Die jüdische Frau: Variationen und Transformationen

»Es ist hart, Jude zu sein, noch härter aber ist es, Jüdin zu sein.«[1] Doch gibt es die jüdische Frau überhaupt? Es ist unmöglich, die Jüdin der Berliner Salons zu Beginn des 19.Jahrhunderts und die in den osteuropäischen Schtetlech (Dörfern) geborene, seit den 1880er Jahren nach Amerika verpflanzte »jiddische Mame- zu einem einzigen Modell der jüdischen Frau zusammenzufassen. Zum einen entsprach das theoretische religiöse Modell von der Stellung der Frau im Judentum und der jüdischen Gesellschaft - selbst in seiner traditionellsten Form - nicht immer der Realität. Wie die Gesamtheit der rabbinischen Responsa (Briefe in Frage-Antwort-Form) deutlich zeigt, haben Juden ihr alltägliches Leben zu jeder Zeit und an jedem Ort immer wieder neu gedeutet. Zum anderen veränderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts das religiöse Modell selbst. Unter dem Einfluß der jüdischen Reformbewegung kam es zu einer neuen Synthese von Tradition und Modernität, und diese veränderte die Einstellungen zur Rolle der Frauen im jüdischen Leben. Darüber hinaus legte die moderne Diaspora, die Massenmigration der Juden im ausgehenden 19.Jahrhundert von Ost nach West, den Keim des ideologischen Wandels auch hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen. Die verschiedenen nationalen Kontexte boten unterschiedliche Bildungsmöglichkeiten und neue Modelle für die jüdische Frau.
Ich werde nun im folgenden zunächst das idealtypische religiöse Modell erläutern und dann drei Frauentypen - die Jüdin der Berliner Salons, die aus dem rassischen Schtetl stammende »traditionelle« Frau und die jüdische Einwanderin in Amerika - vorstellen. Dabei interessiert mich die Entwicklung hin zur modernen jüdischen Frau und die Auswirkung dieser Entwicklung auf die Geschlechterbeziehungen in der jüdischen Gemeinde. Um den gesetzten Rahmen nicht zu sprengen, soll es hier nur um aschkenasische Frauen gehen; die sephardischen Frauen würden ein eigenes Kapitel verdienen.

Die Geschlechterordnung im religiösen Leben

Der Mann beginnt seine täglichen Gebete mit einem Dank an Gott, daß er nicht als Frau erschaffen wurde. Gemäß der Vorstellung, daß Gott den Männern, nicht aber den Frauen die Pflicht auferlegt hat, eine bestimmte Anzahl von Geboten (Mizvot) zu erfüllen, schreibt das Judentum den Frauen eine klar gesonderte Rolle sowohl in der Synagoge als auch allgemein in der jüdischen Kultur vor. So zählen bei der Bildung eines Minjan, der für das öffentliche Gebet notwendigen Zahl der Gläubigen, allein die Männer. Frauen werden im allgemeinen nicht in die heilige Sprache des Hebräischen eingeweiht. In der Synagoge sitzen sie, von den Männern getrennt, auf einem Balkon, und sie haben bei der Ausgestaltung des Gottesdienstes weniger Verpflichtungen. Ihre Aufgabe ist es, das Sabbatmahl zu bereiten, aber nicht unbedingt am Freitagabendgottesdienst teilzunehmen.
Die Trennung von Mann und Frau nach öffentlicher (Synagoge) und privater (Heim) Sphäre entspricht nicht nur einer religiösen Arbeitsteilung, sondern auch einer strikten Interpretation der Geschlechterbeziehung. Das jüdische Recht sucht nicht nur die Heiligkeit der Familie, sondern auch die Tugend des Lernens (der Männer) zu schützen. Männer sollen in ihrer Hingabe an Gott und das Gebet nicht durch Gedanken an Frauen abgelenkt werden, deshalb sind sexuelle Beziehungen und der tägliche Umgang zwischen den Geschlechtern streng geregelt. Ein frommer Mann soll einer Frau niemals direkt in die Augen sehen, und die fromme Frau soll, sobald sie verheiratet ist, traditionsgemäß ihre Haare abschneiden und ihren Kopf mit einer Perücke oder einem Tuch bedecken. Im Interesse der Fortpflanzung werden eheliche Sexualbeziehungen jedoch ermutigt, ihre Häufigkeit ist im Schulchan aruch (ein noch heute benutzter talmudischer Kodex, der im 16. Jahrhundert von Joseph Caro zusammengestellt wurde) sogar, je nach Beruf des Mannes, genau festgelegt. Männer hatten ein ziemlich großzügiges Recht auf Scheidung. Seit dem Mittelalter konnten auch Frauen - zumindest der Theorie nach - u. a. wegen fehlender sexueller Befriedigung eine  Scheidung fordern. Rachel Biale  weist jedoch darauf hin, daß der Halacha (jüdischer Gesetzeskodex) mit seiner Tendenz, Frauen in vielen Bereichen Rechte zu gewähren, hinsichtlich der Sexualität vielleicht »toleranter und großzügiger als das Leben selbst« war.[2]
Die Trennung von Männern und Frauen hat wichtige Konsequenzen für die Erziehung. Der hohe Wert, den Juden auf den Wissenserwerb legen, ist legendär, das Wissen aber ist theoretisch allein Männern vorbehalten. Männer sind nach religiösem Gesetz zum Torastudium verpflichtet, Frauen aber davon freigestellt. Diese Freistellung ist allerdings insofern widersprüchlich, als es in der Hauptsache Frauen sind, die das tägliche Leben nach den religiösen Gesetzen gestalten sollen. Während es die Aufgabe der Männer ist, über die theoretischen Grundlagen des Gesetzes nachzudenken, haben die Frauen im Alltag als Hüterinnen des Rituals und des koscheren Heims das Gesetz anzuwenden. Obwohl einige religiöse Kommentatoren argumentierten, daß Freistellung nicht notwendigerweise Ausschluß bedeute, wurde gleichwohl das Torastudium den Frauen in der traditionellen Gesellschaft meist untersagt und von vielen religiösen Autoritäten sogar als Sünde erachtet. Die weibliche Hauptfigur in Isaac Bashevis Singers Kurzgeschichte »Yentl the Yeshiva Boy« war so entschlossen, die Tora zu studieren, daß sie ihre Geschlechtsidentität verbarg. Sie studierte an der Jeschiwa (Talmudhochschule), trug Männerkleidung und brach damit das Gesetz gleich doppelt.
Das religiöse Modell muß zumindest in zweierlei Hinsicht modifiziert werden. Zum einen werden Frauen nach jüdischem Recht vom formalen Studium und von den meisten öffentlichen religiösen Pflichten ferngehalten, doch ist die Religion in ihrer Privatsphäre durchaus gegenwärtig; sie hat dort allerdings eine andere, von Barbara Myerhoff »häusliche Religion«[3] genannte Form. Jüdische Frauen haben, wie die Frauen in fast allen Gesellschaften, die wichtige Aufgabe, informelles Wissen und eine eher gefühlsmäßige Frömmigkeit zu bewahren und weiterzugeben - ein Wissen, von dem Kinder später oft sagen, daß es für sie wichtiger gewesen sei als das formale Lernen in der Hebräischschule.
Zum anderen widmeten sich selbstverständlich nicht alle Männer den ganzen Tag dem Talmudstudium, auch wenn das vielleicht das Ideal war. In dem Maße aber, in dem Männer zu religiösen Studien ermutigt wurden, mußte es zu einer Umkehrung der Geschlechterrollen im sozioökonomischen Leben kommen. Die öffentliche Rolle der Männer in der sakralen Welt war nur möglich, weil jüdische Frauen eine größere Rolle in der profanen Welt spielten - die eine Rolle bedingte die andere. Während Männer unter der Woche zur Synagoge gingen, gingen Frauen auf  den Markt. Der umfassende Zugang der Frauen zur profanen öffentlichen Sphäre wird, sobald das Judentum auf die Reformbewegung und die Auswanderung stößt, weitreichende Folgen haben.

Die Jüdin der Berliner Salons

Nichts konnte vom Idealtypus der religiösen Jüdin weiter entfernt sein als das Leben der Jüdinnen in den Berliner Salons des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Die jüdischen Frauen der Salons sind als Avantgarde weiblicher Emanzipation gerühmt, als Beispiele der von der jüdischen Reformbewegung herbeigeführten Assimilation verdammt und als Modelle für die »Konvertierungsmanie., der deutschen Juden dieser Zeit beschuldigt worden. Deborah Hertz hat gezeigt, wie diese Salons in einem bestimmten historischen Augenblick der deutschen Geschichte funktionierten. Es ist die Zeit zwischen dem Jahrhundert der Aufklärung und dem Sieg Napoleons über die Preußen 1806 bei Jena, und damit eine Phase, in der der königliche Schutz für die Künste zurückging und das Verlagswesen noch nicht entwickelt war. Die Juden wurden, nach einer Formulierung von Hannah Arendt, zu »Lückenbüßern« in einer noch unsicheren sozialen Situation.[4] In dieser Frühzeit der Romantik, noch bevor sie nationalistische und antisemitische Züge annahm, konnten verarmte Adelige, bürgerliche Intellektuelle und reiche Juden zu einer »halbneutralen Gesellschaft« - so die Charakterisierung von Jacob Katz - zusammenkommen.[5]
Waren aber die Beziehungen zwischen jüdischen Frauen, preußischen Adeligen und Schriftstellern wirklich ein Zeichen jüdischer Integration oder waren sie eine Ausnahme? Hannah Arendt hat argumentiert, daß die jüdischen Salons gerade wegen ihrer Marginalität ein »neutrales Territorium« sein konnten. Jüngst hat Marion Kaplan betont, daß die Geschichten der in den Eliten konzentrierten assimilierten deutschen Juden und der Jüdinnen in den Berliner Salons zwar höchst bedeutsam, aber nicht die Norm waren.[6]
Warum aber konvertierten die Jüdinnen schließlich? Dorothea von Schlegel, geborene Brendel Mendelssohn (Tochter von Moses Menclelsohn), konvertierte sogar zweimal - zunächst zum Protestantismus, später mit ihrem Mann Friedrich zum Katholizismus. Rahel Varnhagen (geborene Levin) machte aus ihrer Einstellung zum Judentum, sie nannte es ihre »infame Geburt«, keinen Hehl, für sie war es ein Handicap, vor dem sie bis zu ihrem Tod zu fliehen versuchte.[7]
Man hat die Unzufriedenheit dieser Frauen mit dem Judentum auf ihre Erziehung zurückgeführt. Sie erhielten die beste Ausbildung, die  eine Familie der oberen Gesellschaft einem Mädchen bieten konnte: Unterrichtung in Sprachen (Französisch, Englisch, Lateinisch, Hebräisch) und Musik, Hauslehrer, Lektüreanleitung von aufgeklärten Vätern. Ihre Erziehung aber gilt einigen Historikern, ebenso wie schon den auf die intellektuellen Ambitionen der Frauen verächtlich herabblickenden Zeitgenossen, als zu »dekorativ« und den meisten jüdischen Historikern als bedenklich weltlich ausgerichtet. Deborah Hertz argumentiert jedoch recht überzeugend, daß weniger die frühe Erziehung als vielmehr die soziale Gelegenheit in einer spezifischen historischen Situation zu diesen »Mesalliancen« geführt habe.
Das Modell der Salon-Jüdin führt, selbst wenn es ein extremes Modell ist, zur Frage nach der Herausforderung des Judentums durch die Reform. Zu den bisher vernachlässigten Hauptproblemen der Reformbewegung gehören deren Auswirkungen auf die Geschlechterbeziehungen. Moses Mendelssohn, der Wegbereiter dieser Bewegung, der Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin schrieb, versuchte das Denken der Aufklärung mit jüdischen Prinzipien zu verknüpfen und den Judaismus als eine Vernunftreligion neu zu deuten. Mendelssohn hat zwar selbst in seinem Haus zeitlebens die Traditionen gepflegt, doch viele seiner Ideen führten letztlich dazu, daß nachfolgende Reformer mit dem Ziel einer weiteren historischen Anpassung des Judentums an seine Umgebung einer Modifizierung, ja sogar einer totalen Aufgabe jüdischer Riten zustimmten.
Von den neuen ideologischen Strömungen mußte die Erziehung besonders stark betroffen sein. Die Erziehungsreform warf vor allem zwei zentrale Fragen auf: In welchem Umfang sollten weltliche Inhalte in eine jüdische Erziehung eingehen? Und in welchem Umfang sollten Frauen zum Studium zugelassen werden? Naphtali H. Wessely, ein Schüler Mendelssohns, machte geltend, daß allgemeine akademische Studien notwendig seien, und in diesem Sinne errichtete David Friedländer 1778 eine Jüdische Freischule. Bis zur Einführung der Koedukation vergingen jedoch weitere fünfzig Jahre, und ironischerweise war es der Führer cier Neoorthodoxen-Bewegung, Samson Raphael Hirsch, der als erster 1855 Mädchen gemeinsam mit Jungen eine formale religiöse Erziehung ermöglichte. Beunruhigt darüber, daß immer mehr jüdische Kinder öffentliche Schulen besuchten und selbst moderne jüdische Schulen allzu wenig jüdische Erziehung vermittelten, wollte Hirsch der Reform mit einer modifizierten traditionellen Erziehung begegnen. Talmudstudien blieben jedoch weiterhin das Privileg der Knaben.
Sowohl die Denker der Haskala (der jüdischen Aufklärung) als auch die Neoorthodoxen erkannten, daß die wachsende Disparität zwischen männlich-religiöser   und   weiblich-profaner   Erziehung schließlich zu einer Gefahr für das werden könnte, was die getrennten Sphären eigentlich bewahren sollten: die Reinheit der jüdischen Familie und das Judentum generell. Während der Kompromiß der Orthodoxen darauf zielte, Frauen einen erweiterten Zugang zum religiösen Studium zu gewähren, sah die Lösung der Reformer eine umfassendere profane Erziehung für Jungen und Mädchen gleichermaßen vor. Das jüdische Reform-Modell verlegte religiöse Erziehung und Identität in die Privatsphäre, gestattete stärkeren öffentlichen Kontakt zwischen den Geschlechtern und billigte schließlich sogar Frauen Hilfsfunktionen in der Synagoge zu. Dieses Modell gelangte in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch deutsche Juden auch in die Vereinigten Staaten.

Erziehung im Schtetl:
Exklusion, Integration, Emigration

Zwischen den jüdischen Frauen, die in den Berliner Salons in kleinen Schlückchen Tee tranken und denen, die in Osteuropa Tee aus Samowaren ausschenkten, lagen materiell und ideell Welten. Die Frauen des beinahe mythischen Schtetl-Modells stammten aus einer anderen Gesellschaftsschicht und aus einem anderen Land. Sie führen uns zu den eher traditionellen Geschlechterbeziehungen in der jüdischen Gemeinde zurück, in welcher nach wie vor der Talmudschüler und seine fromme Frau, wenn nicht die Realität, so doch das Ideal waren.
In Rußland war zu Beginn des 19. Jahrhunderts jüdische Bildung selbstverständlich allein den Knaben und Männern vorbehalten. Der Gebildete genoß höchstes Ansehen, gleichwohl waren seine Studienbedingungen alles andere als ideal. Im Alter von fünf bis dreizehn Jahren besuchten Jungen entweder den privaten Cheder oder die Talmud-Tora (für die Armen) der Gemeinde, wo der oft despotische, schmutzige und schlecht bezahlte Lehrer widerspenstigen Schülern die Grundzüge des Hebräischen und der Tora einzubläuen versuchte. In den weiterführenden Schulen, Jeschiwa und Bet namidrasch (dem örtlichen Haus des Studiums) für Erwachsene, waren die Bedingungen zwar weniger chaotisch, doch auch hier herrschte ein strenges Regime, und für den armen Jeschiwa bocher (Talmudschüler) war die Teilnahme oft materiell schwierig. Kam er aus einer anderen Stadt, schlief er gewöhnlich in der Synagoge und nahm seine Mahlzeit jeden Abend in einer anderen Familie ein. Diese beging damit nicht nur eine fromme Tat, sondern erhoffte sich davon oft auch einen angesehenen Toraschüler als Schwiegersohn.
Gelegentlich war auch jungen Mädchen der Besuch des Cheder gestattet. Sie wurden dann in einem gesonderten Raum von der Frau des Lehrers unterrichtet. Die meisten erhielten jedoch eine solche Ausbildung nur ein oder zwei Jahre, gerade lange genug, um Jiddisch lesen, vielleicht auch schreiben und die notwendigen hebräischen Gebete auswendig zu lernen. Vor allem während der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts blieb die Erziehung der Frauen im allgemeinen so informell, wie sie immer gewesen war. Einige Mädchen hatten Brüder, die mit ihnen abends lernten. Mädchen aus wohlhabenderen Familien hatten vielleicht Hauslehrer. Die meisten gelangten jedoch nicht über das Lesen der äußerst populären jiddischen Ze enna ureena hinaus, der volkstümlichen Version der Bibel mit in einfachem Stil geschriebenen Erklärungen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten die Ideen der jüdischen Aufklärung zunächst die eher städtischen Gebiete Osteuropas, in den 1870er und 1880er Jahren dann auch die ländlichen Schtetlech. Wieder war die Bildungsreform ein wichtiges Thema, das lautstarke Debatten provozierte: Welche Inhalte (religiöse oder auch weltliche) sollten in welcher Sprache (Hebräisch, Russisch oder Jiddisch) welcher politischen Richtung (bundistisch oder zionistisch) folgen und wem (Mädchen ebenso wie Jungen) vermittelt werden? Schließlich war es der Zar selbst, der in seinem Bestreben, die jüdische Minorität zu »russifizieren«, neue Erziehungsmodelle unterstützte.
Bis in die Mitte des Jahrhunderts hatte das russische Erziehungssystem die Juden einfach ausgeschlossen. 1844 wurden aufgrund eines Edikts von Uwarow, dem Erziehungsminister unter Nikolaus I., staatliche Grundschulen für jüdische Kinder und zwei Rabbinerseminare errichtet. Die Bemühungen des Zaren (die unter anderem auf »die Auslöschung der durch das Talmudstudium eingeimpften abergläubischen und gefährlichen Vorurteile« zielten) wurden jedoch nie ein voller Erfolg. 1854 besuchten ungefähr 3000 jüdische Kinder 70 zaristische Schulen, 1863 waren es etwa 4000 Kinder in 98 Schulen. Die Zahl der Kinder in traditionellen Chadorim war jedoch viel größer und stieg stetig von 70000 im Jahre 1844 auf 76000 im Jahre 1847 an. Immerhin trug das neue Schulsystem letztlich zur Institutionalisierung und Konsolidierung der Reformbewegung im russischen Judentum bei, wie Michael Stanislawski überzeugend nachgewiesen hat.[8]
Die liberaleren Verfügungen Alexanders II. öffneten für Juden die Türen zur höheren russischen Bildung. 1870 besuchten 2045 jüdische Schüler die höhere Schule, das war ein Anteil von 5,6 Prozent aller Schüler; zehn Jahre später waren es 12 Prozent bei 7004 Schülern, weit mehr als der Anteil der Juden an der Bevölkerung. Nichtsdestoweniger besuchten 1879 noch immer 50000 jüdische Kinder die Chadorim, und Ende des Jahrhunderts wählten noch immer über 50 Prozent der jüdischen Familien für ihre Kinder diese traditionelle Form der Grundschulerziehung.[9]
Im Gegensatz zu den Jungen erreichte bei den Mädchen der Besuch der Regierungsschulen einen nennenswerten Umfang. Einem Bericht zufolge waren in den offiziellen Regierungsschulen im benachbarten Galizien (Österreich-Ungarn) 1910 doppelt so viele Mädchen wie Jungen (beinahe 44000 Mädchen gegenüber 23 000 Jungen) eingeschrieben.[10] Ähnlich wie in Deutschland wurden auch hier die orthodoxen Juden unruhig. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg unternahm man einige Versuche zur Errichtung eigener Religionsschulen für Mädchen. Die ersten orthodoxen Schulen für Mädchen, Beis Jaakauw, wurden jedoch erst 1917 in Polen gegründet.
Ende des 19. Jahrhunderts waren die russischen Jüdinnen in der Mehrzahl noch Analphabeten. Der russischen Volkszählung von 1897 zufolge konnten lediglich 33 Prozent der jüdischen Frauen, hingegen 67 Prozent der jüdischen Männer lesen und schreiben.[11] Die Mädchen besuchten jedoch verstärkt die modernen, »verbesserten« Chadorim, und viele junge Frauen des aufgeklärten Bürgertums gingen wie ihre Brüder direkt auf die russische höhere Schule oder die Universität. In den Familien führten die intellektuellen Debatten über den Wert einer Ausbildung für Frauen und den Wert einer weltlichen Erziehung im allgemeinen nicht selten zu Konflikten. Trotzdem begann eine einflußreiche Minderheit jüdischer Frauen nun, neue Verhaltensmodelle zu erproben.
Mit der Ermordung Alexanders II. im Jahre 1881 wurde für Juden, Männer wie Frauen gleichermaßen, der Zugang zur russischen Bildung blockiert. Elizabeth Hasanovitz erinnert sich in ihren Memoiren, daß es praktisch illegal war, mit einer Bestechungssumme aber toleriert wurde, jüdische Kinder Russisch zu lehren. Der Unterricht im kleinen Klassenzimmer ihres Vaters wurde regelmäßig vom Alarm der Wachposten unterbrochen, und die Papiere wurden schnell in den Keller hinuntergeworfen - »dieses großartige Versteck für die verbotene Aneignung einer Russisch-Ausbildung«[12] Der 1887 eingeführte Numerus clausus, der die Zahl jüdischer Studenten an der Universität drastisch begrenzte, war ein wichtiger Grund für die Emigration in den Westen. Wie ihre Brüder wanderten manchmal auch Frauen aus, um ein Studium aufzunehmen; sie immatrikulierten sich in überraschend großer Zahl an westlichen Universitäten. Von 1905 bis 1913 machten Russinnen und Rumäninnen an der Pariser Universität über ein Drittel der Studentinnen insgesamt und ungefähr zwei Drittel der Gesamtzahl der ausländischen Studentinnen aus. In den Disziplinen Medizin und Jura waren eineinhalbmal bis doppelt soviele osteuropäische Frauen wie Französinnen eingeschrieben.[13] 
Eine Minderheit jüdischer Frauen versuchte schließlich, auf zwei radikalen Wegen den Geschlechternormen der jüdischen Gemeinde zu entkommen. Prostitution und Revolution bedrohten die jüdische Gesellschaft auf je unterschiedliche Weise. Die große Diskussion Ende des Jahrhunderts über den »weißen Sklavenhandel« zwischen Galizien, Rio de Janeiro und Buenos Aires, an dem sowohl jüdische Prostituierte als auch jüdiche Zuhälter beteiligt waren, wurde teilweise zu einer Kritik an der weltlichen Erziehung der Frauen. Die Orthodoxen gaben generell der mangelnden religiösen und moralischen Erziehung der jüngeren Generation und speziell der Erziehung an den staatlichen Schulen in Galizien die Schuld für die Verletzung der Reinheits-, Keuschheits- und Geschlechtertrennungsnormen. Bertha Pappenheim und Dr. Sarah Rabinowitch kamen demgegenüber nach einer Untersuchung der jüdischen Prostitution in Galizien im Jahre 1903 zu dem Schluß, daß auch ultraorthodoxe Mädchen gerade wegen ihrer sexuellen Unkenntnis und der Ungleichheit in der Erziehung von Mädchen und Jungen für die Prostitution anfällig waren. Das strenge Verbot des außerehelichen Geschlechtsverkehrs, das selbst in nichttraditionellen jüdischen Haushalten galt, konnte zur Folge haben, daß ein einmal »gefallenes« Mädchen, wie z. B. Polly Adler, die berühmte Besitzerin eines New Yorker Bordells um die Jahrhundertwende, sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlte.[14]
Anders als die jüdischen Prostituierten, die in Vergessenheit geraten sind, behaupten die osteuropäischen jüdischen Revolutionärinnen einen festen Platz in der jüdischen Geschichte. Die große Zahl radikaler Frauen aus Polen oder den USA, von »Rosa« (Luxemburg) bis hin zur »Roten Emma« (Goldman), zog die Aufmerksamkeit von Journalisten und Polizeispitzeln gleichermaßen auf sich. Wie Henriette Herz oder Rahel Varnhagen ein Jahrhundert zuvor, so beschäftigten auch die jüdischen Revolutionärinnen, obwohl ihre absolute Zahl nur gering war, in hohem Maße die Vorstellungswelt. Sie lebten ein anderes, radikales Modell weiblicher Emanzipation; sie stellten die traditionellen Geschlechterrollen in Frage, forderten Gleichheit im öffentlichen Bereich, lehnten Geschlechtertrennung ab und traten offen für freie Liebe ein. Seit der Gründung des Bundes (einer jüdischen Arbeiterbewegung) im Jahre 1897 machten junge Arbeiterinnen ungefähr ein Drittel seiner Mitglieder aus,[15] und auch in den rivalisierenden zionistischen Gruppen waren Frauen stark vertreten. Vielleicht war die stärkere Präsenz der Frauen im öffentlichen und selbst im politischen Leben der wichtigste Aspekt der neuen Rolle, die die Frauen spielten. Wie Paula Hyman sehr richtig bemerkt hat, hatte die »neue jüdische Frau« bereits in Osteuropa Gestalt angenommen.[16]
Die größte, auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern beeinflussende Veränderung im Leben vieler Frauen und Männer war die Emigration. Durch zaristische und populäre Antisemiten sowie von wirtschaftlicher Not aus Rußland vertrieben und aufgrund idyllischer Erfolgs- und Freiheitsvorstellungen von der Neuen Welt angezogen, wanderten allein zwischen 1881 und 1924 eineinhalb Millionen Juden in die Vereinigten Staaten aus. Einige verließen das Land, um in der Fremde ihre politischen Aktivitäten fortzusetzen, andere um zu studieren. Die meisten trieb das Verlangen nach besseren wirtschaftlichen Lebensbedingungen und größerer Freiheit, wenn sie vor dem Zaren oder einem despotischen Vater flohen. Für Frauen konnte die Emigration Unterwerfung oder einfach das Zusammenbleiben mit Vater, Mutter, Geschwistern, Ehemann, aber auch Emanzipation bedeuten. Männer und Frauen standen einander nun in einem neuen Land gegenüber, in dem das traditionelle Modell der Geschlechterordnung bereits seit langem aufgegeben worden war.

Emigration und das amerikanische Modell

Zu Beginn der Massenauswanderung nach Amerika emigrierten die Männer meistens zuerst. Frauen und Kinder blieben zurück und führten unter Umständen für mehrere Jahre die Geschäfte weiter, während sie darauf warteten, daß ihnen die Fahrkarten (die in manchen Fällen niemals ankamen) für die Schiffsreise geschickt würden. Später transportierten sie dann Bettzeug, Samowar und anderen unentbehrlichen Hausrat über den Ozean. Viele Frauen machten sich nur widerstrebend und angsterfüllt auf den Weg. Das mit Gold gepflasterte Land erschien ihnen als ein heidnisches, unkoscheres Land, in dem sich die Männer die Bärte abrasierten. Andere Frauen traten die Reise entschlossen an und entledigten sich schon unterwegs ihrer von der Religion vorgeschriebenen Perücken.
Unter anderem bot das neue Land kostenlose und obligatorische Erziehung für Jungen wie Mädchen. Besserer Zugang der Frauen zur formalen Schulausbildung war eines der wesentlichen Kennzeichen der Neuen Welt, und selbst die Orthodoxen begannen, den Schulunterricht für Mädchen allmählich zu akzeptieren. Bis zur Beseitigung der Bildungsunterschiede zwischen den Geschlechtern aber mußte noch einige Zeit vergehen.
Von den russischen Jüdinnen, die in der Zeit von 1908 bis 1912 in die Vereinigten Staaten kamen, konnten doppelt soviele lesen und schreiben als die in der russischen Volkszählung 1897 erfaßten jüdischen Frauen, nämlich 63 Prozent, im Vergleich zu vormals 33 Prozent. Ob dies eine Folge verbesserter Schulbildung oder der Effekt einer auswanderungsbedingten Selektion ist, muß offenbleiben. Die russischen Jüdinnen waren stärker als Frauen aus den meisten anderen Einwanderungsgaippen jener Zeit alphabetisiert. Dennoch war ihr Alphabetisierungsgrad beträchtlich geringer als der der Männer (80 Prozent).[17]
Nach der Einwanderung war die erste Aufgabe für Männer und Frauen - ganz gleich, ob sie lesen und schreiben konnten oder nicht -, die englische Sprache zu lernen. Fast alle Männer erreichten dieses Ziel, und im Vergleich zu nur 35 Prozent anderer Einwanderinnen wurde geschätzt, daß auch 90 Prozent der jüdischen Einwanderinnen, die älter als 14 Jahre waren, die englische Sprache erlernten.[18] Für Arbeiter, ob Männer oder Frauen, erfolgte die formale Ausbildung in Abendschulen: Englischunterricht, Grundschul- oder höherer Schulunterricht, berufliche Ausbildung.
Kinder aber wurden in die Grundschule, diesen großen amerikanischen melting-pot, geschickt. Dort kamen Jungen und Mädchen, amerikanische Kinder und Kinder von Einwanderern zusammen. Zweifellos fällten nicht alle Schüler ein solch lyrisches Urteil über die Vorteile einer öffentlichen Erziehung wie die Schriftstellerin Mary Antin. Für sie war Amerika das neue Zion, die Lehrerin ein weiblicher Moses. »Nie hatte ich mit so viel Ehrfurcht und Inbrunst gebetet, die Lieder Davids gesungen, das Allerheiligste angerufen, wie ich die einfachen Sätze meiner Kindergeschichte vom Patrioten George Washington wiederholte.«[19] Sozialarbeitern fielen die guten Leistungen und hohe Bildungsbereitschaft der jüdischen Einwanderer auf.
Das heißt nicht, daß es keine jüdischen Versager gab. Hohe Einschreibungsraten bedeuteten nicht zwangsläufig ebenso hohe Teilnahmeraten, auch wenn jüdische Einwanderer und ihre Kinder der Tendenz nach länger als andere Gruppen am Unterricht teilnahmen. Armut und Erschöpfung forderten ihren Tribut. Nach einem langen Arbeitstag in einer »Schwitzbude« war es oft schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. In den Grundschulen wirkten Klassengrößen von 60 bis 100 Schülern sicherlich entmutigend. Erwerb und Bildung gerieten häufig in Konflikt. Viele Kinder mußten früh die Schule verlassen, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Häufig waren es die Mädchen, die geopfert wurden und die letztlich mit ihrem Einkommen die Ausbildung ihrer Brüder unterstützten. Ein Historiker weist jedoch darauf hin, daß das Alter möglicherweise einen größeren Einfluß als das Geschlecht auf die Länge der Ausbildung eines Kindes hatte: Ältere Einwandererkinder halfen finanziell mit, jüngeren Geschwistern den Schulbesuch zu ermöglichen.[20]
Die übertrieben enthusiastische Vorstellung, daß Juden und Bildung, und insbesondere höhere Bildung, zusammengehören, ist in der neueren Forschung relativiert worden.  Selma Berrol und Sherry Gorelick haben gezeigt, daß Bildung auch in der Neuen Welt weiterhin hoch bewertet wurde, daß aber die soziale Mobilität erst eine Folge des beruflichen Erfolgs war. Vor allem für die frühen Einwanderungsgenerationen war Bildung das Ergebnis und nicht die Ursache für sozialen Aufstieg.[21]In Amerika wurde die religiöse Erziehung keineswegs völlig aufgegeben. Sie fand vielmehr auf freiwilliger Basis außerhalb der Schule weiterhin statt. Nach osteuropäischem Modell errichteten orthodoxe Einwanderer außerschulische Chaclorim nur für Jungen. Für die ungefähr 1,5 Millionen in New York lebenden Juden gab es 1917/18 annähernd 500 solcher Schulen. Jiddische Gruppen, die - wie z. B. der Workmen's Circle - eher kulturell als religiös geprägt waren, boten auch außerschulischen Unterricht an. Hier machten Mädchen etwa 37 Prozent der Schüler aus.[22]
Die von deutschen Einwanderern betriebenen jüdischen Sonntagsschulen, in denen über die Hälfte der Schüler Mädchen und der größte Teil des Lehrpersonals Frauen waren, boten eine weltlichere (und weniger »ethnische«) jüdische Erziehung. 1838 hatte Rebecca Gratz in Amerika die erste jüdische Sonntagsschule nach protestantischem Vorbild gegründet und sogar ein protestantisches Bibellehrbuch als Unterrichtsmittel benutzt, indem sie alle Erläuterungen, die jüdischen Vorstellungen entgegenliefen, einfach überging.[23] Die deutschen Juden, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten lebten und das Gedankengut der Reformbewegung mitgebracht hatten, gehörten jetzt größtenteils der Mittelschicht an und betrachteten den Ende des Jahrhunderts immer größer werdenden Zustrom armer Juden aus Osteuropa mit Mißtrauen und Furcht. In New York unternahmen sie verschiedene Versuche, eine neue Form jüdischer Erziehung zu etablieren, die ein Gegengewicht zu den Chadorim bilden sollte. Diese Chadorim hielten sie »vom Standpunkt der Hygiene, der Moral und der Amerikanisierung aus betrachtet genau für den Schultyp, den es von Seiten der Allianz auszulöschen gilt«.[24] Die eher weltlich ausgerichtete Hebrew Free School und die Educational Alliance, mit der sie 1899 verschmolz, sowie die 1910 einsetzende, stärker die religiöse Erziehung betonende Kebillah-Bewegung (der auch bürgerliche Einwanderer angehörten) versuchten, den Einwanderern aus Osteuropa alternative Modelle zu bieten. Auch drei Versuchsschulen für Mädchen wurden eingerichtet. Es war jedoch schwer, das richtige Gleichgewicht zwischen weltlicher und religiöser jüdischer Erziehung, zwischen Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und solchen für Jungen zu finden. Beide Bestrebungen wurden bald sowohl von den Orthodoxen als auch von den Sozialisten scharf angegriffen.
Öffentliche Erziehung bedeutete Amerikanisierung, und die religiöse Erziehung   mußte ihrerseits auf die im amerikanischen  Leben  sich ändernden Formen religiösen Verhaltens reagieren. Wo immer die formale Ausbildung zugunsten der Erwerbsarbeit aufgegeben wurde, erlangten Familie, Fabrik, Straße als informelle Schule des Lebens größeres Gewicht.
Das Heim, die Sphäre der Frauen, ist oft idealisiert worden. Gewiß fungierte das Heim als Ort kultureller Kontinuität. Doch die reibungslose Übermittlung von Informationen von Mutter zu Tochter wurde gestört durch die Einwanderungserfahrung. »Ich bin Amerikanerin - du bist nur eine unerfahrene Einwanderin«, schrie eine frustrierte Tochter, »du verstehst noch nicht einmal, was ich sage.«21 In der Erziehung hatte die Einwanderung eine Rollenumkehrung zur Folge. Da die Kinder besser Englisch sprachen, belehrten sie die Eltern und übernahmen bestimmte Erwachsenenrollen. Zwischen den Generationen kam es über Fragen der Trennung und der ungleichen Bildungschancen der Geschlechter zu Konflikten. Außerdem versuchten amerikanisierte (deutsch-jüdische) Sozialarbeiterinnen aus der Mittelschicht, den Neuankömmlingen auf Müttertreffen und bei Hausbesuchen Sparsamkeit und Sauberkeit beizubringen und deren häusliches Leben zu beeinflussen. Das berühmte Settlement Cookbook war als Akkulturationshilfe gedacht. Es enthielt nicht nur koschere Rezepte, sondern auch genaue Anweisungen an die eingewanderte Hausfrau, wie sie u. a. den Tisch abzuräumen, das Geschirr zu spülen hätte. Auch die jiddische Presse beteiligte sich am Integrationsprozeß, diskutierte die veränderten Beziehungen zwischen den Geschlechtern, empfahl für Mädchen den Schulbesuch und für verheiratete Frauen den Besuch der Abendschule. Das Urteil über die jüdische Mutter in der Immigration war widersprüchlich. Wegen ihrer aus der alten Welt stammenden Verhaltensweisen wurde sie verachtet und gleichzeitig wegen ihrer Kraft und ihres Einfallsreichtums - Ellen Schiff spricht von »kreativem Überlebenstalent«[26] - bewundert.
Junge Frauen lernten in der Werkstatt, bis zu 16 Stunden täglich an der Nähmaschine zu arbeiten. Sie lernten auch, daß sie ihrem Boß auf Gedeih und Verderb, auch sexuell, ausgeliefert waren. Und viele hörten vom Sozialismus. Das Bild vom »Aufstand der 20000«, dem dreimonatigen Streik von 1909/10 in der Bekleidungsindustrie, erinnert außerordentlich eindrucksvoll an die aktive Teilnahme jüdischer Frauen an der Arbeiterbewegung. Wie Alice Kessler-Harris gezeigt hat, blieben auch die jüdischen Aktivistinnen befangen in ihren Klassen-, Geschlechts- und ethnischen Identitäten. Dennoch betraten sie den öffentlichen Raum in merklich größeren Zahlen als ihre italienischen Kolleginnen, und sie überraschten ihre männlichen Landsleute mit scharfen Forderungen.[27]
Mädchen und Jungen erlernten zusammen oder getrennt die amerikanische Lebensweise auch auf der Straße, auf den Dachterrassen der Wohnhäuser und in den Tanzsälen. Derweilen tauschten ihre Mütter in den Küchen Gedanken und Informationen aus. Die Nachbarschaftsbeziehungen der Frauen machten einen wichtigen Teil des Lernens im Alltag aus. Während des Boykotts des koscheren Fleisches 1902 in New York City, während der Mietstreiks 1904 und 1908 und der Nahrungsmittelunruhen 1907 und 1917 gingen die Frauen von Haus zu Haus und von Synagoge zu Synagoge, um für Unterstützung zu werben. Dabei spielten sie ihre Geschlechts- und Klassenbindungen gegen die (deutschen und jüdischen) Männer aus, die die Großhändler und Vermieter waren.Wohnhäuser und in den Tanzsälen. Derweilen tauschten ihre Mütter in den Küchen Gedanken und Informationen aus. Die Nachbarschaftsbeziehungen der Frauen machten einen wichtigen Teil des Lernens im Alltag aus. Während des Boykotts des koscheren Fleisches 1902 in New York City, während der Mietstreiks 1904 und 1908 und der Nahrungsmittelunruhen 1907 und 1917 gingen die Frauen von Haus zu Haus und von Synagoge zu Synagoge, um für Unterstützung zu werben. Dabei spielten sie ihre Geschlechts- und Klassenbindungen gegen die (deutschen und jüdischen) Männer aus, die die Großhändler und Vermieter waren.JK Letzten Endes bedeutete die Emigration stets auch einen Verlust an Wissen, den diejenigen, die den Ozean überquerten, deutlich spürten. Einige erlebten die Entwertung ihres bisherigen Könnens: »Als ich hierher kam, wußte ich mehr als heute. Ich wußte, wie man ein ganzes Kleid nähte«, sagte eine Konfektionsnäherin.[28] Der Verlust der Sprache war für alle besonders einschneidend: »Ich komme aus der Ukraine. Dort gehörte ich zu den Gebildeten, ich war Lehrerin. Hierher zu kommen und die Sprache nicht zu können, nicht aufs College gehen zu können - das war schrecklich!«3" Die Emigration eröffnete neue Rollen, neue formale und informelle Bildungsmöglichkeiten, aber der Preis war hoch. Ein einheitliches Modell der jüdischen Frau gab es nicht, weder in der Diaspora mit ihrer Vielfalt der Lebensverhältnisse noch um die Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten. Die deutsche Jüdin stand einer nichtjüdischen Frau aus der Mittelschicht deutlich näher als der russischen Einwanderin. Eine der kurzlebigen Zeitschriften, American Jeivess (1895-1899), beschäftigte sich zum Beispiel mit der Erziehung von Frauen für Ehe und Mutterschaft oder mit dem Dienstbotenproblem. Ende des 19. Jahrhunderts stand deutschen Jüdinnen bereits die höhere Schule und die Ausbildung zur Lehrerin offen, während russische Jüdinnen noch froh waren, wenn sie in der Abendschule vor Müdigkeit nicht einschliefen. Die durch Schichtzugehörigkeit, Sprache und Einstellung zur Religion voneinander getrennten deutschen und russischen Juden betrachteten sich gegenseitig mit Mißtrauen. Kontakt zwischen den beiden Gruppen kam eher durch die Frauen als durch die Männer zustande. Deutsch-jüdische Sozialarbeiterinnen wie Lillian Wald organisierten Sozialzentren, in denen Einwanderinnen Säuglingspflegekurse, öffentliche Vorträge, Nähkurse usw. angeboten wurden. Der Nationalrat jüdischer Frauen, der 1893 während der Weltausstellung in Chicago gegründet wurde, hatte, wie es eine seiner Gründerinnen erklärte, zum Ziel, die Pflegearbeit der Frauen über Philanthropie, Religion und Erziehung der Öffentlichkeit zugute kommen zu lassen. Diese öffentliWohnhäuser und in den Tanzsälen. Derweilen tauschten ihre Mütter in den Küchen Gedanken und Informationen aus. Die Nachbarschaftsbeziehungen der Frauen machten einen wichtigen Teil des Lernens im Alltag aus. Während des Boykotts des koscheren Fleisches 1902 in New York City, während der Mietstreiks 1904 und 1908 und der Nahrungsmittelunruhen 1907 und 1917 gingen die Frauen von Haus zu Haus und von Synagoge zu Synagoge, um für Unterstützung zu werben. Dabei spielten sie ihre Geschlechts- und Klassenbindungen gegen die (deutschen und jüdischen) Männer aus, die die Großhändler und Vermieter waren.[28]
Letzten Endes bedeutete die Emigration stets auch einen Verlust an Wissen, den diejenigen, die den Ozean überquerten, deutlich spürten. Einige erlebten die Entwertung ihres bisherigen Könnens: »Als ich hierher kam, wußte ich mehr als heute. Ich wußte, wie man ein ganzes Kleid nähte«, sagte eine Konfektionsnäherin.[29] Der Verlust der Sprache war für alle besonders einschneidend: »Ich komme aus der Ukraine. Dort gehörte ich zu den Gebildeten, ich war Lehrerin. Hierher zu kommen und die Sprache nicht zu können, nicht aufs College gehen zu können - das war schrecklich!«[30] Die Emigration eröffnete neue Rollen, neue formale und informelle Bildungsmöglichkeiten, aber der Preis war hoch.
Ein einheitliches Modell der jüdischen Frau gab es nicht, weder in der Diaspora mit ihrer Vielfalt der Lebensverhältnisse noch um die Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten. Die deutsche Jüdin stand einer nichtjüdischen Frau aus der Mittelschicht deutlich näher als der russischen Einwanderin. Eine der kurzlebigen Zeitschriften, American Jeivess (1895-1899), beschäftigte sich zum Beispiel mit der Erziehung von Frauen für Ehe und Mutterschaft oder mit dem Dienstbotenproblem. Ende des 19. Jahrhunderts stand deutschen Jüdinnen bereits die höhere Schule und die Ausbildung zur Lehrerin offen, während russische Jüdinnen noch froh waren, wenn sie in der Abendschule vor Müdigkeit nicht einschliefen.
Die durch Schichtzugehörigkeit, Sprache und Einstellung zur Religion voneinander getrennten deutschen und russischen Juden betrachteten sich gegenseitig mit Mißtrauen. Kontakt zwischen den beiden Gruppen kam eher durch die Frauen als durch die Männer zustande. Deutsch-jüdische Sozialarbeiterinnen wie Lillian Wald organisierten Sozialzentren, in denen Einwanderinnen Säuglingspflegekurse, öffentliche Vorträge, Nähkurse usw. angeboten wurden. Der Nationalrat jüdischer Frauen, der 1893 während der Weltausstellung in Chicago gegründet wurde, hatte, wie es eine seiner Gründerinnen erklärte, zum Ziel, die Pflegearbeit der Frauen über Philanthropie, Religion und Erziehung der Öffentlichkeit zugute kommen zu lassen. Diese öffentlichen Aktivitäten der deutschen Jüdinnen waren eine Einmischung in die Privatsphäre der russischen Jüdinnen. Damit konfrontierten sie aber gleichzeitig, wie Baum, Hyman und Michel zeigen, die Immigrantinnen mit einem realen Modell der Amerikanerin, das ihnen vergleichsweise nahe stand.[31]
In dem Bemühen, die Kontrolle über ihre eigene Privatsphäre zu behalten, hielten viele Einwanderinnen, wie z. B. die Gitl in Hester Street, länger als Männer an Verhaltensweisen der alten Welt fest. Andere verbanden Praktiken der alten Welt mit den Möglichkeiten der neuen, indem sie lautstark eine Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten forderten. Besonders für jüngere Frauen konnte die Emigration eine Form der persönlichen Emanzipation sein.

Unterschiede und Veränderungen

1934 verurteilte Bertha Pappenheim die historische Rolle der Frauen im Judentum, gab ihrem Ärger Ausdruck über das, »was an der jüdischen Frauenseele und damit an dem Gesamtjudentum gesündigt wurde«, und trat für eine bessere Ausbildung der jüdischen Frauen ein.[32] Die ungleiche Ausbildung von Männern und Frauen war das Ergebnis asymmetrischer Geschlechterrollen und trug gleichzeitig zur Verstärkung dieser Asymmetrie bei. Unter dem gemeinsamen Einfluß von Säkularisierung (in der umgebenden Gesellschaft), Emanzipation (der jüdischen Gemeinden) und Reform (des Judentums) fielen die Grenzen im 19. Jahrhundert nur langsam. Doch blieben die Beziehungen zwischen den Geschlechtern je nach Land, Einstellung zur Religion (Orthodoxie, Reform) und Schichtzugehörigkeit auch weiterhin verschieden.
Obgleich es also kein einheitliches Modell für die »Entstehung der jüdischen Frauen« gibt, lassen sich im 19. Jahrhundert bei den jüdischen Einstellungen zur Beziehung zwischen den Geschlechtern und zur Ausbildung der Frauen mehrere Konstanten erkennen. Erstens war der Zugang der Frauen zur Bildung überall begrenzt, weil man zweierlei befürchtete: Konversion und Ehelosigkeit. Während deutsche Eltern befürchteten, daß eine weltliche Erziehung zur Abkehr von der Religion führen könnte, sahen russische Eltern in der höheren Bildung den Weg zum Sozialismus. Allgemein herrschte jedoch in allen Schichten und allen Ländern die Sorge, daß zuviel Bildung dazu führe, daß Frauen keinen Mann finden.
Zweitens waren für Mädchen noch stärker als für Jungen die Bildungsmöglichkeiten von den wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig. Die reiche Elite der »Schutzjuden« in Berlin und das aufgeklärte russische Bürgertum engagierten für ihre Töchter Hauslehrer - gleichsam als weltlichen Ersatz für die ihren Söhnen gewährte religiöse Ausbildung. Vor allem in Rußland war Ende des Jahrhunderts Privatunterricht im Grunde die einzige Möglichkeit für Männer und Frauen, Zugang zur Universität zu erhalten. Aber selbst in den Vereinigten Staaten, wo der Schulunterricht kostenlos war, war Bildung an Geld geknüpft. Armut bedeutete, daß Kinder früh arbeiten mußten, und dann erhielt die Ausbildung der Jungen häufig Vorrang vor der der Mädchen. Ob in Berlin, St. Petersburg oder New York - allgemein gilt, je besser die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie waren, um so eher glichen sich die Bildungschancen von Männern und Frauen an.
Drittens betrieb beinahe im ganzen 19. Jahrhundert der Schadcban (Heiratsvermittler), dieses Symbol traditioneller Geschlechterbeziehungen, noch ein reges Geschäft. Außerhalb der hehren Zirkel der Berliner Salons konnte die romantische Liebe mindestens noch für ein weiteres Jahrhundert nicht über die arrangierte Ehe triumphieren. Nach wie vor waren Eheschließungen ein wichtiges Thema des Klatschs und Objekt komplexer Strategien innerhalb der Gemeinde. Später führte der Kampf um das Recht auf freie Wahl des Ehepartners sowohl bei vereitelten Ehepaaren als auch bei enttäuschten Familien zu viel Zores (jiddisch: Unglück, Leid, Elend). Vermutlich war letztendlich entscheidend, daß die Frauen gleichberechtigte Bildungschancen erhielten, daß sich dadurch neue Formen des sozialen Umgangs durchsetzten und diese schließlich wirkungsvoll das Monopol des Heiratsvermittlers zu untergraben vermochten.

Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff

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