Die Widersprüche des Gesetzes

Juristischer und moralischer Diskurs wirken zusammen, um männliche und weibliche Sphären vernunftgemäß gegeneinander abzugrenzen. Als symbolisches Steuerungsinstrument legt das Recht die Normen einer Gesellschaft fest und bestimmt die gesellschaftlichen Rollen. Kann man die Erfolge der Frauen auf diesem besonders exponierten Gebiet der Auseinandersetzung als historischen Wandel der Geschlechterbeziehungen ansehen? Das Recht, dieser Schauplatz interner Auseinandersetzungen, stößt bei seiner Umsetzung auch auf mentalitätsbedingten Widerstand, auf Unwissenheit oder das Desinteresse, das die meisten Menschen allem Juristischen entgegenbringen, so daß dieser Bereich ganz und gar von den Fachleuten als ihr eigenes Revier beansprucht wird. Das Kräfteverhältnis zwischen Frau und Mann ist Teil eines Wechselspiels, einer gegenseitigen Durchdringung gesellschaftlicher und rechtlicher Systeme, und kann vielleicht sogar als zentraler Widerspruch gelten.
Seit Aristoteles ist das Prinzip juristischer Gleichheit mit der Behauptung konfrontiert, daß gewisse Ungleichheiten naturgegeben seien. Zu den angeblich naturbedingten Unzulänglichkeiten der Frauen gehörten körperliche Unterlegenheit und mangelnde Urteilskraft. Die vorherrschende Rechtstheorie im 19. Jahrhundert gründete sich auf den freien Willen des Individuums. Doch in Frankreich war die Gesetzgebung eine autoritäre. Eine solche Fiktion des autonomen Willens, vom individualistischen Liberalismus propagiert, brachte das Konzept in Umlauf, die Frau befürworte einen Status, der sie zu einem abhängigen Wesen mache. Sie könne nur als Tochter, Gattin oder Mutter existieren, in sekundären Gestalten also, die allein durch ihre Beziehungen zum Manne, dem einzigen wirklichen Rechtssubjekt, definiert waren. Das Recht jedoch mußte seinen Diskurs und sogar seine Inhalte an die Evolution der Sitten anpassen, die mit den ökonomischen und politischen Umwälzungen verbunden war. Daher versuchten die Juristen, die ungleiche Behandlung der Geschlechter mit der Behauptung zu legitimieren, die Frauen wünschten im Grunde, vor sich selbst beschützt zu werden. Dabei deuteten sie die Möglichkeit von Reformen an, wenn die Frauen einmal soweit wären, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu regeln (von denen man sie jedoch von Anfang an fernhielt). Es ist daher verständlich, daß die Frauen, indem sie ihre Rechte einklagten, zugleich versicherten, ihr einziges Ziel sei es, bessere Ehefrauen und Mütter zu werden.
So traten neue Widersprüche zutage. Gewiß blieben die meisten Frauen dem Idealbild verhaftet, das man ihnen als Spiegel vorhielt der Verkörperung von Sanftmut und Mitleid -, einer Vorstellung von der bürgerlichen Ehefrau und Mutter, die die Sphäre des Rechts als natürliche Domäne ihres Ehegatten auffaßt. Die Macht der Gewohnheit drängte wohlhabendere Frauen kaum dazu, einen Status aufzugeben, der ihnen lebenslange Sicherheit versprach. Als sie sich gegen Ende des Jahrhunderts in manchen Lebensbereichen emanzipierten, geschah dies größtenteils, um bestimmte ihnen auferlegte Zwänge und Verhaltensvorschriften abzuschütteln. Das Desinteresse, das die Mehrheit der Frauen, nämlich die Frauen aus dem Volk, für das Recht - das ohnehin nicht für ihresgleichen konzipiert war - bekundeten, war auf ihre soziale Situation zurückzuführen. Niedergedrückt von ihrer schweren Arbeit, früh bereits verbraucht, waren sie im wesentlichen bloße Manövriermasse und oft die Opfer der weitreichenden ökonomischen Umwälzungsprozesse. Was kümmerte es sie, daß sie nicht wählen oder einen Besitz verwalten konnten, den sie sowieso nicht hatten?
Während das Gesetz die verheiratete Frau mit seinem willkürlichen Schutz geradezu bedrängte, war die Frau, die außerhalb einer Familiengemeinschaft lebte, ganz auf sich selbst gestellt. So standen Frauen inmitten der rechtlichen Ambivalenzen; eine Folge der Kluft zwischen dem juristischen Diskurs und der sozialen Realität, über die er gebieten wollte. Welche Rechte hatten Frauen im 19. Jahrhundert? Wie sollten sie diese innerhalb der Familie, dem Zentrum der Geschlechterbeziehungen und der Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung, also am Kreuzungspunkt zwischen öffentlicher und privater Sphäre, ausüben?

Der vorenthaltene Bürgerstatus

Einen Platz im staatlichen Gemeinwesen einzunehmen heißt, durch das Wahlrecht an der allgemeinen Herrschaft teilzuhaben und erfordert das Recht auf Bildung, auf Arbeit und auf den Schutz durch das Gesetz.

Bürgerin oder Frau und Tochter eines Bürgers?
Mittels ihrer politischen Rechte können die Bürger Einfluß auf die Prioritäten des Staats nehmen und öffentliche Ämter ausüben. Das Wahlrecht kann ein nationales (föderales), kommunales oder ein auf bestimmte Ämter beschränktes sein. Aufgrund dieser Hierarchie gelang es den Frauen allmählich, ihre volle Staatsbürgerschaft zu erlangen. Am Ende des 18.Jahrhunderts war keine Frau politisch gleichberechtigt; kurz nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Mittel- und Südamerika, in Griechenland, Österreich, Italien, Spanien und in der Provinz Quebec immer noch keine Frauenemanzipation. In Frankreich dauerte es noch bis 1946 und in der Schweiz gar bis 1971, um Frauen das Wahlrecht zu erkämpfen. Hundert Jahre Kampf und über 82 »Volksabstimmungen« waren in der Eidgenossenschaft dafür nötig!
Die Französische Revolution hatte erstmals die Frage der rechtlichen und politischen Stellung der als Individuum anerkannten Frau in der Bürgerschaft aufgeworfen. Historisch betrachtet ist das Verhalten der Männer an der Macht entmutigend. Das Trauma, das dadurch entstanden war, daß Frauen eine Bresche in das Monopol der Männer schlugen, nährte und erregte reaktionäre politische Debatten während des gesamten 19. Jahrhunderts, vor allem im Hinblick auf den juristischen Diskurs. Frauen, denen man bereits eine Rechtspersönlichkeit zuerkannt hatte, zahlten nun anscheinend den Preis für das entstandene subversive Bild der Revolutionärin, die sich in Paris widerrechtlich
einen Raum eroberte, der den Männern vorbehalten bleiben sollte. Der Ausschluß des weiblichen Geschlechts aus der Politik fällt zusammen mit dem Ausschluß der unteren Gesellschaftsschichten: Beide störten die neue bürgerliche Ordnung. Medizinische und religiöse Lehrmeinungen schürten die Angst - die sich auch in juristischen Texten niederschlug -, die Frauen ließen sich nicht mehr bändigen, wenn sie einmal an die Macht gekommen seien. Die Frage, warum die Frauen von der Politik ausgeschlossen blieben, erfordert eine komplexe Antwort, die an die Fundamente der Geschlechterbeziehungen rührt. Jede der vorgebrachten Meinungen konnte sich einerseits als Schutz der als äußerst empfindsam charakterisierten Geschöpfe darstellen und zugleich die irrationale Furcht verraten, die man angesichts jener weiblichen Macht empfand, die erahnbar wurde. In Ländern, die eine Trennung zwischen Kirche und Staat praktizierten, befürchtete man außerdem, daß die Frauen den Konservativen Stimmen bringen würden eine Folge ihrer Verbannung in die Bereiche des Privaten und der Kirche. Doch selbst wenn das Recht die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter rational zu begründen suchte, mußte der Ausschluß der Frauen - der Hand in Hand ging mit ihrer Verherrlichung als Mutter, Muse oder Madonna - im Rahmen der neuen öffentlichen Ordnung in einen neuen Zusammenhang gebracht werden.
Im Europa der Feudalzeit konnten Frauen in Adelskreisen ihre Repräsentanten ernennen. Doch bei diesem Recht handelte es sich weniger um ein politisches Recht als um einen Effekt des Eigentumsrechts.
Vom 18. Jahrhundert an wurden feministische Forderungen im allgemeinen von einer kühnen und im öffentlichen Leben engagierten Avantgarde artikuliert, von gebildeten Frauen aus dem mittleren und Kleinbürgertum. Die Arbeiterinnen sahen in der Lohnarbeit keine Befreiung, sondern nur eine zusätzliche Ausbeutung, und die aufkommende sozialistische Bewegung kämpfte in erster Linie für die soziale Revolution und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Da die Frauen an der Erarbeitung von Gesetzen nicht beteiligt waren, konnten sie nur versuchen, durch Demonstrationen, Petitionen und Zeitungsartikel überzeugend auf diejenigen einzuwirken, die diese Gesetze verabschiedeten. Sie suchten sich Verbündete bei politischen und religiösen Gruppierungen. So schlössen sie sich in Frankreich mit Freidenkern, den Freimaurern und Republikanern zusammen. In Deutschland spielten die Freikirchen eine große Rolle. Im allgemeinen kann man sagen, daß in Europa laizistische Demokraten, Republikaner und Linksliberale sie in ihrem Anliegen unterstützten.
Die ersten Frauenforderungen wurden in Frankreich gleichzeitig mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1848 erhoben. Man schenkte ihnen jedoch kein Gehör, und Pierre Leroux wurde ausgepfiffen, als er das Kommunalwahlrecht für Frauen forderte.[1]

(Zur Erläuterung der Abkürzungen im Fußnotentext ein Beispiel: S. 1898.143, Cass, 18. Juli 1898, bedeutet: Urteil des Französischen Kassationshofs, Zivilkammer(Strafrechtskammer = cass. crim.), zit. in Recueilgeneral des lois et des arrets, gegründet von J.-B. Sirey.Die Angaben stehen in der Reihenfolge: Jahr des Bandes, Teil, Seite, Art des Gerichts, Datum des Erlasses.D.1898.1.43, Cass, 18.Juli 1898: Urteil mitgeteilt im Recueil Dalloz; D.P. bedeutet Dallozperiodique.S.1898.2.56, Paris, 13. Mai 1898 = Urteil des Pariser Berufungsgerichts. S.1898.3.C.E., 1. März 1898 = Urteil des französischenStaatsrats.)

Auch als 1879 endgültig die Republik errichtet wurde, wies man die Forderungen der Frauen weiterhin ab, da die Regierung angeblich nicht stabil genug für einen solchen radikalen Wandel war. Gegen Ende des Jahrhunderts hatten die Frauen begriffen, daß sie sich nur noch auf sich selbst verlassen konnten. Sie spalteten sich in Radikale, die nach vollständiger Gleichberechtigung strebten, und Gemäßigte, die, ausgehend von der »Komplementarität« der Geschlechter, der Ansicht waren, man müsse Frauen zunächst auf die Ausübung öffentlicher Rechte vorbereiten. (Für Männer war nirgendwo etwas vergleichbares verlangt worden.) Die Bewegung für das Frauenstimmrecht erfreute sich  keiner großen Popularität, und Hubertine Auclert konnte keinen einzigen wirklichen Erfolg verzeichnen. Auch die Versuche von Frauen, sich in Wählerlisten einzutragen, stießen auf wenig Sympathie. Von den Parlamenten abgewiesen, versuchten es die Frauen vor den Gerichten. Sie argumentierten auf der Grundlage der Gesetzestexte, die das neutrale Maskulinum verwendeten, und schlugen vor, dieses neutrale Maskulinum auf alle Bürger auszudehnen. Auch dieser Vorstoß blieb vergebens.[2] Im übrigen zögerten die Richter nicht, einer »Kupplerin«[1] und einer nicht registrierten Zeitungsverkäuferin per Gerichtsurteil die politischen Rechte abzuerkennen, obwohl sie diese gar nicht besaßen.[4] Zur Lösung dieses Problems bediente sich ein berühmter Jurist einer juristischen Konstruktion. Er unterschied zwischen ungültigen und nichtexistierenden Rechtshandlungen; das erlaubte ihm eine Trennung zwischen Fällen, in denen die Ungleichheit anfechtbar war, und solchen, in denen sie eklatant zutage trat: Eine Frau sei ein »nicht existierender Bürger, der nicht einmal die Substanz eines Bürgers hat(...) das Geschlecht eines Kandidaten ist nach der Gewohnheit unserer Sitten eine Tatsache, deren Feststellung zu keinerlei Disput Anlaß gibt«.[5]
Das Jahr 1914 begann in Frankreich vielversprechend. Die Frauenbewegung hatte sich aus taktischen Gründen zusammengeschlossen; 300 Abgeordnete waren ihr wohlgesonnen. Dann aber waren die Parlamentarier plötzlich mit anderen Dingen beschäftigt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde den Französinnen das Wahlrecht zugestanden, ohne daß dazu die Legislative noch befragt worden wäre.
Sämtliche romanischen Länder mit katholischer Tradition opponierten vehement dagegen, den Frauen politische Rechte zuzuerkennen. In Ländern dagegen, in denen ein im wesentlichen protestantisch geprägter moralphilosophischer Liberalismus herrschte und insbesondere dort, wo die Quäker Einfluß hatten, konnten die Frauen weitaus schneller lokale politische Macht erlangen. Das war in England der Fall und stärker noch in seinen ehemaligen Kolonien. In England kann man die Reform Bill von 1832 als Ausgangspunkt für die Suffragettenbewegung ansehen. In diesem Gesetz wurde anstelle von male der Begriff person verwendet, um für das Zensuswahlrecht neue Wählerkategorien zu bilden. Im Jahre 1835 aber war in der Wahlordnung für Stadträte wieder von males die Rede; damit nahm man den Frauen die Rechte, die ihnen in einigen Kommunalverfassungen bereits zuerkannt waren. 1851 berichtete John Stuart Mill in der Westminster Review über die Vereinbarung von Worcester, die 1850 in den Vereinigten Staaten zustande gekommen war. Im selben Jahr richtete die Frauenvereinigung von Sheffield die erste Petition zum Frauenstimmrecht an das Oberhaus. Bis 1873 kam es im Parlament zu heftigen Agitationen, die sich um die Veröffentlichung von Mills einflußreicher Schrift Die Unterwerfung der Frauen (1869) kristallisierten. Als gewählter Abgeordneter machte Mill sich im Unterhaus zum Sprecher der Frauen. Als sein Antrag auf Gesetzesänderung zurückgewiesen wurde, verstärkte sich die Agitation. Waren die Frauen steuerpflichtig, übten sie auf lokaler Ebene die gleichen Funktionen aus wie Männer, vor allem in den Bereichen Hygiene, Fürsorge, Schulbildung und in der Pfarrgemeinde. Sie durften offizielle Urkunden ausstellen und hatten verantwortungsvolle Posten inne, besonders in der Kommission für die Londoner Armenhäuser. Doch der Forderung nach dem Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene setzte das Parlament hartnäckigen Widerstand entgegen. Als man das Stimmrecht in den Grafschaften, das in den Marktflecken bisher lediglich Gutsbesitzer und Pächter innegehabt hatten, auf sämtliche männlichen Familienoberhäupter erweiterte, fühlten sich die Frauen obendrein durch ein Gesetz beleidigt, das analphabetischen Landarbeitern das Wahlrecht einräumte, es ihnen selbst jedoch verweigerte. Gleichwohl gelang es den Britinnen im Laufe der Jahre, bedeutende Rechte zu erringen: das Stimmrecht bei Stadtratswahlen (1869, in Schottland 1882), aktives und passives Wahlrecht in den School Boards (Schulbehörden) und Boards of Guardians (Vormundschaftsämtern), das Stimmrecht in den County Councils (Grafschaftsräten), in denen sie ab 1907 auch gewählt werden konnten. Aus Erbitterung über die anhaltende Verweigerung des nationalen Stimmrechts wandten sich die Feministinnen, vor allem die des Mittelstands, einer gewaltsameren Taktik zu. Im Jahre 1903 gründete Mrs. Pankhurst die Women's Social and Political Union. Die 1906 konstituierte Labour Party wollte dagegen wie alle sozialistischen Parteien zuvorderst soziale Ziele durchsetzen. Als die Konservativen erneut ins Parlament kamen, verschärften sie die Repressalien gegen die Suffragetten (Black Friday, 1911). Bis 1914 wurden militante Feministinnen immer wieder eingesperrt (Cat and Mouse Act). 1913 wurde zum letzten Mal ein Gesetzentwurf zum Frauenstimmrecht - es war der fünfzigste - abgelehnt. In den im Jahr 1900 zum australischen Staatenbund zusammengeschlossenen Gebieten gab es bereits ab 1867 das kommunale Wahlrecht. Im Jahre 1895 stimmten die Frauen in zahlreichen kommunalen Parlamenten und ab 1902 erhielten sie das aktive und passive Wahlrecht auf Bundesebene. Dieselben Rechte wurden Grundeigentümerinnen in Neuseeland 1886 und 1893 zugestanden. In Kanada entfalteten die Frauen zwar rege philanthropische Aktivitäten, aber die Wahlrechtsbewegung war noch wenig fortgeschritten. Stimmrecht besaßen sie jedoch auf kommunaler und schulbehördlicher Ebene, wo sie mit gewissen Einschränkungen auch gewählt werden konnten.
In Amerika - ein Vorbild, dem die Frauen in Europa und vor allem die Britinnen nacheiferten - wurde eine andere Strategie eingeschlagen. Im Westen eröffnete der herrschende Pioniergeist den Frauen notwendigerweise eine herausgehobene Stellung. Um 1850 bemühte sich ein reformerischer Feminismus, alle Institutionen auf der Basis von
Gleichberechtigung und Zusammenarbeit neu aufzubauen. Die breit entfaltete mittelständische Clubkultur trug entscheidend dazu bei, den bürgerlichen Status der Frauen zu verbessern, auch wenn die Trennung der Geschlechter weiter fortbestand. Seit den Anfängen der amerikanischen Union hatten Frauen das Wahlrecht gefordert, doch 1808
wurde es allein den Männern vorbehalten. Allerdings blieb jeder Staat in seiner eigenen Gesetzgebung souverän. Die Suffragettenbewegung entstand in New York. Um 1833 verbanden die Feministinnen ihre eigene Sache mit der der Schwarzen. Der amerikanischen Delegation wurde jedoch - aufgrund ihres Geschlechts - die Teilnahme an der
Anti-Sklaverei-Konferenz in London verweigert. Frauen knüpften alsbald Kontakte zur Presse. Der erste internationale Frauenkongreß fand im Jahre 1850 in Worcester (Massachusetts) statt. Im Anschluß an den Bürgerkrieg mußten die Frauen, die für die Rechte der Sklaven gekämpft hatten, mitansehen, wie man diesen neuen Bürgern politische Rechte zuerkannte, die ihrem eigenen Geschlecht hartnäckig vorenthalten wurden. Sie gaben sich nicht mehr mit dem Einfluß zufrieden, den sie in kommunalen Gremien, in Fragen der Fürsorge und des Schulwesens sowie in manchen steuerlichen Bereichen (besonders wenn es um die Lizenzen zum Verkauf alkoholischer Getränke ging) hatten. Von 1870 an intervenierten Frauen beharrlich in den Versammlungen der einzelnen Bundesstaaten und im Kongreß: Die Damen aus Boston von Henry James zeigt die männlichen Reaktionen auf die feministische Entschlossenheit in ebenso ambivalenter wie faszinierender Weise.
Um die Verfassung zu ändern, gab es zwei mögliche Wege: die Bundesebene (Annahme durch beide Kammern des Kongresses und drei Viertel der Bundesversammlungen oder der Repräsentanten der einzelnen Staaten) oder die kommunale Ebene (Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit der lokalen Gesetzgeber und Bestätigung durch einen
Volksentscheid). Sämtliche Versuche scheiterten aus verschiedenen Gründen. Vor allem die Volksabstimmungen waren, trotz ansonsten beeindruckender Mehrheiten für das Frauenwahlrecht, überall negativ. Gastwirte und Schnapsbrenner, die sich durch den energischen Kampf, den Frauen gegen die Verheerungen des Alkoholismus führten, bedroht fühlten, hetzten die Menge gegen die Feministinnen auf. Immerhin erzielten die Temperenzlergesellschaften mit ihren veritablen sozialen Kreuzzügen auch in Europa großen Widerhall. Die Frauen fanden Verbündete bei den Abgeordneten aus bereits lange im Land verwurzelten Familien. Wyoming schlug als erstes eine Bresche: Das Frauenwahlrecht war eines der Mittel, um das nötige Quorum zu erreichen, das für die Bildung eines selbständigen Bundesstaates erforderlich war. Seit 1869 wurde Wyoming den europäischen Zeitungslesern als Modell, als Versuchslabor und Kuriosität vorgestellt. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatten die Amerikanerinnen in zahlreichen Bundesstaaten, vor allem im Westen, ihre politischen Rechte erobert. Fast überall besaßen sie für sämtliche öffentlichen Funktionen das aktive und passive Wahlrecht. Auf kommunaler Ebene war ihre aktive Partizipation häufig der Grund für die Durchsetzung humanitärer Gesetze. 1889 gab es nur noch zwölf Staaten, die Frauen von Abstimmungen in Schulangelegenheiten ausschlossen. Da kein Gesetz es verbot, daß eine Frau Präsidentin wurde, war die Freude französischer Kommentatoren grenzenlos, als 1884 »eine hübsche vierzigjährige Witwe, Rechtsanwältin, auf dem Fahrrad strampelnd, Aktenmappe und Tabaksdose unter dem Arm (...) mit Silberhaaren und Goldbrille«, einen dynamischen Wahlkampf führte. Allerdings ließen die Kommentare keinerlei Zweifel über die wahre Geisteshaltung der französischen Männer: Man machte sich lustig, spürte aber auch bereits eine gewisse Beklemmung angesichts der Tatsache, daß in diesen neuen Rollen keine vermännlichten Ungeheuer zu sehen waren, sondern Frauen, die alle erforderlichen weiblichen Qualitäten besaßen. Hatte die fragliche Dame nicht »nähen, stricken, waschen, bügeln, Brot backen und sich allein frisieren gelernt, bevor sie das Alphabet beherrschte«?[6]
Um 1890 begann eine dritte Phase, die schließlich zur Zulassung von Frauen in Parlamentsausschüsse und sogar ins Parlament selbst führte, wo sie ihre Anliegen und Beschwerden vorbringen konnten. Berühmte Rednerinnen taten sich im Kampf um Gleichberechtigung hervor, darunter insbesondere die damals fünfundsiebzig Jahre alte Mrs. Stanton. Die neunzehnte Verfassungsänderung von 1919 gestand den Frauen schließlich uneingeschränkte Bürgerrechte zu.
In Nordeuropa machten die isländischen Frauen ihr Land zu einer der ersten Hochburgen des Feminismus, nachdem es im Jahre 1872 die staatliche Unabhängigkeit erlangt hatte. 1882 bekamen sie das Stimmrecht bei Kommunalwahlen, ab 1902 konnten sie auch selbst als Kandidatinnen aufgestellt werden; die vollen Bürgerrechte wurden 1915 zunächst Frauen über vierzig, 1920 schließlich allen Frauen zuerkannt. In Schweden standen den Frauen Stadt- und Gemeinderäte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts offen. Ab 1909 waren sie wählbar, 1924 erhielten sie die volle politische Handlungsfähigkeit. In Dänemark, wo auch die Landbevölkerung bemerkenswert aufgeklärt war, durften Frauen ab 1883 bei Kommunalwahlen abstimmen, bei Parlamentswahlen ab 1915.
Norwegen war die erste europäische Nation, die die politische Gleichberechtigung einführte. Die feministische Bewegung hatte hier im Jahre 1830 ihren Anfang genommen. Das allgemeine Wahlrecht wurde 1910 zuerkannt. Damit erfreuten sich die Norwegerinnen sämtlicher Bürgerrechte. Von 1912 an konnten sie in alle Staatsfunktionen gewählt werden, mit Ausnahme des königlichen Rats, dem Kreis der kirchlichen Würdenträger, der Diplomatie und bestimmten anderen, den Männern vorbehaltenen Posten. In Finnland, das in der Mitte des 18. Jahrhunderts an Rußland angeschlossen worden war, kämpften die Frauen gegen den Zaren. 1906 wurde der finnische Reichstag von beiden Geschlechtern nach allgemeinem Wahlrecht gewählt. Die Macht dieser Versammlung war zwar begrenzt, aber immerhin gehörten ihr 1910 neunzehn Frauen an.
Wie bereits erwähnt, waren die Errungenschaften der Frauen in den romanischen und germanischen Ländern mager, und das römische Recht hatte seine Spuren hinterlassen. Zieht man das Beispiel Frankreich heran, das in keinem Fall außergewöhnlich ist, kann man folgende Bilanz aufstellen: ab 1880 konnten Frauen die Mitglieder des Conseil superieur de l'Instruction publique (Oberster Rat des Erziehungsministeriums) wählen; ab 1886 besaßen sie das aktive und passive Wahlrecht für die Conseils departementaux de l'enseignement primaire (Departementsräte
für das Grundschulwesen), ab 1898 für den Conseil superieur de la mutualite (Oberster Rat der Versicherungsgesellschaften), ab 1903 für den Conseil superieur du travail (Oberster Rat des Handelsministerium), ab 1905 für die Commissions communales d'assistance (Kommunaler Ausschuß der öffentlichen Fürsorge), ab 1905 für den Conseil superieur du conservatoire (Oberster Rat des Konservatoriums), für den Conseil de prudhommes (Paritätischer Arbeitsschiedsausschuß; aktives Wahlrecht 1907; passives Wahlrecht 1908), ab 1908 für die Chambres consultatives des Arts et Manufactures (Interessenverband der Industrieberufe). Geschäftsfrauen konnten allerdings erst ab 1898 die Mitglieder der Kammer für Handelsangelegenheiten wählen.
Hinzuzufügen ist, daß es auf dem europäischen Kontinent, vor allem in den Ländern, die unter römischer Herrschaft gestanden hatten, weitere sogenannte »männliche« Funktionen gab, die Frauen nicht ausüben durften. Dabei handelte es sich um Ämter, die zwar nicht direkt erforderten, daß man in das öffentliche Leben trat, aber doch zumindest, daß man den häuslichen Bereich verließ. 1792 wurden Frauen in Frankreich als Zeugen zugelassen, doch bereits 1803 wurde ihnen dieses Recht wieder entzogen. In krassem Widerspruch dazu wurden Frauen jedoch weiterhin von der Justiz als Zeuginnen benannt. So konnte man etwa, wenn man keine Geburtsurkunde besaß, eine eidesstattliche Versicherung beibringen, die von einem Richter ausgestellt und von sieben männlichen oder weiblichen Zeugen bestätigt wurde.
Am Ende einer zehnjährigen Kampagne führte der Antrag auf eine diesbezügliche Gesetzesänderung 1897 schließlich zum Erfolg. Ähnliche Modifikationen erfolgten 1877 in Italien, 1897 in Genf und 1900 in Deutschland. Österreich ließ weibliche Zeugenschaft zu, wenn es darum ging, auf hoher See ein Testament aufzusetzen, Spanien gestattete dies zu Zeiten großer Epidemien.
Lange Zeit blieben Frauen von Geschworenengerichten ausgeschlossen, mit Ausnahme einiger amerikanischer Bundesstaaten. Ebensowenig konnten sie als Vormund oder Treuhänder eingesetzt werden. In Frankreich gestand man ihnen im Jahre 1907 das Recht zu, die Vormundschaft für ihre eigenen Kinder zu übernehmen. Allerdings hatte
man bis dahin ohnehin festgelegt, daß dies ihre natürliche Bestimmung sei: Eine Frau ohne staatsbürgerliche Rechte war gerade gut genug für ein uneheliches Kind. 1917 befähigte sie ein Ausnahmegesetz auch zu anderen Vormundschaften, die nicht kraft des Gesetzes eintraten. In Deutschland wurden die Beschränkungen weiblicher Vormundschaft 1900 aufgehoben, in Belgien 1909, in den Niederlanden und der Schweiz 1901. Das vorherige Verbot hatte unter anderem auch bedeutet, daß Frauen im Familienrat ohne Stimme waren.

Doppelte Unterdrückung:
Die Ungleichheit in Bildung und Arbeit

Es wäre ein Anachronismus, das Problem mit Begriffen wie Recht auf Arbeit oder Recht auf Bildung anzugehen. Überall jedoch war angemessene Schulbildung für Mädchen eine der grundlegenden feministischen Forderungen. Die französischen Revolutionäre hatten ihr egalitäres Programm nicht umsetzen können. Ein nicht zwingendes Gesetz
vom 28. Juni 1836 forderte die Kommunen auf, Mädchenschulen zu eröffnen. Doch die meisten Bürgermeister hielten sich lieber an die Tradition und begnügten sich mit den kirchlichen Schulen, deren Personal sie nicht bezahlen mußten. Erst das Gesetz Falloux vom 15. März 1850 und vor allem das Gesetz Duruy vom 10. April 1867 verpflichteten jede Gemeinde mit über 500 Einwohnern dazu, eine Grundschule für Mädchen einzurichten. Von 1863 an versuchte man, auch höhere Schulen zu organisieren. Das Gesetz vom 8. August 1879 begründete 67 Normalschulen für Frauen; das Gesetz Camille See vom 21. Dezember 1881 beschloß die Einrichtung von Realschulen und Gymnasien für Mädchen; 1883 folgte die Hochschule für die Ausbildung von Gymnasiallehrerinnen in Sevres. Erst 1925 wurde endlich die gleiche Schulbildung für Jungen und Mädchen gesetzlich festgelegt.
Im romanischen Sprachraum Europas war die Frauenbildung auch ein Streitobjekt im Machtkampf zwischen Kirche und Staat. In Deutschland und in England fand das Grundschulwesen wenig Anklang, höhere Schulen und Hochschulen waren im wesentlichen privat, wie auch in den Vereinigten Staaten. Dort wurde allerdings der gemischte Volksschulunterricht sehr früh organisiert. Rußland konzentrierte sich auf die Bildung des Bürgertums. Als die Universitäten den Töchtern der Bourgeoisie aus politischen Gründen verschlossen blieben, fanden sich russische Frauen zusammen mit anderen begüterten Europäerinnen an der Züricher Universität ein. Die Notwendigkeit, die Frauen durch höhere Bildung auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu machen, wurde von nur wenigen Familien empfunden oder zumindest nicht umgesetzt, wenn nicht gar gänzlich verworfen. Die Zulassung zu Prüfungen und Universitäten sorgte in den aufgeklärtesten bürgerlichen Milieus Europas weiterhin für Konflikte.
Hinsichtlich der Arbeitsgesetzgebung ist wichtig, daß eine der goldenen Regeln des liberalen Staats im 19. Jahrhundert lautete, sich nicht in das Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern einzumischen. Doch im letzten Drittel des Jahrhunderts begann Europa den Sozialstaat zu entdecken. Es entstanden sozialreformerische Initiativen, die die Ausbeutung von Frauen und Kindern in der Industrie anprangerten und sich für Gesetze zu deren Schutz einsetzten. Feministinnen protestierten im Namen der Gleichheit gegen solche potentiell diskriminierenden Maßnahmen, die auf dem Geschlechterunterschied beharren, die Frau in ihrem historischen Status als Unmündige belassen und ihre Arbeitsmöglichkeiten einschränken wollten. Zugleich schürten sie damit Ressentiments bei den Arbeitern, die die Frauen als Konkurrenz fürchteten und vom Arbeitsmarkt zu verdrängen suchten. Sicher verrieten die Männer damit ihren Wunsch, die Frau am heimischen Herd zu sehen. Aber ebenso kämpften sie gegen die Politik der Unternehmer, die Arbeiterinnen ausbeuteten, indem sie sie schlechter bezahlten, und sie so als Erpressungsmittel gegen die Arbeiter einsetzten. Man muß gelesen haben, wie in überaus seriösen wissenschaftlichen Werken mit geradezu mathematischer Genauigkeit bewiesen wurde, daß Frauen weniger Nahrung brauchten und von Natur aus nicht geeignet seien, außer Haus zu arbeiten. Den Autoren solcher Schriften war die Realität der Frauenarbeit durchaus bekannt. Manche Anhänger von Frauenschutzgesetzen waren oft mehr von philanthropischen Erwartungen denn von Gerechtigkeitssinn geleitet. Später wurden dieselben Schutzmaßnahmen auch auf Männer ausgedehnt, vor allem in Frankreich unter dem Einfluß der »Solidaritätsbewegung«. Diese Maßnahmen waren zwar nicht unerheblich, aber zunächst doch kaum mehr als ein Notbehelf. Da es nicht darum ging, die Gleichberechtigung im Arbeitsprozeß zu festigen, waren sie notwendigerweise begrenzt. Die neuen Gesetze galten allein für Fabriken, in denen die »gefährlichen Klassen« beschäftigt waren. Der nach wie vor umfangreichen Arbeit in der Landwirtschaft schenkte man ebensowenig Beachtung wie der Heimarbeit, der Arbeit in Werkstätten, in Kaufhäusern und im häuslichen
Dienst.
In Frankreich schloß das Gesetz vom 3. Juni 1874 Frauen und Kinder von der Arbeit unter Tage aus. Aber es war vor allem das Gesetz vom 2. November 1892, das zum ersten Mal eine Geschlechterdiskriminierung in der Arbeitswelt bewirkte. Es galt nicht nur für alle Kinder unter achtzehn Jahren, sondern auch für alle Fabrikarbeiterinnen. Es wurde verboten, Frauen und Kinder in gesundheitsschädigenden Betrieben, unter gefährlichen Arbeitsbedingungen oder in Druckereien bei der Herstellung von Texten und Illustrationen zu beschäftigen. In der Hauptsache aber regelte das neue Gesetz die Arbeitszeiten je nach Geschlecht vollkommen unterschiedlich. Im Interesse der Familie »begünstigte« man die Frauen, während man ihnen zugleich den Zugang zu qualifizierten Arbeiten versperrte. Nachtarbeit wurde ihnen prinzipiell verboten, und spätere Gesetze, vor allem das vom 15. Juli 1908, das die internationalen Vereinbarungen von Bern (26. September 1906 und 22. Dezember 1911) bestätigte, bauten dieses Prinzip noch weiter aus.
Eine Kampagne der Zeitung La Fronde, die eine verbesserte, aber für beide Geschlechter gleiche Gesetzgebung zum Ziel hatte, wurde von den Arbeiterinnen, die lediglich eine bessere Anwendung der bereits bestehenden Gesetze wünschten, nicht unterstützt. Es gab auch tatsächlich beträchtliche Hindernisse, die sich einer vernünftigen
Gesetzgebung entgegenstellten. Ausnahmen waren vom Gesetz vorgesehen, vor allem was die abendlichen Überstunden der Frauen insbesondere in der Modebranche betraf. Das Gesetz von 1911 verbot Nachtarbeit nach 22 Uhr für Frauen. Die Kontrollen wurden allerdings äußerst lax gehandhabt. Das galt vor allem in Wohlfahrtseinrichtungen wie Bon-Pasteur, die vor 1902 kaum überwacht wurden. Man baute einen Stab von Kontrolleuren und Kontrolleurinnen auf, deren Zahl jedoch nicht genügte. Ein solches Verfahren war zudem völlig illusorisch, da die Arbeiterinnen aus Angst vor Entlassung ihre Arbeitgeber deckten und sogar abends noch Arbeit mit nach Hause nahmen. Ab 1892 durften auch Inspektorinnen Betriebe besichtigen, allerdings nur solche, in denen ausschließlich Frauen arbeiteten und kein mechanischer Motor benutzt wurde (1908 wurden ihre Befugnisse ausgeweitet). Das Gesetz vom 2. November 1892 setzte eine größere Zahl von wöchentlichen Ruhetagen und Feiertagen fest, die es für Schulkinder bereits gab. Am 13. Juli 1906 wurde die Sonntagsruhe festgeschrieben - das erste nichtdiskriminierende Gesetz im Arbeitsrecht, das jedoch zahlreiche Ausnahmeregelungen enthielt. Eine erste gesetzliche Regelung der Arbeitszeit stammt aus dem Jahre 1848. Sie erstreckte sich im Prinzip auf alle Erwachsenen. Die Länge des Arbeitstags sollte maximal zehn Stunden in Paris und elf in der Provinz betragen. Später wurde sie für alle auf zwölf Stunden erhöht. Das Gesetz vom 2. November 1892 verbot es nun allein Frauen, länger als elf Stunden zu arbeiten, und schrieb eine Stunde Pause am Tag vor. Das wirkte sich störend auf die Arbeitsorganisation aus, und der Lohn der Frauen wurde beschnitten, denn die Entlohnung erfolgte in der Regel nach Stückzahl. Oft wurden Fabrikfrauen durch Heimarbeiterinnen ersetzt, die nicht durch das Gesetz geschützt waren und deren Arbeit von ihren Ehemännern zumeist gutgeheißen wurde. Das Gesetz vom 30. März 1900 verstärkte noch die Bindung der Frauen an die Familie, denn es regelte ihre Arbeitszeit so, daß sie zusätzliche Pausenzeiten bekamen, um zu Hause das Essen zu kochen. Eine Verfügung vom 29. September 1900, das sogenannte »Sitzgesetz«, verpflichtete Unternehmer, ihren weiblichen Beschäftigten Sitzgelegenheiten zur Verfügung zu stellen.
Von den Maßnahmen, die ausschließlich Frauen zugedacht waren, bezogen sich die wichtigsten auf die Mutterschaft. Im Vergleich zum restlichen Europa wurde der vierwöchige Mutterschaftsurlaub, der von den fünfzehn Teilnehmerländern der internationalen Konferenz von Berlin am 15. März 1890 empfohlen wurde, in Frankreich erst sehr spät zugestanden. Dabei war die Lage von Frauen und Neugeborenen dort dramatisch. Im Jahre 1886 initiierten Feministinnen eine Kampagne. Erst das Gesetz vom 27. November 1909 legte in Frankreich fest, daß es kein Bruch des Arbeitsvertrags sei, wenn eine Frau in den acht Wochen vor oder nach der Niederkunft unbezahlten Urlaub nahm.
1910 und 1911 gewährte der Staat Lehrerinnen, Werftarbeiterinnen und weiblichen Postangestellten bezahlten Mutterschaftsurlaub. Am 27. März 1913 stellt der Kassationshof klar, daß diese Maßnahmen auch für ledige Mütter galten. Aber das Gericht machte gleichzeitig darauf aufmerksam, daß der Unternehmer selbstverständlich das Recht behalte, der Angestellten wegen ihrer Schwangerschaft zu kündigen, wenn ihr »Fehltritt« dem Ruf seiner Firma zu schaden drohe. Die Gesetze vom 17. Juni und 30. Juli 1913 gestatteten werdenden Müttern, vor der Niederkunft mit der Arbeit auszusetzen, und verpflichteten sie - auch die Heimarbeiterinnen -, nach der Geburt vier Wochen lang nicht zu arbeiten. Erst vom 30. Juli 1915 an war ein täglicher Zuschuß für junge Mütter vorgesehen, der im Falle einer Fehlgeburt jedoch nicht ausgezahlt wurde und sehr viel niedriger war als der Arbeitslohn.
Der Gesetzgeber sprach nie von einem Ausschluß der Frauen von der Arbeitswelt, doch aus Gründen des Familienschutzes wurde die Arbeitszeit so festgelegt, daß die weiblichen Arbeitskräfte in ungeschützte Arbeitsverhältnisse abgedrängt wurden. Diese Maßnahmen, die zu Arbeitslosigkeit und Diskriminierung in der Arbeit führten, benachteiligten ganz besonders ledige Arbeiterinnen, für die das Argument, ihre Einkünfte seien ja lediglich ein Nebenverdienst, keinen Sinn ergab. Trotz aller Mängel bleibt festzuhalten, daß diese schützende
Gesetzgebung mit dem Prinzip brach, der Staat hätte kein Recht, sich in private Arbeitsverträge einzumischen. Das Recht, ihren Beruf auch gegen den Widerstand der Männer ausüben zu dürfen, mußten sich Frauen in den verschiedenen Berufsgruppen durch die Anrufung von Gerichten sowie durch Appelle an den Gesetzgeber hart erkämpfen. Zwei Beispiele seien stellvertretend dafür genannt. 1908 wies man eine Klage von Medizinstudenten ab, die forderte, daß ein Beschluß der staatlichen Fürsorge in Paris, wonach sich Frauen ebenfalls bereits nach dem dritten Studienjahr um eine Stelle im Krankenhaus bewerben konnten, aufgehoben würde.[8] Der Streit um die Zulassung zum Anwaltsberuf sorgte in der juristischen Welt Europas für beträchtliche Aufregung. In der Polemik wurden sämtliche Vorurteile gegen die weibliche Berufstätigkeit zusammengetragen, von der «pudicitia, die
die Natur gebietet«,[9] bis hin zur Unmöglichkeit, eine Frau in die Schranken zu weisen, da kein Richter ihrer Geschwätzigkeit Herr werden könne. Alle nur erdenklichen Behauptungen wurden aufgestellt: körperliche Schwäche; die Schwierigkeiten von Frauen bei der Verteidigung ihrer Mandanten auf Lateinisch - ein Mangel, der in Amerika anscheinend unerheblich war, da dort Frauen als Anwältinnen zugelassen waren; die Gefahr, daß die Richter den Verführungskünsten der Frauen erlägen, da diese von Natur aus kokett seien. Um so erstaunlicher ist es, daß in Frankreich mit dem Gesetz vom 1. Dezember 1900 Frauen zum Anwaltsberuf zugelassen wurden.[10] Allerdings konnte man sich damals auf zahlreiche Präzedenzfälle in der ganzen Welt berufen: Rußland, Japan, Rumänien, Schweiz, Finnland, Norwegen, Neuseeland, die Vereinigten Staaten (die erste Anwältin ließ sich 1869 in Iowa nieder; 1879 erhielten amerikanische Frauen das Recht, vor dem Bundesgericht zu plädieren). In manchen Bundesstaaten wirkten sie als Friedensrichterinnen, und die sogenannten weiblichen court clerks übten
gleichzeitig die Funktionen eines Richters wie eines Verwaltungsbeamten, eines Notars wie eines Gerichtsschreibers aus.

Frauen und Strafrecht
Man zweifelte zwar auf vielen Gebieten an den Fähigkeiten der Frauen, aber im allgemeinen traute man ihnen sehr wohl zu, Straftaten zu begehen und sich vor Gericht dafür zu verantworten. In England war allerdings der Ehemann für die Delikte seiner Frau verantwortlich, bis man die Frau 1870 zum Rechtssubjekt erklärte. Obwohl Michelets Auffassung, die Frau sei zu schwach, um strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, im allgemeinen nicht unterstützt wurde, gab es im Rahmen des Gewohnheitsrechts gewisse Ausnahmen. Todesurteile wurden selten vollstreckt, und eine schwangere Frau mußte ihre Strafe erst nach der Niederkunft abbüßen. Das französische Strafgesetzbuch von 1791 ersetzte die Bestrafung mit dem Halseisen durch die Aberkennung der bürgerlichen Rechte, und Straftäterinnen kamen ins Zuchthaus, anstatt in Eisen gelegt zu werden. Schon im alten Strafrecht verbüßten Frauen ihre Strafen versteckt hinter Gefängnismauern. Das Gesetz vom 19. Juli 1907 modifizierte das vom 27. Mai 1885; rückfällige Frauen wurden nun von der Verbannung in Strafkolonien auf Guayana oder in Neukaledonien dispensiert. Im großen und ganzen blieben Frauen ebenso wie Minderjährige oder über Siebzigjährige von der Schuldhaft befreit (Gesetz vom 15. Germinal im Jahr IV). Nicht betroffen von dieser Ausnahmeregelung waren Geschäftsfrauen oder Frauen, die in betrügerischer Absicht Immobilien, die ihnen nicht gehörten oder die sie als nicht belastet erklärten, verkauft oder mit Hypotheken belastet hatten. In der Praxis bedeutete diese Bestimmung,
daß die Kreditfähigkeit von Frauen und deren Möglichkeiten, Geschäfte zu tätigen, gravierend beeinträchtigt war. Überdies konnten Frauen vor dem Gesetz vom 17. April 1832 bzw. seiner erweiterten Fassung vom 22. Juli 1867 keine öffentlichen Gelder verwalten und waren so von zahlreichen Arbeitsbereichen ausgeschlossen.
Was die Prostitution anbelangt, so florierte das Gewerbe in jedem der zahlreichen Länder, die dessen freie Ausübung unterdrückten. In Frankreich wurde allerdings rechtlich besonders heuchlerisch mit der Prostitution verfahren. Seit dem Konsulat und der Rückkehr zu größerer sexueller Freizügigkeit war die Prostitution bis zum Jahre 1946 nicht verboten. Sie wurde toleriert, was allerdings nicht hieß, daß man sie nicht reglementiert hätte. Die Prostitution galt für Männer als unentbehrlich, als notwendiger Faktor bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und als Schutz für junge Mädchen. Doch sie sollte sich in einem geschlossenen Milieu abspielen, fern vom Blick ehrbarer Frauen, aber unter der »panoptischen« Kontrolle der Behörden. Als offizielle Dirnen (im Gegensatz zu den nichtregistrierten) amtlich anerkannt, übten die Prostituierten ihr Gewerbe entweder einzeln oder in einem Bordell aus. Der Staat gab sich gemeinhin nicht damit ab, die Orte, an denen Prostituierte ihrem Gewerbe nachgingen, gesetzlich festzulegen. Die Prostitution vollzog sich im Verborgenen und in Schande. Dieses »französische System« war ein regelrechter Angriff auf das weibliche Geschlecht, das allein die Folgen der »Unzucht«, die von beiden Geschlechtern praktiziert wurde, zu tragen hatte. Nicht einmal in England oder in den Vereinigten Staaten mit ihren äußerst energischen Kampagnen gegen die Prostitution gab es so minutiöse und für die Frauen so erniedrigende Bestimmungen. Reglementierung, Heuchelei und Verachtung waren kennzeichnend für die Art, wie man in Frankreich mit dem gesellschaftlichen Problem der Prostitution umging. In Krankenhäusern, Gefängnissen, »Zufluchtsstätten der Reue« und Bordellen herrschte polizeiliche, medizinische und religiöse Willkür. Frauen, die sich dieser Behandlung unterziehen mußten, wurden den übelsten Schikanen ausgesetzt, ohne daß die Repräsentanten der öffentlichen Ordnung die geringste Strafe hätten fürchten müssen.[11]
Die Ausbreitung der »wilden« Prostitution und die zahlreichen Veröffentlichungen über Geschlechtskrankheiten sowie die wahnhaften Vorstellungen über das weibliche Sexualverhalten lösten zwischen 1876 und 1884 eine Bewegung der Anteilnahme für die Prostituierten aus, die Opfer dieser Misere waren. Es kam zu einer Reihe von Enqueten und zu verstärkten Bemühungen um neue Wege in der Sozialpolitik. Die Protestbewegung gegen das »französische System« begann in protestantischen Kreisen Englands und der Schweiz (Genf und Neuchatel). Die Contagious Diseases Acts (Gesetze über ansteckende Krankheiten) von 1866, 1867 und 1869 führten in England zu einer minimalen Reglementierung, indem nun in einzelnen Städten und Häfen die Prostitution offiziell kontrolliert wurde. Josephine Butler initiierte damals nach US-amerikanischem Beispiel gemeinsam mit Ärzten und Quäkern eine internationale Protestbewegung. Diese in erster Linie moralische Bewegung zielte darauf ab, die außereheliche Sexualität generell zu unterbinden; von 1870 bis 1879 wurden 9667 Petitionen mit insgesamt 2150941 Unterschriften eingereicht.[12] Im Gegensatz dazu kämpften Feministinnen und Radikale vor allem in Paris im Namen der Freiheit und der Menschenrechte gegen die Sittenpolizei und die Festnahmen von Prostituierten. Verschiedene Petitionen wurden von der Deputiertenkammer abgelehnt. Als nach den Wahlen von 1902 der Linksblock die Regierung übernahm, verbanden sich ordnungspolizeiliche mit gesundheitspolizeilichen Bemühungen, was den Ruf nach Reglementierung verstärkte. Ein Gesetz vom 11. April 1908 verfügte, daß Prostituierte unter achtzehn Jahren in Anstalten untergebracht werden sollten.
Ende des 19. Jahrhunderts beflügelte der »weiße Sklavenhandel« die Phantasie der Leser. Das Thema wurde zu einem wahren Verkaufsschlager für die Presse. Vor allem in England und Belgien veranlaßten die Parlamente sorgfältige Untersuchungen. Auch Ungarn und Österreich zeigten sich über das Problem beunruhigt. 1881 wurde der Frauenhandel in Genf offiziell angeprangert. 1895 verabschiedete der französische Senat einen Gesetzentwurf gegen Personen, die Frauen zur Prostitution zwangen, doch die Abgeordneten nahmen ihn nicht an. Nur in Deutschland wurden konkrete Maßnahmen getroffen. Von 1897 an riskierten Frauenhändler Gefängnis- bzw. Geldstrafen; Auslieferungsverträge wurden unterzeichnet. 1899 trafen sich Vertreter der europäischen Staaten (mit Ausnahme Spaniens und Italiens) auf einem Kongreß. Die wissenschaftlichen Dokumente dieses Kongresses belegen, daß - genährt von der Presse - ein regelrechter Mythos entstanden war, der gleichermaßen Angst vor einer sexuellen Befreiung der Frau, aggressive Fremdenfeindlichkeit und bösartigen Rassismus schürte. Der Frauenhandel erreichte nie das Ausmaß, das man ihm nachsagte. Viele Frauen dürften sehr wohl Bescheid gewußt haben über die Art der »Verträge«, die sie abschlossen, um nach Amerika, Australien, in den Orient oder während des Krieges in Transvaal nach Südafrika zu gelangen. Lediglich Schweden scheint sich diesem Handel entzogen zu haben. Mit dieser Richtigstellung soll im übrigen weder das soziale Problem, noch dessen Ursachen negiert werden.
Ein 1902 in Paris abgehaltener Kongreß wandte sich nicht gegen das französische System der Reglementierung. Am 3. April 1903 verabschiedete das französische Parlament ein Gesetz, das den Handel mit Frauen lediglich dann unter Strafe stellte, wenn diese durch Anwendung von Gewalt, Täuschung oder Drohungen zur Prostitution gezwungen wurden. Die internationale Übereinkunft vom 4. Mai 1910 übernahm den Wortlaut des französischen Gesetzes. Bereits vorher waren durch das internationale Abkommen vom 8. Mai 1904 Schutzmaßnahmen und die Rückführung der Frauen in ihr Heimatland geregelt worden.
Opfer zu sein, bedeutete für Frauen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Zu Unrecht von einer Frau zu behaupten, sie sei vergewaltigt worden, wurde als Angriff auf ihre Ehre betrachtet, die zu einer finanziellen Entschädigung berechtigte.[13] Der Begriff »Sittlichkeitsdelikt« verrät, daß die öffentliche Ordnung dabei stärker im Blickfeld stand als das Opfer. Das französische Strafgesetzbuch von 1791 unterschied nur zwei Arten der Vergewaltigung: die einfache Vergewaltigung (bestraft mit sechs Jahren in Eisen) und die Vergewaltigung unter erschwerenden Umständen, die vom Alter des Opfers, der Anwendung von Gewalt sowie der Anwesenheit von Mittätern abhing (bis zu zwölf Jahre in Eisen). Auf die Entführung einer Minderjährigen unter 15 Jahren zum Zweck der Vergewaltigung oder Prostitution stand dieselbe Strafe. Das Strafgesetzbuch von 1810 unterschied nicht zwischen Vergewaltigung und gewaltsam erzwungener Unzucht, die mit Gefängnis bestraft wurde (Art. 330). War das Opfer jünger als fünfzehn Jahre, riskierte der Schuldige einige Jahre Zwangsarbeit; mit lebenslänglicher
Zwangsarbeit wurde er bestraft, wenn das Opfer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stand oder wenn ein Mittäter beteiligt war (Art. 332). Wer die Prostitution einer Minderjährigen unter einundzwanzig Jahren begünstigte, wurde mit Gefängnis zwischen sechs Monaten und zwei Jahren sowie einer Geldbuße bestraft; wenn der Schuldige die Vormundschaft über das Opfer hatte, konnte dies um bis zu fünf Jahre verlängert werden (Art. 332-334). Das Gesetz vom 28. April 1832, das bis zur Neufassung vom 23. Dezember 1984 fast unverändert blieb,
modifizierte Art. 331: Jegliche Unzucht mit Kindern unter elf Jahren wurde mit Zuchthaus geahndet (seit dem 13. Mai 1863 unter dreizehn Jahren).
Wichtig ist vor allem, daß im Gesetz Vergewaltigung als Verbrechen galt, ohne jedoch wirklich definiert zu werden. Für die Rechtsprechung war Vergewaltigung ein Akt männlicher Gewalt, der sich auf den vaginalen Koitus beschränkte, und die Gerichte interessierten sich besonders für den tatsächlichen Grad der Gewaltanwendung. Frauen, die behaupteten, einer Gewaltdrohung nachgegeben zu haben, wurden der Lüge verdächtigt.[14] Als Bestrafung vorgesehen war eine Zuchthausstrafe, die verschärft wurde, wenn das Opfer jünger war als fünfzehn Jahre.
Weitere Formen der Kriminalität, die insbesondere Frauen betrafen, waren Abtreibung und Kindsmord. Von der neomalthusianischen Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in England, Deutschland und den USA, also Ländern mit protestantischer Tradition aufkam, hielten französische Frauen nicht viel. Sie nutzten statt dessen das in den Grauzonen von Moral und Recht herrschende geheime Einverständnis: Nachbarinnen, Freundinnen und Verwandte gaben Verhütungspraktiken weiter, tauschten Adressen aus, um einen gefährdeten guten Ruf wiederherzustellen und praktizierten insgeheim Geburtenkontrolle, vor allem Frauen, die bereits mehrere Kinder hatten.[15] Um die Jahrhundertwende, als viele Staaten bereits zur pronatalistischen Politik übergegangen waren, stieg die Zahl der Abtreibungen. Möglicherweise war dies Ausdruck eines populären Feminismus. [16] Das Strafgesetzbuch von 1791 sah für jemanden, der eine Abtreibung vornahm, zwanzig Jahre in Ketten vor. Ab 1810 war für diesen sowie die betreffende Frau - egal ob sie dem Eingriff zugestimmt hatte oder nicht eine Zuchthausstrafe vorgesehen. Kindsmord wurde mit der Todesstrafe geahndet. In der Realität widerstrebte es jedoch den Geschworenen, allzu strenge Strafen zu verhängen.
Das Gesetz vom 21. November 1901 definierte den Kindsmord nicht länger als Verbrechen (Schwurgericht), sondern als Vergehen (Strafgericht), so daß die Schuldigen vor Berufsrichtern und nicht vor Geschworenen erscheinen mußten. Auf diese Weise versuchte der Gesetzgeber, die große Zahl der Freisprüche und die sehr häufig akzeptierten mildernden Umstände zu reduzieren. In Frankreich bestand kein Unterschied zwischen der Tötung eines ehelichen und der eines unehelichen Kindes. Demgegenüber sahen die meisten anderen europäischen Strafgesetze der Neuzeit eine mildere Strafe vor, wenn der Kindsmord mit dem Ziel begangen wurde, die Ehre der Mutter zu retten. In der Tat waren die meisten des Kindsmords Angeklagten mittellose ledige Frauen, häufig weibliche Dienstboten.

Die Familie als Falle

Die Auseinandersetzung um die Rechtsfähigkeit der Frau beschäftigte am Ende des 19. Jahrhunderts Literaten, Bühnenautoren, Feministinnen und parlamentarische Instanzen weit mehr als das einfache Volk. Überall in der abendländischen Welt war die Frau ihrem Mann rechtlich untergeordnet. Wie läßt sich der Widerspruch erklären, daß aus einer volljährigen und rechtsfähigen ledigen Frau, sobald sie heiratete, ein Wesen wurde, das aus dem rechtlichen Leben ausgeschlossen war und sich auf derselben Stufe wiederfand wie geistig Behinderte und Minderjährige? Und wie läßt sich der hohe Stellenwert rechtfertigen, den der Staat in einem Bereich des Rechts, der die Beziehungen zwischen Individuen regelte, für sich beanspruchte? Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung, die man der Familie als Fundament der Gesellschaft beimaß. Gute Väter, gute Ehegatten, gute Söhne - nur sie waren gute Bürger. [17] In Frankreich war es unmöglich, die Regeln, nach denen Ehe und Familie organisiert waren, zu umgehen, denn diese Regeln waren Teil der öffentlichen Ordnung.
Es ist wichtig, zwischen dem Besitz und der Ausübung eines Rechtes zu unterscheiden. Die Frau hatte zwar Rechte, war aber unfähig, diese selbst auszuüben. Das ist eine bedeutsame juristische Spitzfindigkeit. Nicht umsonst zählt die Rechtfertigung der männlichen Autorität in der Ehe zu den schönsten Blüten juristischer Rhetorik. Die Autorität des Ehemannes hatte einen praktischen Zweck: Er soll nach der traditionellen Rollenverteilung die eheliche Gemeinschaft verwalten und Frau und Kinder leiten. Ende des 18. Jahrhunderts waren die Philosophen der Ansicht, diese Autorität entspreche dem Naturrecht; manche jedoch, so etwa Burlamaqui, wollten sie im Sinne einer natürlichen Gleichheit ein wenig mäßigen. Rousseau dagegen konnte sich die Frau nur als vom Mann abhängig vorstellen. Auch in diesem Bereich waren die Errungenschaften der Revolution zweifelhaft: die Frau wurde als
Individuum anerkannt, das Prinzip der tyrannischen Macht des Ehemannes abgeschafft, aber die Ehegatten dennoch nicht als gleichberechtigt angesehen. Das in Frankreich entwickelte Ehe- und Familienrecht galt bis in das 20. Jahrhundert als Modell, denn die der Ehefrau zugewiesene  Rolle war in allen patriarchalisch organisierten Gesellschaften im wesentlichen gleich. Auch in Frankreich hatte das Rechtssystem einen gemischten Ursprung, wobei der Code Napoleon von 1804 dem vorrevolutionären Pariser Gewohnheitsrecht einen erheblichen Stellenwert einräumte. Die von den Juristen im 18. Jahrhundert neu überarbeiteten Maximen des römischen Rechts und Maximen des germanisch inspirierten Gewohnheitsrechts begründeten gemeinsam die Abhängigkeit der Frau und deren Rechtsunfähigkeit. Die verheiratete Frau existierte lediglich in der und durch die Familie; das Recht bezog sich überall auf die bürgerliche Frau. Und dieses Recht bestimmte noch über das Ende einer Ehe hinaus das Leben einer Frau und den Umgang mit ihrem Besitz.

Die Unterwerfung unter die Ziele der Ehe
Die Vormachtstellung des Ehemannes »ist eine Huldigung der Frau an die Macht, die sie schützt«.[18] In der Tat leitete sich die Überlegenheit des Mannes von einer angenommenen Schwäche des weiblichen Geschlechts ab. Diese fragilitas, übernommen aus dem römischen Recht, war eigentlich keine naturgegebene Schwäche, sondern eher der Beweggrund für den Schutz Unmündiger. Eben dies führt zur auffälligen Inkohärenz des Rechts. Statt die Vormachtstellung des Ehemannes direkt zu bekräftigen, wird die physische Unterlegenheit der Frau, die
allerdings nur bei verheirateten Frauen von Belang war, zur Rechtfertigung herangezogen. Der Ehemann »muß als oberster und absoluter Richter über die Familienehre gelten«.[19]
So galt z. B. jede Ansteckung mit Syphilis durch die Ehefrau, sofern erwiesen war (wie?), daß die Frau die Krankheit als erste hatte, als schwere Verfehlung und Scheidungsgrund; denn die Syphilis ließ die Frau als Ehebrecherin erscheinen. Umgekehrt wurde ein Mann nur schuldig gesprochen, wenn er die Krankheit wissentlich und wiederholt unbescholtenen Frauen übertragen hatte. Ebenso konnten Anschuldigungen, eine Frau hätte bei ihrer Eheschließung gewisse Tatsachen verheimlicht (zum Beispiel Schwangerschaft oder die polizeiliche Registrierung als Prostituierte), gegen sie verwendet werden.

Die Gehorsamspflicht

»Der Mann schuldet seiner Frau Schutz, die Frau schuldet ihrem Mann Gehorsam«, besagt Artikel 213 des bürgerlichen Gesetzbuches in Frankreich. Eine solche Formulierung war im Abendland durchaus üblich, auch wenn einige Rechtssysteme, so etwa das norwegische, italienische oder deutsche des späten 19. Jahrhunderts, eine weniger direkte Sprache bevorzugten. Doch ob mehr oder weniger explizit, die Idee lag einer jeden Gesetzgebung zugrunde. »Diese Worte klingen hart, aber sie stammen vom Apostel Paulus, und seine Autorität ist ebensogut wie
jede andere«, meinte einer der Verfasser des Code civil.[20] In den Ländern jüdisch-christlicher Tradition hat die Vorstellung vom Primat der Schöpfung des Mannes und der Schuld der Frau im Sündenfall großen
Schaden angerichtet. Nach Napoleon Bonaparte hätte dieser Text bei der Eheschließung öffentlich verlesen werden sollen: Denn in einem Jahrhundert, in dem die Frauen »das Bewußtsein ihrer Unterlegenheit vergessen, muß man sie in aller Offenheit an die Ergebenheit erinnern, die sie dem Manne schulden, welcher Herr über ihr Geschick sein
wird«.[21] Die antifeministische Einstellung des Ersten Konsuls ist hinlänglich bekannt. Aber es wäre falsch, in diesen Worten einzig und allein die Laune und Rache eines eitlen, betrogenen Generals zu sehen. Hier ist vielmehr auf militärisch knappe Weise formuliert, was Männer dachten und nahezu jede Frau akzeptierte.
Eine Frau nahm grundsätzlich die Nationalität des Mannes an, es sei denn, diese stand in Konflikt mit staatlichen Interessen. Das war in Frankreich ab 1899 der Fall, wo man um die Reinheit der Rasse fürchtete. Auch in England wurde die Gesetzgebung als Reaktion auf »Mißbräuche« im Zusammenhang mit Prostitution strenger. Eine Französin gab gewöhnlich ihren Mädchennamen auf, ohne daß ein Gesetz sie ausdrücklich dazu gezwungen hätte. Nach einer Scheidung konnte der Mann seiner Frau verbieten, weiterhin seinen Namen zu tragen: Er hatte ihn ihr gewissermaßen nur geliehen. Dagegen mußte im angelsächsischen Sprachraum die Frau den Namen des Mannes auch nach einer Scheidung behalten. In wieder anderen Ländern waren Doppelnamen üblich.
Der Mann hatte die edle Pflicht, über das Betragen seiner Gattin zu wachen. Der »häusliche Richter [muß] in Maßen zu seiner Autorität auch die Gewalt gesellen [können], um sich Respekt zu verschaffen«.[22] Und nicht immer könne man die Disziplinarmaßnahmen oder die Wutausbrüche eines Mannes verurteilen: »Die Autorität, die dem Mann von der Natur und vom Gesetz verliehen ist, hat das Ziel, die Frau in ihrem Betragen zu leiten.«[23] Englische Ehemänner waren sicherlich nicht grausamer als andere, aber nur sie genossen bis 1870 eine völlige, aus der absoluten Ohnmacht der verheirateten Frau hergeleitete Straffreiheit. 1840 ermächtigte ein Richter, der sich auf Bacon berief, einen Ehemann, seine Frau zu schlagen und einzusperren, solange er dies ohne Grausamkeit tat.[24] Als Antwort auf die Veröffentlichung des Artikels »Wife Torture in England« und nach mehreren Jahren Propaganda in der Zeitschrift English Women's Review wurde endlich 1878 per Gesetz den Engländerinnen im Falle von Mißhandlungen die Trennung von Tisch und Bett erlaubt. 1893 wurde auch »fortgesetzte Grausamkeit« als Scheidungsgrund eingeführt, eine Regelung, die Gerichte recht großzügig interpretierten, ähnlich wie im Falle von injure grave in Frankreich oder von faltas in Spanien.
Ein Ehemann muß »über den Grundtenor der Gespräche seiner Frau und deren außerhalb und unabhängig von ihm ausgeübten Einflüsse Bescheid wissen«. So stellte ein Briefwechsel »einen Vertragsbruch, eine Art moralischer Untreue dar, [und der Ehemann kann] solchen Absonderungsbestrebungen einen Riegel vorschieben«.[25] Er war ermächtigt, Briefe, die seine Frau schrieb oder erhielt, abzufangen; er konnte die Post anweisen, ihm diese zurückzugeben und verbieten, daß sie an den Adressat ausgehändigt wurden. Wenn der Ehemann sich dieser Korrespondenz kraft seiner Autorität bemächtigt oder sie mit List unterschlagen hatte, konnte er sie bei einem Scheidungsprozeß vorlegen.
Seine Ehefrau dagegen hatte nicht das Recht, sich der Briefe ihres Mannes zu bemächtigen oder von diesen gar im Prozeß Gebrauch zu machen.[26] Doch die französische Rechtsprechung entwickelte sich ein wenig weiter: So wurden Briefe der Ehefrau an eine Freundin dann nicht berücksichtigt, wenn diese um die Briefe nur gebeten hatte, um sie dem Ehemann auszuhändigen - ein solches Vorgehen galt als unsittlich. Das Briefgeheimnis war im übrigen auch für Anwältinnen, Ärztinnen, Geschäftsfrauen und Beamtinnen ein Problem. Das französische Recht blieb weit entfernt von den englischen Prinzipien, die die Individualität der Ehefrau anerkannten und ihr ab 1870 auch das Briefgeheimnis zugestanden. Viele französische Juristen waren der Ansicht, solche Regeln unterminierten die Autorität des Ehemannes und bedrohten den Zusammenhalt der Familie.[27]
Die Ehegatten schuldeten sich gegenseitig Unterstützung und Hilfe, doch die Unterwerfung der Frau hatte zur Folge, daß im wesentlichen der Ehemann leistungspflichtig war. Es war seine Pflicht, seine Frau mit dem Notwendigen (Nahrung, Wohnung, Kleidung, Arzneien) zu versorgen. Darunter fiel auch, wie bei einem Kind, das Taschengeld
{Nadelgeld, wie man in der Schweiz sagte). Die Frau trug mit ihrem Einkommen zu den Haushaltskosten bei, hatte aber keinen Zugriff auf das Vermögen. In England konnte sie bis 1857 keinerlei Privatklage gegen ihren Mann erheben, um sich eine Art Rente zu sichern; danach gestattete man ihr, zur Bestreitung ihres Unterhalts einen Teil des Besitzes, der ihr womöglich zugesprochen würde, wenn der Ehemann sie verließe, zu behalten. Ab 1886 konnte ein Mann dazu verurteilt werden, eine geringfügige wöchentliche Rente an seine getrennt von ihm lebende Ehefrau zu zahlen. Im Falle »fortgesetzter Grausamkeit« oder wenn kein Unterhalt geleistet wurde, war die Rechtsprechung ab 1895 dazu befugt, Ehemänner zur Zahlung von Alimenten zu zwingen. Ebenso wurde es in den USA gehandhabt. In Frankreich wurde das Eheverlassen erst ab 1924 gesetzlich verfolgt.
Die Ehefrau mußte in der Wohnung leben, die der Mann ausgesucht hatte, vorausgesetzt diese entsprach dem sozialen Status des Paares. Das sollte ihr die Möglichkeit geben, »nach außen hin zumindest ihre Würde zu wahren, selbst wenn sie im Innern all ihr Glück verloren hatte«.[28] Ein Ehemann konnte Zwang anwenden, um seine Frau nach Hause zurückzuholen. Zahlreiche Gerichtsurteile befanden, eine Ehefrau sei manu militari zurückzubringen, d.h. in der Begleitung eines Amtsdieners, der bewaffnete Beamte zu Hilfe rufen konnte, »damit es nicht von den Launen oder gar einem Verbrechen der Ehefrau abhängt, daß eine neue Art der Trennung von Tisch und Bett entsteht, die das allgemeine Recht der Gesellschaft zersetzt«.[29] Der Richter konnte, ohne dabei die Mobilien untersuchen zu müssen, anordnen, daß man die Einkünfte der Frau, ja sogar ihre Kleider beschlagnahmte. Der Ehemann seinerseits hatte das Recht, seiner Ehefrau den »Unterhalt« zu verweigern, wenn sie die eheliche Gemeinschaft verlassen hatte. In Deutschland wurde die Zwangsvollstreckung, die bis 1900 erlaubt war, schließlich durch das Recht auf Klage, die eheliche Gemeinschaft wiederherzustellen, abgelöst. Männer verfügten über die verschiedensten Mittel, mit denen sie ihre Frauen zwingen konnten, in der vom Mann gewählten Wohnung zu leben.

Die Aufrechterhaltung der rechtmäßigen Familie

Die »eheliche Pflicht« gestattete es dem Ehemann, innerhalb der Grenzen von Natur, Sitten und Gesetzen Gewalt anzuwenden, solange es nicht um Handlungen ging, die dem »legitimen Zwecke der Ehe«[30] entgegengesetzt waren. Es konnte daher weder auf Vergewaltigung noch auf Verstoß gegen die Sittlichkeit geklagt werden oder Scham geltend gemacht werden, wenn der Ehemann seine Frau zu normalen sexuellen Beziehungen zwang, ohne sie dabei schwer zu mißhandeln.[31] Gegen Ende des Jahrhunderts bestanden die Gerichte darauf, daß der Ehemann seine Frau nicht »wie eine Dirne« behandeln und durch »widernatürliche Berührungen«[32] beschmutzen dürfe. Dementsprechend galt es als kränkend und beleidigend, wenn ein Mann gegen den Willen seiner Frau über längere Zeit Präservative benutzte.[33]
Um sicherzustellen, daß die Nachkommenschaft rechtmäßig war, wurde weibliche Untreue streng geahndet. Im übrigen betrachtete das Recht jegliche außereheliche Zuneigung mit Mißtrauen. Die leidenschaftliche Freundschaft eines verheirateten Mannes zu einem anderen wurde als »geistige Gemeinschaft« angesehen, es sei denn, der Freund
legte eine »krankhafte Empfindlichkeit«, eine »Art Hysterie im Gehirn« an den Tag; dies war dann eine »schwere Verfehlung«.[34] Wie man sieht, begegnete das Recht auch bei Männern jeder abweichenden Sexualität mit Argwohn. Doch die Untreue einer Frau brachte die Gefahr mit sich, daß ein Fremder in die Familie eindrang und die gerechte Verteilung des Besitzes vereitelte. Daher wurde sie weit strenger geahndet als die des Mannes. Ehebruch war ein Vergehen, bei dem nur die Ehegatten Klage erheben konnten. Das geschah vor allem, wenn der Ehebruch als Scheidungsgrund oder Grund für die Auflösung der ehelichen Gemeinschaft angegeben wurde. Eine solche Klage bietet dem Zivilgericht im französischen Prozeßrecht die einzige Gelegenheit, eine Strafe für dieses Vergehen zu verhängen. Ehebruch wurde fast überall vor Gericht als Trennungsgrund anerkannt, aber nur in manchen Ländern, vor allem im romanischen Kulturbereich, wurde er bestraft. Das moderne Zivilrecht, in Deutschland das Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1900, und das Eherecht in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern tendierten eher zu einer Entkriminalisierung.
Die je nach Geschlecht unterschiedliche Behandlung vor Gericht zeigt sich in der Art der Beweisführung, in der Ungleichheit der Strafen, die die schuldige Partei nebst Komplizen zu erwarten hatten, sowie in gewissen Rechten, derer sich nur der Ehemann erfreute. So galt in Frankreich bis 1884 schon ein einmaliger Ehebruch der Frau als
ein Vergehen, das mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich unterschlagener Briefe, bewiesen werden durfte. Der Mann dagegen machte sich des Ehebruches nur schuldig, wenn er diesen wiederholt beging und seine Konkubine im ehelichen Domizil aushielt: Das kam dann der Schändung einer heiligen Stätte durch das Sakrileg
der Bigamie gleich! Als erwiesen galt der Ehebruch nur dann, wenn der Ehemann in flagranti ertappt wurde oder wenn Briefe vorlagen, die der Ehegattin zufällig in die Hände gefallen waren. Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob das Aushalten einer Konkubine zeitgleich mit der Klage der rechtmäßigen Ehefrau sein mußte oder nicht. Unter
ehelichem Domizil verstand man die gemeinsame Wohnung im engeren Sinn. Hielt ein Mann seine Geliebte an einem geheimen Ort aus, machte er sich nicht strafbar. Die Rechtsprechung wertete ein solches Betragen als »schwere Verfehlung«. Im gesamten romanischen Sprachraum beschäftigte sich das Gesetz mit der Verfehlung eines Mannes
erst dann, wenn sie einen öffentlichen Skandal darstellte oder wenn erschwerende Umstände hinzukamen. In England konnte ein Mann des Ehebruches nur im Zusammenhang mit Bigamie, Inzest, einem »Verbrechen gegen die Natur«, einer Entführung oder einer Vergewaltigung angeklagt werden.
Artikel 337 des französischen Strafgesetzbuchs sah für den Ehebruch seitens einer Frau eine Gefängnisstrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren vor. Während des überwiegenden Teils des 19. Jahrhunderts wurde die Höchststrafe durchaus häufig verhängt.[35] Die Strafe lag um 1880 noch im Durchschnitt zwischen 14 Tagen und vier Monaten, um 1890 bei 14 Tagen und um 1910 war meist nur noch eine Geldbuße fällig.[36] Bevor Artikel 463 des Strafgesetzbuchs modifiziert wurde, herrschte die Meinung vor, die Minimalstrafe von drei Monaten könne man nicht weiter reduzieren. Bei einem Vergehen, welches Gesetz, öffentliche Moral und Religion zugleich beleidigte, dürften keine mildernden Umstände geltend gemacht werden. Wie bei jeder Straftat war der Staatsanwalt befugt, Berufung einzulegen, wenn ihm das Urteil zu milde erschien.
Ein ehebrecherischer Mann riskierte lediglich eine Geldstrafe von 100 bis 2000 Francs (Art. 339); der Mitschuldige der Ehebrecherin, in flagranti ertappt oder durch seine eigenen Briefe überführt, hatte mit derselben Gefängnisstrafe wie seine Geliebte und zusätzlich mit einer Geldbuße von 100 bis 2000 Francs zu rechnen (Art. 338). Theoretisch war der Staatsanwalt nicht berechtigt, ein Verfahren zu eröffnen, wenn der betrogene Ehemann keine Klage gegen seine Frau erhob, aber dieser Punkt blieb heftig umstritten. Viele Gesetzesinterpreten waren außerdem der Meinung, daß im Falle fehlenden schriftlichen Beweismaterials die Konkubine nicht bestraft werden könne. Ausgefeilte Kalkulationen wurden auch darüber angestellt, wessen Ehre mehr Schaden erlitten hätte - die des Ehemannes der Konkubine oder die der betrogenen Ehefrau. Gewöhnlich wurde zugunsten der betrogenen Ehefrau entschieden. Demgegenüber hatte die Konkubine nicht »die Entschuldigung, verführt worden zu sein oder eine einmalige Verfehlung begangen zu haben, wie es bei einer ehebrecherischen Frau im allgemeinen der Fall ist, denn sie führt ein Leben in entschiedener Pflichtvergessenheit«.[37] Dem Ehemann wurde das »unumschränkte Privileg zu verzeihen« übertragen. Er konnte die Strafe aufheben, indem er seine Frau wieder zu sich nahm.[38] Diese Möglichkeit der Vergeltung galt jedoch nicht für den Komplizen der Frau.
All diese Ungleichheiten von Mann und Frau im Ehe- und Strafrecht werden noch übertroffen von einer besonders skandalösen Regelung: Tötete ein Ehemann seine Frau oder ihren Liebhaber, wenn er sie in flagranti in der ehelichen Wohnung ertappte, so war dies laut dem »Blutartikel« des französischen Strafgesetzbuches (Art. 324) entschuldbar. Das bedeutete, daß der Ehemann bei seiner Tat rechtlich keinerlei Risiken einging. Dem »eher unglücklichen als schuldigen« Täter sollte nur eine »leichte Strafe« auferlegt werden.[39] Diese Auffassung kam der allgemeinen Mentalität in den Mittelmeerländern entgegen. Auch im bürgerlichen Gesetzbuch Kolumbiens war der Vater oder der Ehemann in einem solchen Fall gleichermaßen unschuldig. Rufen wir uns nur die Affäre ins Gedächtnis, die Gabriel Garcia Marquez in der Chronik eines angekündigten Todes schildert. Während die übrigen europäischen Länder ihr Strafrecht modifizierten, behielt allein Frankreich diese gesetzliche Verfügung bis 1975 bei.[40] In Belgien, Italien, Spanien, Portugal und im Tessin konnten sich beide Ehegatten auf die Klausel des entschuldbaren Mordes berufen. Da das Gesetz in vielen Ländern eine spätere Heirat zwischen zwei Ehebrechern untersagte, stellten die Erleichterungen, die man Ehemännern beim Nachweis des Ehebruchs ihrer Frauen einräumte, eine zusätzliche Strafe für die Frauen dar. Diese Klausel wurde in Frankreich erst 1904 abgeschafft.

Rechte über das Kind

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges propagierten libertäre Kreise in Europa die freie Liebe. Dieses Modell stieß allerdings nur bei einer intellektuellen und künstlerischen Elite sowie beim emanzipierten Bürgertum auf positive Resonanz. Das Gesetz ignorierte die »wilde Ehe« völlig. Da die Treue der Ehefrauen vorausgesetzt wurde, entschied man die Vaterschaft zumeist zugunsten des rechtmäßigen Ehemannes. Die Klage zur Anfechtung der Vaterschaft, eine Möglichkeit für den Ehemann und seine Erben, war nur solchen Fällen vorbehalten, in denen die Unmöglichkeit der Vaterschaft offenkundig, um nicht zu sagen stadtbekannt war. Der Pater familias war somit »Eigentümer« eines jeden Kindes, das seine Frau gebar. Bis 1964 gab es in Frankreich und einigen anderen Ländern die »Vormundschaft über die Leibesfrucht«, eine Einrichtung, die das postume Kind eines Mannes gegen die eigene Mutter schützen sollte.
Der Ehemann konnte aber auch auf eine Klage zur Anfechtung der Vaterschaft verzichten und damit seine Frau und den leiblichen Vater daran hindern, das Kind nach einer Scheidung und Wiederverheiratung zu legitimieren. Das Vorurteil zugunsten der ehelichen Vaterschaft war so stark, daß es als Beweis für Ehebruch, nicht aber für Vaterschaft galt, wenn ein Mann das Kind seiner verheirateten Geliebten offiziell anerkannte.[41] Diese paradoxe Situation war eine Folge der Rechte des Familienoberhauptes. Die elterliche Gewalt wurde, selbst wenn unterstellt wurde, sie stehe beiden Elternteilen zu, in der Ehe rechtlich allein vom Manne ausgeübt. Auch das war eine subtile juristische Unterscheidung. War der Vater allerdings abwesend, entmündigt oder seiner Rechte verlustig gegangen, trat die Mutter an seine Stelle. Starb der Vater, war die Mutter der gesetzliche Vormund, sofern der Verstorbene nicht anders verfügt hatte. In Frankreich und anderen Ländern konnte der Mann für seine Witwe einen Berater bestimmen; wenn sie wieder heiratete, mußte ihr erst der (männliche) Familienrat gestatten,
die Vormundschaft weiterhin zu behalten; dazu war erforderlich, daß der neue Ehemann als Nebenvormund ernannt wurde. Unter französischem Recht waren die Vollmachten der Mutter gegenüber denen des Vaters eingeschränkt. Wurde ihr nach einer Scheidung das Sorgerecht übertragen, behielt der Vater das Recht, die Erziehung der Kinder zu
überwachen; auch für deren Heiratserlaubnis war seine Zustimmung entscheidend. In Deutschland verlor der schuldig geschiedene Vater nicht sein Privileg, den Besitz seiner minderjährigen Kinder zu verwalten. Dramatisch war die Lage der Frauen vor 1870 in England, da die väterliche Allmacht ihnen keinerlei Rechte auf ihre Kinder einräumte und sie so den erpresserischen Methoden ihrer Ehemänner aussetzte (Thackeray, Barry Lindoii). Der Vater besaß hier die uneingeschränkte Befugnis, seine Kinder zu sich zu nehmen und einer Person seiner Wahl anzuvertrauen. Eine erste vorsichtige Maßnahme im Jahre 1839, die es dem Richter gestattete, eine Untersuchung anzuordnen,
verursachte einen Skandal.
Gemäß dem hohen Stellenwert, den man der Familie beimaß, wurde Unehelichkeit aufs schärfste verurteilt. Feministinnen forderten einen straf- und zivilrechtlichen Schutz für verführte Mädchen sowie das Recht auf Vaterschaftsermittlung. In den Vereinigten Staaten wurde dank der politischen Aktivitäten amerikanischer Frauen, die sich ihrer neu erlangten staatsbürgerlichen Rechte bedienten, die Verführung junger Mädchen streng bestraft. Im Fall eines Ehebruchs war der Mann verpflichtet, seine Geliebte, sofern sie noch ledig war, zu heiraten. In Frankreich führte dagegen eine höchst einseitige Interpretation des alten Rechts im nachrevolutionären Recht zum Verbot der Ermittlung der natürlichen Vaterschaft. Vor 1789 konnte eine verführte Frau den »Vater» angeben, doch der Richter erkannte dessen Vaterschaft nicht in vollem Umfang an, d.h. das Kind wurde nicht in die väterliche Familie aufgenommen. Bestand eine berechtigte Vermutung, wer der Vater war, mußte dieser dem Kind einen bescheidenen Unterhalt gewähren, der allerdings nur schwer einzutreiben war. Im 19. Jahrhundert gingen die Gerichte in Frankreich bei überzeugender Beweislage allmählich dazu über, der geschwängerten Frau zu gestatten, von ihrem Schwängerer auf der Rechtsgrundlage von Artikel 1382 des Code civil eine Entschädigung zu verlangen. Ende des Jahrhunderts war es in den meisten europäischen Ländern, sogar in Spanien, möglich, eine Vaterschaftsklage zu führen. In Frankreich kam es erst am 16. November 1912 zu einer nach wie vor sehr restriktiven Novellierung des alten Rechts. Demnach mußte die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung, einer Entführung, eines offenkundigen Zusammenlebens, einer Täuschung oder eines klaren Autoritätsmißbrauchs sein, damit auf Entschädigung geklagt werden konnte; die Vaterschaft mußte vom Mann schriftlich und unmißverständlich anerkannt oder das Kind vom Vater unterhalten werden. Dieses Gesetz galt nicht in den Kolonien, was für die Situation von Nebenfrauen bezeichnend ist. Jede Vaterschaft wurde automatisch abgewiesen, wenn es Zweifel an der moralischen Untadeligkeit der Mutter gab.

Die Rechtsunfähigkeit verheirateter Frauen
Bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs (in Frankreich bis zum Jahre 1965) bedurften Frauen im allgemeinen der Zustimmung ihres Ehemannes, um einen Beruf ausüben zu können, »weil niemand sonst den Grad ihrer Intelligenz besser einzuschätzen wüßte«.[42] Diese Erlaubnis war entweder explizit erforderlich (wie etwa in Frankreich) oder wurde stillschweigend vorausgesetzt, d.h. der Ehemann mußte Einspruch erheben, wollte er die Frau an einer Berufsausübung hindern. Um 1900 konnten Frauen sich im Falle einer Ablehnung zwar an ein Gericht oder eine Vormundschaftsinstanz wenden, aber diese waren gewöhnlich rasch mit der Berufung auf das Familieninteresse bei der Hand, um die Klage zurückzuweisen. Eine Ehefrau konnte ohne diese Einwilligung keine Prüfung ablegen, sich nicht an der Universität immatrikulieren, kein Konto eröffnen, sich keinen Paß ausstellen lassen, keinen Führerschein machen und sich in keinem Krankenhaus behandeln lassen. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Eine Frau war auch rechtlich nicht handlungsfähig. Das französische Recht ging sogar so weit zu fordern, daß eine Frau, selbst wenn sie ihre Ehe annullieren lassen wollte, nicht von diesem »Akt der Ehrerbietung und des Gehorsams«[43] gegenüber ihrem Ehemann befreit werden dürfte. Auch konnte eine Frau ihren Mann nicht strafrechtlich verfolgen lassen. Für die Unterzeichnung eines juristischen Dokuments mußte sie um eine Sondergenehmigung ersuchen, es sei denn, sie übte mit Erlaubnis ihres Mannes ein eigenes und zugelassenes Gewerbe aus. Ab 1896 konnte ein Mann seiner Frau in Italien eine Pauschalbevollmächtigung ausstellen. In den meisten westlichen Ländern konnten Frauen nötigenfalls einen Prozeß anstrengen bzw. Klage erheben (außer in Spanien). In Portugal war die Ehefrau seit 1867 bei den meisten Rechtsgeschäften, die beide Gatten betrafen, die Partnerin des Mannes. Wenn der Mann verhindert, entmündigt oder abwesend war, übernahm die Frau im allgemeinen seine Rechtsfähigkeit.
In den westlichen Ländern hatte es historisch stets zwei Typen patrimonialer Beziehungen zwischen Ehegatten gegeben: das germanisch inspirierte Gewohnheitsrecht, das jeglichen Besitz dem Mann zuwies, und das römische Recht, das die Unabhängigkeit der Ehefrau zwar nominell einräumte, diese aber mit so vielen Einschränkungen versah, daß sie real kaum vorhanden war.[44] Die ehelichen Besitzverhältnisse gestalteten sich somit nach zwei unterschiedlichen Prinzipien: entweder vollständige bzw. teilweise Gütertrennung oder Gütergemeinschaft.
Ebenso wie juristisch zwischen dem Besitz eines Rechts und der Fähigkeit, es auszuüben, unterschieden werden muß, gliederten sich auch Rechtshandlungen in Verfügungsgeschäfte, die den Wert des Erbes verändern konnten, und Verwaltungsgeschäfte, die den Wert des Besitzes zu wahren hatten. Sein Eigentumsrecht auszuüben, bedeutete demzufolge, fähig zu sein, über das Eigentum zu verfügen, es zu verwalten, Einkünfte aus ihm zu beziehen und es sogar zu ruinieren. In einem System teilweiser Gütergemeinschaft behielten beide Ehegatten auch nach der Eheschließung ihr Eigentum an Immobilien, an Schenkungen und Erbschaften. Zur gemeinsamen Besitzmasse gehörten Einkünfte aus Immobilienvermögen, Mobiliar, Wertpapiere und Verdienst. Unter dem System der vollständigen Gütertrennung behielten beide Ehegatten ihren Besitz als Eigentum und trugen zu den Haushaltskosten bei. Das Dotalsystem war ein System der Gütertrennung mit dem Ziel, einen Teil des Vermögens der Frau während der Ehe zu bewahren.
Im allgemeinen entschieden sich die meisten Paare für eines der beiden Systeme, was einen Ehevertrag gewöhnlich überflüssig machte. Unter dem System der Gütergemeinschaft war seit dem Code Napoleon in Frankreich der Ehemann Herr über das gemeinsame Eigentum und besaß sämtliche Vollmachten. Nur bei Schenkungen wurden diese bisweilen eingeschränkt. Er verwaltete auch das Erbe der Ehefrau, konnte allerdings nur mit deren Einwilligung darüber verfügen. In Schweden und Schottland hatte die Ehefrau eine Verwaltungsvollmacht über den gemeinsamen Besitz. In Italien, Rußland und den meisten angelsächsischen Ländern war das meistverbreitete System die Gütertrennung.
England stellt jedoch eine Ausnahme dar und verdient daher eine nähere Betrachtung. Bis 1870 verlor die Frau unter dem common law durch die Heirat ihre Rechtspersönlichkeit; diese ging in der des Mannes auf (feme covert). Nach Blackstones Formulierung »sind Mann und Frau eins, und dieses Eine ist der Mann«. Der Mann wurde Eigentümer des persönlichen Vermögens seiner Frau, ohne je darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Gegenüber diesem System existierte ein zweites, das auf dem Konzept von equity (Billigkeit) beruhte und durch die Gerichte ins Leben gerufen wurde. Danach genoß die Frau ein angemessenes Eigentumsrecht über ihre Güter, das sie in aller Freiheit nutzen konnte. Um der Ehefrau eine Einflußnahme zu ermöglichen, wurden also nicht die Vollmachten des Mannes beschnitten, sondern es wurde der Besitzanteil erweitert, über den er nicht verfügen konnte. Die kontinentaleuropäische Auffassung, daß eine Frau Rechte besaß, die sie aber nur unter Leitung ihres Mannes ausüben konnte, war dem angelsächsischen Recht fremd. Nichtsdestoweniger führten Feministinnen eine heftige Kampagne für eine Modifizierung des Gesetzes, da das Konzept von equity nur wohlhabenden Frauen zugute kam. Der Matrimonial Causes Act von 1857 gestand den Frauen, die getrennt von ihrem Ehegatten lebten oder von ihm verlassen worden waren, durch eine sogenannte Protection Order das gesetzlich getrennte Eigentum an ihrem Besitz zu. Eine Französin, die getrennt von ihrem Mann lebte, erhielt dieses Recht erst im Jahre 1894[45]
Ab 1870 bzw. 1874 war die patrimoniale Unabhängigkeit englischer Eheleute vollkommen hergestellt, 1893 erhielten englische Frauen auch das Recht, ein Testament zu machen, was Frauen in den meisten Ländern bereits durften.
In den USA waren die Prinzipien des common law schon vor der Jahrhundertmitte, ohne den Rekurs auf equity, modifiziert worden. Ein weitreichendes Gesetz des Staates New York von 1840 gestand der Ehefrau die volle Rechtsfähigkeit über ihr Eigentum und die Einkünfte aus ihrer Berufstätigkeit zu. In einem System der Gütertrennung konnte sie ihre Rechte frei ausüben. Nach und nach verabschiedeten zahlreiche andere Bundesstaaten ähnliche Gesetze. Lediglich diejenigen, die ehemals unter spanischem oder französischem Einfluß gestanden hatten, behielten die Gütergemeinschaft teilweise bei. Das gilt vor allem für Louisiana, wo ebenso wie in Quebec noch das durch den Code Napoleon modifizierte Pariser Gewohnheitsrecht angewandt wurde.
Im Dotalsystem - gebräuchlich in Italien, Chile, Peru und Südfrankreich - verwaltete oft der Ehemann das Eigentum seiner Frau. Dieses System der Trennung konnte, wie etwa in Südwestfrankreich und im Tessin, durch die Vereinbarung einer Zugewinngemeinschaft etwas gelockert werden. Die Unveräußerlichkeit der Mitgift behinderte
geschäftliche Transaktionen. Daher gab es Ausnahmeregelungen in Ehekontrakten bzw. gerichtliche Genehmigungen im Interesse der Erbschaftsverwaltung oder der Familie. In Frankreich allerdings verschärfte die Rechtsprechung die Situation noch, indem sie die Unveräußerlichkeit auch auf Mobiliar und Wertpapiere ausdehnte. Der Code Napoleon beschränkte die Rechtsfähigkeit, die verheiratete Frauen unter dem Dotalsystem hatten und wohlhabende Frauen im Ancien Regime vor allem in der Provence klug zu nutzen verstanden.
Das System der Gütergemeinschaft war typisch für die Schweiz und für Teile Deutschlands (Preußen, Oldenburg, Sachsen) sowie die baltischen Provinzen. Es wurde offiziell mit der Aufnahme in die Gesetzbücher von 1900 und 1907 sanktioniert. Der Ehemann verwaltete als Oberhaupt der ehelichen Gemeinschaft den Besitz und bezog die Einkünfte daraus, ohne daß das jeweilige Eigentum der Ehegatten miteinander verschmolzen wurde. Er benötigte die Zustimmung seiner Frau, um über das von ihr eingebrachte Gut zu verfügen, und die Frau besaß über ihren Besitz die volle Geschäftsfähigkeit. Bei Meinungsverschiedenheiten konnten sich beide Ehegatten an das Treuhandschaftsgericht wenden, und seit 1900 hatte eine Ehefrau gegebenenfalls die Möglichkeit, ihren Mann wegen Rechtsmißbrauch anzuklagen.
Die geschlechtsspezifische Rollenverteilung erforderte es, daß eine Frau in der Lage war, die nötigen Dinge für das tägliche Leben der Familie kaufen. Die Ehefrau verfügte daher in Frankreich über ein mandat (Vollmacht) bzw. in England über eine agency of necessity, um den Ehemann zu vertreten und sein Vermögen und das der Ehegemeinschaft im Hinblick auf das Haushaltseinkommen angemessen zu bewirtschaften. Letzteres war eine grundlegende Einschränkung, die es den Gerichten ermöglichte, als übertrieben erachtete Ausgaben für ungültig zu erklären. Natürlich konnte der Ehemann diese Vollmacht widerrufen. Dann stellte sich allerdings das ernste Problem der Information Dritter. In Arbeiterhaushalten war es im allgemeinen die Frau, die über das Familieneinkommen verfügte und ihrem Ehemann das Taschengeld aushändigte. Aber dabei handelte es sich lediglich um eine gesellschaftliche Praxis und nicht um ein Recht, selbst wenn es hier und da sogar zu einer Abmachung zwischen Ehefrau und Unternehmer kam, den Lohn des Mannes direkt an die Frau auszubezahlen.[46] In den Mittelschichten war die Ehefrau als Verwalterin der Familienersparnisse rechtlich anerkannt. In Frankreich waren Frauen vom 9. April 1881 an berechtigt, Geld auf Sparkonten einzuzahlen, und nach und nach war es ihnen auch erlaubt, Geld abzuheben. Das Bestreben der Regierungen, dieses Geld wieder in den Konsumkreislauf fließen
zu lassen, relativiert den scheinbar rein feministischen Stellenwert mancher Gesetze. Auf die Pensionskassen traf dieselbe Logik zu.
Feministinnen forderten für Frauen das Recht, über die Einkünfte aus ihrer Arbeit frei zu verfügen. Das Gesetz vom 13. Juli 19074 organisierte ein System von »Vorbehaltsgütern« (Gehalt, Ersparnisse sowie deren Zinsen). Diese Mittel mußten in erster Linie für die Bedürfnisse des Haushalts verwendet werden, jedoch konnte die Frau frei darüber verfügen. Allerdings behielt der Mann das Recht, sich an ein Gericht zu wenden, wenn er der Ansicht war, die Frau mißbrauche diese Möglichkeit. Diese Bestimmung liefert für Frankreich ein perfektes Beispiel für die Grenzen eines Rechts, welches der logischen Kohärenz entbehrt. Denn solange die allgemeine Geschäftsunfähigkeit von Frauen nicht aufgehoben wurde, gab es kaum Bestrebungen, das Gesetz vom 13. Juli auch in die Praxis umzusetzen.
Ähnliche Gesetze wurden Ende des 19. Jahrhunderts verabschiedet und in Ländern mit weniger restriktiven Ansichten über Frauenrechte auch effektiv angewandt. Italien nahm ein solches Gesetz im Jahre 1865, die Schweiz im Jahre 1894 an.

Frauen ohne Männer
Diese Überschrift trifft exakt das Problem. Frauen, die nie geheiratet hatten, galten als gesellschaftliche Ausnahme, auch wenn die Zahl der ledigen Frauen im 19. Jahrhundert sehr groß war. Eine Frau ohne Mann war daher für das Recht nicht von Interesse. Als Minderjährige war sie abhängig von ihrem Vater. Blieb sie unverheiratet, war sie juristisch gesehen rechtsfähig, sozial jedoch - mit Ausnahme der seltenen und glanzvollen Beispiele in intellektuellen und künstlerischen Kreisen eine Randexistenz. In allen westlichen Gesellschaften gaben die alleinstehenden Frauen ein eher düsteres Bild ab, dem nur die ledigen Frauen in den USA, die sich in Clubs zusammenschlossen und einen gewissen Einfluß ausübten, eine etwas hellere Note verleihen. Unverheiratete Frauen sollten ebenso wie verheiratete Frauen zumindest im Prinzip Zeit ihres Lebens einem Vormund unterstehen. Eine solche Regelung gab es in Teilen Skandinaviens, in Deutschland und der Schweiz bis in das letzte Drittel des Jahrhunderts. Rechtsfreiheit erhielten Frauen erst mit der Auflösung ihrer Ehe, Scheidung, Tod des Ehegatten oder äußerst selten auch durch Ehe-Annulierung. In den römisch-katholischen Ländern gab es lange Zeit keine Scheidung, sondern lediglich die Trennung der Ehepartner. Eine Trennung ließ die Pflichten der Ehe fortbestehen. Dazu gehörte auch die Treuepflicht, die zunehmend in Widerspruch geriet zu einer Politik der Geburtenförderung. Ehescheidungen waren in Frankreich von 1816 bis 1884 ebenso wie in Spanien, Portugal, Italien, Mittel- und Südamerika nicht erlaubt. In allen übrigen Ländern sah das Recht Ehescheidungen vor.
Die französische Verfassung von 1791 hatte die Ehe dem konfessionellen Einfluß entzogen und die Frauen von der Last der christlichen Tradition befreit. Frauen wurden 1791 ebenso wie die Männer mit einundzwanzig Jahren volljährig, für sie galt nun dieselbe Erbberechtigung wie für ihre Brüder, sie konnten nun ebenfalls Verträge abschließen bzw. brechen. Auch das Scheidungsgesetz vom 20.-25. September 1792 war bemerkenswert. Beiden Ehepartnern wurde absolute Gleichheit zuerkannt, insbesondere bei der Scheidung in gegenseitigem Einverständnis. Doch diese Regelung der Ehescheidung galt bald als Bedrohung der Familie. Das Recht auf einvernehmliche Ehescheidung wurde daraufhin in Frankreich derartig eingeschränkt, daß es bis 1975 in der Praxis nahezu keine Bedeutung mehr hatte. Das revolutionäre Recht hatte zusätzlich zwei weitere Scheidungsgründe eingeräumt.
Außer der Unvereinbarkeit der Charaktere waren als Gründe definiert: Demenz, Verurteilung aufgrund eines schweren Verbrechens, Mißhandlungen, schwere Verfehlungen, notorisch sittenloser Lebenswandel, mehr als zweijährige Abwesenheit und Emigration. Der hier nicht aufgezählte Ehebruch wurde meistens zum Schaden der Frau unter den Stichworten »sittenloser Lebenswandel« oder »schwere Verfehlung« subsumiert. Der Code civil, der die Scheidung in gegenseitigem Einverständnis nahezu illusorisch machte, erlaubte noch die schuldhafte Scheidung als Folge von Ehebruch, Mißhandlungen, schweren Verfehlungen oder einer Verurteilung zu einer entehrenden Strafe. Das Scheidungsrecht anderer Länder läßt sich einteilen in Gesetze, die alle plausiblen Scheidungsgründe einzeln aufzählen, und solche, die es dem jeweiligen Richter überlassen, ob die vorgebrachten Klagen die Beendigung einer Ehe ausreichend begründen.
Scheidungen wurden in den Gesellschaften des 19. Jahrhunderts sowohl juristisch als auch gesellschaftlich streng beurteilt. Sie wurden nicht nur erschwert und zu einer Gerichtssache gemacht, sondern zusätzlich zu den generell härteren Bestimmungen für die Frauen wurden beide geschiedenen Eheleute auch noch mit bestimmten Verboten
konfrontiert. Häufig durften sie einander nicht ein zweites Mal heiraten oder es galt im Falle eines Ehebruches für das ehebrecherische Paar ein Heiratsverbot. Frauen mußten zudem nach Auflösung der Ehe durch Tod oder Scheidung eine gesetzliche Frist von etwa 300 Tagen bis zur Wiederverheiratung einhalten, damit die legitime Nachkommenschaft gesichert war.
In Italien gab es ein Recht auf Scheidung zwischen 1796 und 1815, in Frankreich wurde die Ehescheidung am 8. Mai 1816 aus religiösen Gründen abgeschafft und erst nach langen Kämpfen am 27. Juli 1884 wieder erlaubt (Gesetz Naquet). Die anerkannten Scheidungsgründe waren dieselben wie im Code civil von 1804. Doch im Falle von Ehebruch wurden nun beide Geschlechter gleich behandelt. Das Gesetz vom 6. Juni 1908 eröffnete die Möglichkeit, eine Trennung von Tisch und Bett nach mindestens drei Jahren Dauer in eine Scheidung umzuwandeln.
In England blieb die Scheidung bis 1857 ungesetzlich; es gab allerdings die religiös motivierte Trennung mit begrenzter Wirkung. Eine »Luxus-Scheidung« konnte außerdem in Ausnahmefällen vom Parlament durch Einzelentscheidung gewährt werden. Der Divorce Act von 1857 machte die Ehescheidung gesetzlich, und sein Einfluß war auch in Englands ehemaligen Kolonien spürbar, trotz der in den USA von Staat zu Staat unterschiedlichen Gesetzgebung.
In Frankreich waren es vor allem die Frauen, die - insbesondere während der Revolution und nach der Einführung des Armenrechts 1851 (zu dieser Zeit gab es lediglich die Trennung von Tisch und Bett) - die Möglichkeit zur Scheidung nutzten, wenn sie verlassen worden waren oder mißhandelt wurden. Dennoch blieben Scheidungen selten; auf dem Land waren sie praktisch unbekannt und ansonsten vorwiegend in den Mittelschichten verbreitet. Denn wenn die Scheidung eine Frau auch vor den Exzessen eines tyrannischen Ehemanns bewahrte, so war eine geschiedene Frau danach ganz auf sich allein gestellt, ohne einen Platz in der Gesellschaft, selbst wenn sie Unterhaltszahlungen erhielt. Dies ist das Paradoxe an einer Situation, in der die rechtlichen Folgen nicht ausreichen, um die sozialen Folgen angemessen zu kompensieren.
Auf den ersten Blick sollte man meinen, daß Witwen eine bessere Behandlung widerfuhr als Geschiedenen. Aus der Literatur kennen wir das Bild der habgierigen Witwe, die von der Bekanntheit ihres verstorbenen Mannes profitiert. Die Realität sah anders aus. Sicher konnten einige reiche, gut beratene Witwen vor allem auf dem Land ihre
Position als Familienoberhaupt festigen oder die Geschäfte ihres Ehegatten weiterführen. Die meisten Witwen aber hatten nichts aufzuteilen und mußten äußerst eingeschränkt leben, gleichermaßen beschützt und eingeengt durch ihre Familien.
Eine Witwe konnte plötzlich in heftige Auseinandersetzungen mit gierigen Erben und fordernden Gläubigern geraten. Unter dem vorrevolutionären Recht wurden ihr gewisse Vergünstigungen zuerkannt. Sie erhielt das Nutzungsrecht auf den Besitz des Gatten sowie auf das gemeinsame Eigentum. Der französische Code civil regelte im Unterschied zu anderen Gesetzbüchern des 19. Jahrhunderts erst im Jahre 1891 die Rechte des überlebenden Ehegatten. Bis zu diesem Datum war der überlebende Ehepartner als letzter vor dem Staat erbberechtigt. Einige Rechte wurden den überlebenden Ehegatten auf Beamtenpensionen und Urheberrechte eingeräumt (Gesetz vom 14. Juli 1866). Die Witwe hatte drei Monate und vierzig Tage lang Anspruch auf »Unterhalt«, auf Wohnung und Kleidung. Wenn ihr Erbanspruch anerkannt wurde, handelte es sich in der Regel um ein lebenslängliches Nutzungsrecht; nur wenn keine Kinder vorhanden waren, wurde ihr gewöhnlich auch der volle Besitz zugesprochen.
Wie konnte sich eine verheiratete Frau gegen die inkompetente oder unehrliche Besitzverwaltung ihres allmächtigen Gatten schützen? Im allgemeinen konnte sie sich an die Justiz oder eine Aufsichtsbehörde wenden, um - in der Regel zu spät - zu verlangen, daß Schutzmaßnahmen, beispielsweise die Verwaltung durch einen Treuhänder oder eine Gütertrennung, eingeleitet wurden. Die Frau konnte eine Hypothek auf den Besitz des Mannes eintragen, wenn eine solche, wie etwa in Frankreich, nicht im Gesetz vorgesehen war. Doch ein solcher Schritt konnte unter Umständen die Handlungsfähigkeit ihres Mannes lähmen. Daher gab es Klauseln, die es der Frau gestatteten, zugunsten von Käufern eines Hauses, das dem Ehemann gehörte, oder zugunsten seiner Gläubiger auf die Hypothek zu verzichten (in Frankreich die Gesetze vom 23. März 1855 und vom 13. Februar 1889). Infolgedessen begannen Notare zu fordern, daß beide Ehegatten Verträge unterzeichneten, die den Besitz des Mannes betrafen. In England konnte die Frau eine Klausel festlegen lassen, die jede Rechtshandlung untersagte, die sich auf bestimmte Besitztümer bezog. Häufig konnte sie die Gütergemeinschaft auflösen lassen oder sie nur dann akzeptieren, wenn die Vermögenswerte hoch genug waren, um die Schulden zu decken.
Auch wenn die modernen Gesetze am Vorabend des Ersten Weltkriegs im allgemeinen an der Vormachtstellung des Ehemannes festhielten, scheinen sie doch auf eine größere rechtliche Zusammenarbeit zwischen den Ehepartnern abzuzielen - je nach vorherrschendem Rechtssystem mit unterschiedlichen Methoden. Angesichts der sprunghaften
Entwicklung des Kreditwesens, der Mobilität von Vermögenswerten, der Schnelligkeit der Transaktionen und der immer größeren Zahl von Frauen, die berufstätig waren, konnte das Recht nicht unverändert bleiben. Doch die Veränderungen erfaßten nicht die Armen. Erwerbsarbeit wurde nur bei unverheirateten Frauen als Notwendigkeit und bei Ehefrauen als bloßes Zubrot betrachtet. Im Bereich des Privatrechts scheinen die angelsächsischen Länder das Problem am angemessensten gelöst zu haben, indem sie eine völlige Vermögenstrennung sicherten.
Ob das auch für den sozialen Bereich galt, ist in einer Wettbewerbsgesellschaft, die Frauen nicht mit den nötigen Waffen ausrüstete, um unter gleichen Bedingungen kämpfen zu können, sehr zu bezweifeln.
Auf der anderen Seite handelte es sich in vielen Ländern und vor allem in Frankreich zunächst lediglich um winzige Zugeständnisse. Den rechtlichen Handicaps von verheirateten Frauen steht zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine lange Lebensdauer in Aussicht.
Im öffentlichen Recht springen die inneren Widersprüche ins Auge. Politische Rechte wurden den Frauen zunächst in den skandinavischen Ländern und vor allem in den ehemaligen englischen Kolonien zugestanden, die damit das englische Vorbild überholten.
Der rechtliche Status der Frau ist äußerst aufschlußreich hinsichtlich der Spannungen zwischen Staat und Gesellschaft. Auch innere Ungereimtheiten im juristischen Diskurs werden deutlich und offenbaren, daß auch das konservative Milieu von Zweifel erfaßt wurde. Der rechtliche Status der Frauen mußte Empörung auslösen zu einer Zeit, da Frauen massenhaft auf die am wenigsten qualifizierten Posten der neuen Produktionssektoren strömten, während der kleinen Zahl gebildeter Frauen allein unter dem Vorwand des Geschlechts der Zugang zu Berufen verwehrt wurde. Die meisten Frauen kämpften in ihrem Alltagsbereich, weit entfernt von rechtlichen Auseinandersetzungen. Solange der wesentliche Teil ihrer Aktivitäten darin bestand, hart für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, sich außerhalb der Ehe und ohne Vermögen durchzuschlagen, lebten die Frauen in ihrer Mehrheit ohne Berührung mit den Gesetzen. Für sie war das Recht kaum etwas anderes als ein Mittel des Zwanges.
Man kann das Los der Frauen jedoch nicht von dem der Männer trennen. Ihre Rechtssituation war mit der der Männer verknüpft, und das Recht, das in erster Linie soziale Beziehungen regelt, regelte zwangsläufig auch die Geschlechterbeziehungen. Stärker als die Vorstellung von Gleichheit hat sich im Laufe der Entwicklung das Konzept
einer Komplementarität der Geschlechter herausgebildet. Das Beispiel Amerikas erinnert daran, daß die vielgeschmähte »Macht der Mütter« genau die Konsequenz einer Geschlechtertrennung - im Namen der spezifischen sozialen Rollen bei juristischer Gleichheit - ist, die zu einer Art sozialer Ungleichheit führt und spürbar macht, wie widernatürlich ein Recht sein muß, das sich von der sozialen und ökonomischen Realität abkoppelt.

Aus dem Französischen von Gabriele Krüger-Wirrer