Gab es einen spezifischen Typus der protestantischen Frau? Einen solchen gab es sicherlich nicht in dem Sinne, daß das Protestantische der maßgebliche Wesenszug einer weiblichen Persönlichkeit war. Aber wie in früheren Epochen war Religion auch im 19. Jahrhundert ein wirksamer Faktor bei der Bildung der Frauen gewesen. Allerdings ist es unmöglich, deren Einfluß unter verschiedenen, in der Realität untrennbar miteinander verbundenen anderen Faktoren wie soziale Klasse, Land, Region zu isolieren.
Die Reformation schuf ein neues Frauenbild. Es definierte sich vor allem durch den Bruch mit dem katholischen Ideal, das Jungfräulichkeit und Klosterleben aufwertete. Seit seinen Anfängen betrachtete der Protestantismus das Leben in der Welt und das eheliche Leben als den bevorzugten Rahmen, um die »christliche Treue« zu verwirklichen. Dabei blieb die Frau eingegliedert in das patriarchalische System, das auch in den protestantischen Ländern weiterhin Bestand hatte. Ähnlich wie später das »allgemeine Wahlrecht« lange Zeit nur als «Männerwahlrecht« realisiert wurde, so verlieh auch die Lehre vom »allgemeinen Priestertum« (jeder Gläubige ist kraft seiner Taufe selbst Priester) bis ins 20. Jahrhundert in erster Linie dem Familienvater die Rolle des religiösen Oberhauptes, selbst wenn dessen Ehefrau einen nicht geringen (unter manchen Umständen sogar entscheidenden) Anteil an der Vermittlung von Glaubensinhalten hatte.
In der Tat gedachte die Lehre vom allgemeinen Priestertum, eine wesensmäßige Gleichheit mit den funktionsmäßigen Unterschieden zu versöhnen. Luthers Lehre besagte: Jeder getaufte Christ kann sich zwar rühmen, zum Priester, Bischof oder Papst geweiht zu sein, dennoch kommt es nicht jedem gleichermaßen zu, eine solche Funktion auch auszuüben. Dieser Übergang vom Wesen zur Funktion konnte eine Möglichkeit zu Mobilität und sozialem Aufstieg eröffnen. De facto konnte dies aber auch heißen, ohne Rücksicht auf die geistliche Wesenheit in der kirchlichen Gesellschaft dieselben Unterschiede zu reproduzieren.
Die Stellung der Frau im Protestantismus war daher von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Einerseits führte die Aufwertung der Laien und gewöhnlichen Christen zu einem frühzeitigen Interesse auch an Frauenbildung, und zwar nicht nur für Frauen der Oberschicht, selbst wenn gesellschaftliche Unterschiede de facto durchaus eine Rolle spielten. Demzufolge war im Jahrhundert die Ausbildung von Frauen in protestantischen Regionen und Staaten häufig weiter entwickelt als in katholischen, und dies hatte bestimmte Konsequenzen. Andererseits teilten auch die Protestanten die vorherrschende gesellschaftliche Auffassung von einer Rollenteilung zwischen Mann und Frau. Auch im Protestantismus blieb daher den Frauen der Zugang zu bestimmten Ämtern, vor allem kirchlichen Ämtern, versperrt.
In vielen Fällen wurde dieser Widerspruch gelöst, indem man die protestantische Frau mit der Aufgabe betraute, ihrem Ehemann hilfreich zur Seite zu stehen. Größtenteils erschien sie als mitverantwortlich sowohl für das emotionale Gelingen der Ehe wie für den kulturellen und sozialen Aufstieg des Paares und der Familie. Diese Haltung zeigte sich besonders deutlich bei den angelsächsischen Puritanern und den Pietisten in der deutschsprachigen und skandinavischen Welt.
Die Erweckungsbewegung - Ein Aufbruch der Frauen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts liefert die Erweckungsbewegung, und hier vor allem der Methodismus, die interessantesten Hinweise auf eine - wenn auch begrenzte - Weiterentwicklung der religiösen Situation protestantischer Frauen. JohnWesley (1703-1791, der Begründer des Methodismus, war in diesem Punkt wie in vielen anderen durchaus ein Anhänger von Tradition und Ordnung. Lange Zeit hielt er es für undenkbar, daß Frauen religiöse Autorität ausüben könnten. Anfangs teilten die meisten der Männer, die am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts für eine Wiederbelebung des Christentums eintraten, seine Ansichten. Diese schienen durch zahlreiche Passagen in den Briefen des Apostel Paulus über die Frauen gerechtfertigt. Aber aus verschiedenen Gründen kam es in den religiösen Gepflogenheiten der Erwecker zu einem Wandel und zur Aufwertung des den Frauen zugewiesenen Platzes. Die Erweckungsbewegung strebte keinen Bruch an und wollte auch keine neue protestantische Religionsgemeinschaft gründen. Ihr Ziel war vielmehr, die bestehenden protestantischen Kirchen, vor allem den Anglikanismus und die presbyterianischen bzw. reformierten Kirchen, erneut mit dem Geist der Reformation zu erfüllen. Der Name »Erweckung« ist an sich schon bezeichnend. Aber wo immer die Erweckungsprediger auftraten, mußte es zu Spaltungen kommen zwischen den Gläubigen, die sie guthießen, und jenen, die sie ablehnten. Unter den Befürwortern fanden sich viele, die mehr oder weniger zu den Randgruppen der Gesellschaft gehörten oder in Abhängigkeit lebten. So gehörten auch zahlreiche verheiratete Frauen und junge Mädchen zu den ersten »Erweckten«.
Die Ehegatten und Väter im einfachen Volk sahen diesen religiösen Enthusiasmus ihrer Frauen nicht unbedingt gern, war er doch ein Akt des Ungehorsams. So manche, die einem Erweckungsprediger trotz des Verbots zugehört oder ihm Geld für seine Bewegung gegeben hatten, erwarteten zu Hause Prügel. Um solchen Züchtigungen zu entgehen, nahmen die Frauen und Mädchen häufig ohne Wissen ihrer Männer und Väter an »Gottes Werk« teil. Damit begünstigte die Erweckungsbewegung, obwohl deren Inhalte weder in diesem noch in anderen Punkten per se gesellschaftlich subversiv waren, implizit den weiblichen Widerstand gegenüber der männlichen bzw. väterlichen Autorität. In einigen Erweckungsgemeinden wurden die »Schwestern« den »Brüdern« auch formal gleichgestellt - ein Grund mehr, um das Mißtrauen oder sogar die Feindseligkeit von Ehemännern und Vätern zu bestärken.
Auch in wohlhabenderen Schichten übte die Erweckungsbewegung auf die Frauen häufig eine größere Anziehungskraft aus als auf die Männer, die manchmal dank des Engagements der ihnen nahestehenden Frauen im zweiten «Anlauf« erreicht wurden. Die Erweckungsbewegung bot den Frauen ganz offensichtlich eine Möglichkeit zu Unabhängigkeit und Einflußnahme und ermunterte sie dazu, Verantwortung zu übernehmen.
Allgemein kam den Frauen die relative Bedeutung von Laien innerhalb der »Erweckung« zugute. Als eine gegen die Institutionen gerichtete Bewegung setzte sie mehr auf Inbrunst und Eifer denn auf kirchlichen Status. Laienprediger spielten von Anfang an eine nicht unwesentliche Rolle, vor allem in England als Gegenspieler der anglikanischen Pfarrer. Dieser Aspekt war um so bedeutsamer, als die Struktur der Kirche von England eher der des Katholizismus ähnelte als der der übrigen protestantischen Kirchen. In der anglikanischen Kirche bedurfte es einer »außergewöhnlichen Berufung« durch Gott, um die Tätigkeit von Laienpredigern zu rechtfertigen. Eine solche außergewöhnliche Berufung galt auch für Gemeindemitglieder, die nicht ordiniert waren. Und zu diesen gehörten unter anderem die Frauen, die somit Gelegenheit bekamen, etwas zu tun, was ihnen traditionell untersagt war: öffentlich Zeugnis für ihren Glauben abzulegen und zu predigen. Die quasi priesterliche Rolle mancher Frauen trat vor allem in der Neuen Welt zutage, wo der wachsende Bedarf an Geistlichen die Bedenken vieler Erweckungsanhänger überwinden half. In England wurde die Bewegung offiziell von Lady Huntington unterstützt, und Lady Maxwell trug wesentlich dazu bei, diese im 18. Jahrhundert nach Schottland zu bringen. Während jener Zeit galt Barbara Ruckle Heck, obwohl sie keine vergleichbare gesellschaftliche Stellung innehatte, als die »Mutter des amerikanischen Methodismus«, denn sie war maßgeblich an der Gründung verschiedener neuer Kirchen im Tal des SanktLorenz-Stroms beteiligt. Sie predigte allerdings noch nicht. Damit begannen andere Frauen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie traten sogar als »Wanderpredigerinnen« auf. Zu den Bertihmtesten unter ihnen gehörten Hannah Pearce Reeves, Lydia Sexton und vor allem die ersten schwarzen Predigerinnen Jarena Lee und Rebecca Gould Stewart. Eine solche Ausübung von Autorität durch Frauen provozierte Kontroversen und Schwierigkeiten. Es ist immer ein Risiko, die Grenzen einer sozialen Rolle zu überschreiten. Die Frau als Helferin des Mannes - das blieb auch im Protestantismus des 19. Jahrhunderts das geläufigste Modell. Auch Frauen in der Erweckungsbewegung (vor allem der amerikanischen) fungierten häufig als eine Art »Gastgeberin«; ihre Aufgabe war es dann, die Ankunft und den Empfang der Wanderprediger am jeweiligen Ort zu organisieren. Diese Rolle war zwar der des Predigers untergeordnet (und daher auch leichter auszufüllen), doch sollte deren Bedeutung nicht unterschätzt werden: der Erfolg eines Predigers, die Menschenmenge, die er auf die Beine brachte, der Einfluß, den er dauerhaft ausüben konnte, all dies hing zu einem großen Teil vom Organisationstalent und von der religiösen Ausstrahlung der »Gastgeberin« ab. Eine der bekanntesten war Catherine Livingston Garretson, die im Hudsontal eine Art Hauptquartier für Wanderprediger einrichtete und ein bemerkenswertes spirituelles Tagebuch führte.
Pfarrfrauen
Die Stellung der Ehefrau des Pfarrers in den verschiedenen protestantischen Kirchen unterschied sich kaum von der Rolle der »Gastgeberinnen« in der Erweckungsbewegung. Während des gesamten 19. Jahrhunderts waren sie im allgemeinen eng mit dem Amt ihres Mannes verbunden, und sein Erfolg hing zu einem nicht geringen Teil von ihren persönlichen Qualitäten ab. Trotzdem hatte die Pfarrfrau keinerlei offiziellen Status, keinerlei institutionelle Legitimität. Aber in den meisten Fällen wurden ihr. zumindest de facto, bestimmte Funktionen zugewiesen. Sie empfing und machte Besuche, sie unterrichtete und pflegte Gemeindemitglieder, und oft konnte sie gefahrlos, und ohne daß es als unschicklich gegolten hätte, Orte aufsuchen, die eine Frau normalerweise mied bzw. meiden sollte.
Der Umfang ihrer Arbeit und ihres Einflusses hing von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Größe der Pfarrei und der räumlichen Streuung ihrer Mitglieder. Wenn der Pfarrer beispielsweise entlegene Teile seiner Pfarrei besuchen mußte, konnte seine Frau während seiner Abwesenheit geistliche Belange wahrnehmen. Als autodidaktische Theologin leistete sie Beistand, erteilte Ratschläge, hielt Bibelstunden und sogar Gebetsversammlungen ab. Eine solche Praxis erschien um so selbstverständlicher, wenn diese Frau einem gesellschaftlich und kulturell höher stehenden Milieu entstammte, während ihre Zuhörer und Zuhörerinnen bescheidener Herkunft waren. Doch das war nicht immer der Fall. Unterrichten und Pflegen waren üblichere Aufgaben der Pfarrfrau als etwa die geistliche Stellvertretung ihres Mannes. Sie unterrichtete egal, ob sie als Lehrerin ausgebildet war oder nicht - nicht nur die Kinder, sondern übernahm auch die Erwachsenenbildung. Häufig leistete sie bei Frauen Krankenpflege. Die vorherrschende Auffassung von Scham und Moral führte vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte dazu, daß bestimmte Aufgaben, die einen nahen körperlichen Kontakt erforderten oder ein vertrauliches Verhältnis zu anderen Frauen förderten, allein den Frauen vorbehalten blieben. So konnten sich manche Formen weiblicher Einflußnahme herausbilden, die übrigens nicht nur den Pastorenfrauen zugute kamen. Da die Schulen nach Geschlechtern getrennt und im allgemeinen konfessionell waren, wurden junge Protestantinnen - vor allem Pastorentöchter - nicht selten Lehrerinnen. Häufig halfen auch ein oder mehrere Hausmädchen der Pfarrfrau bei ihren erzieherischen und pflegerischen Aufgaben. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür war Madame Oberlin, die Frau des Pastors von Bande-la-Roche im Elsaß. Unterstützt von ihrer Hausangestellten Louise Scheppler gründete sie die ersten französischen Vorschulen. Nach ihrem Tod übernahm Louise Scheppler deren Leitung.
Im Umkreis des Pfarrers wirkten also verschiedene Frauen - seine Gattin, seine Töchter, ein oder auch mehrere Hausmädchen - an der Weiterbildung von Frauen sowie an der Förderung weiblicher Eigeninitiative mit. Tatsächlich waren sie ein Vorbild für andere Protestantinnen. Diese Frauen verkörperten das dynamische Bild einer Frau, die alles andere als ein kraftloses Geschöpf war. Die Frauen im Pfarrhaushalt dürften als Vorbild um so attraktiver gewesen sein, als sie für die Mentalität des Durchschnittsmannes wenig bedrohlich und daher im allgemeinen kein Anlaß für Konflikte waren. Sie bewiesen gleichwohl, daß es für eine Frau möglich war, die eigenen vier Wände zu verlassen, ohne Gefahr zu laufen, die »Bescheidenheit, die ihrem Geschlecht geziemt«, und die »untadelige Moral« zu verletzen.
Diakonissen
Damit auch andere Protestantinnen der Mittelschichten ihre Frömmigkeit öffentlich bekunden und sich karitativ und sozial betätigen konnten, wurde das Amt der Diakonisse geschaffen. Die Schwesternschaft der Diakonisse erwuchs dem sozialen Engagement des protestantischen Pietismus, vor allem im deutschsprachigen Raum. Vorläufer war der Weibliche Verein für Armen- und Krankenpflege, den Amalie Sieveking (1794-1859), die Tochter eines Hamburger Senators, 1832 gegründet hatte. Das erste Diakonissenhaus errichtete Pastor Theodor Fliedner in Kaiserswerth (Nordrhein-Westfalen). Ein Jahr später entstand in Berlin das Elisabeth-Krankenhaus, in welchem Diakonissen als Krankenschwestern tätig waren. 1841 initiierte Pastor Antoine Vermeil in Frankreich die Gründung eines Diakonissenhauses in Reuilly, 1842 schuf Pastor Francois Haerter ein Diakonissenhaus in Straßburg. Außer in Deutschland und den deutschsprachigen Ländern entstanden auch andernorts in rascher Folge zahlreiche solcher Häuser.
Die Gründung von Diakonissenhäusern stand in engerem Zusammenhang mit der vermehrten Fürsorge, d. h. Pflege und Unterrichtung der Armen. Dank der Ordensgemeinschaften verfügte die katholische Kirche über ein Heer von opferbereiten Menschen, die sich diesen sozialen Aufgaben widmeten. Trotz einiger Hilfswerke konnte der Protestantismus nicht im entferntesten mit einem vergleichbaren Angebot aufwarten. Einige Katholiken verstanden es, dies lautstark zu betonen. So schrieb der Arzt Sulzer: »Die Nächstenliebe, diese Himmelsblume, kann auf dem trockenen und sandigen Boden der protestantischen Kirche nicht gedeihen.« Im übrigen machte es die Einrichtung des Diakonissenamts möglich, dem Bedürfnis mancher Protestantinnen nach einem allumfassenden religiösen Engagement entgegenzukommen, ohne ihnen den Zutritt zum Priesteramt zu gewähren. Die ersten Diakonissen nannten sich «Dienerinnen der Armen« und erklärten: »Schon seit langem haben wir uns dem Herrn versprochen, es drängt uns danach, seine Liebe, die er uns bekundet hat, indem er unsere Seelen vor Sünde und Tod rettete, zu erwidern, indem wir der leidenden Menschheit dienen.«
Das Haus in Kaiserswerth nahm »Novizinnen« aus anderen Einrichtungen auf. Die Zeit, die sie dort verbrachten, beschrieb Pastor Fliedner folgendermaßen: »Wir halten es für die beste Ausbildung der Schwestern, wenn sie auf allen Krankenstationen und auch im Haushalt hospitieren, ohne die fachliche Ausbildung durch einen Arzt, die Unterweisung in der Seelsorge durch mich und in der Körperpflege durch meine Frau zu vergessen.« Diakonissen, die als Lehrerin für die Kinder der Armen tätig werden wollten, erhielten eine etwas andere Ausbildung.
Die Regeln, die man bei der Gründung von Diakonissenhäusern aufstellte, basierten auf der protestantischen Doktrin der Erlösung allein durch Gnade und nicht durch gute Werke. Diakonissen erwarben sich mit ihrem Dienst an der »leidenden Menschheit« keinerlei Verdienst oder größere Hoffnung auf ihr Seelenheil. In mancher Hinsicht jedoch gab es durchaus Ähnlichkeiten zwischen dem Status einer Diakonisse und dem einer Nonne in einem karitativen Orden. Natürlich führte das innerhalb des Protestantismus zu Debatten.
Einige der Diakonissenhäuser, insbesondere die in Kaiserswerth und Reuilly, standen unter der Aufsicht eines Pastors, der sich voll und ganz seinem Amt als Leiter und Anstaltsgeistlicher widmete. Andere dagegen errichteten eine Art Frauendemokratie. So etwa im Diakonissenhaus in Straßburg, das gemeinsam von einem Vorstand von Frauen, die keine Diakonissen waren und sich um die Verwaltung kümmerten, und einem Inneren Rat geleitet wurde. Letzterer bestand aus der »Schwester Oberin« und einigen »leitenden Schwestern«, die aus den Reihen der Diakonissen gewählt wurden, und sorgte für Ruhe und Ordnung sowie für das gute Einvernehmen innerhalb der Gemeinschaft. Nach einem einjährigen Noviziat wurde man Diakonisse. Die Diakonisse erhielt von der Gemeinschaft Unterkunft und Verpflegung, aber kein Gehalt. Sie schuldete der Schwester Oberin Gehorsam und hatte eine einjährige Kündigungsfrist, bevor sie die Gemeinschaft verlassen konnte. Als Ledige trug sie eine spezielle Schwesterntracht.
In mehreren Punkten entfernte sich der Stand der Diakonisse von der klassischen protestantischen Auffassung vom christlichen Leben, die für die Nächstenliebe keine gesonderte Lebensform vorsah. Zahlreiche kritische Stimmen gegen die neuen Institutionen wurden laut. Besonders klar legte die reformierte Schweizer Protestantin Madame Gasparin ihre Einwände in dem zweibändigen Werk Des corporations monastiques au sein du protestantisme (1854/55) dar. Gasparin zufolge gab es für die Schaffung von Diakonissengemeinden in der Bibel kein einziges Vorbild. Die Worte Jesu über die Bekehrung und die Treue eines jeden Christen seien zugunsten einer Organisation verdreht worden, die an die mittelalterlichen Klöster erinnerte, die einst von Luther abgeschafft worden seien. Eine Etablierung von Diakonissengemeinschaften drohe im Schoß des Protestantismus eine Entwertung der Berufung zur Ehe und zum Leben in der Welt auszulösen. Der vorgebrachte Gedanke »ist deutlich genug, das ist die Verherrlichung der Ehelosigkeit, die Heiligung durch das Ordensgelübde, die ausschließliche anstelle der teilweisen Weihe, die Absonderung von der Welt, die Jesus nicht gewollt hat, kurz, das ist Rom ohne Schleier«.
Solche Kritik wurde immer wieder geäußert. Für manche Protestanten des 19. und 20. Jahrhunderts verkörperten die Diakonissen durch ihr Gelübde und ihre Tracht eine Form des Krypto-Katholizismus und waren somit nicht ungefährlich. Aber im allgemeinen fanden die Diakonissen sehr rasch ihren Platz innerhalb des Protestantismus, der ja in den vielfältigsten Erscheinungsformen auftrat. Obwohl manche ihrer Prinzipien der protestantischen Denkweise merkwürdig entgegengesetzt waren, wurde den Diakonissen zugebilligt, daß sie mit ihrem Tun Zeugnis für ihren Glauben ablegten und von tiefer Spiritualität beseelt seien.
Protestantinnen gegen die Sklaverei
Während von manchen Protestanten und Protestantinnen die Schaffung des Diakonissenamts als eine Art Rückschritt angesehen wurde, waren andere vom ausgesprochen kühnen Engagement protestantischer Frauen für große gesellschaftliche Reformbewegungen schockiert. Das galt beispielsweise für die Beteiligung an der Anti-Sklaverei-Bewegung.
Die Kampagnen gegen die Sklaverei entstanden im amerikanischen Protestantismus. Sie wurden in Gang gebracht von William Lloyd Garrison, einem Bostoner Journalisten, und seiner Veröffentlichung The Liberator. Dieser strenge Calvinist nannte die Rassenvorurteile im Norden eine ebenso schwere Sünde vor Gott wie die Sklaverei im Süden, Er forderte die sofortige und vollständige Emanzipation aller Schwarzen. Dabei wandte er sich auch speziell an die Frauen. Diese sollten kämpfen für die Befreiung der schwarzen Frauen, die der männlichen Grausamkeit und Begierde ausgeliefert seien. Sein Appell fand sofort Anklang bei einigen Frauen aus der Oberschicht. Sie begannen ihr Leben dieser Sache zu widmen und ihre gesellschaftliche Position einzusetzen, um eine weibliche Anti-Sklaverei-Bewegung zu organisieren.
Drei Frauenvereine gegen die Sklaverei wurden gegründet. Zwei davon vereinten von Beginn an •weiße und schwarze Frauen im selben Kampf und favorisierten autonome Initiativen von Frauen. Die Boston Society gruppierte sich um Maria Weston Chapman und drei ihrer Schwestern. Sie rekrutierte Protestantinnen aus verschiedenen Gruppierungen, in erster Linie Mitglieder der unitarischen und der anglikanischen Kirche sowie der Quäker. Eines ihrer Mitglieder, Lydia Maria Child, die bekannte Verfasserin romantischer Romane, schrieb das erste amerikanische Werk gegen die Sklaverei: An Appeal on Behalf of That Class of Americans Called Africans (1833). Das Buch wandte sich gegen die Art und Weise, in der freie schwarze Männer in Schulen und Kirchen behandelt •wurden, und gegen das Verbot von Mischehen. Die Philadelphia Society, gegründet von Lucretia Coffin Mott, einer Quäkerin, bestand vor allem aus Mitgliedern dieser Religionsgemeinschaft. Der Verein zeichnete sich durch die starke Persönlichkeit seiner schwarzen Mitkämpferinnen aus: Sarah Mapps Douglas und die drei Schwestern Sarah, Margaretta und Harriet Forten, die aus einer Familie stammten, die sich während des gesamten 19. Jahrhunderts im Kampf gegen die Sklaverei, für die Rechte der Frauen und für andere wichtige gesellschaftliche Themen engagierte.
Das dritte Zentrum der Anti-Sklaverei-Aktivitäten war New York. Hier schlössen sich vor allem Presbyterianerinnen zusammen. Ihre Aktivitäten bewegten sich in herkömmlicheren Bahnen. Das Komitee der Frauen blieb dem der Männer untergeordnet, und weiße und schwarze Frauen organisierten sich getrennt.
Im Jahre 1837 fand in New York der erste Frauenkongreß gegen die Sklaverei statt. Im selben Jahr wurde eine große Vortragstournee durch zahlreiche Städte in Neu-England organisiert. Sechs Monate lang sprachen zwei Aktivistinnen aus South Carolina, Sarah und Angelina Grimke, meistens in Kirchen vor zahlreichen Männern und Frauen. In ihren Reden wurde die Komplizenschaft der Kirchen bei der Aufrechterhaltung des minderwertigen Status der Schwarzen angeprangert. Mit Sicherheit war es für viele protestantische Pfarrer ein Stein des Anstoßes, daß diese Frauen mit solcher Vehemenz das Wort ergriffen und mit ihren Reden unbequeme Ansichten verbreiteten. Die Vereinigung kongregationalistischer Pastoren veröffentlichte einen Hirtenbrief, der - gestützt auf Zitate aus dem Neuen Testament - klarzustellen suchte, daß es nicht zur weiblichen Rolle gehöre, sich um öffentliche Belange zu kümmern.
Die Kontroverse um die Sklaverei verband sich mit der Kontroverse um die Rechte der Frauen. Diese Verbindung war von großer Bedeutung, denn manche der Aktivistinnen wären eher geneigt gewesen, sich von den Argumenten der Pastoren überzeugen zu lassen, wenn es sich nur um ihre eigenen Interessen gehandelt hätte. Nun aber waren sie überzeugt, für eine heilige Sache zu kämpfen, und das half ihnen, sich den religiösen Argumenten zu widersetzen, die man gegen sie vorbrachte. Den Weitsichtigen unter ihnen wurde klar, daß sie von nun an einen umfassenden Kampf für eine »neue Ordnung der Dinge« führen mußten. Angelina Grimke schrieb dazu: »Wir setzen uns nicht nur für die Sache der Sklaven ein, sondern auch für die der Frauen als moralische und verantwortliche Wesen.« 1838 veröffentlichte ihre Schwester Sarah ihre Letters on the Equality of the Sexes, and the Condition of Women, das erste Manifest des zeitgenössischen protestantischen Feminismus.
Der protestantische Feminismus
Sarah Grimke zufolge lehre die Bibel, so sie korrekt übersetzt und ausgelegt werde, keineswegs die Ungleichheit zwischen Mann und Frau. Im Gegenteil, sie bekräftige, daß beide Geschlechter mit denselben Rechten und Pflichten erschaffen worden seien: Beispielsweise interpretierte sie Genesis 3,16 (»Dein Begehren wird dich hin zu deinem Mann ziehen, und er wird dich beherrschen«) - häufig herangezogen, um das Abhängigkeitsverhältnis der Frau zum Mann zu rechtfertigen einfach als Vorhersage dessen, was nach dem Sündenfall geschehen würde, und nicht als Befehl Gottes oder göttliche Legitimation männlicher Vorherrschaft. Dies war der erste Schritt hin zu einer feministischen Bibelexegese. Während des 19. Jahrhunderts bildeten sich vor allem in den angelsächsischen Ländern andere Feministinnen zu Theologinnen aus. Erwähnt sei an dieser Stelle Elizabeth Cady Stanton, die bekannte Theoretikerin und Propagandistin des amerikanischen Feminismus, die in den 1890er Jahren ihre Women 's Bible herausgab. Dabei handelte es sich um eine Sammlung exegetischer Kommentare, die sie dem traditionellen christlichen Diskurs über die Beziehung zwischen Mann und Frau und die Stellung der Frau in der Gesellschaft entgegenstellte. Überliefert ist die Parole der engagiertesten angelsächsischen Feministinnen des 19. Jahrhunderts: »Betet zu Gott, auf daß SIE euch erhören werde!«[1]
Der protestantische Feminismus verwies im allgemeinen auf Genesis 2,18: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.« Seine Gefährtin war dem Mann gleichgestellt, wenn nicht sogar höhergestellt, wie manche Protestantinnen - so beispielsweise die Französin Eugenie Niboyet - nahelegten. Äußerst geschickt stellte diese die traditionellen Argumente zugunsten einer männlichen Vorrangstellung schlichtweg auf den Kopf. Eva wurde aus Adams Rippe erschaffen? Nun denn, diese Rippe war eine menschliche Substanz, also ein edleres Material als der Lehm und Staub der Erde, aus dem Gott den ersten Mann geformt hatte. An diesem Punkt betonte man gemeinhin die Reihenfolge der Schöpfung: Wurde nicht der Mann zuerst erschaffen, die Frau erst danach? Gewiß doch, allerdings verkörpert die Reihenfolge der Schöpfung eben auch eine Progression: zuerst die Meeresungeheuer, dann die Tiere, dann der Mann und zuletzt die Frau und nichts über ihr. Mit Eva hatte die Schöpfung ihre ganze Vollendung erreicht, und Gott konnte am siebten Tage ruhen.
Dieser wendige Radikalismus wurde jedoch nicht von allen Protestantinnen, die sich auf die eine oder andere Weise mit der Herausbildung der Geschlechterbeziehungen befaßten, akzeptiert. Die Diakonisse Sarah Monod, Ende des Jahrhunderts Redakteurin der Zeitschrift La femme, fühlte sich durch die Art, wie manche Feministinnen die »Rechte oder angeblichen Rechte« der Frauen verteidigten, oft in ihrer »Würde als Frau« verletzt. Für sie sollte der Feminismus »die Tugenden der Frauen selbst haben: würdevoll, aber nicht starr, beharrlich, aber nicht vermessen, hartnäckig, aber nicht rücksichtslos, warmherzig, aber nicht leidenschaftlich. Der beste Feminismus wird der weiblichste sein.« Wie sie waren viele Protestantinnen bemüht, sich nicht an den Rand der Gesellschaft zu stellen und ihr soziales Ansehen nicht zu gefährden. Doch dieses hinderte sie nicht in ihren Initiativen. Einige standen unter dem Einfluß Madame Necker de Saussures. Sie gründete am Genfer See eine Schule, die nach innovativen Erziehungsprinzipien geleitet wurde, und veröffentlichte 1828 ihr Werk L'education progressive. Das Buch, das zahlreiche Neuauflagen erlebte, machte sich für eine Pädagogik stark, die Mädchen wie Jungen zur Eigenständigkeit erzog, und propagierte die Notwendigkeit, das Heiratsalter für junge Mädchen heraufzusetzen, damit ihnen Zeit gelassen würde, zu »aufgeklärten Menschen« und »intelligenten Geschöpfen« heranzuwachsen.
Diese Betonung auf Erziehung und Bildung wurde von Protestantinnen der mittleren und oberen Schichten geteilt. Ihre Botschaft an die anderen Frauen ihrer Zeit lautete im wesentlichen folgendermaßen: Die angebliche »Minderwertigkeit« der Frau sei kein Produkt der »weiblichen Natur«, sondern der ungenügenden Mädchenbildung, die so reduziert sei, daß der Wissensstand der Frauen mit dem der Männer letztlich unmöglich konkurrieren könne. Die Arbeiterinnen dürften nicht länger zum »Abschaum des Volkes« und zu »lasterhaften Frauen« gemacht werden, die im Armenhaus ihre Kinder zur Welt brächten, ohne den »Trunkenbold« zu kennen, der sich ihnen nur für einen Augenblick genähert hatte. Sie müßten vielmehr zu wahrhaften Müttern werden, die sich um die Erziehung ihrer Kinder kümmerten, so gut sie konnten. Die Frauen der Oberschichten sollten nicht »träge dahinleben« und sich »mit Schminke häßlich machen«, um einige verfrühte Falten zu kaschieren, sondern »soziale Pflichten« übernehmen, die ebenso wie das Gebet Zeichen für »wahre Frömmigkeit« seien.
Von diesem Bewußtsein ihrer »sozialen Pflichten« waren die wohltätigen protestantischen Damen des 19. Jahrhunderts durchdrungen. Zahlreiche Frauen gründeten lokale, regionale und sogar nationale Wohlfahrtseinrichtungen. Unter ihnen ragen einige große Frauengestalten mit internationalem Ansehen hervor: Josephine Butler, die sich für die Prostituierten einsetzte, Elisabeth Fry, die für eine Verbesserung der Situation Strafgefangener Frauen eintrat, und Florence Nightingale, die den Beruf der Krankenschwester entscheidend formte.
Feminismus und Sittlichkeit
Das vielleicht bedeutendste Beispiel für die protestantische Verbindung von sittlichem und sozialem Engagement ist Josephine Butler. Diese Frau aus der Mittelschicht kämpfte ab 1870 gegen die Regulierung der Prostitution, die einige Jahre zuvor in Großbritannien eingeführt worden war. Eine solche Regulierung, gerechtfertigt durch eine beabsichtigte soziale und gesundheitspolitische Kontrolle, machte es den Prostituierten praktisch unmöglich, ihrem Milieu zu entkommen. Die »gestrauchelten Frauen« waren so zur »lebenslänglichen Zwangsarbeit in Schande« verurteilt.
Josephine Butlers Einsatz fand in den protestantischen Kreisen Englands rasch ein großes Echo. Die Zeitschrift The Shield wurde zur Unterstützung ihrer Kampagne gegründet. Auch in anderen Ländern, so etwa in der Schweiz, wo Madame de Gasparin ein Werk mit dem Titel La letre sociale herausgab, fand die Initiative von Butler Nachahmung. 1877 wurde in Genf ein internationales Bündnis zur Abschaffung der Prostitution gegründet. Der französische Zweig nannte sich Französische Liga zur Hebung der öffentlichen Moral und vereinte nicht nur Protestantinnen und Protestanten, sondern auch Freidenker und sogar einige Katholiken beiderlei Geschlechts. Obgleich die Bewegung nicht auf protestantische Kreise beschränkt blieb, war sie stark von dem sittlichen und religiösen Anliegen des Protestantismus geprägt. Auch eine Frau im »Abgrund des Lasters« besaß ein unantastbares Recht auf ihr Seelenheil. Im übrigen war sie zumeist weniger »Schuldige« als »Opfer« der männlichen »Bestialität« und der gesellschaftlich bedingten Not. Der Kampf gegen die regulierte Prostitution wurde im Namen der Heiligen Schrift und der »politischen Bibel« der angelsächsischen Verfassungsprinzipien, der Bill of Rights, geführt. Er zielte gleichzeitig in verschiedene Richtungen, die jedoch nicht ohne Querverbindungen waren. Zum einen ging es um die Freiheit der Frau, die von einer »medizinisch-rechtlichen Tyrannei« und dem »Fetischismus des Staats« bedroht sei, Zum anderen um die Moral des Mannes und die »Heiligkeit« der Familie, denn das »Laster« sei kein »unvermeidbares Verhängnis«. Und schließlich ging der Kampf besonders in Frankreich und der Schweiz manchmal einher mit sozialen Reformbestrebungen. Pastor Tommy Fallot, übrigens auch Begründer der Bewegung für ein soziales Christentum, initiierte in den Jahren nach 1880 einen »Kreuzzug« zugunsten der »versklavten Frau«: Die Hauptursache der Prostitution sei in einer vernachlässigten oder fehlgeleiteten Erziehung, in unzureichenden Löhnen und in den fehlenden staatsbürgerlichen Rechten der Frau zu suchen - kurz, in einer ganzen Reihe »sozialer Ungerechtigkeiten«. Die Liga forderte nicht nur die Geltung des Rechts auch für Prostituierte, sondern zusätzlich eine Neugestaltung der Erziehung und der Gesetzgebung (die Gleichheit staatsbürgerlicher Rechte) sowie einen relativen Wandel »in der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit«. Ein protestantischer Jurist aus der Schweiz, Louis Bridel, trat in diesem Kampf besonders aktiv hervor (La femme et le droit, 1884).
Das Aktionsfeld war sehr weit gesteckt. Heute würde man sagen, daß es eine bestimmte Art von Moralismus und Feminismus umfaßte. So führten der Kampf gegen die »Unzucht« und die Beteuerung, die »Praxis der Unreinheit ist beim Mann ebenso zu verwerfen wie bei der Frau« (Kongreß in Genf, 1877), zur Propagierung »derselben Moral für beide Geschlechter«. Dieses Anliegen paßte auch zu dem anderer Protestantinnen und Protestanten, die mehr »Brüderlichkeit« zwischen den Geschlechtern zu entwickeln suchten. Eine der überzeugtesten Verfechterinnen dieser »Brüderlichkeit«, Madame Piecznynska, erläuterte, daß dieses erreicht werden könne: durch »vernünftige« Sexualerziehung der Jugend, Koedukation, Turnunterricht für Mädchen, durch Aufhebung der Geschlechtertrennung bei der Arbeit. In verschiedenen skandinavischen und angelsächsischen Bildungseinrichtungen war die koedukative Schule Ende des 19. Jahrhunderts bereits Realität. In Schweden gab es sogar Internate, in denen die Koedukation nicht als »Quell der Unmoral« galt, sondern als Mittel, »die Sitten zu heben«.
Zwei internationale Kongresse der Hilfswerke und Einrichtungen von Frauen, die 1889 und 1900 in Versailles stattfanden, waren stark von Protestantinnen dominiert. Madame Legrand-Priestley bemerkte, daß die »Frauenfrage« in Amerika, England, Dänemark und Schweden »unendlich fortgeschrittener« sei als in Frankreich. Diese beiden Kongresse waren in jeder Beziehung repräsentativ für das, was man als protestantischen Feminismus bezeichnen mag. »Ruhe« und »Mäßigung« bestimmten ihren Verlauf. Manche feministischen Forderungen wurden zwar nicht ausgeschlossen, aber die Betonung lag auf dem philanthropischen Engagement. Dadurch übe die Frau ihre »soziale Mission« aus und trage zu einer notwendigen »Annäherung zwischen den Klassen« bei.
Der Kampf um den Zugang zu geistlichen Ämtern
Mittlerweile hatte sich der Feminismus weitgehend zu einer weltlichen Angelegenheit entwickelt und dabei die verschiedenen Einflüsse in sich aufgenommen. Dennoch darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Forderung nach politischen Rechten für die Frau (vor allem nach dem Wahlrecht) und das Verlangen, daß alle Formen protestantischer religiöser Autorität, einschließlich des Pastorenamtes, von beiden Geschlechtern geteilt würden, parallel zueinander liefen. Mit der berühmten Vereinbarung von Seneca Falls (New York) über das »Recht der Frauen« (1848) wurde auch eine Resolution angenommen, die das Ende des männlichen Predigtmonopols zum Ziel hatte. Gefordert wurde, was im Rahmen einer »außergewöhnlichen Berufung« in der Erweckungsbewegung manchmal möglich gewesen war, nun in den protestantischen Kircheninstitutionen zu einer allgemein anerkannten Praxis werden zu lassen. Dabei ging es um die Gesamtheit der geistlichen und seelsorgerischen Befugnisse.
Solche Hoffnungen stießen lange Zeit auf äußersten Widerstand. Nach Meinung der Kirchenobrigkeit gab es weder im Alten noch im Neuen Testament einen einzigen Passus, der nahelege, Gott habe gewollt, daß Frauen das Pastorenamt ausübten. Männer und Frauen täten am besten daran, in dem Bereich zu bleiben, den Gott ihnen zugewiesen habe. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg sollte sich jedoch bald zeigen, wie groß die Macht der von Frauen kontrollierten Organisationen innerhalb der verschiedenen protestantischen Glaubensgemeinschaften (Baptisten, Methodisten, Episkopalisten etc.) war. Vor allem auf dem Gebiet der Missionstätigkeit gelang es ihnen dank ihrer finanziellen, im Norden von den Frauen selbst verwalteten Ressourcen, ihren Einfluß zu verstärken.
Zunächst machte sich das wachsende Gewicht der Frauen im Bereich der Laienarbeit bemerkbar. Warum hatten die Protestantinnen nicht ebenso an der kirchlichen Macht teil wie die männlichen Laien? Seit den 1880er Jahren wurden Frauen in Kirchengemeinden oder regionalen Synoden als Delegierte zu Konferenzen oder allgemeinen Synoden gewählt. Gleichzeitig verweigerte man ihnen jedoch das Recht, bei diesen Versammlungen öffentlich zu sprechen. Bestenfalls erhielten sie ein paar Minuten Redezeit. Um die Jahrhundertwende billigten einige Kirchen dann schließlich sämtlichen Laiendelegierten unabhängig von ihrem Geschlecht dieselben Rechte zu.
Das Thema der Kanzelpredigten wurde ernstlich ab den 1870er Jahren angesprochen. Bei den Quäkern gab es traditionellerweise Predigerinnen. Eine von ihnen, Sarah Smiley, wurde in jenen Jahren eingeladen, in presbyterianischen Kirchen zu predigen, beispielsweise in Brooklyn. Die Frauenrechtlerin Anna Howard Shaw, die ihren akademischen Abschluß an einer der theologischen Fakultäten Bostons gemacht hatte, erhielt die Erlaubnis, in methodistischen Kirchen zu predigen. Einige andere Frauen drängten mehr oder weniger erfolgreich in diese von den Aktivistinnen geschlagene Bresche. Um Erfolg zu haben, mußte man mit der Autorität eines Mannes und der Bescheidenheit einer Frau sprechen! Frances Willard, Vorsitzende der Temperenzler-Liga christlicher Frauen, erörterte dieses Problem in ihrem 1888 erschienenen Werk Woman in the Pulpit.
In Amerika kam es trotz aller Schwierigkeiten zu gewissen Fortschritten. In Europa dagegen gab es keine vergleichbare Entwicklung. Hier scheint erst der Erste Weltkrieg dem Ruf nach einem »weiblichen Pastorenamt« Gehör verschafft zu haben. Tatsächlich führten Dauer und Ausmaß des Krieges zu längeren Abwesenheiten von Pastoren, die an der Front waren, und es entstand eine neue Nachfrage nach Predigern. Zwar waren die Probleme nahezu überall die gleichen, doch am besten dokumentiert ist die Situation in Frankreich, dank einer Untersuchung durch Madame Witt-Schlumberger (Präsidentin der französischen Vereinigung für das Frauenwahlrecht). Durch die Einberufung eines hohen Prozentsatzes von Pastoren entstanden gravierende Lücken in den Kirchengemeinden. In einer allgemeinen Atmosphäre von Opfermut und Mobilisierung gemeinschaftlicher Energien (also ohne eine ausdrücklich politische Agenda) übernahmen Pastorenfrauen die Aufgaben ihrer Ehemänner. Diese notwendige Grenzüberschreitung verunsicherte sie manchmal, meistens waren sie gleichermaßen schockiert und fasziniert.
Drei verschiedene Szenarien traten zutage. Zunächst die teilweise Stellvertretung: Die Pfarrfrau war zuvor bereits mit dem Amt ihres Mannes verbunden gewesen und führte nun allein durch, was sie zuvor unter seiner Autorität getan hatte. Sie mochte auch einige neue Verantwortlichkeiten übernehmen, die mit ihrem Status als Frau nicht unvereinbar erschienen. So gewährleistete sie den Religionsunterricht, übernahm den Vorsitz bei diversen religiösen Zusammenkünften der Gemeindeglieder, leitete Jugendgruppen, besuchte Kranke, leistete den Armen Beistand etc. Predigten und geistliche Amtshandlungen wurden im allgemeinen jedoch von einem zumeist älteren und somit nicht eingezogenen Pastor einer Nachbarpfarrei übernommen. Diese Situation war zweifelsohne die häufigste.
Die zweite Möglichkeit bestand darin, daß die Frau für eine Übergangszeit die volle Stellvertretung ihres Mannes übernahm und dessen Funktionen nahezu vollständig erfüllte. Nachdem sie anfänglich vielleicht alte Predigten ihres Mannes vorgelesen haben mochte, kam sie zu der Ansicht, man müsse »sich direkter an die Seelen der Gemeindeglieder« wenden. Sie begann also selbst zu predigen, wenngleich nicht ohne heftige Bedenken. Die Not brachte manche der Frauen schließlich auch dazu, »pastorale Handlungen« zu vollziehen, so zum Beispiel Trauungen und Beerdigungen. Übrig blieb lediglich das Spenden der Sakramente. Die erwähnte Untersuchung schweigt sich darüber größtenteils aus, aber andere Hinweise legen nahe, daß selbst die beiden protestantischen Sakramente (Taufe und Abendmahl) in aller Diskretion zuweilen auch von Frauen gespendet wurden. Auch wenn es dafür keinerlei theologische Rechtfertigung gab, blieben die Sakramente in den meisten protestantischen Kirchen die letzte Bastion des Heiligen, die sich die Frauen noch erobern mußten.
Letzte Möglichkeit war schließlich die Einnahme der Pastorenstelle durch die Pfarrfrau und anschließende Einführung von Neuerungen im Gemeindeleben. Eine Interimsvertretung setzte Kontinuität voraus. Aber konnten sich die Frauen, die sich ihrer eigenen Persönlichkeit bewußt geworden waren und mit einer wenig alltäglichen Situation konfrontiert sahen, damit zufriedengeben? Die religiöse Botschaft mußte sich auf die schweren Zeiten, deren Not und Bedrängnis einstellen. Neue Tätigkeitsfelder bei der Betreuung von Einberufenen, Verwundeten und deren Familien wurden eröffnet. Der generelle Kurs der Pfarrei konnte sich dadurch schließlich in eine neue Richtung entwickeln. Bei seiner Rückkehr fand der Pastor manchmal eine veränderte Kirchengemeinde und eine Ehegattin vor, die ihre Befähigung zum Pastorenamt bewiesen hatte. Auf lange Sicht blieb das nicht ohne Folgen.
Für protestantische Frauen war das 19. Jahrhundert im weitesten Sinne eine Periode des Wandels. In Verbindung mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung veränderte sich, je nach Land, gesellschaftlicher Klasse und Konfession unterschiedlich, deren Stellung beträchtlich. Zahlreiche Frauen trugen aktiv zu diesen Umwälzungen bei. Der Kampf um die Zulassung der Frauen zum Pastorenamt wurde zwar bis 1914 nicht gewonnen, aber die Tatsache, daß der Kampf eröffnet wurde, war bereits ein wichtiger Schritt.
Aus dem Französischen von Gabriele Krüger-Wirrer