont (1901) - ausgerufenen sozialen Notstand in Sachen weiblicher Reinheit. Die Übersetzung dieser Werke ruft auch in Italien Unruhe hervor. Aber hier bestätigt Antonio Marro mit seinen Untersuchungen zur Adoleszenz schon bei Jugendlichen das Erwachen sexueller Triebe.[73] Zeitgleich mit dem physiologischen Realismus der aufkommenden scientia sexualis vermeiden es die italienischen katholischen Abhandlungen tunlichst, die Jungfräulichkeit in ihrer genauen, körperlichen Definition zu benennen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verändert sich die Form der Kontrolle über die weibliche Ehre: Diese entzieht sich mehr und mehr der gemeinsamen Obhut von Staat, Kirche und Familie. Wir erinnern daran, daß in Neapel in der Zeit vor der Einigung Italiens die in Heimen untergebrachten ledigen Frauen und Witwen 3,8 Prozent der weiblichen Bevölkerung ausmachten. Je nach dem Grad an Ehrbarkeit - rechtschaffen, anfällig, gefährdet, Prostituierte - wurden sie in streng voneinander getrennten Gruppen untergebracht.[74]
Das weibliche Modell der jungfräulichen Vollkommenheit basiert auf dem Wert der Reinheit. Diese individuelle, im »Inneren« der Seele befestigte Tugend basiert auf den Grundsätzen moralischer Autonomie, die durch die Praxis des Bußsakraments bestärkt werden. Aber der massenweise Eintritt der Frauen in den industriellen Arbeitsmarkt bringt eine Menge neuer Versuchungen mit sich. Die Einheit muß sich nun als Wert und moralische Pflicht an Orten voller Gefahren und Risiken bewähren. Auch solche sozialen Schichten sind jetzt bedroht, die vorher von der normativen Ehrenpädagogik ausgeschlossen waren. Auch für die adligen und bürgerlichen Frauen wird die weibliche Tugend vor allem zu einer Frage des eigenen »Erscheinungsbildes« auf der Straße, im Theater, auf den Bällen, an den Buden bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und den zunehmend zwielichtigen Treffpunkten der jugendlichen Gesellschaft. In dieser Situation empfiehlt Professor Rodolfo Bettazzi, der Gründer der katholischen Liga für öffentliche Moral in Turin 1894, daß Frauen, wenn sie an den Bällen teilnehmen, an ihrem Gürtel eine weiße Rose - eine Anspielung auf die in der Stadt nicht länger von den jungen Frauen gepflegten Marien-Andachten tragen sollen als ebenso dekoratives wie demonstratives Zeichen des Schutzes und als Bekundung des Willens, den Ball »mit unversehrter Rose wieder zu verlassen«.[75]

Die Gefahr gemischter Gesellschaft

Im frühen 20. Jahrhundert wird der Wert der Jungfräulichkeit gegenüber den Versuchen einer zunehmend säkularisierten Moral nur um so stärker betont. Den Anreiz zur Nachahmung emanzipierter Verhaltensweisen (Kleidung, gesellschaftlicher Umgang, Lektüre etc.) liefern lebende Vorbilder auf der Straße oder in den Sensationsnachrichten der weltlichen Presse. Da gibt es Liebesdramen, die mit Selbstmord oder Verbrechen enden und Symptome sind für die Widerstände gegen eine Änderung des weiblichen Ehrenkodex. Die katholische Presse verurteilte dieses entschieden als »verfluchte und blutige Nachrichten, die unser Land entehren«. Doch 1902 wird die Ermordung der zwölfjährigen Maria Goretti, die sich gegen einen Vergewaltigungsversuch wehrte - ein beliebtes Thema der gerügten Sensationsnachrichten - durch die Massenmedien zu einem spektakulären Fall von hagiographischer Bedeutung hochstilisiert.[76]
Die moderne Rettung der auf Abwege geratenen jungen Mädchen, die in die Nähe oder bereits in den Sog der Kinder-Prostitution geraten sind, stellt - wie Annarita Buttafuoco gezeigt hat - eine Herausfordemng dar, die der weltliche an den katholischen Feminismus in Italien heranträgt.[77] Letzterem gelingt es nicht, neue Lösungen zu finden für das Dilemma, das sich zwischen dem Höchstmaß an tatsächlicher Verderbnis (z. B. in den Strafanstalten mit religiösem Personal) und seinen mutmaßlichen Ursachen auftut. Die Trennung der Geschlechter - in Weiterführung der separaten Erziehungseinrichtungen bleibt für die katholischen Frauenorganisationen die zuverlässigste Garantie für die Kontrolle der Reinheit der Frau. Diese Haltung sollte in Italien bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts andauern.
Um die Barriere zwischen den Geschlechtern aufrechtzuerhalten, bejubelt die katholische Frauenpresse die Vorteile getrennter Geselligkeit. »Das Mädchen findet die höchste Zufriedenheit des Herzens und die beste Erholung des Geistes, wenn sie bei den Vergnügungen unter ihresgleichen bleibt. Wenn jedoch junge Männer dabei sind, kommt es zu Aufregung, Neid, Verwirrung und Unvorsichtigkeiten«, schreibt 1912 Vita femminile, eine zweiwöchentliche Zeitschrift für Arbeiterinnen. Die gemischte Geselligkeit gehört zu den umstrittenen Situationen, in denen ein neues weibliches Sozialverhalten praktiziert wird und sich bewähren muß. Unter dem besorgten Kontrollblick der Katholiken lösen sich die schützenden Strukturen des Geschlechtsdimorphismus auf, die gleichermaßen Erscheinung und Substanz, Kleidung und Seele der christlichen Weiblichkeit sind. In der sozialen Nachahmung, die im Zusammenhang steht mit dem vermehrten Zugang der Frauen zu öffentlichen Schulen, sehen die katholischen Frauenorganisationen die Ursache für den Zerfall der festgeschriebenen öffentlichen und privaten Rollen und für das Chaos in der sozialen Identitätsbildung der Frau. Die Bäuerinnen wollen Lehrerinnen werden, die Lehrerinnen Doktorinnen und »die Doktorinnen und Professorinnen setzen sich in Bewegung, um den Männern möglichst ähnlich zu werden, zumindest was die sozialen Rechte angeht. Da haben wir den Ursprung der Entwicklung des Feminismus in Italien«; so kommentiert die Unione Donne Cattoliche d'Italia 1911 den sozialen Wandel.[78]

Der verlorene Kreuzzug gegen die Mode

Auch die Katholikinnen werden gezwungen, die soziale Dimension des Körperverhaltens anzuerkennen, als die Kleidung zum wunderbaren Schlüssel für soziale Mobilität wird. Die Mode transportiert das Ethos der Veränderung und den Kult der Modernität, sie wird mehr ein sozialer kategorischer Imperativ denn ein klassenübergreifendes Recht. Nach dem Ersten Weltkrieg starten Frauenorganisationen wahre »Kreuzzüge gegen die unanständige Mode« und »Wettbewerbe für eine saubere Mode«. Die Mobilisierung gegen das verderbte Äußere der Frau erreicht ganz Europa, sie bleibt allerdings trotz der Unterstützung durch Papst Benedikt XV. wirkungslos.[79] Die Integrität der Frauen wird von den katholischen Frauenorganisationen nach der Länge der Kleider und Haare beurteilt. In den 1920er Jahren erkennt und verhöhnt die weltliche Presse die Aktivistinnen der Gioventü Femminile Cattolica gerade wegen der mißverständlichen Merkmale einer strengen, schlichten und nachlässigen Kleidung.[80] Sie verkörpern einen »puritanischen« Typ (wie J. C. Flugel[81] es nennt) des traditionalistischen Beginentums und ziehen damit den Spott auf sich. Militante Katholikinnen sind herausgefordert, ein nicht länger ausgrenzendes und auf den familiären Bereich beschränktes Modell zu entwerfen und als Alternative zu dem extremen Bild der stets verdammten feministischen »Vermännlichung« ein eigenständiges ästhetisches »Erscheinungsbild« zu entwickeln.
Im 20. Jahrhundert sind die Ressourcen der »Ästhetik der Frömmigkeit«, die sich strikt an die Dogmen des strengen Geschlechtsdimorphismus des 19. Jahrhunderts hält, erschöpft. Deren funkelndes Flittergold waren die Tränen. Das weibliche Andachtsverhalten hatte die rhetorische Tradition des tränenseligen 18. Jahrhunderts weitergeführt. Marcelline Pauper, eine der ersten der Sceurs de la Charite von Nevers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schildert glücklich die göttliche Gabe der Tränen, die ihre Gebete überschwemmten: als ein Beweis der heiligen Verbindung mit dem Göttlichen. Auch Bernardette Soubirous weint viel, bemerkt G. Thuillier.[82] Tränen waren ein Beweis des wahren Glaubens, und durch die Tränen des armen und ungebildeten Mädchens wurde zugleich auch die Lebendigkeit des Volksglaubens bezeugt, der in den Marienerscheinungen des 19. Jahrhunderts seine typische Ausdrucksform fand. In den oberen Klassen drohte hingegen der spirituelle Wert der Tränen zu einer rein äußerlichen Geste zu verkümmern. »Die jungen Mädchen lieben die Tränen so sehr, daß ich einige gesehen habe, die zum Weinen vor einen Spiegel traten, um diesen Zustand doppelt zu genießen«, beobachtete Monsignor Dupanloup. In pädagogischer Weitsicht entwickelt die Kongregation des Sacre-Cceur als erste eine »Tränenordnung«. Angesichts einer Gefühlsäußerung, die - was Überfluß und Nichtkontrollierbarkeit angeht einem Stereotyp der Weiblichkeit des 19. Jahrhunderts entspricht, begegnet die Kongregation der übermäßigen und manierierten Sentimentalität mit jesuitischem Mißtrauen.

Zeit und Ordnung

Die Rationalisierung der Tugenden

Das Gebet gibt der weiblichen Existenz im zeitlichen Gerüst der häuslichen Disziplin eine neue Legitimität. Als im Jahre 1810 Giulia Manzoni Beccaria sich wieder den Sakramenten zuwendet, schickt sie ihrem geistlichen Beistand, dem jansenistischen Pater Tosi, einen »Fragenkatalog zur Art und Weise, den Tag zu verbringen«. Sie bekennt, daß es ihr schwerfällt, Alltagsleben und Gebet miteinander in Einklang zu bringen. Der Pater präzisiert (mit einem gewissen Spielraum) nach Stunden und Minuten die strengen Bestimmungen, die Giulia in den Regolamenti gelesen hat. »Euer Hochwürden hatten mir als Übung christlicher Buße empfohlen, nachts aufzustehen, um wenigstens einige Augenblicke lang zu beten; ich habe außer ein paarmal nie den Mut gehabt, das zu tun.« Und Pater Tosi: »Auch die Übung, nachts aufzustehen, ist zwar nicht unbedingt nötig, jedoch durchaus angebracht für Sie. Beginnen Sie ein oder zwei Nächte pro Woche damit, wobei Sie in der kalten Jahreszeit das Bett nicht verlassen müssen, sondern sich nur gut zugedeckt aufsetzen oder sich zumindest in eine Lage bringen, daß Sie Ihr Kruzifix in den Händen halten können.« Die flexible Dosierungsanleitung für Gebete und kleine Kasteiungen - Schokolade ist erlaubt, Kaffee verboten - zeigt das verhandlungsfähige Wesen der Frömmigkeit: Sie kann lockerer oder strenger praktiziert werden, je nach den individuellen Aufnahmemöglichkeiten.[83]
Die Utopie des friedlichen, perfekten Zusammenlebens der Geschlechter (wie auch der Klassen), die sich in den auf zeitlicher Disziplin basierenden Verhaltenstheorien findet - ein Topos der Zivilisation im 19.Jahrhundert: von Fouriers Phalanstere bis zum Selphismus des Willens bei Payot -, hält Einzug in die Verhaltensratgeber. In Frankreich wie in Italien propagieren die katholischen Autorinnen eine Disziplin, die häuslichen Fleiß mit geistigem Eifer verknüpft - dabei zeigen sie sich im Vergleich zu einem Beichtvater als weitaus kompetenter, diese Disziplin zu präzisieren. Die kosmologische Maxime »Gott ist Ordnung und Regel« beherrscht noch die kleinsten täglichen Beschäftigungen der Frau in der Joumee chretienne de la jeune fille (1867) von Madame Bourdon; dieses Werk wurde des öfteren neu aufgelegt und ins Italienische übersetzt. Alles, von großen Ereignissen bis hin zu Banalitäten, erhält seinen Platz in dieser Ordnung, die den Stempel der höchsten heiligen Exaktheit trägt.
Es ist symptomatisch, daß das goldene Zeitalter der Industrialisierung in einer weit verbreiteten Literatur, die die Einteilung und Verwendung der täglichen Zeit zum Thema hat, ihre Entsprechung findet. »In unseren Zeiten lebt man in Eile: Die Tage reichen nicht aus für all das, was man unternimmt, Geschäfte, Beziehungen, Reisen, Vergnügen, und auch Studien«, schreibt Madame Bourdon.[84] Ihr Buch ist besonders beliebt bei den Arbeiterinnen der großen Textilindustrie Nordfrankreichs. Die Frauen sind Hüterinnen einer häuslichen Arbeitsmoral, die erforderlich war, um Haushaltsgeschäfte mit Bilanzen, Organisation der Dienerschaft, Sorge um die Kinder (ihre mittlere Geburtenrate steigt von 1840 bis 1900 von 5 auf 7 Kinder) zu bewältigen.[85]
Der Brief, den Giulietta Manzoni, die erstgeborene Tochter von Alessandro und Enrichetta Blondel im Oktober 1833 von ihrer Schwiegermutter, der Marchesa Cristina dAzeglio erhält, ist ein deutliches Beispiel dafür, wie die perfekte Organisation von Andachtspraktiken und Haushaltsarbeiten die ethische Garantie für den sozialen Wert der Frau abgibt. Die nachlässige Sorge Giuliettas für die kranke Mutter, die schlechte Lektüre, die »leichtsinnigen Einkäufe«: fertige Kleidchen für die Tochter (»den Stoff kauft man, aber man näht zu Hause«), Möbel, Teppiche, Nippes im Übermaß, solch eine unzuverlässige Haushaltsführung ist das Gegenteil von jenem »ostentativen Niedrigkonsum« und dem nötigen Mißtrauen gegenüber allem Überflüssigen, das die Tochter einer konvertierten Calvinistin im Blut haben müßte.[86] Es gibt keine Zweifel über die Ursache der Verirrung: »Du gehst zur Kirche wie die Protestanten ins Gotteshaus, einmal am Sonntag und Schluß.«[87]

Der schöne Tod in eigener Regie

Die neue Moraltheologie der Heiligen Alfons von Liguori und Franz von Sales dämmte die angsterfüllte Identifizierung des Todes mit den Leiden Christi ein. In den Andachtsbüchern und asketischen Abhandlungen über den schönen Tod - das am meisten nachgeahmte Vorbild war die Philotea des Heiligen Franz von Sales - wird das memento mori mit einem Katalog von Fragen über Tag, Ort, Jahreszeit und Stunde des Austritts der Seele aus dem Körper präzisiert. Novizinnen, die in der Kongregation des Sacre-Cceur erzogen worden sind, drücken Vertrautheit mit dem Tod als einer erfaßbaren Realität aus. Ihre Kultur des Gefühls läßt sich problemlos in die Nähe der weiblichen Empfindsamkeit der Romantik rücken. Heiter begegnen sie dem Sterben und froh erwarten sie das himmlische Wiedersehen mit den Mitschwestern. All dieses beweist die Wirksamkeit der Lehren des Franz von Sales. Ein solches »Dürsten nach dem Tod« (ein endemisches Phänomen in vielen Noviziaten, wie O. Arnold anmerkt), erklärt die Lebenspädagogik der Mutter Oberin Barat, der Gründerin des Ordens: »Leben um zu leiden und um Herzen für Jesus Christus zu gewinnen ist eine edlere Sache als das Leiden um des Genusses willen zu ersehnen« (1829).[88]
Diese Kultur des Todes, die in der heiteren Sprache des Abschiednehmens zum Ausdruck kommt, ist nicht nur den Spezialisten des Gebets eigen, deren Status die Pflicht zum Gebet einschließt. Auf weltlicher Seite äußert sie sich in der Reihe schöner Tode der Familie La Ferronnays, auf die Philippe Aries hingewiesen hat.[89] Deren Komplizenschaft mit dem Tod kennt keine Grenzen des Geschlechts. Eugenie, die jung an Schwindsucht sterben wird, singt in Neapel in den 30er Jahren in klassisch Lamartinescher Szenerie mit Rosen, Orangenhainen und Sternennächten für ihre Freunde »fröhlich wie ein Vogel, leuchtend wie ein Sonnenstrahl«; für sie ist der Tod ein unvergleichliches Gut. »Oh (. . .) wie schön ist das Leben! Wie wird dann erst der Himmel sein? Ist der Tod also besser als all dies?«, fragt sie mit glücklicher Leichtigkeit ihre Schwester Pauline.[90]
Selten ist der letzte Gruß im 19. Jahrhundert wortkarg: »Ich bin glücklich über meinen Zustand«, sagt die sechsundzwanzigjährige CristinaManzoni 1841, während sie ihren Mann umarmt, kurz bevor sie stirbt: ein Genrebild des schönen Todes. Aber kurz zuvor hat sie Sakramente und Beichtvater abgewiesen. Nur durch die Vermittlung des Vaters überwindet sie schließlich den Widerwillen gegen das heilige Öl. Es ist schwierig, spezifisch weibliche Antworten auf das Nahen des Todes auszumachen. Denn die Haltung im Angesicht des Todes ist bereits in einem inneren Code familiärer Erfahrungen stilisiert worden. Mehr als die salesianischen Schriften über einen guten Tod bestimmt das innige Vertrautsein mit vorzeitigem Sterben und die Verzweiflung darüber, Waisen zu hinterlassen, die weiblichen Formen des Abschiednehmens. Doch über die Toten der Familie Manzoni - die wie die zeitgenössischen La Ferronnays in wenig mehr als zehn Jahren sechs Sterbefälle zu beklagen haben - gibt es keinen Familienroman, der dem Recit d'une soeur von Pauline Craven La Ferronnays gleichkäme. Dort werden, wie Aries anmerkte, Geburten und Hochzeiten nur knapp angedeutet als Bezugspunkte in der unaufhörlichen Reihe von Todesfällen.
Die Korrespondenz der Frauen aus dem Hause Manzoni spricht von Krankheiten und Todesfällen, ohne daß ein vorzeitiges Streben nach dem Jenseits erkennbar wäre. Sie berichten voller Vertrauen von Aderlässen, diese in Italien noch verbreitete fatale Heilmethode, von Medikamenten und Diäten. Die Grabinschriften sind knapp: Für Enrichetta Manzoni, geborene Blondel: »Unvergleichliche Schwiegertochter, Ehefrau und Mutter/Schwiegermutter, Ehemann und Kinder/beten mit heißen Tränen, aber mit lebhaftem Vertrauen/für die himmlische Seligkeit« (1933); für Giulia d'Azeglio Manzoni: »Gestorben im Frieden des Herrn/der betrübte Ehemann und die Verwandten empfehlen sie seiner Barmherzigkeit/und den Gebeten der Gläubigen an« (1834). Auf den makabren Erotismus des 18. Jahrhunderts, mit dem Giulia Manzoni Beccaria 1805 ihren Schmerz über den Tod des Geliebten Carlo Imbonati zu lindern versucht, indem sie ihn einbalsamieren ließ, folgen die klassischen und verhaltenen Formeln der Grabinschriften des 19. Jahrhunderts ohne jegliche literarische Sublimierung des »seligen Hinübergehens«, wie Enrichetta Blondel es nannte.

Mütter

Die bedrohte mütterliche Autorität

Das 19.Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Mutter. Die Familie wandelt sich und mit ihr die Rollen der Familienmitglieder. Väter und Ehemänner bleiben zwar die dominanten Gestalten. Doch der soziale Abstand zwischend den Ehegatten wie auch Eltern und Kindern wird geringer. Ernest Legouve sah in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den neuen Gefühlen des intensiveren Zusammenlebens zwischen Eltern und Kindern, in der »verdoppelten Fürsorge«, verbunden mit »Schwäche und gelockerter Autorität«, die Ursache für jene unerhörte Rebellion der »Damen und Herren Kinder«, die sich gegen die für ihr Alter geltenden Regeln auflehnen und die rituelle Ordnung der Übergänge umgehen.[91] Es könnte sehr wohl sein, daß diese »neuen Töchter und Söhne« auch ein Ergebnis der Feminisierung der familiären Erziehung sind. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat ein aufmerksamer (weltlicher) Beobachter der italienischen Sitten dieses vermutet. Die Mütter seien den Töchtern keine starken Vorbilder. Sie hätten »die Antriebsfeder des Respekts zerbrochen, ohne größeren Gehorsam durchzusetzen. »Heutzutage duzt ein Mädchen, das das Alter der Vernunft erreicht hat, die Mutter, und anstatt sie Mutter zu nennen, nennt sie sie Freundin.«[92]
Die katholische Kultur des 19. Jahrhunderts gründet die Mutterrolle auf das für die weibliche Andacht typische Verhalten der Gefühlsfrömmigkeit. Die Mutterschaft der Jungfrau Maria hat die Schande Evas ausgelöscht. Dieses Bild ist die Quelle sowohl für Marienverehrung wie für die Aufwertung der Mutterschaft. Für die Kirche in Italien ist die Mutter von Don Bosco das ideale Vorbild. Sie folgt 1846 dem Sohn nach Valdocco und organisiert das praktische Leben des Oratoriums. »Sie dachte und sorgte für alles«, und beweist, daß die häuslichen Fähigkeiten über den kleinen Kreis der Familie hinausreichen können.[93] Zu Beginn des Jahrhunderts sorgen selbst einflußreiche Väter dafür, den Keim für die geistige Mutterschaft zu legen: »Wie du irrst, mein liebes Kind«, schreibt Joseph de Maistre an seine zweitgeborene Tochter Constance, »wenn du von dem ein wenig vulgären Verdienst, Kinder zu machen, sprichst! Das Verdienst der Frau besteht darin, das Haus zu versorgen, den Ehemann glücklich zu machen, indem sie ihn tröstet und ermutigt, und seine Kinder zu erziehen; das heißt Menschen zu machen, das ist das große Gebären, das nicht verflucht worden ist wie das andere.«[94]
Worin lag tatsächlich der »Fluch« des Frauenlebens? Die hohe Sterblichkeit bei der Geburt und die Kindersterblichkeit machten die Mutterschaft zu einem ebenso natürlichen wie beängstigenden Risiko. Im habsburgischen Venetien lag zwischen 1839 und 1845 die Geburtenrate bei 40 pro Tausend, die Sterberate bei 31. Die Kindersterblichkeit machte mehr als ein Drittel aller Todesfälle aus. Die Gläubigen verlangten deshalb, die Taufe am ersten oder innerhalb der ersten beiden Tage nach der Geburt vorzunehmen. Die Pflichten einer katholischen Mutter im 19. Jahrhundert - Ergebenheit, Opferbereitschaft und religiöse Erziehung - werden erfüllt im Bewußtsein, daß die Mutter-KindBeziehung an einem dünnen Lebensfaden hängt.
»Ich habe aus nächster Nähe eine Familienmutter kennengelernt, die nicht abergläubisch, sondern solide und exakt im christlichen Glauben und bei den religiösen Exerzitien war. Sie hatte nicht nur kein Mitleid für Eltern, die ihre Kinder in zartem Alter verloren, sondern sie beneidete sie zutiefst und aufrichtig, weil deren Kinder ohne Gefahren ins Paradies geflogen waren und so die Eltern von der Last, die Kinder aufzuziehen, befreit hatten. Da sie des öfteren in Gefahr war, ihre Kinder im gleichen Alter zu verlieren, betete sie zwar nicht zu Gott, daß er sie sterben ließe, weil die Religion das nicht zuläßt, doch sie freute sich von Herzen; und wenn sie den Ehemann weinen oder betrübt sah, zog sie sich in sich selbst zurück und empfand einen wirklichen und fühlbaren Ärger.«[95] Diese italienische Anti-Mutter, die Giacomo Leopardi im Zihaldone geschildert hat, läßt keine generalisierenden Aussagen über die Substanz der Mutter-Kind-Beziehung zu. Es handelt sich eher um eine mütterliche Pathologie angesichts der überwältigenden statistischen Wahrscheinlichkeit des Todes.  Die Aussage bezieht sich auf die von der Haushaltsführung besessene Marchesa Adelaide Antici Leopardi (1778-1857).
Die 1841 jung verstorbene Melania d'Azeglio (aus dem piemontesischen Hochadel) bezwingt die Angst vor dem letzten Gang, indem sie ihrem Töchterchen Costanza einen Abschiedsbrief schreibt, der wörtlich den brieflichen Abschied wiederaufnimmt, den ihr die Großmutter mütterlicherseits im Jahre 1805 hinterließ. Sie gibt der kleinen Tochter zwei Empfehlungen mit auf den Weg: stets bescheidene Kleidung zu tragen und täglich ein Kapitel aus der christlichen Lehre zu lesen. Die Möglichkeit, auf eine familiäre briefliche Quelle zurückgreifen zu können, tröstet in bezug auf die Unvermeidlichkeit und festigt das weibliche Bewußtsein der hauchdünnen irdischen Binciungen an die Kinder.[96]
Für Therese Martin (die heilige Therese von Lisieux, 1873-1897), Jüngste von neun Kindern eines Elternpaares, das zwei Jungen und zwei Mädchen verloren hat, ist der vorzeitige Tod von Kindheit an eine konkrete Erfahrung. Auf mystischer Ebene sieht sich die kleine Therese als Lieblingskind der Mutter. Als sie mit vier Jahren Waise wird, entwickelt sie ihr Modell der Heiligkeit auf cier Basis der nur kurze Zeit währenden Zuwendung der Mutter.[97] Die katholische Kultur des 19Jahrhunderts weist der Mutter im Zeichen einer unbeschränkten Opferbereitschaft die Funktionen der religiösen Erziehung und des moralischen Korrektivs zu. La femme et la famille. Journal de la vie domestique, diese 1862 von Felicita Bottaro in Genua gegründete und 1867 nach Paris verlegte und bis 1917 weitergeführte Zeitschrift, ist eines der dauerhaftesten Beispiele für diese Kultur. Die Erziehung der Frau und der Kinder, die Verherrlichung der Familie als einzigem Ort des Glücks und seit den 70er Jahren die Polemik gegen das staatliche Schulwesen sind darin stets wiederkehrende Themen. Den »armen Träumerinnen«, den Emanzipierten, die die Kinder verlassen, um »das verhaßte System« der Rollenteilung zu zerstören, werden die guten, arbeitsamen und wohltätigen Frauen gegenüber gestellt, die fähig sind, »sich schweigend für eine Idee, einen Schicksalsschlag aufzuopfern« und unbesiegbar sind in der Kraft ihrer Liebe und ihres Leidens.[98]

Die Kraft der Liebe

Es ist möglich, zwischen dem katholischen und dem laizistischen Verständnis der Ideologie der natürlichen Opferbereitschaft der Frau feine Unterschiede auszumachen. Michelet nennt jene grenzenlose Berufung »amour«. »Sie ist der Altar«, sagt er von der Frau. Sie lebt für die anderen, und »es ist dieser Beziehungscharakter, der sie über den Mann stellt und aus ihr eine Religion macht«.[99] Auf dieser den Frauen des 19.Jahrhunderts eigenen Qualität - Altruismus und Selbstaufopferung für die anderen - wird eine Reihe von »Prinzipien«, »Idealtypen« und »intuitiven Abstraktionen« des Weiblichen aufgebaut, die mit großer Intensität auch in die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts hineinreichen. Wieviele Frauen mag L'eternelle sacrifiee (1906) der französischen Feministin Nelly Roussel erreicht haben? »Eure Ergebenheit soll freiwillig sein«, mahnt sie, aber es wird die Form, nicht die Substanz der opferwilligen Ergebenheit angegriffen. Nach dem Ersten Weltkrieg schlägt die Italienerin Gina Lombroso das Konzept der »alterozentrischen Frau« vor. Nach diesem Konzept soll der an den Pflegeberufen erläuterte Altruismus das Merkmal der weiblichen Psychologie sein.[100] Die deutsche Theologin Gertrud von Le Fort, auf die sich Papst Pius XII. häufig berief (Die ewige Frau, 1936), übersetzt eben diesen Alterozentrismus in eine existentielle Maxime: »Der andere sein, für den anderen, durch den anderen.« Das »soziale« Wesen des Weiblichen gilt ihr als Beweis eines privilegierten Verhältnisses der Frauen zu Gott.

Aus dem Italienischen von Gesa Schröder